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Mit "Motoröl und Puderdose", wendet sich Claudia Neudörfer an jugendliche Leser und packt gleich ein heikles Thema an: Der Held ihrer Geschichte ist homosexuell. Wie geht sein Umfeld damit um? Wie er selber? Ausgrenzung, Mobbing, Anderssein, Achtung, Wertschätzung, Selbstbewusstsein, Eltern-Kind-Beziehung, Verantwortung und Freundschaft, Umgangsformen innerhalb und außerhalb der Familie, all das thematisiert sie und regt zum Nachdenken an. Dabei kommt spannende Unterhaltung ebenso wenig zu kurz wie einfühlsam in Worte gefasste Beschreibungen von Personen oder liebevolle Schilderungen kleiner Episoden am Rande. Im zweiten Teil "Backblech&Regenbogen wird Johnny erwachsen – oder zumindest erwachsener. Mutig bezieht er Stellung: für sich selber, für seine Familie, in der Schule und in der Öffentlichkeit. Und das nicht nur zum Thema Homosexualität. Gelegentlich schießt er dabei übers Ziel hinaus, manchmal braucht er einen Anlauf mehr, um zum Ziel zu kommen. Seine Unbekümmertheit gepaart mit jugendlichem Überschwang lassen den Leser mitfiebern. Seine Nachdenklichkeit, sein Mut, seine Hilfsbereitschaft regen den Leser wieder zum eigenen Nachdenken an. Claudia Neudörfer ist es auch in diesem Buch gelungen, eine spannende Handlung in lebensnahe Dialoge, detailreiche Beschreibungen und wichtige Themen unserer Zeit zu verpacken.
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Seitenzahl: 393
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Motoröl & Puderdose
und
Backblech & Regenbogen
von Claudia Neudörfer
Autor: Claudia Neudörfer
Lektorat: Petra Kind
Alle Rechte dieser Publikation liegen beim Autor. Nachdruck, auch auszugsweise ist nicht gestattet. Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung.
Impressum:
Copyright: © 2021 Claudia Neudörfer
Covergestaltung: Fiverr - germancreative
1. Auflage als Gesamtversion
Herstellung und Verlag: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Motoröl & Puderdose
1. Hinterwäldlerland
2 . Nichts für Memmen!
3. Gib´s doch zu!
4. Schwulenmutti
5. Augen zu und durch
6. Bauern in der Großstadt
7. Wer ist Clemens Richter?
8. Dumm wie ein Brötchen
9. Wanted – Dead or Alive
10. Keine Toleranz für Tunten
11. Johnny Cash
12. Straßenköter
13. Wie der Vater so der Sohn
14. Ring of Fire
15. Kein Mann der großen Worte
16. Travestie-Festival
17. Ich bin normal!
18. Schwuchtelhausen
19. Besser spät als nie
20. Motoröl und Puderdose
21. Abschied nehmen
Hinterwäldlerland
BUMM, BUMM, BUMM. Das waren die ersten Geräusche, die Johnny an diesem Morgen hörte. Zuerst drangen sie wie durch Watte an seine Ohren. Wie von einem Presslufthammer, weit in der Ferne. Innerhalb weniger Sekunden schwollen die Laute zu einem unerträglichen Hämmern an. Langsam dämmerte es Johnny, dass es sich bei dem „Presslufthammer“ um seinen Vater Gerhard handelte, als der sein Klopfen zusätzlich mit lautem Geschrei untermalte.
„Johnny, wenn du nicht in zwei Minuten am Frühstückstisch sitzt, ist was los!“
Mit diesem Satz endete das Gehämmere an Johnnys Zimmertür abrupt und die Schritte seines Vaters entfernten sich. Um weiteren Stress am frühen Morgen zu vermeiden, schwang sich Johnny aus dem Bett. Schnell zog er seine abgewetzte Jeans an. Sie rutschte ihm fast von den Hüften. Um zu vermeiden, dass sie ganz auf den Füssen landete, griff er zu einem Gürtel. In dem Haufen müffelnder Schmutzwäsche, der auf dem Boden vor seinem Bett lag, wühlte er nach einem einigermaßen sauberen T-Shirt und schlüpfte hinein. Danach machte er noch kurz einen Abstecher ins Bad, um sich wenigstens einer Katzenwäsche zu unterziehen. Seine Frisur sah im Moment etwas wild aus. Sein schwarzes, glänzendes Haar fiel ihm über die eine Hälfte seines Gesichts und er musste den „Vorhang“ immer erst zur Seite schieben, um etwas sehen zu können. Sein Vater hatte ihn deshalb „Penner“ getauft. Johnny störte das nicht sonderlich. Schließlich waren Frisurenkonflikte spätestens seit den 80er Jahren zwischen Eltern und Kindern völlig normal. Was wusste sein Vater schon von Mode? Soviel wie ein Stachelschwein vom Rasenmähen!
Sein Vater hatte schließlich nicht mal mehr genug Haare auf dem Kopf, um sich über seine eigene Frisur Gedanken machen zu müssen. Und in seinem Kleiderschrank hing nur ein einziges Modell einer dunkelblauen Latz-Arbeitshose und das in dreifacher Ausfertigung, soviel zum Thema Mode.
Noch leicht müde latschte Johnny in die Küche und setzte sich an den Küchentisch. Sein Vater hob kurz den Kopf. „Na, auch schon aus dem Bett gefallen? Warte nur bis nächstes Jahr, dann kannst du dich morgens nicht mehr so lange rumdrücken. Dann fängt der Ernst des Lebens an!“
„Du bist ja selber noch da, oder?“, entgegnete Johnny, woraufhin der Hals seines Vaters vor Wut anschwoll.
„Und wie du wieder rumläufst! Wie ein Penner!“
Der Vater schlug Johnny beim Aufstehen mit der flachen Hand auf den Hinterkopf und ging angesäuert zur Küchentür hinaus. Johnny zuckte zusammen. Johnnys Mutter Elena tätschelte ihrem Sohn zärtlich den Kopf, nachdem ihr Mann den Raum verlassen hatte.
„Guten Morgen“, sagte sie mit einem Lächeln.
Johnny lächelte zurück. In solchen Momenten fragte er sich, warum seine hübsche, intelligente Mutter so einen alten, ungehobelten Typen geheiratet hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die beiden je etwas gemeinsam gehabt hatten. Während er nachdachte, musterte er seine Mutter. Für ihre 46 Jahre sah sie noch recht jugendlich aus. Ihre langen, blonden Haare waren während der Hausarbeit immer zu einem Zopf geflochten und sie trug stets eine dunkelblaue Schürze mit rosa Blümchen. Es war ein Jammer. Seine Mutter war als junge Frau Lehrerin an einer Grundschule gewesen. Sie hatte ihren Beruf geliebt und konnte gut mit Kindern umgehen.
Doch als sie Gerhard geheiratet hatte, bestand der darauf, dass sie ihren Beruf aufgab und seither ein Leben als Hausfrau fristete. Seine Mutter hatte in den letzten Jahren das Beste daraus gemacht und ihre ganze Kraft in die Perfektionierung des Kuchenbackens und das Reinigen des Hauses gesteckt.
„Johnny, träum nicht! Du musst zur Schule“, holte sie ihn aus seinen Gedanken zurück und stupste ihn an der Schulter an. Statt aufzustehen, widmete Johnny sich seinem Marmeladenbrötchen.
Kurz darauf klingelte es an der Haustür. Es war Johnnys beste Freundin, Mia Himmelspach. Mia wartete vor dem Haus, bis Johnny seine Schulsachen zusammen gepackt hatte und heraus kam. Ungeduldig wippte sie mit ihrem rot gelockten Haarschopf zu einer imaginären Melodie. Mia war schon aufgrund ihrer enormen Haarmähne ein Hingucker, ihr eigenwilliger Kleidungsstil setzte dem ganzen noch die Krone auf. Sie hatte eine Vorliebe für bunte Pullover, dazu passende Röcke und knallbunte Strumpfhosen, heute tummelten sich dort schwarze und weiße Kätzchen auf pinkfarbenem Grund. Mia ging auf Johnny zu und küsste ihn auf die Wange. „Hallo Johnny, du bist spät dran!“
Auf dem Weg zur Bushaltestelle quasselte Mia weiter: Über Matheaufgaben, die sie noch abschreiben musste und den neuen „ultrasüßen” Englischlehrer. Johnny kannte niemanden, der um diese Uhrzeit schon so viele Wörter von sich geben konnte wie Mia. Seine eigene Stärke lag eher im Zuhören, was seine Freundin Mia auch sehr an ihm schätzte. Während Mia weiter fröhlich drauflos plapperte, fiel ihm die alte Frau im Nachbarhaus auf, die hinter dem Vorhang hervorlinste. Frau Maier widmete sich also mal wieder ihrem Hobby, Leuten nachzuspionieren. Als sie bemerkte, dass Johnny sie gesehen hatte, verschwand sie schnell hinter dem Vorhang. Er musste unwillkürlich schmunzeln. Das waren wohl die Schattenseiten, die das Dorfleben so mit sich brachte. Jeder kannte den anderen und machte ihn gerne zum Thema des Dorfklatsches. „Willkommen im Hinterwäldlerland!“ Johnny war sich sicher: Wenn er erst mal die Schule beendet hatte, würde er hier schneller abhauen als Speedy Gonzales. Am besten in eine Großstadt, Hauptsache weg von hier, schoss es Johnny durch den Kopf, als er mit Mia in den Bus stieg.
Der Bus war so voll, dass sie die Fahrt über stehen mussten.
Sie waren froh, als sie ein paar Minuten später an der Schule ankamen. Johnny und Mia waren gerade aus dem Bus gestiegen, da hörten sie schon die quietschende Stimme von Arne Schirmer, der sich lautstark mit einem Jungen auf dem Schulhof angelegt hatte. Arne besuchte dieselbe Klasse wie Mia und Johnny, war aber ein Jahr älter. Im letzten Jahr war er sitzen geblieben, was vor allem auf sein mangelndes Interesse am Unterrichtsstoff und sein zu großes Interesse an Reibereien zurückzuführen war. Kurz darauf tauchte Arnes rattenähnliches Gesicht vor den beiden auf. Aufgrund seines Aussehens hatte Johnny ihn insgeheim „Ratte“ getauft. Abschätzig musterte „Ratte“ Mia von Kopf bis Fuß und stieß seinen Kumpel Bastian Klimek an, der stets an ihm klebte wie eine Zecke. Bastian war groß gewachsen wie ein Baum. Seine Gliedmaßen waren überlang, so dass er häufig über sie stolperte. Was an Bastians Körper zu viel gewachsen war, war an seinem Gehirn zu wenig gewachsen. Arne deutete auf Mias Strumpfhose und prustete los.
„Na, hast du mal wieder in der Kinderabteilung eingekauft?“ Bastian stimmte mit in das Gelächter ein. Mias Kopf wurde augenblicklich puterrot. Johnny hakte sich bei ihr unter und zog sie ins Schulgebäude.
„Ach, lass die doch reden. Als ob die Ahnung von Mode hätten“, versuchte er sie zu beruhigen. Mias Gesichtsfarbe wurde wieder normal und die beiden gingen ins Klassenzimmer.
Schnell vergaß Mia den Vorfall mit „Ratte“ und „Zecke“, denn der Englischunterricht stand an. Johnny beobachtete verwundert, wie sämtliche Mädchen lechzend zur Türe starrten, als der neue Lehrer Simon König herein geschlendert kam. Er hatte etwas Südländisches an sich, vermutlich war er ein halber Italiener oder Spanier.
„Good morning! I am Simon King. I am your new English teacher”, sagte der Südländer mit einem rollenden R.
Dabei schwang er seine lederne Arbeitstasche auf das Pult und nahm auf dem Lehrerstuhl Platz. Eine kleine Locke seines dunklen Haares fiel ihm frech ins Gesicht. Ein paar Mädchen stöhnten auf, als er sich die Haare aus dem Gesicht strich. Johnny warf einen Blick hinüber zu Mia, die sabberte fast auf ihr Englischbuch und kicherte verlegen, als sie bemerkte, dass Johnny sie ansah. Herr König überprüfte die Anwesenheit der Schüler und las die Namen laut vor.
„Johnny Wagner?“ Er suchte mit den Augen den Raum ab und traf Johnnys Blick. Johnny fielen die dunkelbraunen, mandelförmigen Augen auf. „Johnny Wagner?“, wiederholte Herr König und lächelte ihn dabei an. Er hatte strahlend weiße Zähne. Mia stieß Johnny unsanft in die Seite. „Äh, ja, hier“, sagte Johnny peinlich berührt. Nachdem Herr König mit dem Überprüfen der Anwesenheit fertig war, gab er den Schülern eine schriftliche Aufgabe und schlenderte durch die Reihen. Bei dem einen oder anderen blieb er stehen und korrigierte das Geschriebene. Mia hielt den Atem an, als Herr König ihr dabei seine Hand auf die Schulter legte.
„Es heißt –Can I get a steak – nicht - Can I become a steak“, sagte er lächelnd zu Mia. Die kicherte verlegen und grinste wie ein liebestoller Maikäfer. Johnny war froh, als die Stunde endlich zu Ende war. Er konnte kaum noch atmen vor lauter Östrogen und Testosteron in der Luft. Die nächsten Schulstunden kamen Johnny nach diesem Gefühlschaos wie eine Erholung vor und vergingen wie im Flug.
Nach der letzten Schulstunde verließen Johnny und Mia gemeinsam das Gebäude. „Hast du Lust, heute Abend mit ins Kino zu gehen?“, fragte Mia.
„Aber nicht schon wieder so nen Liebes-Schnulz-Schinken!“ Er verzog angewidert das Gesicht. „Ich dachte, es hätte dir das letzte Mal gefallen.“
„Also bitte, dass eine Frau ihren Verlobten am Traualtar stehen lässt, weil sie ihre erste Liebe drei Tage vor der Hochzeit wieder trifft? Komm schon, das ist ein bisschen weit hergeholt.“ Mia setzte gerade an, den Film zu verteidigen, da sah Johnny aus dem Augenwinkel einen Gegenstand auf sie zufliegen. Ohne groß nachzudenken, schubste er Mia zur Seite. Um Haaresbreite wäre sie von einer vollen Getränkedose getroffen worden. Die Dose schlug kurz vor Johnny auf dem Asphalt auf, platzte und bescherte ihm eine Limonadendusche. Eine klebrige Flüssigkeit spritzte hoch und durchnässte ihm T-Shirt, Gesicht und Haare. Die Haare hingen ihm triefend über die Augen. Aus sicherer Entfernung winkten Arne und Bastian hämisch grinsend herüber. Johnny strich sich die verklebten Strähnen aus dem Gesicht.
„Ihr Feiglinge! Mädchen mit Dosen bewerfen, dass könnt ihr!“, schrie er wütend. Die beiden Übeltäter rannten lachend davon. Johnny wollte hinterher, aber Mia hielt ihn zurück. Sie reichte ihm ein Taschentuch, damit er sich das Gesicht wenigstens etwas sauber machen konnte. „Lass sie gehen Johnny, das bringt doch nichts.“ Johnny wrang ärgerlich sein T-Shirt aus und die Limonade tropfte nur so auf den Boden. „Danke, dass du mich weggeschubst hast. Du, mein Retter“, meinte Mia und himmelte ihren Freund an.
„Ach, schon ok. Du weißt ja, ich kann Gewalt gegen Frauen nicht ausstehen und schon gar nicht gegen dich“, lächelte er zurück. „Gehen wir doch vorm Kino erst mal zu mir, damit ich aus den klebrigen Sachen rauskomme“, bat Johnny und steuerte mit Mia die Bushaltestelle an.
Nichts für Memmen
Als die beiden bei Johnny Zuhause ankamen, verzog Johnny irritiert das Gesicht. „Das ist aber merkwürdig.“ „Was denn?“, fragte Mia.
„Na, das Auto von meinem Vater steht schon hier.“ Er zeigte auf den alten Mercedes, der in der Einfahrt stand. Johnnys Mutter öffnete im selben Augenblick das Küchenfenster und gab ihrem Sohn zu verstehen, dass er reinkommen solle, am besten alleine.
„Tut mir leid Mia, wird wohl heute nichts mit Kino. Sieht nach Krisensitzung aus“, stöhnte Johnny enttäuscht. „Alles klar, halt mich auf dem Laufenden“, bat Mia, drückte Johnny einen Kuss auf die Wange und machte sich alleine auf den Nachhauseweg.
Johnny konnte die Spannung, die zwischen seinen Eltern herrschte, schon vom Flur aus buchstäblich knistern hören. Er stellte seinen Rucksack ab und warf einen Blick in die Küche. Sein Vater saß am Tisch, die Mutter hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Sein Vater sah aus, als wäre er innerhalb eines Tages um zehn Jahre gealtert, tiefe Ringe zeigten sich unter seinen Augen. Als Johnny die Küche betrat, hob seine Mutter den Kopf.
„Was ist denn los?“, fragte Johnny vorsichtig. Er fühlte sich, als würde er über brodelnde Lava laufen.
„Dein Vater hat heute seine Arbeit verloren, weil die Firma Insolvenz angemeldet hat“, erklärte seine Mutter und widmete sich wieder ihrem Mann. Der saß mit hängenden Schultern auf einem Küchenstuhl und starrte wie ein Häufchen Elend das Glas Wasser vor sich auf dem Tisch an. Johnny konnte sich nicht erinnern, dass er seinen Vater je so verzweifelt gesehen hatte.
Sein Vater hatte sich zwar hin und wieder über die schwere körperliche Arbeit auf dem Bau beklagt, aber trotzdem war sein Job immer ein Teil von ihm gewesen.
„Wie siehst du eigentlich aus?“ Johnnys Mutter fasste das nasse T-Shirt ihres Sohnes an.
„Hab ne Limodusche abgekriegt“, antwortete Johnny. Sein Vater warf ihm einen abfälligen Blick zu, stand auf und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Johnny kannte diesen Blick nur zu gut, eine Mischung aus Verachtung und Hass. Sein Vater hatte ihn seit seiner Geburt so angesehen, zumindest kam es Johnny so vor. Warum das so war, konnte er sich nicht erklären. Im Allgemeinen zog er es vor, seinem Vater lieber aus dem Weg zu gehen. Besonders heute, wo der diese Hiobsbotschaft bekommen hatte. Es würde sicherlich nicht leicht für seinen Vater werden, in seinem Alter von 54 Jahren eine neue Arbeitsstelle zu finden. Außerdem hatte er nie etwas anderes gemacht, als auf dem Bau zu arbeiten und würde sich vermutlich in keinem anderen Beruf zurechtfinden.
Die Stille, die in der kleinen Küche herrschte, erdrückte Johnny regelrecht.
„Ich geh dann mal unter die Dusche“, sagte er leise und schob sich lautlos aus dem Raum. Nachdem er mit viel Shampoo sein Haar limonadefrei geschrubbt hatte, verzog er sich in sein Zimmer. Aus der Küche war lautes Geschrei und Flaschengeklapper zu hören. Sein Vater hatte es wohl wiedermal nicht bei einem Bier belassen. Er neigte generell dazu, jeglichen Frust und Ärger mit Alkohol zu betäuben, sehr zum Leidwesen seiner Familie. Obwohl Johnny es nicht wollte, musste er den Streit mit anhören. Als er plötzlich seine Mutter weinen hörte, entschloss er sich, sein sicheres Terrain zu verlassen und nach ihr zu sehen.
Seine Mutter stand weinend vor dem Badezimmerspiegel und versuchte das letzte Bisschen ihres dezenten Makeups zu retten. „Alles in Ordnung?“ Johnny lugte zur Badezimmertüre herein. „Hat er dir wehgetan?“
„Nein, nein. Alles in Ordnung. Er ist nur sehr deprimiert und macht sich Sorgen, wovon wir jetzt leben sollen.“
Sie wischte sich über die rotgeweinten Augen. „Er kann das aber doch nicht an dir auslassen“, meinte Johnny und streichelte sanft ihren Rücken.
„Du weißt doch, dass er seine Gefühle nicht zeigen kann“, verteidigte sie das Verhalten ihres Mannes. „Ich bin mir nicht mal sicher, ob dieser Mann überhaupt Gefühle hat“, sagte Johnny mit einem schiefen Grinsen. Seine Mutter musste lächeln. „Du tust ihm Unrecht, tief im Innern ist er ein guter Mensch.“
„Ja klar, tief, tief, tief in ihm.“
Seine Mutter zerwuschelte ihm seufzend das Haar und ihr Lächeln wurde breiter. Immerhin konnte sie über Johnnys Kommentar ein wenig lachen.
Plötzlich stand sein Vater im Rahmen der Badezimmertüre. An seinem Gesicht war abzulesen, dass er nicht mehr nüchtern war.
„Was gibt´s denn hier zu lachen?“, lallte er und schob seinen nach Bier stinkenden Körper ganz nah an seine Frau heran.
„Nichts Gerhard, ich schlage vor, wir gehen jetzt alle ins Bett. Morgen sieht die Welt bestimmt gleich ganz anders aus“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen und dabei aus dem Badezimmer zu schieben.
„Du hast mir gar nichts zu befehlen! Glaubst du vielleicht, weil ich jetzt nicht mehr das Geld nach Hause bringe, hast du hier das Sagen?“, schrie ihr Mann aufgebracht. Johnny roch den stinkenden Atem seines Vaters und unterdrückte die aufkommende Übelkeit.
„Das wollte Mutter doch gar nicht damit sagen. Warum legst du dich nicht einfach hin“, flehte Johnny und führte seinen Vater ein paar Schritte in den Flur hinaus.
„Warum legst DU dich nicht hin?“ Gerhard holte aus und traf seinen Sohn am Kinn. Dieser taumelte leicht und landete dann auf dem Boden. Die Mutter zog ihren Mann zu sich heran. „Lass doch den Jungen in Ruhe! Komm jetzt mit ins Bett“, bettelte sie und schaffte es schließlich, ihren Mann ins Schlafzimmer zu bugsieren. Johnny rappelte sich wieder vom Boden auf und flüchtete in sein Zimmer, wo er erst einmal tief durchatmete.
Als er einen Blick auf sein Handy warf sah er, dass Mia angerufen hatte und drückte auf Rückruf. „Hallo Mia!“
„Hey Johnny, alles klar bei dir zu Hause?“
„Mein Alter ist gekündigt worden und hat wieder zu viel getrunken.“
„Er hat dir doch nichts getan?“
„Nur Bagatellschäden“, sagte Johnny während er sein blaues Kinn im Spiegel begutachtete.
„Das tut mir leid.“ „Ach, ist schon ok. Das Leben ist eben nichts für Memmen.“
„Da hast du Recht. Also, wir sehen uns dann morgen.“
„Genau, gute Nacht“, sagte Johnny und legte auf.
Als Mia Johnny am nächsten Morgen sah verzog sie mitleidig das Gesicht. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingern über das blaue Kinn. Johnny versuchte zu lächeln. Sein Vater hatte ihn auch vorher schon hin und wieder mal geschlagen. Zu sichtbaren Blessuren, war es eher selten gekommen. Johnny und Mia gingen eine Weile wortlos nebeneinander her zur Bushaltestelle.
„Wie geht es dir?“, unterbrach Mia das Schweigen.
„Mir geht´s gut. Ich komme mir nur zu Hause so vor, als ob ich über ein Tretminenfeld laufe. Es könnte jeden Moment was hochgehen.“
„Ich hoffe, dein Vater findet schnell eine neue Arbeit und alles beruhigt sich wieder.“
Nach kurzer Busfahrt, an der Schule angekommen, sahen sie Arne und Bastian vor dem Eingang stehen. Zum Glück klingelte es in diesem Moment zum Unterrichtsbeginn und eine Schülermenge schob sich gemächlich durch die Flure und somit zwischen sie und die beiden Störenfriede.
„Hast du das Physik-Projekt schon fertig?“, fragte Johnny auf dem Weg ins Klassenzimmer.
„Mia?“ Erst als Mia nicht antwortete, bemerkte er, dass sie nicht mehr neben ihm war. Suchend drehte er sich um und fand sie auf dem Boden hockend, wo sie ihre Schulbücher zusammen suchte.
„Was ist passiert?“ wollte er wissen und half Mia, die Sachen aufzuheben.
„Ratte und Zecke haben mich geschubst und mir sind alle meine Bücher runtergefallen“, antwortete sie den Tränen nahe.
Arne und Bastian standen ein paar Meter entfernt und amüsierten sich köstlich. Wütend erhob sich Johnny und baute sich vor den beiden auf.
„Sagt mal, was seid ihr eigentlich für zwei Schlappschwänze? Ein Mädchen andauernd zu schikanieren, was soll das Ganze?“
„Ach, das Schoßhündchen von der Himmelspach!“, rief Arne und verzog angewidert das Gesicht.
„Ist doch ganz einfach, sieh sie dir doch an. Die rothaarige Hexe, angezogen als ob sie die Klamotten von Kleinkindern auftragen müsste. Die kriegt doch nie einen ab!“
Arne stemmte seine Hände in die Hüften, um sein Imponiergehabe noch zu unterstreichen. Johnny warf einen Blick auf Mia, die in ihrem roten, mit Blümchen bedeckten Pullover und einem weißen Röckchen, wirklich wie ein zu groß geratenes Kindergartenkind wirkte.
„Ihr zwei hört jetzt mal gut zu! Mia ist meine Freundin und ihr werdet sie in Ruhe lassen!“ Johnny ging demonstrativ zu Mia, nahm sie an die Hand und zog sie Richtung Klassenzimmer.
Arne und Bastian schauten verwirrt drein, so als ob ihnen gerade jemand erzählt hätte, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gäbe. Mia hielt strahlend Johnnys Hand fest. Sie konnte nicht glauben, dass Johnny sich endlich zu ihr bekannt hatte. Schon im Kindergarten hatte sie sich in ihn verliebt, aber nie eine Reaktion von ihm bekommen und sich deshalb mit dem „Beste-Freundinnen-Status“ abgefunden. Im Klassenzimmer angekommen, ließ Johnny blitzschnell Mias Hand los und setzte sich auf seinen Platz.
„Das war echt lieb von dir, mich zu verteidigen“, flüsterte Mia schüchtern und schenkte Johnny dabei den perfekten Augenaufschlag.
Johnny schaute noch nicht mal auf, sondern starrte nur auf sein Heft. „Ist doch Ehrensache“, grummelte er in seinen nicht vorhandenen Bart.
Als Simon König in der nächsten Stunde herein kam, wurde es Johnny Angst und Bange. Hatte Mia beim letzten Aufeinandertreffen mit dem Südländer noch wie besessen an dessen vollen Lippen gehangen, konnte sie nun ihren Blick kaum mehr von Johnny abwenden. Immer wenn Johnny zu Mia hinüber sah, blickte er in zwei grüne Augen die ihn anstarrten, als wäre er ein frisch geschlüpftes Küken. Er versuchte sich auf den Unterricht zu konzentrieren, doch es beschäftigte ihn viel zu sehr, dass Mia sein kleines Schauspiel vor Ratte und Zecke zu ernst genommen hatte. Als es zum Schulschluss klingelte, hatte er immer noch keine Idee, wie er unbeschadet aus der Nummer heraus kommen könnte. Unter dem Vorwand, dass sein Vater momentan keinen Besuch wolle, verabschiedete er sich auf dem Nachhauseweg von Mia. Er hoffte, dass Mias Schwärmerei bis zum nächsten Morgen verpufft sein würde und sie einsähe, dass es besser wäre, wenn sie einfach nur Freunde blieben. Doch da hatte sich Johnny gewaltig geirrt.
Am nächsten Morgen präsentierte Mia ihm ein kleines, weißes Schächtelchen mit einer blauen Schleife.
„Das ist für dich, mein Held“, flötete sie.
Johnnys Wangen röteten sich.
„Is´ schon in Ordnung, du hättest mir doch dafür nichts schenken brauchen“, murmelte er verlegen.
„Wollte ich aber, los mach´s auf!“ Mia schaute erwartungsvoll auf Johnny, der mit ungeschickten Fingern die Schleife löste. In Seidenpapier eingeschlagen, fand er ein paar schwarze Boxershorts, bedruckt mit giftgrünen Fröschen, die bunte Badehosen und Taucherbrillen trugen. Mia starrte ihn immer noch erwartungsvoll an.
„Äh, das ist echt … originell. Doch…wirklich, … sehr schön. Danke, Mia“, stotterte Johnny. „Freut mich, dass sie dir gefallen. Ich hab sie im Laden gesehen und musste sofort an dich denken.“
Johnny wunderte sich, was Mia an einem Frosch mit Taucherbrille an ihn erinnerte und steckte die Schachtel in seinen Rucksack.
Als die beiden in den Bus einstiegen und dort ein paar Mädchen aus ihrer Klasse trafen, schnappte sich Mia kurzerhand Johnnys Hand und ließ sie auch die ganze Fahrt über nicht mehr los. Demonstrativ zog sie ihn hinter sich her, als sie an der Schule ausstiegen. Johnny wollte sie nicht blamieren und machte gute Mine zum bösen Spiel. Er war froh, dass er die nächsten zwei Stunden Werkunterricht hatte und Mia Französisch. So konnte er sich zumindest eine Weile von seinem „siamesischen Zwilling“ trennen.
Mias Annäherungsversuche beeinflussten merkwürdigerweise auch ein paar andere weibliche Wesen. Als Johnny in der großen Pause auf dem Pausenhof auf Mia wartete, setzten sich zwei Mädchen zu ihm auf die Treppenstufen. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass diese zwei Mädchen je ein Wort mit ihm gewechselt hatten. Nur mit halbem Ohr lauschte er der Unterhaltung, dessen Hauptthema die neue CD von Justin Bieber war. Als Mia nach kurzer Zeit kam und die beiden Mädchen bei Johnny sitzen sah, schien ihr Blick „Wenn ihr zwei Tussis nicht sofort abzieht, kratze ich euch die Augen aus“, zu sagen. Die Mädels verstanden Mias telepathische Nachricht und verschwanden, ohne ein Wort zu sagen.
„Was wollten die zwei Hühner von dir?“, keifte Mia.
„Oh mein Gott, sie ist tatsächlich eifersüchtig“, dachte Johnny im Stillen.
„Sie machen eine Party und wollen, dass ich komme.“
„Du gehst doch nicht hin, oder?!“
„Äh….“ Mia hatte einen irren Blick drauf. So wie sie jetzt aussah, erinnerte sie Johnny fast an eine Szene aus dem „Exorzisten.“
„Mia, hör mal zu, wir müssen reden.“ Johnny fiel ein, wie abgedroschen sich dieser Spruch anhörte, außerdem war dies wohl der meist gehasste Spruch bei Männern. „Um was geht es denn?“, fragte Mia schließlich. Johnny zog Mia in eine unbeobachtete Ecke des Pausenhofs.
„Also.“ Johnny fühlte sich unter Mias bohrendem Blick wie eine Voodoo-Puppe, die mit Stricknadeln bearbeitet wurde. Trotzdem nahm er all seinen Mut zusammen.
„Mia, ich will deine Gefühle nicht verletzen, du bist schließlich meine beste Freundin. Aber ich denke, du hast da was falsch verstanden.“
„Falsch verstanden?“, fragte Mia irritiert.
„Ja, das Händchenhalten vor Arne und Bastian, das hab ich doch nur gemacht, weil sie gesagt haben, dass du nie einen abkriegst. Ich wollte dir nur helfen.“
„Du bist also nur aus Mitleid mit mir zusammen?“
„Nein, ich meine, wir sind doch gar nicht zusammen!“
„Aber du hast gesagt, dass du mein Freund bist!“
„Das bin ich ja auch, dein bester Freund, aber nicht dein Freund-Freund.“
„Was?“
„Du weißt schon, was ich meine.“
Johnny hatte sich vor diesem Moment gefürchtet, er hatte erwartet, dass Mia schreien und weinen würde, aber nichts dergleichen geschah.
„Gut, dann hab ich das wohl falsch verstanden“, sagte Mia knapp und ging davon. Würde er Mia nicht seit Jahren kennen, hätte er wohl denken können, dass nun wieder alles in bester Ordnung wäre. Aber er wusste es besser und ihm war klar, dass sie innerlich brodelte, wie ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand.
Sie vermieden es, soweit es möglich war, sich über den Weg zu laufen, aber im Englischunterricht mussten sie sich doch wieder eine Bank teilen.
Gib´s doch zu
Als Johnny zu dem Schluss gekommen war, dass der Tag nicht mehr schlimmer werden konnte, rief ihn Herr König nach dem Englischunterricht zu sich. Die Schüler drängten sich aus dem Klassenzimmer, während Johnny zum Lehrerpult schlich. Er sah seine Englisch-Arbeit auf dem Tisch von Herrn König liegen, sie war mit einer roten Fünf verziert.
„Oh nein, nicht das auch noch“, ging es Johnny durch den Kopf.
Herr König setzte sich lässig auf das Pult. „Johnny, was ist denn los mit dir? Deine Arbeit ist miserabel“, sagte er und hielt Johnny die Arbeit vor die Nase. Johnny nahm sie an sich und starrte auf die Fünf. Er konnte es nicht glauben, sogar Herr Königs Fünfen sahen irgendwie „anziehend“ aus.
„Johnny, hast du Probleme zu Hause?“, wollte Herr König wissen.
„Mein Vater hat seine Arbeitsstelle verloren und es geht bei uns momentan alles drunter und drüber“, antwortete Johnny.
Simon König nahm verständnisvoll Johnnys Hand und tätschelte sie. Johnny konnte kaum mehr atmen. Gänsehaut bedeckte seinen gesamten Körper.
„Das tut mir sehr leid, kann ich irgendwas für dich tun?“, fragte Herr König. Johnny schwieg. Er war sichtlich hypnotisiert von dem spanischen Lächeln. Sollte Herr König als Lehrer nicht genug verdienen, könnte er nebenberuflich Werbung für Zahnpasta machen.
„Soll ich mal mit ihnen reden?“, fragte Herr König.
„Mit wem?“, fragte Johnny verwirrt.
„Mit deinen Eltern!“ „Bloß nicht!“, rief Johnny. Herr König sah ihn entgeistert an. „Ich meine, lieber nicht. Die haben jetzt genug Stress. Ich verspreche, dass ich mich mehr anstrenge“, meinte Johnny.
Herr König ließ Johnnys Hand los. „Das will ich hoffen, du willst doch mal einen anständigen Beruf.“
Da war es wieder dieses Lächeln, das selbst Gletscherberge zum Schmelzen brachte. Johnny war gerade in den südländischen Augen versunken, da klopfte Herr König ihm auf die Schulter.
„Ich verlass mich auf dein Versprechen und wenn ich dir irgendwie helfen kann, komm einfach zu mir.“
„Danke“, brachte Johnny mühsam hervor und hörte sich dabei an, wie ein schüchternes Schulmädchen mit Zöpfen.
„Du kannst dann gehen“, sagte Herr König.
Johnny nahm seinen Rucksack und stolperte beim Hinausgehen über eine herumliegende Getränkedose. Peinlich berührt, hob er die Dose auf und warf sie in den nächsten Mülleimer. Vor der Türe konnte er endlich wieder einen klaren Gedanken fassen.
„Na toll Johnny, du hast dich soeben für die Endauswahl des Super-Volltrottels nominiert“, sagte er zu sich selbst. Johnny trat auf den Schulhof und sah, dass Mia nicht auf ihn gewartet hatte. Sie war also wirklich sauer, das war ihm nun endgültig klar.
Als Johnny zu Hause eintrudelte, war es bereits Nachmittag.
Weil ihn das Gespräch mit Herrn König so sehr beschäftigte, war er an der falschen Haltstelle ausgestiegen und hatte beschlossen, den Rest des Weges einfach zu Fuß zu gehen. Johnny betrat die Wohnung und konnte durch die geöffnete Küchentür seinen Vater am Tisch sitzen sehen. Sein Vater wirkte auf ihn wie ein knorriger Troll, der unter einer Brücke saß und Wegzoll verlangte. Johnny hatte gehofft, sich ohne weiteres in sein Zimmer verziehen zu können, aber sein Vater hatte ihn bereits gesehen.
„Johnny, komm mal her!“, befahl sein Vater. Johnny wusste aus Erfahrung, dass dieser Tonfall keinen Widerspruch duldete. Er trat in die Küche und sah, dass heute eine Flasche Schnaps seinem Vater Gesellschaft leistete. Johnny atmete noch einmal tief ein und ging dann zu seinem Vater.
„Was ist denn?“
„Warum kommst du erst jetzt nach Hause?“
Johnny vermutete, dass sein Vater wohl den ganzen Tag auf die Uhr gestarrt haben musste, genug Zeit hatte er ja jetzt dazu.
„Tut mir leid, ich hab nicht auf die Zeit geachtet“, erklärte Johnny.
„Ich hoffe, du strengst dich in der Schule an, damit du nicht wie dein alter Herr jahrzehntelang auf dem Bau schuften musst und danach arbeitslos zu Hause rumhockst.“ Johnny schwieg. Egal was er sagen würde, es wäre in den Augen seines Vaters sowieso das Falsche. Johnny holte seine Englischarbeit heraus und legte sie vor seinem Vater auf den Tisch. Nachdem sein Vater einen Blick auf die Arbeit geworfen hatte, packte er Johnny plötzlich am Arm und hielt ihn fest…
Mia stand auch am nächsten Morgen nicht vor Johnnys Haus. So langsam machte Johnny sich ernsthaft Sorgen um ihre Freundschaft. Er sah Mia auf dem Schulhof und lief ihr hinterher.
„Hey Mia, jetzt warte doch mal! Komm schon, du kannst nicht sauer auf mich sein, nur weil ich dir die Wahrheit gesagt habe. Wir sind doch immer noch Freunde.“
Mia schaute abschätzig zur Seite und ignorierte ihn.
„Schau mal, ich hab die Frosch-Shorts an!“, sagte Johnny und schob seinen Hosenbund soweit nach unten, dass Mia die Boxershorts sehen konnte. Mia musste sich das Lachen verbeißen. Ein bisschen erweicht schaute sie Johnny ins Gesicht. Um Johnnys rechtes Auge lag ein blau-lila gefärbter Bluterguss.
„Was hast du denn mit deinem Auge gemacht?“, fragte Mia schockiert.
„Na ja, es war wohl nicht die beste Idee, meinem Vater die Englischarbeit zu zeigen“, stellte Johnny fest.
„Das tut mir leid, armer Kerl“, sagte Mia.
„Hauptsache, du sprichst wieder mit mir!“
„Das hast du nur deinem Vater zu verdanken“, meinte Mia und schob einen ihrer Mundwinkel nach oben.
„Ich hoffe, Ratte und Zecke haben dich wenigstens die letzten Tage in Ruhe gelassen“, sagte Johnny.
„Ja, seit du meinen Freund gespielt hast. Das wird sich jetzt wohl wieder ändern.“ „Hey, ich bin dein Freund, dein bester Freund. Und ich bin immer für dich da.“ Johnny nahm Mias Arm, hakte sich unter und gemeinsam gingen sie ins Schulgebäude.
Johnny hatte gar nicht mehr an das „prickelnde“ Zusammentreffen mit Herrn König am Vortag gedacht, aber als dieser wieder ins Klassenzimmer trat, war dieses komische Gefühl erneut da. Als Herr König einen besorgten Blick auf Johnnys blaues Auge warf, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Herr König teilte die restlichen, korrigierten Englischarbeiten aus und blieb bei Johnny stehen. Er beugte sich etwas zu ihm herunter und legte eine Hand auf Johnnys Schulter.
„Johnny ist alles in Ordnung? Wie ist das denn passiert?“, fragte er leise. „Wahrscheinlich hat ihn mal wieder sein Alter verdroschen!“, rief Arne von einer der hinteren Bänke mit einem hämischen Grinsen im Gesicht.
„Halt die Klappe, Arne!“, rief Johnny wütend.
„Ist das wahr?“, fragte Herr König kaum hörbar, noch immer über Johnny gebeugt.
„Nein, Unsinn. Es war ein Unfall beim Sport. Hab nen Ball aufs Auge bekommen.“ Johnny versuchte, überzeugend zu klingen. Scheinbar hatte es geklappt. Herr König nickte zufrieden und wand sich an Arne.
„Arne, denk das nächste Mal zuerst nach, bevor du was sagst. Das sind schwere Anschuldigungen, die du da von dir gibst!“ Arne senkte beleidigt den Blick und Johnny grinste Mia an.
Die fand das aber alles gar nicht lustig, verstand jedoch, warum er die ganze Klasse und Herrn König angelogen hatte.
Nun war Johnny nicht nur von Herrn Königs Aussehen beeindruckt, sondern auch davon, dass dieser sich um ihn sorgte und zur Krönung seinem Widersacher einen Dämpfer versetzt hatte. Dieser Typ gefiel Johnny jeden Tag besser.
In Gedanken kritzelte Johnny Herzen in jeder Größe auf ein Blatt Papier. In die Herzen schrieb er in Schönschrift „SIMON“ und himmelte dabei seinen Lieblingslehrer an, der an der Tafel versuchte, ihnen die englische Grammatik näher zu bringen. Mia warf zufällig einen Blick auf Johnnys Gekritzel und konnte fast nicht glauben, was sie da sah. Eine Mitschülerin, die hinter Johnny und Mia saß, öffnete plötzlich ein Fenster und ein Windstoß blies Johnnys Zettel vom Tisch. Unter seinen Augen flog der Zettel wie fallendes Herbstlaub den Gang entlang und landete direkt auf Bastians Füssen. Der hob den Zettel auf und beäugte die vielen Herzen. Arne riss ihm sofort den Zettel aus der Hand und prustete los.
„Ach, Herr König! Da findet sie anscheinend jemand ganz toll!“, rief Arne laut und hielt den Zettel in die Höhe. Herr König ging zu Arne, der ihm die mysteriöse Liebesbotschaft übergab. Die Schülerin, die verantwortlich für die Windböe gewesen war, zeigte auf Mia und Johnny.
„Kam der nicht von eurem Tisch?“ Hätte Johnny eine Schaufel dabei gehabt, hätte er augenblicklich ein Loch gegraben und sich darin versteckt. Er wagte es nicht, seinen Kopf zu drehen. Seine Wangen waren inzwischen in helles rot getaucht und er schwitzte wie ein Boxer, nach einem schweren Kampf.
Mia warf ihm einen perplexen und zugleich mitleidigen Blick zu. Johnny wünschte sich gerade, sein Vater hätte ihn totgeschlagen, da hörte er Mias vertraute Stimme. „Äh, der ist von mir. Ich meine, den Zettel habe ich geschrieben, tut mir leid, Herr König“, stammelte Mia. Ein allgemeines Gelächter schallte durchs Klassenzimmer. Viele tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Herr König ging zu Mia und gab ihr den Zettel. „Ist schon ok“, sagte er nur knapp und widmete sich wieder der Grammatikübung an der Tafel.
Johnny starrte auf die Tischplatte und vermied jeglichen Blickkontakt. Er konnte nicht glauben was Mia da getan hatte, sie hatte ihm den Hintern gerettet.
Als Johnny und Mia ungestört waren, fiel Johnny ihr um den Hals. „Warum hast du das gemacht?“, fragte er.
„Na ja, ich hab gemerkt, dass es dir peinlich war, dass du den Zettel geschrieben hast, also dachte ich…. wozu sind denn Freunde da?“
Johnny drückte Mia noch einmal fest an sich. „Danke, ich bin dir echt was schuldig.“
„Ja, das bist du allerdings.“
„Was meinst du?“
„Na, du bist mir eine Erklärung schuldig!“
„Da gibt es nichts zu erklären.“
Johnny verschränkte die Arme vor der Brust.
„Nein, so einfach kommst du mir nicht davon. Du kommst heute nach der Schule mit zu mir und dann reden wir.“
Johnny verdrehte genervt die Augen. „Na gut!“
Sobald die letzte Unterrichtsstunde zu Ende war, schob Mia Johnny eilig in den Bus und sie fuhren zusammen zu Mia.
Mia hatte kaum ihre Zimmertür hinter Johnny geschlossen, da nahm sie ihn schon in Beschlag.
„Jetzt ist mir alles klar!“, rief sie und warf Johnny einen vielsagenden Blick zu.
„Was meinst du damit und warum schaust du mich so komisch an?“
„Das ist doch sonnenklar, warum bin ich da nicht längst drauf gekommen?“, sprudelte es weiter aus ihr hervor, wie aus einem Springbrunnen. Sie setzte sich mit Johnny auf ihr Bett, das mit einer rosa Schweinchen-Tagesdecke, bedeckt war. Sie legte ihm mütterlich einen Arm um seine Schulter.
„Das hättest du mir doch schon lange sagen können, es sei denn…, du wusstest es selbst nicht.“
„Was soll ich wissen oder nicht wissen? Klär mich mal auf!“, antwortete er sichtlich genervt.
„Na, dass du SCHWUL bist!“
Einen Moment lag ein unangenehmes Schweigen im Raum, bevor Johnny vom Bett aufsprang. „Was? Wie kommst du denn darauf?“
„Na, ist doch klar. Das ist der Grund, warum du unserem Englischlehrer dauernd nachschaust.“
„Ich hab ihm gar nicht nachgeschaut!“ Johnny platzte fast vor Scham.
„Ach, komm schon, das hat ja inzwischen schon fast jeder mitbekommen. Glaubst du ich hab nicht gesehen, dass du Herzchen und seinen Namen auf deinen Block gekritzelt hast?“
Johnny wollte vehement widersprechen, musste sich aber eingestehen, dass dieses merkwürdige Gefühl, das er verspürte, wenn Herr König im Raum war, ihn in letzter Zeit durcheinander gebracht hatte.
„Und außerdem… wolltest du nicht mit mir gehen!“, setzte Mia nach und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Und nur, weil ich dich nicht als Freundin will, soll ich jetzt schwul sein?“
„Es ist nicht nur das, dein ganzes Auftreten, dein pinkfarbener Rucksack mit den Strass-Steinen.“
„Er ist violett!“, widersprach Johnny.
„Von mir aus, aber ich sage dazu schwul. Und wenn du mal darüber nachdenkst, konntest du doch mit Mädchen noch nie was anfangen, oder?“
Johnny hatte sich etwas beruhigt und setzte sich erschöpft neben Mia aufs Bett. „Ich bin eben ein Spätzünder.“
„Ach Quatsch. Du siehst gut aus, bist intelligent und kannst gut zuhören. Alles untypische Merkmale für einen Hetero. Wenn du wolltest, hättest du schon Freundinnen haben können. Warum willst du das nicht wahrhaben?“
„Na ja, vermutlich weil meine Eltern Schwule hassen. Die würden mich lieber tot sehen, als homosexuell. Und, schon vergessen? Wir leben auf dem Dorf!“
„Aber du bist doch ihr Sohn, du bist doch trotzdem immer noch derselbe Mensch. Was andere sagen, sollte dir sowieso egal sein!“
Johnny lächelte Mia an. „Wenn du das sagst, hört sich das alles so einfach an, aber meine Familie tickt da leider anders.“
„Aber wenn du dich outest, wirst du dich bestimmt besser fühlen. Ich bin mir sicher, dass deine Familie schnell merken wird, dass du immer noch der alte Johnny bist.“
„Ich weiß nicht so recht. Solange mein Vater keine Arbeit hat, ist er wie ein Pulverfass.“
„Dann solltest du deinem alten Herrn schleunigst einen Job beschaffen!
Schwulenmutti
Nach dem ermüdenden Gespräch mit Mia kam Johnny sich wie nach einem stundenlangen Therapiegespräch vor, Diagnose: SCHWUL!
Er fragte sich, ob er nun anders wirken würde, nachdem er endlich wusste, was mit ihm los war. Er hatte sich dabei erwischt, dass er seinen überlangen Pony zu einer Elvislocke drehen wollte. Aber seine Stimme hatte noch keinen Fistelton angenommen, sie hörte sich wie immer an. Nur seine Vorliebe für Strass-Steine, konnte er nicht komplett abstreiten.
Mia wohnte nur zwei Straßen entfernt von ihm, weshalb er sich zu Fuß auf den Heimweg machte. Er kam an einer Baustelle vorbei. Ein Schild wies darauf hin, dass an dieser Stelle in Kürze vier Einfamilienhäuser entstehen sollten. Was „in Kürze“ im Baujargon bedeutet, begriff Johnny nicht so ganz. Soweit er sich erinnerte, bestand die Baustelle schon seit Monaten und es schien nicht vorwärts zu gehen. Kurzerhand holte Johnny sein Handy heraus und rief die Telefonnummer auf dem Schild an. „Firma Krause Bau GmbH!“, ertönte es am anderen Ende der Leitung. „Personal-Leasing Winter, Herr Graf am Apparat“, sagte Johnny souverän.
„Was kann ich für Sie tun?”, fragte die Sekretärin der Firma Krause.
„Ich habe gesehen, dass ihre Baustelle schon seit längerer Zeit Brach liegt. Könnte es vielleicht sein, dass der Mangel an qualifizierten Mitarbeitern der Grund dafür ist? Ich kann ihnen einen unserer besten Mitarbeiter, Herrn Gerhard Wagner, wärmstens empfehlen. Er hat mehr als 30 Jahre Berufserfahrung im Baugewerbe und ist vielseitig einsetzbar.“
Die Dame wollte Johnny ins Wort fallen, der ließ aber nicht locker.
„Gerne schicke ich Ihnen Herrn Wagner unverbindlich vorbei, er könnte morgen bereits zum Probearbeiten kommen“, endete er. Die Frau am anderen Ende der Leitung schwieg einen kurzen Moment, bevor sie weitersprach. „Ja, warum nicht? Wir haben einige Kranke im Moment. Herr Wagner soll morgen um 8 Uhr in unser Büro kommen und sich vorstellen“, antwortete die Sekretärin.
„Geht in Ordnung, vielen Dank für das freundliche Gespräch“, sagte Johnny und legte zufrieden auf.
Wenn der Alte den Hintern nicht hoch bekam, dann musste der Sohn halt nachhelfen. Zu Hause angekommen, legte Johnny den Zettel mit der Anschrift der Firma und dem Vorstellungstermin auf den Küchentisch. Als er in sein Zimmer gehen wollte, stieß er fast mit seinem Vater zusammen. Die tiefe Zornesfalte auf dessen Stirn und sein typischer verachtender Blick, ließen Johnny zusammen zucken. Bevor sein Vater irgendwas sagen konnte, legte Johnny los.
„Hör mal, du sollst dich morgen bei der Firma Krause vorstellen, um 8 Uhr, Adresse liegt auf dem Küchentisch.“
„Das Bauunternehmen Krause?“, fragte sein Vater verwundert.
„Ja, genau, die haben doch um die Ecke diese Baustelle und brauchen zumindest übergangsweise noch Arbeiter.“
Johnny wartete auf eine Reaktion seines Vaters, der schien misstrauisch zu sein. Ungläubig lief sein Vater an den Küchentisch und starrte auf den Zettel.
„Und woher wissen die, dass ich Arbeit suche?“
„Ich hab dort einfach angerufen und gefragt, ob du dich mal vorstellen darfst“, erklärte Johnny ein wenig eingeschüchtert. Sein Vater nickte und brachte ein brummiges „Mmmhh“ heraus. Johnny genügte das, er wusste, dass er nicht auf ein „Danke“ oder „Gut gemacht“ zu warten brauchte. Ein Satz seines Vaters ohne „Versager“ oder „Bastard“, kam fast einem Liebesgeständnis gleich.
Johnny schloss erleichtert seine Zimmertür hinter sich. Jetzt musste er nur noch darauf hoffen, dass sein Vater sich nicht zu blöd anstellte und den Job bekam. Dann würde sich auch hoffentlich bald die Laune seines Vaters bessern. Absolut zufrieden mit sich, warf sich Johnny aufs Bett und schrieb Mia eine SMS, um sie über das Geschehen zu informieren.
Als Johnny ein paar Tage später von der Schule nach Hause kam, wurde er bereits freudig von seiner Mutter erwartet. Sie führte ihn ins Wohnzimmer, wo sein Vater bereits auf dem Sofa saß.
„Komm rein, Johnny“, sagte seine Mutter lächelnd. Johnny wusste nicht so recht, was das zu bedeuten hatte. Auf dem Wohnzimmertisch stand ein selbstgebackener Käsekuchen. „Komm setz dich zu uns!“, bat sie und drückte Johnny aufs Sofa. „Haben wir im Lotto gewonnen?“, fragte Johnny und schaute zwischen seinem Vater und seiner Mutter hin und her.
„Nicht ganz, aber fast. Nach drei Tagen Probearbeit haben sie deinem Vater eine Arbeitsstelle angeboten. Sie ist erst mal nur auf drei Monate befristet, aber mit Aussicht auf eine Festanstellung. Und das alles verdanken wir dir!“ Die Mutter klopfte ihrem Sohn stolz auf den Rücken.
„Ist doch so, oder Gerhard?“, fragte sie und schubste ihren Mann sachte an.
„Ja, Elena“, brachte Johnnys Vater unter größter Anstrengung hervor. Johnny lächelte. So etwas ansatzweise Nettes hatte er selten von seinem Vater gehört. Glückselig verspeiste Johnny ein Stück des vorzüglichen Käsekuchens in der Hoffnung, dass nun alles besser werden würde.
Am nächsten Morgen stand Mia grinsend vor der Türe. Sie begrüßte Johnny überschwänglich. „Heut ist der Tag!“
„Was für ein Tag denn? Hab ich was verpasst?“, fragte Johnny verwirrt. Ihm gefiel Mias irrer Blick nicht.
„Oh nein, ich kenne diesen Blick, was hast du vor?“
„Ich hab eine Überraschung!“, rief Mia und öffnete mit einem Ruck den Reißverschluss ihrer Jacke. Johnys Augen weiteten sich schlagartig, als er Mias T-Shirt in zartem Pastellrosa mit der fetten Aufschrift „SCHWULENMUTTI“ zu sehen bekam. Er sprang vor und versuchte mit Mias Jacke den Schriftzug zu verdecken. „Spinnst du denn völlig? Wenn dich jemand sieht!“
„Was hast du denn, du hast doch gesagt, wenn dein Vater wieder eine Arbeit hat, dann outest du dich!“, verteidigte sich Mia und schloss den Reißverschluss ihrer Jacke wieder.
„Das hab ich nie so gesagt und außerdem ist das nicht so einfach.“
„Deshalb wollte ich dir ja damit helfen“, sagte Mia und zeigte auf ihr verdecktes T-Shirt.
„Das ist doch keine Hilfe! DU willst mich outen. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.“
Johnny schüttelte verstört den Kopf, manchmal verstand er nicht, was in Mias Kopf vorging.
„Ich hätte auch das Shirt mit dem Spruch „Ich glaube, der ist schwul“ mit entsprechendem Pfeil nehmen können. Aber ich habe mich für die schlichtere Variante entschieden, ich habe ja schließlich Taktgefühl.“
Johnny wollte keinen Streit mit Mia, denn wie sie da vor ihm stand und schuldbewusst zwischen ihren roten Locken hervorschaute wusste er, dass sie es nicht böse gemeint hatte.
„Mia, ich weiß deine Unterstützung wirklich zu schätzen. Aber lass mir bitte noch etwas Zeit damit. Ich sag dir Bescheid, wenn ich soweit bin.“
Mia nickte verständnisvoll. „Und lass die Jacke zu!“, ermahnte Johnny sie.
Kurz vor dem Sportunterricht fing Mia Johnny vor der Jungenumkleide ab.
„Falls du es dir mit deinem Outing doch noch anders überlegt hast …“
Mia griff in ihre Schultasche und holte eine kurze Hose in Pink heraus, darauf war zu lesen „I´m gay“.
„Mia!“, rief Johnny empört.
„War nur ein Witz! Obwohl … dein Hintern hätte darin bestimmt knackig ausgesehen.“, kicherte Mia.
Johnny schaute etwas verdattert aus der Wäsche.
„Sonst noch was?“
„Ja, ich hab da gestern eine Broschüre gesehen.“
Mia kramte wieder in ihrer Tasche und zog ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus. „Junge Homosexuelle – Vor und nach dem Outing“, las Mia vor. „Die treffen sich jeden Freitagabend im Jugendzentrum.“
Johnny schaute sich immer wieder unruhig auf dem Flur um, ob jemand sie belauschte. „Das wäre doch was für dich, ich meine, mit Betroffenen reden“, schlug Mia vor.
„Ich weiß nicht so recht“, sagte Johnny.
„Nimm die Broschüre einfach mal mit, du kannst es dir ja überlegen“, sagte Mia und stopfte das Flugblatt in Johnnys Rucksack. Johnny nickte und verschwand in der Umkleide.
Als Johnny nach dem Sportunterricht zurück in die Umkleide ging, kam es ihm so vor, als ob ihn seine Mitschüler anstarren würden. Zuerst dachte er, dass er sich das alles nur einbilden würde, denn woher sollten sie etwas wissen. Mit Sicherheit machte er sich nur verrückt, es sein denn…. Panisch suchte er in seinem Rucksack nach dem Outing-Flugblatt und stellte fest, dass es verschwunden war. Das konnte Zufall sein, vielleicht hatte er es auch auf dem Flur verloren und niemand würde zurückverfolgen können, dass es ihm gehörte. Nach kurzer Zeit wurde das Starren der anderen Jungs unerträglich für Johnny. Er zog sich in Windeseile an und verließ die Umkleide. Hinter sich hörte er Gekicher und Getuschel.
Verunsichert ging er in den Englischunterricht und nahm neben Mia Platz. Die bemerkte seinen etwas ängstlichen und blassen Gesichtsausdruck.
„Was ist denn los? Ist was passiert?“, fragte sie.
„Ich glaube, ich hab die Broschüre verloren“, antwortete Johnny.
„Das macht doch nichts, ich bring dir morgen eine neue mit.“
„Nein, darum geht es doch gar nicht!“ Johnny war völlig aufgewühlt. Er beugte sich zu Mia hinüber und flüsterte ihr ins Ohr: „Jemand muss sie aus meiner Tasche genommen haben, sie war weg als ich vom Sport zurückgekommen bin. Die Jungs haben mich alle so eigenartig angeschaut, ich glaube sie wissen es.“
„Oh mein Gott, das tut mir so leid. Ich wollte nicht …“, stammelte Mia.
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