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Die Mutter von Annette, Matthias, Heidel und Kay hat wieder geheiratet. Sie heißt jetzt Frau Seibold und nicht mehr Frau Berger. Das finden die Kinder irgendwie seltsam, aber eigentlich gibt es dafür keinen Grund, denn die Kinder mögen den neuen Mann der Mutter. Die Situation scheint nur ein wenig ungewohnt. Und ihr Mann, Dr. Seibold, ist in der Tat ein lieber Mensch. Anstatt allein mit der Mutter eine Hochzeitsreise zu unternehmen, hat er die Idee, dass die ganze Familie gemeinsam in den Skiurlaub fahren soll. Das ist großartig! Alle freuen sich schon sehr auf die Reise.Aber dann wird Heidel überraschend krank. Sie hat eine ansteckende Gelbsucht und muss ins Krankenhaus. Aus dem Skiurlaub wird für Heidel erst mal nichts. Die anderen fahren in den Urlaub und sie muss im Krankenhaus bleiben. Die Enttäuschung ist groß.Doch dann trifft sie den Medizinstudenten Bastian und alles ändert sich schlagartig...MORGEN – DAS IST BALD ist ein erfrischendes Buch über das Erwachsenwerden und die erste große Liebe. Empfehlenswert!-
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Seitenzahl: 204
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Lise Gast
Heidel und Bastian
Saga
Morgen - das ist bald
© 1978 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711509807
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
»... und deshalb haben wir gedacht, wir machen keine Hochzeitsreise, sondern...«
»Sondern?« fragten Annette, Heidel und Kay wie aus einem Mund. Sie starrten ihrer Mutter gespannt ins Gesicht.
»Wir verreisen zusammen. Alle. Alle außer Matthias natürlich, der kann ja nicht weg. Ein Glück, daß alles klappte und er seine Aufnahmeprüfung bei der PH schaffte. Aber er kann unter gar keinen Umständen jetzt gleich wieder ein paar Tage schwänzen. Aber ihr kommt mit, alle drei, zum Schilaufen, Friedrich – also Dr. Seibold – « Frau Seibold wurde ein wenig rot, sie war es noch nicht gewöhnt, von ihrem neuen Mann als ›Vater‹ zu sprechen, »hat ein kleines Haus gemietet, in dem wir wohnen und uns selbst verpflegen können. Es nennt sich Chalet, ist aber wahrhaftig kein Schloß, nicht mal ein Schlößchen.«
Während sie weitererzählte, bekam Annette, die erst recht skeptisch dreingesehen hatte, Glanz in die Augen. Schilaufen war schick, vor allem in der Schweiz! Hier rutschte man auf den Hügeln herum und mußte von Glück sagen, wenn man einmal eine Gelegenheit fand, auf eine Piste zu kommen, wo ein primitiver Lift einen hinaufzog und man dann ein bißchen üben konnte. In der Schweiz war das natürlich zünftig. Und wen würde man alles kennenlernen!
Heidel fragte als erstes, ob denn Kay auch mitkönnte. Frau Seibold erklärte, dort gäbe es auch Kinder-Schikurse, und Spaß machen würde es ihm bestimmt. Kay war jetzt acht, ging also schon zur Schule. Jetzt aber lagen ein paar Feiertage so günstig, daß alle Schulen freihatten – von Freitag bis Aschermittwoch, nicht nur drei »tolle Tage«, sondern sechs. Sie wollten mit Dr. Seibolds Wagen fahren.
Zum allgemeinen Bedauern konnte Sybille nicht mit, Sybille Frey, die in Annettes Klasse ging und so gern zu Bergers kam, schon jahrelang. Sie durfte nicht, ihre Eltern waren sehr ängstlich. Außerdem ging es ihrer Mutter zur Zeit nicht gut, so daß sie, wenn sie nicht in der Schule war, viel zu tun hatte und auch auf ihren kleinen Bruder aufpassen mußte.
»Heißen wir eigentlich jetzt weiter Berger?« fragte Kay in diesem Augenblick, als alle schwiegen, mit ihren Gedanken beschäftigt. »Wenn Dr. Seibold unser neuer Vater ist und –«
»Deshalb ändern wir doch unsern Namen nicht«, sagte Annette schnell und ärgerlich. Ihr war gar nicht wohl bei dem Gedanken, daß Mutter wieder geheiratet hatte. Sie genierte sich, ohne eigentlich sagen zu können, weshalb. Heidel war da ganz anders.
»Ich fahr’ nur schnell zu Helmi«, sagte sie, als Mutter schwieg. »Zum Abendbrot bin ich wieder zurück.«
Seit ein paar Jahren hatte sie eine Freundin, eine richtige, gute, mit der sie alles besprach. Helmi, die Tochter des Försters, war zwar etwas jünger als sie, aber ungeheuer lebhaft und unternehmend. Heidel, die zu Hause immer als die Kleine oder gar die Dumme galt, fand es wunderbar, in Helmis Familie als groß und gescheit angesehen zu werden. Helmi machte mehr Dummheiten als sonst drei Kinder zusammen, darum fand ihre Mutter es herrlich erholsam, wenn Heidel da war und ein wenig Vernunft ausstrahlte. Auch auf Wulf, den kleinen Bruder von Helmi, konnte sie dann mit aufpassen; sie war es gewöhnt, denn Wulf war ungefähr so alt wie Kay.
Heute allerdings machte Helmi einen bemerkenswert stillen Eindruck, als Heidel kam und vom Schilaufen erzählte, von dieser ganz, ganz tollen Reise, die ihnen bevorstand, in die Schweiz, in ein Chalet!
›Ob sie uns beneidet?‹ dachte Heidel und wurde nun auch ein wenig leiser. Helmi saß in dem schon etwas abgestoßenen Schaukelstuhl im Wohnzimmer, um den sie und Wulf sich sonst immer stritten, und wiegte sich ein bißchen vor und zurück – langsam, sachte, gar nicht wild, wie es sonst ihre Art war.
»Wo ist eigentlich Wulf?« fragte Heidel schließlich.
»Im Bett. Er hat sich übergeben«, sagte Helmi, »ich auch. Jedenfalls etwas. Mir ist gar nicht gut, richtig bekloppt.«
»Du wirst doch nicht krank werden, wo wir doch nächste Woche richtige kleine Ferien bekommen, sozusagen vom Himmel gefallen«, sagte Heidel. »Es ist schade, daß ihr nicht mitkönnt – dann würde es mir noch viel mehr gefallen. Sybille fährt auch nicht mit. Sie darf nicht. Außerdem sind wir schon fünf im Wagen, und die Schier und die ganze Ausrüstung und das alles.«
»Wie war denn die Hochzeit?« fragte Helmi jetzt.
Heidel lachte und winkte ab. »Überhaupt nicht schön. Jedenfalls nicht, wie man sich eine Hochzeit denkt. Mutter und Dr. Seibold sind aufs Standesamt gefahren, Onkel Herbert war als Trauzeuge dabei und von Dr. Seibold noch ein Bekannter. Wir durften nicht mit rein. Und nachher haben sie im Ratskeller gegessen und sind anschließend zu uns gekommen. Wir hatten Kuchen gebacken und tranken alle miteinander Kaffee. Das war’s, weiter nichts. Und ich hatte gedacht...«
»Ach ja. Aber für Kranz und Schleier ist deine Mutter ja zu alt«, sagte Helmi. »Obwohl – hübsch ist sie ja wirklich noch. Ich finde deine Mutter süß.«
»Jaja. Und daß wir von Onkel Herbert und Tante Greta wegkommen, ist doch sehr gut. Weißt du, Tanten, die immerzu an einem herumerziehen, die kann man auf die Dauer nicht ertragen. Dr. Seibold hat ein Haus gemietet, im Frühling ziehen wir dort hin. Nein, nicht direkt in der Stadt. Am Stadtrand, aber doch ziemlich weit von hier – ich komm’ aber trotzdem weiter zu dir, ich hab’ ja das Fahrrad.«
»Im Frühling? Na, Gott sei Dank, bis dahin dauert es ja noch.« Helmis Stimme klang ein wenig fremd, und auf einmal fing sie an zu weinen. Ohne Grund, ganz plötzlich. Heidel war erschrokken.
»Aber Helmi, so schlimm ist das doch nicht!«
Sie war ratlos und atmete auf, als Helmis Mutter in diesem Moment hereinkam.
»Lieber Himmel, Helmi, was ist denn los?« fragte sie sogleich. »Wulf hat Fieber, und du hast, glaub’ ich, jetzt auch welches.« Sie hatte die Hand an Helmis Stirn gelegt. »Nun macht nur Dummheiten, ihr beiden, und steckt womöglich Heidel noch an!«
Sie mochte Heidel sehr gern. Auch Heidel hatte sich von Anfang an innig an Helmis Mutter angeschlossen, die Försterin, die so resolut und herzlich und eigentlich immer vergnügt war, nicht so zart und leicht erschöpft wie die eigene Mutter. Und wie gern lachte sie! Auch jetzt, da es doch eigentlich gar nichts zu lachen gab – Helmi hatte Fieber, das merkte man genau –, fing sie nicht an zu jammern, sondern sagte nur: »Also marsch, marsch, in die Buntkarierten! Heidel kann euch ja noch was vorlesen.«
Das tat Heidel gern. Sie half der Freundin in den Schlafanzug und dann ins Bett und deckte sie zu, und Wulf lachte ihr aus seinem grüngestrichenen Holzbettchen ein wenig matt, aber doch dankbar, entgegen.
»Wir müssen was vorlesen, was für euch beide paßt«, sagte Heidel und guckte das Bücherregal entlang, »am besten was Lustiges. Lachen macht gesund.«
Es lag ein eigener Reiz darin, für die beiden Kranken da zu sein, fand Heidel – zu pflegen, nannte sie es bei sich. Zuerst schüttelte sie beiden die Kopfkissen auf, klopfte die Zudecken zurecht und gab ihnen zu trinken. Durst haben Kranke ja immer. Und dann griff sie nach einem Buch, um ihnen vorzulesen. Vorgelesen zu bekommen fand sie beim Kranksein immer das Allerschönste.
Sie hatte aber nichts Lustiges erwischt, sondern etwas Grusliges. Gespenstergeschichten aus aller Welt – die schönsten waren die englischen. Wie dort in alten Schlössern Türen aufgingen und Kronleuchter herunterfielen und es aus den Ecken stöhnte und aus den Kaminen weiße Dämpfe herauswehten...
Wulf lachte, er nahm das alles gar nicht als gruslig, sondern fand es furchtbar komisch. Heidel mußte manchmal aufhören zu lesen und ihn ansehen, sein rundes Kindergesicht mit dem wachen Ausdruck: Seine Nase war nicht stubsig wie bei andern Kindern seines Alters noch, sie hatte auch nicht die Einbuchtung an der Wurzel, sondern ging ziemlich gerade in die Stirn über, eine sogenannte griechische Nase wohl. Dazu waren seine Augen sehr blau, und sie standen ziemlich eng zusammen. Das gab dem ganzen Gesicht etwas Aufmerksames, ja, Kämpferisches – sie mußte immer wieder hinblicken und dabei an Kay denken, der etwas älter war als Wulf und dabei viel, viel kindlicher. Aus Wulf würde vielleicht einmal ein ganz besonderer Kerl werden, ein Feuerkopf, ein großer Erfinder oder ein Abenteurer. Auch seine völlige Furchtlosigkeit den Gespenstergeschichten gegenüber imponierte Heidel.
»Ich würde das Gespenst fangen, eine Rattenfalle bauen, so groß –« er maß mit den Armen ab. »Und dann liefe es hinein, und ich könnte es mir ganz aus der Nähe ansehen...«
»Vielleicht wäre es gleich tot, wenn die Falle zuschnappte?« sagte Helmi, die schon viele Ratten gefangen hatte, »und was fingst du mit einem toten Gespenst an?«
»Na eben! Gibt’s überhaupt tote Gespenster?« fragte Helmis Mutter vergnügt, die gerade hereingekommen war. »Ich finde, Gespenster machen nur Spaß, wenn sie leben. Ich weiß jedenfalls, daß es wirklich Häuser gibt, in denen es spukt. Als ich jung war – aber die Geschichte kennt ihr ja«, sagte sie und brach ab.
»Aber Heidel nicht! Bitte, bitte, erzähl sie!« riefen jetzt Helmi und Wulf wie aus einem Mund. Helmi zwinkerte Heidel zu, sie sollte auch mit betteln. »Die mit dem Balken vor der Tür! Eine wirklich wahre Geschichte, und...«
»Die hast du Heidel doch bestimmt schon erzählt!« sagte die Mutter.
Heidel aber stimmte sofort ein: »Sie müssen Sie bitte selber erzählen! Bitte! Spukgeschichten hat sonst immer nur einer vom andern gehört, und niemand war selber dabei. Das sagt jedenfalls Matthias, mein großer Bruder, wissen Sie. Er lacht mich immer aus, wenn ich toi, toi, toi sage oder an Holz klopfe oder so was – bitte erzählen Sie doch!«
Da erzählte Frau Thomas. Sie setzte sich an Wulfs Bett und hatte gleich ein Paar Strümpfe von ihm in der Hand, die große Löcher an den Fersen aufwiesen, und nachdem sie noch Nadel und Faden geholt hatte, begann sie. Wie sie verlobt gewesen war und die künftigen Schwiegereltern besuchte, die in einem alten Pfarrhaus im Waldeckschen wohnten, in dem es spukte. Ausgerechnet in einem Pfarrhaus! Das machte die Sache noch viel beträchtlicher, fand Heidel. Frau Thomas hatte schon in der ersten Nacht gemerkt, daß da etwas nicht stimmte. In ihrem Zimmer, in dem sie allein schlief, mußte etwas Seltsames sein, was man nicht erklären konnte – sobald sie eingeschlafen war und wieder aufwachte, war gerade jemand durchgegangen. Erst mochte sie nichts davon erzählen, aber eines Morgens faßte sie sich doch ein Herz und sagte zur Mutter ihres Verlobten, sie möchte doch ihrem Mann sagen, daß er nicht mehr durch ihr Zimmer ginge. Sie erschräke immer ein bißchen. Sonst war niemand im Haus, das wußte sie, nur das ältere Ehepaar und ihr Verlobter. Ihre spätere Schwiegermutter sah sie nachdenklich an.
»Das ist nicht mein Mann, der da durchgeht«, sagte sie endlich, sie sagte es leise und freundlich, ein bißchen tröstend, »es ist... es tut dir nichts. Du kannst ganz unbesorgt ein. Es tut niemandem etwas.«
«Was ist denn ›es‹?« hatte das junge Mädchen gefragt.
»Das wissen wir auch nicht. Es geht eben durch, schon seit wir hier wohnen. Ein anderes Zimmer haben wir nicht frei, sonst würden wir es dir geben.«
»Ich habe dann gebeten, im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen zu dürfen, und sie haben es mir auch erlaubt«, erzählte Helmis Mutter weiter. »Obwohl es mir wirklich nichts tat. Ich mußte abends eben immer so lange wach bleiben, bis alle schlafengingen, und Pastors waren ganz hübsche Nachtsitzer. Und dann –« sie hielt inne.
»Dann?« fragte Heidel begierig. »Bitte erzählen Sie doch weiter – durchs Wohnzimmer kam es nicht?«
»Nein. Nur durch das eine Zimmer. Ja, also, dann war ich eines Tages allein im Haus. Mein Verlobter war mit seinen Eltern eingeladen, und ich hatte keine Lust, mitzugehen. So blieb ich allein. Das Haus war alt und auf alte Art gut gegen das oft feindliche Draußen verwahrt, also die Haustür nicht nur abgeschlossen und verriegelt, sondern auch noch – ja, du mußt dir das so vorstellen, Heidel: Innen an der Haustür, die nach innen aufging, waren rechts und links zwei Halter gemauert, in die man einen Balken legte, waagerecht, einen schweren, viereckigen Balken. Lag der dort, so konnte niemand die Tür nach innen aufdrücken, selbst wenn sie nicht verschlossen und verriegelt gewesen wäre. Verstehst du? Schön, und außerdem hing darüber noch eine kleine Glocke an einer elastischen Stahlfeder, die nach innen gedrückt wurde, wenn man durch die Haustür hereinkam. Tagsüber wurde nämlich nicht zugeschlossen, und so bimmelte es jedesmal, wenn irgendwelche Leute ins Pfarrhaus kamen. Früher hatten auch Schuster solche Klingeln in ihrer Werkstatt; unser Schuster jedenfalls hatte so eine, damit er auch die Kundschaft kommen hörte, wenn er in der Küche war und aß oder aus irgend einem andern Grunde nicht in der Werkstatt saß. Nun waren also alle weggegangen außer mir, und meine Schwiegermutter hatte mir gesagt, ich solle abschließen und verriegeln und den Balken vorlegen. Wenn sie heimkämen, würden sie am Wohnzimmerfenster klopfen, damit ich aufmachte. Auf diese Weise brauchte ich mich nicht zu fürchten.
»Ich tat das also und legte mich dann angezogen hin, las ein bißchen und mußte dann wohl eingeschlafen sein, obwohl ich vorher dachte, allein in so einem Spukhaus würde ich nie einschlafen können. Im Wohnzimmer übrigens spukte es nicht, hatten sie mir beteuert, und ich hatte auch nie etwas gemerkt. Jetzt wachte ich auf, weil es geklingelt hatte. Die Glocke über der Haustür hatte angeschlagen. Aber das war doch eigentlich nicht möglich, denn der Balken lag ja vor, ich hatte ihn selbst vorgelegt. Ich horchte. Ja, ganz deutlich schepperte die Klingel, und dann hörte ich Schritte durch den Flur kommen, auf die Treppe zu.
›Nanu, wie sind die denn reingekommen?‹ dachte ich und sprang auf, eigentlich mehr verwundert als erschrocken. Ich hatte noch Licht brennen und lief durchs Zimmer und dann durch den oberen Flur. Dann knipste ich auf der Treppe, die zum unteren Flur führte, Licht an. Ich lief die Treppen ein paar Stufen hinunter. Niemand war da. Und ich hatte doch die Schritte so deutlich gehört! Jetzt stand ich tief genug, um auch die Klingel zu sehen. Ich sah sie – und es grauste mich: Sie schwang hin und her! Aber der Balken lag in seiner Halterung, und die Haustür war, wie ich nachher feststellte, auch noch genauso verschlossen und verriegelt wie vorher. Der Schlüssel steckte von innen.
›Ich habe wohl eine lange Zeit dagestanden und mir das angesehen und überlegt. Mit rechten Dingen ging das nicht zu, konnte das nicht zugehen. Wie aber erklärte man es? Als ich es später den andern erzählte, sahen sie einander an und dann mich. Ich merkte, auch das war nicht zum erstenmal geschehen.«
»Und?« fragte Heidel, als Helmis Mutter schwieg.
»Ja, mehr kann ich nicht erzählen«, sagte diese. »Aber ich habe es so erlebt, wie ich es schilderte. Sonst werden Gespenstergeschichten ja von dritten erzählt, von jemandem, den man kennt, und der hat es von einem, der... und so weiter, wie dein Bruder Matthias sagt. Diesmal aber kann ich sagen: So war es. Ich habe es selbst erlebt.«
Sie schwiegen. Dann sagte Heidel vorsichtig: »Aber hier – ich meine –« sie sah sich um. Helmi lachte.
»Hier spukt es nicht. Nie. Es liegt am Haus, nicht wahr, Mutter? Dort das Haus war eben ein Spukhaus. Alt, und wer weiß, was darin schon alles passiert ist. Hier haben wir nie etwas gemerkt. Schade.«
»Na, ich weiß nicht...« Heidel dachte daran, wie Helmi ihr am Tag, an dem sie einander kennenlernten, die alte Burg gezeigt hatte, deren Reste im Wald lagen, und dann abgerutscht war und sich das Bein gebrochen hatte. Dies war an einem Dreizehnten geschehen, und Helmi hatte allerlei von Aberglaube und An-Holz-Klopfen und derartigem erzählt. Und nun sagte sie »Schade!«, weil es nicht spukte!
Dann aber mußte Helmis Mutter in die Küche, und Heidel las selbst wieder vor. Dies war nun eine lustige Gespenstergeschichte, auch eine englische. Da zogen modern denkende, unerschrockne Amerikaner in ein altes Schloß in England, in dem ein Gespenst umging, und die beiden Jungen, Zwillinge waren es, so im richtigen Lausbubenalter, malträtierten das arme Gespenst, daß es zuletzt froh war, als es Ruhe bekam und nicht mehr spuken mußte. Heidel und Helmi lachten sehr, und Heidel fuhr wieder einmal viel zu spät weg, mußte sich sehr beeilen und kam mit schlechtem Gewissen zu Hause an. Dort hatten sie schon Abendbrot gegessen, und Mutter stellte eben den letzten abgetrockneten Teller fort. Sie sagte nichts, aber Heidel merkte genau, was sie dachte. »Kann ich noch was helfen?« fragte sie kleinlaut.
»Danke, nein. Ich bin eben fertig«, sagte Mutter in ihrer leisen Art. Heidel verdrückte sich.
Sie hatte schon manchmal gedacht, es müßte hübsch sein, so eine Mutter zu haben wie Helmi. Die tüchtig zupackte und das auch von ihren Kindern erwartete. »Los, Helmi, die Kühe ins Gatter. Wo bleibst du? Und Wulf, du fährst mir die Karre weg, aber etwas plötzlich, verstehst du, junger Mann?« – und die sich dafür dann die Zeit nahm, sich zu ihnen zu setzen und zu schwatzen. Ihre eigene Mutter verlangte nie etwas, sie arbeitete von früh bis abends, und wenn sie Hilfe brauchte, bat sie. Das war schlimmer, denn da hatte man dauernd das Gefühl, zu wenig zu tun. Aber vielleicht wurde alles besser, wenn sie jetzt in das Haus zogen, das Dr. Seibold gemietet hatte, und –
Dann aber gingen sie weg von hier, und zu Helmi zu fahren war es weit. Heidel wußte nicht, sollte sie sich freuen oder nicht. Sie saß auf ihrem Bett, mutlos, ohne sich aufzuraffen, obwohl sie noch Schularbeiten hätte machen müssen. Ach, die schrieb sie morgen vor der Schule von ihrer Banknachbarin ab. Immerzu ›mußte‹ man etwas...
Als sie am anderen Mittag heimkam, erzählte Frau Seibold, die Frau des Revierförsters habe angerufen. Heidel solle heute lieber nicht kommen, beide Kinder wären krank.
»Das waren sie gestern schon«, sagte Heidel und warf ihre Schultasche auf die Bank. »Ich hab’ ihnen vorgelesen, und ihre Mutter hat uns dann was erzählt.«
»Ja, aber heute – sie sagte, es bestünde Gelbsuchtverdacht.«
»Gelbsucht?« fragte Annette, die in diesem Augenblick hereingekommen war.
»Ja, sie war recht unglücklich. Und sie läßt dich grüßen, Heidel.« »Danke«, sagte Heidel matt. Annette verbreitete sich über diese Krankheit; sie interessierte sich sonst nicht für Heidels Bekannte, von Helmi aber hatte sie immer einmal etwas gehört. »Da kann sie ja eine Weile Schule schwänzen, deine Freundin. Denn da muß man ins Krankenhaus, soviel ich weiß. Gelbsucht ist meldepflichtig, weil sie ansteckt.«
Heidel hörte nur mit halbem Ohr hin. Sie hatte keinen Appetit, aß aber doch etwas, weil Mutter immer aufgebracht war, wenn man nichts mochte. Sobald sie konnte, ging sie in ihr Zimmer und setzte sich aufs Bett.
»Was ist denn mit dir los«, sagte Annette, als sie hereinkam, und kramte in ihrem Regal. »Du siehst ja aus, als hättest du die ganze Nacht gefeiert. Wie das Kätzchen am Bauch. Hast du etwa Liebeskummer?«
»Halt bloß den Mund! Das überlass’ ich dir«, sagte Heidel ärgerlich. Annette mit ihren Männergeschichten – nein, so albern würde sie, Heidel, sich nie benehmen. Sich herausputzen und die Wimpern färben und – na, alles, was damit zusammenhing.
Sie sagte dies alles, sagte es halblaut und wütend und gehässig, ja, auch gehässig, sie fand das selbst. Sonst war sie doch nicht so... Annette wunderte sich auch.
»Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?« sagte sie, ohne eine Antwort zu erwarten. Sie suchte ein Buch.
»Hier muß wieder mal jemand Ordnung gemacht haben, so daß man nichts findet.«
»Ich vielleicht? Ich war überhaupt nicht da, gestern den ganzen Nachmittag nicht, und heute bin ich eben erst gekommen!« Heidel warf sich seitlich aufs Bett und fing an zu weinen. Annette sah sie von der Seite an, sagte nichts und ging dann hinaus. Als sie nach einer Weile wiederkam, war Heidel eingeschlafen. Na, so was!
Am andern Morgen stand Heidel nicht auf.
»Sag Mutter nichts, mir ist nicht gut«, flüsterte sie, als Annette noch mal hereinkam, um ihre Schulsachen zu holen. »Ich friere so. Könntest du mir nicht eine Wärmflasche bringen?« Sie schnatterte mit den Zähnen. »Ich geh’ nicht in die Schule, hundsmiserabel ist mir...«
»Na schön, ich hol dir eine. Aber gut ist es ja nicht, wenn du die Schule versäumst...«
Heidel antwortete nicht. Sie wußte, daß Annette recht hatte. Aber wenn einem so scheußlich war, konnte man doch nicht... Sie schlief wieder ein. Aber es wurde kein guter Schlaf. Sie träumte – über ihrer Tür hing eine Glocke, und die bewegte sich, aber sie läutete nicht. Heidel wußte, daß sie läuten mußte, sonst geschah ein Unglück, und sie starrte hinauf und hoffte von einer Sekunde zur anderen, daß sie es tun würde, aber kein Ton drang heraus, und die Glocke schwang und schwang, immer heftiger, immer wilder – ›Wenn ich doch hinaufkönnte! Wenn ich hinauflangte und sie anfaßte, wúrde sie läuten‹, dachte Heidel verzweifelt, ›aber ich bin zu klein. Mit mir ist nichts los, ich bin zu klein und zu dumm – zu dumm zum Milchholen, hat Annette immer gesagt, als wir noch jünger waren und helfen wollten, und Mutter fand immer, sie würde allein besser fertig...‹
Die Glocke, die Glocke – warum läutete sie nicht? Dann sollte sie lieber ganz ruhig hängen, dann konnte sie nicht läuten.
»Was ist denn? Was hast du denn?« hörte Heidel jetzt eine Stimme. Mutters Stimme. Auf einmal war sie wach, aber es war, als habe sie nicht geschlafen, sondern als sei sie gerannt, so erschöpft fühlte sie sich. Sie merkte, wie sie schwitzte, und ihr Atem ging keuchend.
»Die Glocke, Mutter!« brachte sie heraus. Da war die Glocke plötzlich groß und drohend und lief hinter ihr her, und sie selbst war ein Kind und rannte über ein Stoppelfeld, rannte und rannte, und die Glocke ihr nach...
Später besann sie sich, daß es ein Gedicht gab, das Mutter ihnen manchmal aufgesagt oder vorgelesen hatte, als sie noch klein war, ein Kind, und wohl auch krank. Die wandelnde Glocke – von Goethe, wenn sie sich recht erinnerte. »Es war ein Kind, das wollte nie zur Kirche sich bequemen«, fing es an. Sie wußte noch, welch gräßlich-angenehmes Gruseln sie gefühlt hatte, wenn sie sich vorstellte, die Glocke verfolge sie – und doch immer die Gewißheit besaß, Mutter war ja neben ihr. Solange Mutter an ihrem Bett saß, konnte keine Glocke sie erreichen.
Ja, das war damals gewesen, lange her. Als sie noch ein Kind war. Jetzt beugte sich Mutters Gesicht auch über ihr Bett, aber man konnte Mutter nicht erreichen, nicht zu ihr flüchten. Was würde sie wohl denken von einem fast erwachsenen Menschen, der sich vor einer Glocke fürchtete...
Das Krankenhaus lag ganz am Ende der Stadt, an der Ausfallstraße, von dieser jedoch ein Stück zurückgerückt. Man hörte die Autos zwar, aber nicht ganz nahe. Das war gut; nie im Leben hatte sie geahnt, wie das Sausen von Autos oder gar Motorrädern in den Ohren sägen kann...
Heidel bildete sich ein, im ersten oder zweiten Stock zu liegen; sie besann sich überhaupt nicht mehr darauf, wie sie hierher gekommen war. Mit Mutter, ja – aber das bißchen Erinnerung, das sie daran hatte, war so unklar, und Mutter verschwand dann auch bald. Jetzt war Heidel, als läge sie schon endlos lange in diesem Zimmer, das nur ein Bett enthielt und große Glasfenster, nicht nur nach draußen, sondern auch nach dem Nebenzimmer zu, und einen mit einem Vorhang umgebenen Duschraum. Sie durfte nicht aus dem Zimmer heraus, auch nicht, um »für kleine Mädchen« zu gehen. Diese Gelegenheit befand sich auch hinter dem Vorhang. Isolierstation, ach ja, natürlich. Da kann man niemanden anstecken.
Sie hatte Gelbsucht und sich diese anscheinend bei Helmi geholt. Und die lag – so ein Pech! – samt Wulf in einem andern Krankenhaus. Wenn die kleine rothaarige Krankenschwester hereinkam und ihr Kaffee und Weißbrot brachte, so meinte Heidel immer, der Kaffee reichte nicht und das Weißbrot wäre viel zu groß. Es war in Wirklichkeit kaum so lang und breit wie ein Handteller, aber es bedeutete eine unendliche Mühe, es Bissen für Bissen hinunterzuschlucken. Bißchen für Bißchen müßte man sagen; zu Kay hatten sie früher »Mäusehappse« gesagt, wenn er nicht essen wollte und sie ihm ganz, ganz kleine Bissen zurechtgemacht hatte.
Heidel lag immer erschöpft und kraftlos still, wenn sie die schwere Arbeit des Frühstücks hinter sich gebracht hatte. Was sonst mit ihr geschah, ließ sie ziemlich gleichgültig. Einmal mußte sie sich auf die Waage stellen, die die kleine Rothaarige hereinbrachte und vor ihr Bett stellte, danach war ihr zumute, als habe sie einen