Mr. Chartwell - Rebecca Hunt - E-Book

Mr. Chartwell E-Book

Rebecca Hunt

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Beschreibung

Wer hat Angst vorm schwarzen Hund?

Manchmal erlebt man merkwürdige Überraschungen. So geht es auch – wir schreiben das Jahr 1964 – der jungen und oft recht einsamen Bibliothekarin Esther Hammerhans, als sie einen Untermieter sucht. Denn als der erste Interessent bei ihr klingelt, glaubt sie ihren Augen kaum zu trauen: Vor ihrer Tür steht ein riesiger schwarzer Hund, der sich als Mr. Chartwell vorstellt. Obwohl Esther fest entschlossen ist, den unheimlichen Besucher unverzüglich loszuwerden, nimmt sie ihn zu ihrer eigenen Überraschung doch bei sich auf. Sie kann der bestimmenden, aufdringlichen Art ihres Gastes einfach nichts entgegensetzen.
»Der schwarze Hund«, so hat Churchill die Depressionen genannt, unter denen er sein Leben lang gelitten hat. Und Mr. Chartwell ist niemand anders als jener düstere und verführerische Eindringling, der mit Vorliebe Churchills Seele verdunkelt und der nun droht, auch das Leben von Esther Hammerhans zu überschatten …

Virtuos, kurzweilig und höchst amüsant erzählt die junge britische Autorin Rebecca Hunt die Geschichte von Esther, Churchill und Mr. Chartwell, dem schwarzen Hund, der sie beide eng verbindet – eine bezaubernde Geschichte darüber, wie merkwürdig das Leben sein kann, wie überraschend und manchmal auch ein ganz klein wenig absurd.

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Seitenzahl: 282

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Rebecca Hunt

Mr. Chartwell

Roman

Aus dem Englischen von

Hans-Ulrich Möhring

Luchterhand

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem TitelMr Chartwell bei Fig Tree, London.

Copyright © der Originalausgabe 2010 Rebecca Hunt

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012

Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-06923-0 V002

www.luchterhand-literaturverlag.de

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Dieses Buch ist mit Liebe und Dankbarkeit meinen Eltern gewidmet

Mittwoch, 22. Juli 1964

1

5 Uhr 30

Winston Leonard Spencer Churchills Lippen waren gekräuselt, als hätte er eine Zitronenscheibe im Mund. Mit seinen neunundachtzig Jahren wurde er häufig früh wach. Im Spalt zwischen den Vorhängen zog das Morgengrauen auf und sammelte die Kräfte zur Invasion. Churchill begegnete dem anrückenden Tag, indem er in Gedanken prüfend die Finger danach ausstreckte und ihm dann die geballte Faust hinhielt: Er war bereit.

Draußen vor dem Fenster erstreckte sich der Weald of Kent, jetzt in ein Tierfell aus Nebel gehüllt. Zwischen dem Crockham Hill im Westen und dem Toys Hill im Osten thronte Churchills Backsteinvilla über einer flachen Mulde, hufeisenförmig umschlossen von einem alten Wald, der nach Süden hin den Blick auf den weiten grünen Horizont freigab.

Obwohl Churchill hellwach war, hielt er die Augen geschlossen. Er lag auf dem Rücken unter den straff gezogenen und umgeschlagenen Bettdecken, die Arme dicht am Klotz seines Leibes. Am anderen Ende des Hauses schlief Clementine in ihrem Himmelbett. Er dachte an seine Frau und wünschte, er wäre bei ihr.

Aber Churchill war nicht allein in seinem Schlafzimmer. Irgendetwas, eine schattenhafte Gestalt in der Ecke, massig, stumm, beobachtete ihn im Dunkeln mit äußerster Anspannung.

Churchill war sich der Präsenz dieses Etwas bewusst. Er musste es nicht sehen oder hören, um zu wissen, dass es da war; eine Ahnung, eine instinktive Gewissheit stellte sich ein, sobald es erschien. Bohrende Augen drängten ihn aufzuwachen. Es forderte, dass er sich rührte. Nach stundenlangem Warten lechzte es danach, aus der Ecke zu stürzen und ihn zu schütteln.

Churchills Flüstern war kaum zu verstehen, doch das spielte keine Rolle, er wusste, dass das Etwas lauschte.

»Hau ab.«

Lange blieb es still, während das Etwas sich aufrappelte. Churchill spürte, wie es im Finstern dreckig grinste. Es sagte mit unverhohlener Befriedigung: »Nein.«

2

8 Uhr 30

In einem Reihenhaus in Battersea kam Esther Hammerhans die Treppe hinuntergefegt, einen Arm in der Strickjacke, die ihr um die Beine schlug, und drehte die Flamme zu. Der Kessel hörte zu pfeifen auf und stieß hysterische Dampfwolken aus. Esther nahm die Teekanne und goss heißes Wasser hinein, einen Teil davon über die Arbeitsplatte. Die Teeblätter vergaß sie, was ihr fünf Minuten später nach einer hochengagierten Geschirrspülaktion auffiel. »Idioten!«, beschimpfte sie die Teeblätter, warf sie ins Wasser und rührte mit einem Löffel um.

Erst jetzt zog sie die Strickjacke ganz an. Ein Schritt in die richtige Richtung, fand sie. Sie atmete kurz durch, um sich zu beruhigen. Es war wichtig, ruhig zu erscheinen. Mr. Chartwell konnte jeden Moment kommen, es war wichtig, dass er einen guten ersten Eindruck bekam. Zufrieden betrachtete sie die gelben Schranktüren und -schubladen, die sie vorher gescheuert hatte, gut zu den Wänden passend, die in einem helleren Gelb gestrichen waren und von einer Neonröhre an der Decke beleuchtet wurden. Der dunkelorange geflieste Boden war gewischt, die Gläser mit Gewürzen und getrockneten Kräutern ordentlich auf den abgestaubten weißglänzenden Regalen aufgereiht. Auf dem resopalbeschichteten blauen Küchentisch standen eine Vase mit Blumen und ein Kerzenständer aus Chrom, der den Eindruck erwecken sollte, sie benutze ihn jeden Tag. Zuckerwürfel füllten die einzige kleine Porzellandose, die nicht abgestoßen war. Die gesamte Dose sollte einen Hahn darstellen, aber der geschmacklose Deckel mit dem Hahnenkopf lag in der Besteckschublade.

Esther trat an den Spiegel neben dem Fenster und betrachtete sich, eine schmale Erscheinung mit langen Haaren und einem leichten Unterbiss. Zurzeit war sie noch dünner als gewöhnlich, man konnte förmlich durch sie hindurchgucken. Der Spiegel gab ein Lächeln zurück, in dem sich eine tiefe Müdigkeit ausdrückte, eine Schwermut hinter den Gesichtszügen. Weiteres Betrachten, beschloss Esther, würde den Gesamteindruck nicht verbessern.

Die Kammer, die sie vermieten wollte, hatte nicht viel zu bieten, aber immerhin einen Blick auf den Garten. Mit Tagesanbruch ergoss sich Licht in jeden Winkel, und dies würde die außerordentliche Sauberkeit des Raums zur Geltung bringen. Das gründliche Saugen hatte dem Teppich gutgetan: Er erstrahlte in sattem Ockergelb, der Farbe eines Stofflöwen. Eine Zierkachel hing über dem Bett an der Wand – handgemalt, ein Bergdorf in Griechenland, die weißen Häuser knallgrün und orange von Laubwerk umwogt, die dicken schwarzen Striche überall wie mit dem Daumen gezogen. Ihre Freundin Beth hatte ihr ein Einzelbett geliehen, ein sehr bescheidenes altes Möbel, aber mit frischen Laken und Decken versehen sah es nicht mehr ganz so dürftig aus. Die Glühbirne verschönte ein Weidenflechtschirm, erst vorige Woche gekauft, der dem Zimmer, fand Esther, eine stilvolle Note verlieh. Ein neuer Kleiderschrank vervollständigte die Verwandlung der Kammer in ein möbliertes Zimmer. Wenn nötig, wollte sie noch die gelegentliche Benutzung ihres Wagens obendrauf geben.

Aber – Enttäuschung – nur ein Interessent, ein gewisser Mr. Chartwell, hatte sich auf ihr Inserat gemeldet und gestern Abend stillschweigend einen Zettel bei ihr eingeworfen mit der Bitte, das Zimmer am Morgen besichtigen zu dürfen. Die ungelenken Krakel waren so fest in das Papier gedrückt, dass die Kommas durchstachen. Esther schienen die Zeilen von jemand geschrieben zu sein, der keinerlei Übung im Umgang mit einem Schreibgerät hatte, jemand, der es wie einen Pfosten hielt, den er in den Boden hämmern wollte. Nach dem Lesen hatte sie den Zettel in der Faust zerknüllt, weil sie bei der Vorstellung, ihr Haus mit jemand anders zu teilen, einem fremden Eindringling, plötzlich eine leichte Übelkeit überkam.

Vielleicht, dachte Esther, als sie jetzt im Wohnzimmer vor dem Plattenspieler stand, sollte sie eine Platte auflegen, um durchblicken zu lassen, dass sie zwar eine ruhige, aber auch eine moderne Vermieterin war. Mr. Chartwell mochte bestimmt gern Musik, er kannte wahrscheinlich die Hitparade. Die Rolling Stones waren momentan die Nummer eins mit »It’s All Over Now«, und Esther hatte sich die Single gekauft. Voller Zuversicht setzte sie die Nadel auf die Platte. Sofort gellte das Lied mit obszöner Lautstärke los, und Mick Jaggers Stimme zerfetzte ihr den Schädel. Esther riss den Tonarm zurück.

Mit dem Abbruch der Musik trat wieder Stille ein. Dann wurde sie genauso abrupt gestört.

Es klingelte an der Tür. Esthers Nerven spielten verrückt, und so blieb sie erst mal regungslos in der Küche stehen. Ein paar Sekunden vergingen. Es klingelte abermals.

»Na gut, dann müssen wir wohl«, sagte sie zu dem Foto von Michael auf der Fensterbank. Das komische schiefe Kinn, die breiten Schultern in einem blauen Jeanshemd, die obersten zwei Knöpfe offen. Sein breites Gesicht eingefangen in einem Moment der Ruhe, die grauen Augen auf etwas gerichtet, das außerhalb des Bildwinkels lag. Esther stellte sich vor, was er ihr antworten würde, und gleich hatte sie seine Stimme im Ohr, abgerufen aus dem Archiv der Erinnerungen, wie durch eine Meeresmuschel gesprochen. Er machte ein paar Bemerkungen, alle praktischer Natur. Seine Worte gaben ihr Kraft, und so blieb sie da und lauschte. Du fehlst mir, sagte Esther zu Michael. Er flüsterte etwas, eine Hand auf ihrer Wange. Die Klingel stellte ihre Forderung mit stärkerem Nachdruck. Michael schaltete sich ab. Esther ging Mr. Chartwell die Tür aufmachen.

Das Erste, was ihr ins Auge fiel, war, dass Mr. Chartwell ein Koloss sein musste. Ein Schattenriss wie von einer Matratze nahm den ganzen Windfang ein und verdunkelte die Milchglasscheibe. Als sie sich der Haustür näherte, schlug ihr ein unangenehmer Geruch entgegen, der mit jedem Schritt stärker wurde. Es roch wie etwas Uraltes, das immer feucht gehalten worden war. Wie Höhlenerde.

In Hochfrequenzpulsen übertrugen ihre Instinkte intuitive Informationen. Sie teilten Esther mit, dass jemand Merkwürdiges und Ungewöhnliches auf sie wartete, so ungewöhnlich, dass es schon fast abnorm war. Sie rieten ihr, sich zu verstecken. Aber wo? Der Flur bot keinerlei Deckung, er war völlig leer. Und was war mit ihrer Verabredung? Ihre pflichtbewussten Füße trugen sie weiter.

Das Öffnen der Tür war ein Schock, wie er heftiger nicht hätte sein können; ohrenbetäubendes Hupen hätte eine ähnliche Wirkung auf Esther gehabt. Sie prallte an die Wand zurück, die Augen weit aufgerissen, und rührte sich nicht.

Mr. Chartwells schwarze Lippen formten ein herzliches Lächeln. »Mrs. Esther Hammerhans?« Er streckte eine steckrübengroße Pfote aus. »Guten Tag, ich komme wegen dem Zimmer.«

3

9 Uhr

Sein Fell streifte ihren Arm, als Mr. Chartwell an ihr vorbei durch den Flur in die Küche ging und dort mit wachsam gespitzten Ohren auf sie wartete. Vergeblich. Esther war ratlos an der Haustür stehen geblieben. Die übliche Reaktion, wie aus dem Bilderbuch. Er lauschte. Das Geräusch zaghafter Schritte. Gut, sie schlich hinter ihm her Richtung Küche. Da kam sie, aber unendlich langsam. Bestimmt strömte sie, wenn sie näher heran war, eine ganze Wolke von Adrenalin aus, und richtig, da roch er sie schon.

Mit leerem Gesicht beobachtete Esther von der Tür aus, wie Mr. Chartwell sich eine Tasse schwarzen Tee einschenkte. Seine Zunge lappte hinein und betätigte sich leise und emsig. Er stellte die leere Tasse auf den Tisch zurück und sah mit mildem Pferdeblick zum Fenster hinaus, als bewunderte er die Aussicht. Mit dieser höflichen Geste wollte er Esther Zeit geben, sich auf die Sache einzustellen. Er wusste, es war nicht leicht. Dann wandte er der Vermieterin das Gesicht mit einem Ausdruck zu, der sagte: Ich weiß, was du denkst, aber wie wär’s, wenn wir’s einfach ignorieren? Der Ausdruck sagte auch: Hallöchen!

Als er den Kopf bewegte, fuhr Esther zusammen und schlug die Hände vors Gesicht.

»Hübscher Garten«, sagte Mr. Chartwell. »Bauen Sie Gemüse an?«

Esther blickte ihn über die gespreizten Finger hinweg an. Langsam sanken die Finger. Ihr ängstlicher Ton hatte ungefähr die Schärfe eines Salatblatts, als sie sagte: »Entschuldigung … Entschuldigung, aber Sie …«

Mr. Chartwell nickte enttäuscht. Es enttäuschte ihn, dass sie die Sache nicht ignorieren konnten, wie er gehofft hatte.

»Sie sind …«

Abermals ein enttäuschtes Nicken.

»… ein Hund …«

Mr. Chartwells Antwort klang nicht unfreundlich. »Ja.«

Ein langes Schweigen, ohne dass etwas geschah. »Sie sind wirklich riesig für einen Labrador«, sagte Esther schließlich.

»Ich bin kein Labrador.« Mr. Chartwell lehnte sich an den Küchentresen und verschränkte die Arme. Er wirkte recht entspannt.

»Sind Sie ein Gespenst?« Esther ertastete sich einen Stuhl am Tisch und ließ sich daraufplumpsen, ohne hinzugucken. »So eine Art Gespenst?«

Mr. Chartwell sagte: »Es ist kaum zu übersehen, dass ich ein Hund bin. Darauf hatten wir uns vor zwei Sekunden schon geeinigt.«

Esther wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr war gar nicht danach, etwas zu sagen. Ihre Augen wanderten in stetigen Sprüngen von seinem Kopf zu den Füßen. An den Füßen angekommen, sprangen die Augen zum Kopf zurück und traten dann ihre Bahn aufs Neue an.

Mr. Chartwell war unverkennbar ein Hund, ein etwa zwei Meter großer Schrank von einem Hund. Auf allen vieren hätte er kleiner gewirkt, aber er balancierte gekonnt auf den Hinterbeinen, deren umgekehrte Knie nach hinten zeigten. Mit dem mächtigen Brustkasten und den stämmigen Beinen, geeignet für das Laufen über raues und schwieriges Gelände, sah er tatsächlich einem Labrador ähnlich, aber einem kräftiger gebauten und bemerkenswert hässlichen Labrador. Nichts an ihm war schön zu nennen: Sein schwarzes Fell war dicht und wasserabweisend, sein breites Gesicht gespalten von einem vulgären Mund. Von der monströsen grauen Zunge, die ihm weit heraushing, tropfte Speichel auf den Boden.

Gebannt von dem Grauensbild, nahm Esther es langsam wahr. Ihre Furcht zerrann nach und nach. Je länger sie schaute, umso mehr verebbte die Furcht. Sie floss in einen passiven Zustand der Alarmbereitschaft über. Mr. Chartwell ließ sie schauen, obwohl es ihm unangenehm war. Er wischte sich einen weißen Speichelfaden von einer Schlabberlippe. Unmöglich, dabei die Etikette zu wahren.

Irgendwann traute sich Esther zu, das Tier wieder anzusprechen. »Werden Sie mich angreifen?«

»Kaum.« Mr. Chartwell sagte das recht geringschätzig.

Schweigen.

Esther flüsterte: »Sie sind wegen dem Zimmer gekommen?«

»Allerdings«, sagte Mr. Chartwell. Endlich waren sie beim richtigen Thema angelangt.

Wenn sie sich nicht krampfhaft am Stuhl festhielt, würde sie, schien es Esther, herunterfallen und mit der leisen Ergebung abbrechender Zigarettenasche am Boden zerkrümeln. »Sie wollen mein Zimmer mieten?«

Mr. Chartwell nickte. »Ich würde gern hier in die Gegend ziehen.«

»Für wie lange?«, fragte Esther und fügte sofort hinzu: »Warum?«

»Weiß nicht genau. Ein paar Tage«, antwortete Mr. Chartwell, ohne auf das Warum einzugehen.

Esther sagte wahrheitsgemäß: »Ich möchte das Zimmer eigentlich ein wenig länger vermieten. Ein paar Tage wären mir nicht so angenehm.«

»Es könnte länger werden, vielleicht zwei Wochen, vielleicht eine Woche.« Er verstummte. Er ließ den Blick über sie wandern. »Wir werden sehen, wie es läuft«, sagte er leise. »Aber unabhängig davon«, seine Stimme wurde wieder laut und eindringlich, »kann ich Ihnen ein einmaliges Kurzzeitangebot machen, das die Sache außerordentlich angenehm gestalten würde.«

WiedertratSchweigenein.Esthersahihnan.Aberwitzig,soetwaszu sagen, es gab nichts, was die Sache angenehm gestalten konnte.

Mr. Chartwell fuhr fort: »Für die Dauer meines Aufenthalts, Mrs. Hammerhans, könnte ich Sie für die Unannehmlichkeit einer so kurzen Vermietung mit einem Pauschalbetrag entschädigen.«

Sie fragte, wie viel. Sie musste fragen. Er wartete darauf.

Mr. Chartwell, ganz der charismatische Talkmaster, zog ein Los aus der Trommel. »Eintausend Pfund«, sagte er. War das zu viel? Jetzt war es zu spät.

Die Fassungslosigkeit kroch über ihr Gesicht. Eintausend Pfund war ein Riesenbetrag, eine umwerfende Menge Geld. Esthers Jahresgehalt als Bibliotheksangestellte im Westminster Palace betrug nur fünfhundert Pfund. Um die Zugkraft seines Angebots wissend, nickte das Tier selbstsicher mit halb geschlossenen Augen und beobachtete, wie sie die finanziellen Möglichkeiten durchspielte.

Dann aber stach der Zweifel zu. Wo war dieses Geld?

»Haben Sie es bei sich?«, fragte Esther. Höchst unwahrscheinlich. Ausgesprochen verdächtig.

Eine Pfote auf sie gerichtet wie zum Befehl, sich zu trauen, wiederholte er: »Eintausend Pfund.«

Esther sah ihn ungläubig an und hätte am liebsten gefragt, wie ein Hund zu so viel Geld kommen konnte. Sie tat es nicht, um den brüchigen Frieden zwischen ihnen nicht zu gefährden. »Entschuldigung, sind Sie sicher? Ich frage nur, weil –«

Er unterbrach sie. »Ich bin sicher. Eintausend Pfund, jawohl.« Fast überdeutlich seine Barthaare, als er sich dabei vorbeugte. Und noch ein Stück näher. Esther meldete keinen weiteren Zweifel an.

Er räusperte sich. »Das wäre also das Angebot. Könnte ich jetzt das Zimmer sehen?«

Esther dachte darüber nach, die Stirn gerunzelt. Er wollte das Zimmer sehen? Sollte er doch. Wie hätte sie ihn auch daran hindern können? Wenn er auf sie losging, war jede Gegenwehr ihrerseits zwecklos. In einem Kampf mit ihm wäre sie wie ein Schwamm, der in die Zähne einer Kettensäge gerät. Sie winkte ihm, ihr die Treppe hinaufzufolgen.

Als Esther die Tür der Kammer aufmachte und er an ihr vorbeiging, drehte sie ruckartig den Kopf zur Wand, angewidert von dem Höhlenbodengestank. Mr. Chartwell schlug Häkeldecke und Bettzeug zurück und prüfte mit festen Stößen die Matratze. Sie wurde für zufriedenstellend befunden. Mit mehrmaligem Aufreißen und Schließen wurde die Leichtgängigkeit der Schranktür kontrolliert. Er steckte den Kopf hinein, um den Stauraum zu begutachten.

Esther sagte: »So, das ist es. Das ist das Zimmer.«

Mr. Chartwells Augen waren beschäftigt. Sie richteten sich auf den Rosenholzschreibtisch an der einen Wand, den darunterstehenden Holzstuhl. Der Stuhl hatte ein durchgesessenes und von Falten zerfurchtes Polster. Bemühungen, es in eine ordentliche Form zu klopfen, fruchteten nicht, doch der Gedanke, ihn wegzuwerfen, verbot sich. Auf dem Schreibtisch stand ein Aufgebot von Bechern mit Bleistiften, Kugelschreibern und allerlei Kleinkram. In einem Becher eine uralte Zuckerstange, in einem anderen eine Spielzeugkuh aus Plastik und ein Trommelstock mit aufgemaltem Gesicht. Ein abgeschälter Zweig wohnte unter den Bleistiften, daneben ein Kompass und eine kleine Elfenbeinschnitzerei. Wasserringe auf dem Holz erzählten eine Geschichte heißer Getränke. Der Schreibtisch war ein Museum. Mr. Chartwells Pfote wanderte zu einer Schublade und drehte den Griff. Der Griff war locker, und begeistert rüttelte er daran. Er rief sich zur Ordnung.

An der Wand über dem Schreibtisch das kleine blasse Viereck eines abgenommenen Fotos. Mr. Chartwell blickte unverwandt den hellen Fleck an, während Esther sagte: »Es war früher ein Arbeitszimmer. Deswegen steht hier der Schreibtisch.«

Mr. Chartwell wandte sich von dem Fotofleck ab, spielte mit der Wamme an seiner Kehle und ließ sich alles durch den Kopf gehen. »Wie steht’s mit der Benutzung des Wagens?«, fragte er nach einer Weile. »Könnte ich gelegentlich damit fahren?«

»Nein«, log Esther entschieden. »Eine Benutzung des Wagens ist ausgeschlossen.«

Er sah sie an und wusste, dass sie log. Die Wamme wurde hierhin und dorthin gezupft. Seine Augen schweiften über die Decke. »Und die Nachbarn, wie sind die so?«

»In Ordnung, würde ich sagen«, meinte Esther. »Ich bekomme sie nicht sehr oft zu Gesicht.« Dann setzte sie noch hinzu: »Sie habenallerdings eine Katze. Ich weiß nicht, ob das ein Problem wäre …«

Mr. Chartwell bedachte sie mit einem sarkastischen Blick. »Ist die Katze für Sie ein Problem?«

»Nein«, sagte Esther. »Ich dachte nur …« Sie verzichtete darauf, ihm zu sagen, was sie gedacht hatte.

»Und Sie haben hier noch andere Mieter?«, fragte Mr. Chartwell.

»Nein, Sie wären der einzige«, sagte Esther.

»Ich wäre der einzige?« Mr. Chartwell fasste das als Einladung auf. Er schöpfte Hoffnung.

Esther korrigierte sich rasch. »Es gäbe nur einen Mieter, wollte ich sagen.«

»Und der wäre ich?«, sagte Mr. Chartwell.

»Ähm …«

Ein längeres beklemmendes Schweigen.

»Mr. Chartwell«, sagte Esther mit übertriebener Diplomatie, »es ist nicht so, dass ich nicht an Ihrem Angebot interessiert wäre oderdass ich der Meinung wäre, Sie wären kein rücksichtsvoller Mieter, aber ich habe meine Zweifel, ob daraus etwas werden kann. Ich suche eigentlich jemanden, der eher … na ja, eher so was wie …«

»Sie mögen keine Hunde, Mrs. Hammerhans?«, fragte Mr. Chartwell.

»Doch«, entgegnete Esther, »ich mag Hunde. Hunde sind etwas Wunderbares. Ich bin es nur nicht gewohnt, Zimmer an sie zu vermieten. Ich kenne sie eher«, es war heraus, bevor sie es verhindern konnte, »als Haustiere.«

»Ich bin kein Haustier«, stellte Mr. Chartwell klar.

»Das sehe ich.«

Mr. Chartwells befremdeter Blick deutete an, dass er ihr nicht ganz folgen konnte, und so musste sie deutlicher werden. »Ich denke dabei vor allem an unser Verhältnis, an die möglichen Folgen dieses Verhältnisses. Nehmen wir mal an, Sie ziehen hier ein …« Der nächste Satz war nicht leicht über die Lippen zu bringen. »Was ist, wenn jemand verletzt wird?«

»Wie bitte? Wer wird verletzt?«, fragte Mr. Chartwell.

Beinahe unaussprechlich: »Jemand, der gebissen wird.«

Mr. Chartwells Stimme bekam einen unangenehmen Beiklang. »Und warum nehmen Sie an, dass jemand gebissen werden könnte?«

»Vielleicht weil …«

Mr. Chartwell seufzte wie ein alter Mann, der das Spiel leid ist. »Unser Verhältnis wäre genauso, wie es zwischen Vermieterin und Mieter üblich ist: Ich zahle Geld für das Zimmer, das Sie zur Verfügung stellen. Unsere gegenseitigen Pflichten sind strikt auf dieses geschäftliche Übereinkommen beschränkt. Darüber hinaus werden wir nichts miteinander zu tun haben.«

»Gewiss«, sagte Esther beschämt. »Selbstverständlich.« Sie wechselte das Thema. »Haben Sie früher schon irgendwo zur Miete gewohnt?«

»Häufig«, erwiderte Mr. Chartwell. »Das bringt meine Arbeit so mit sich.«

»Sie arbeiten?« Esther war von der Vorstellung überwältigt. »Was machen Sie beruflich?«

Mr. Chartwell ignorierte die Frage. »Ich brauche sporadisch eine Bleibe in dieser Gegend, sonst wird mir die Pendelei zu viel.« Er machte ein paar leutselige Bemerkungen über die Gräuel langer Pendelfahrten. Esther kam nicht über die Vorstellung hinweg, dass der Hund arbeiten sollte. Sie fragte: »Sie haben beruflich hier zu tun?«

»Ja … hin und wieder. Aber das wechselt. Ich bin freiberuflich tätig und muss daher herumreisen, um meine Kunden zu besuchen.«

»Ihre Kunden?« In Esther flammte die Neugier auf.

Mr. Chartwell ging nicht darauf ein. »Wie sieht jetzt Ihre Entscheidung hinsichtlich des Zimmers aus?«

Esther presste die Lippen zusammen, als wollte sie Lippenstift verreiben. Sie hatte keine Entscheidung getroffen. Die Morgensonne war bereits so stark, dass man eine Sonnenbrille aufsetzen konnte. Die Bäume im Garten standen vor einem feiertagsblauen Himmel. Vogelrufe ertönten. Am Nachmittag war es bestimmt angenehm, sich mit einem Gin Tonic hinauszusetzen. Bei dem Gedanken an Gin sang die Flasche im Schrank wie eine Sirene.

Mr. Chartwell sah, dass sie unentschlossen war. Er gehörte zu den Entschlussfreudigen, die lieber handelten als abwarteten. »Na schön, Mrs. Hammerhans, hören Sie, wie wär’s, wenn Sie noch mal darüber nachdenken? Sie werden es wahrscheinlich mit Ihrem Mann besprechen wollen.« Der Satz hing in der Luft wie eine Giftgaswolke.

Esther wurde von Gefühlen überschwemmt und fing sich wieder. »Mein Mann ist zurzeit nicht da. Ich werde die Entscheidung allein treffen.«

»Wann wird er wieder da sein?«

Nie mehr, dachte Esther. »Später«, sagte sie.

»Schön«, sagte Mr. Chartwell. Sie bemerkte ein Zucken in seinem Gesicht.

»Er wird später wieder da sein«, bekräftigte Esther und schaute, ob er es glaubte.

Mr. Chartwell musterte sie mit dem gleichen bohrenden Blick seiner hässlichen Augen wie vorher, als sie ihm das mit dem Wagen gesagthatte.SiefühltedendringendenWunschzufragen,waserüberdieSituationwusste;erschienetwaszuwissen.Aberwaskonnte er wissen? Stattdessen sagte sie: »Ich muss jetzt leider zur Arbeit … Viel zu tun momentan. Wir haben großen Termindruck, und alle …« Sie hörte auf, von ihrer Arbeit zu sprechen. Einem Hund war das doch einerlei.

»Nun gut«, sagte Mr. Chartwell. »Auf mich wartet auch Arbeit.«

Was arbeitest du bloß?, dachte Esther. Sie brannte vor Neugier.

Mr. Chartwell sprach weiter: »Haben Sie heute Abend etwas vor?«

»Warum?«

»Wenn nicht, könnte ich am Abend kurz vorbeikommen. Wir könnten noch mal darüber reden.«

»Ich habe etwas vor.« Hatte sie nicht.

Er fragte schonungslos nach. »Haben Sie wirklich etwas vor?«

»Nein.« Esther sagte es steif. »Aber es könnte sein, dass ich –«

Mr. Chartwell wartete das Ende des Satzes nicht ab. »Gut, abgemacht. Dann sehen wir uns heute Abend.«

»Oh. Ähm …« Sie brachte nicht den Mut auf zu widersprechen. »Na schön, aber das ist nicht als Zusage zu verstehen.« In kläglichem Ton fügte sie hinzu: »Machen Sie sich keine großen Hoffnungen.«

»Bestimmt nicht«, sagte Mr. Chartwell.

Ein peinliches Zögern entstand an der Haustür, als Mr. Chartwell ihr die Pfote hinhielt. Esther griff widerstrebend zu, als müsste sie eine Granate in die Hand nehmen. Sie machten eine linkische Schüttelbewegung.

»Also …«, sagten sie und Mr. Chartwell gleichzeitig. Verlegen traten beide von einem Fuß auf den anderen, von jeder normalen Gesprächssicherheit gänzlich verlassen. »Schön«, sagte Mr. Chartwell, und Esther sagte: »In Ord-«

»Schön«, wiederholte er.

Dann schüttelte Mr. Chartwell lebhaft den Kopf, so dass die Zotteln an seinem Hals flogen und seine schlaffen Backen mit einem feuchten Klatschen ans Zahnfleisch schlugen. »Also dann, auf Wiedersehen«, sagte er und schloss die Tür hinter sich. Esther hörte, wie er sich auf alle viere plumpsen ließ. Dann kam das Klacken von Klauen auf Beton und gleich darauf das schwere Stampfen eines zielstrebig davoneilenden mächtigen Tieres.

4

11 Uhr 37

Churchill stand draußen am tiefer gelegenen Teich. Von oben am terrassierten Gartenhang sah das Haus zu ihm herab. Die roten Ziegel des hohen, einsamen Ausguckpostens stachen scharf vom Dunkel des efeudurchwucherten Waldes ab, der dahinter herandrängte. Die friedliche Stimmung von Churchills Rasen- und Gartenflächen täuschte über den permanenten Kampf gegen die Versuche des mittelalterlichen Waldes hinweg, sie wieder in Besitz zu nehmen. Aus dem braunen, von Tierfährten durchkreuzten Laubteppich rückte eine Armee von Stämmen und Ästen geschlossen dagegen an. Gestürzte Eichen und Kiefern fuhren riesige Teller vielverschlungener und mit rostroter Erde verkrusteter Wurzeln auf, jugendliche Truppen schickten selleriefarbene Triebe aus.

Churchill war am Teich, um ein Bild der Landschaft zu malen, was erforderte, dass er seinen formlosen Malerkittel und einen Sombrero trug. Ein Sortiment abgenutzter Pinsel und Gläser, Stifte und Farben lag um ihn herum im Gras. Er zog es vor, beim Malen zu stehen; es verschaffte ihm eine Bewegungsfreiheit, die das Sitzen nicht zuließ. Nicht dass diese Freiheit zu etwas gut gewesen wäre, denn er stand mit herabhängenden Armen regungslos vor der Staffelei. Die kleine Leinwand darauf war unberührt.

Er murmelte einen Satz, den er schon oft benutzt hatte: »Glücklich sind die Maler, denn sie werden nicht einsam sein.« Im Augenblick kam es ihm absurd vor, denn er empfand es durchaus nicht so.

ChurchillrunzeltedieStirn,dasKinnüberdenKragengeschoben.ImSchattendesSombrerosverfolgtenseineAugenzweischwarzeSchwäne,dieimWasserihreKreisezogen.InderErwartungvonBrotwarensiezuihmherangeschwommen,dieHälsegereckt,aberwiederabgezogen,alseskeinesgab.EinBlässhuhnstießimSchilfeinenspitzenSchreiaus.EinWindstoßfuhrineinealteWaldkieferamUfer,pfiffdurchdieNadelnundrisseinpaarjungeZapfenab.KräuselzogenüberdenTeichundverzerrtendasSpiegelbilddeswolkenlosenHimmels.ChurchillsGefährte,einbraunerPudel,derRufushieß,hattesichschonvoreinigerZeitzudenObstgärtenverzogen,wodieGesindehäuserwaren,vonirgendetwasverschreckt.Churchillwusste,wasihnvertriebenhatte.Unddawaresauchschon.

Hinterrücks flüsterte es ihm beschwörend ins Ohr: »Du kannst dich nicht vor mir verstecken. Und du siehst zum Schießen aus in diesem Kittel. Wie eine alte Kröte.«

Churchill antwortete nicht.

»Kroak«, machte die Stimme. Sie prustete los und gackerte vor sich hin, dann machte sie abermals »Kroak«, diesmal mit ironisch drohendem Unterton.

Die Schwäne verschwammen vor Churchills Augen. Diese Trübung des Blicks war eine unwillkürliche Reaktion, die ihm gar nicht passte. Er nahm den linken Daumen in die rechte Hand und drückte mit aller Kraft.

»Du hast mit mir gerechnet«, sagte die herzlose Stimme. »Du hast auf mich gewartet, ich habe dich warten hören.«

Churchill dachte an seine Sitzung am Nachmittag und hätte am liebsten die Zeit zusammenschnurren lassen, um der zermürbenden Stasis der Stunden bis dahin zu entkommen. Er dachte hartnäckig an die Sitzung und versuchte damit, die Stimme auszublenden.

Sie meldete sich abermals, leiser und näher jetzt, so nahe, dass er den warmen Fleischfresseratem fühlte. »Wir wissen beide, warum ich hier bin.«

»Hau ab, du lästiger Schweinehund«, sagte Churchill gallig.

Der heiße Atem strich ihm über die Backe, über den Hals. »Wir haben eine Verabredung.«

5

13 Uhr

Esther verbarg sich hinter einer Bücherwand in Raum B, einem hohen holzverkleideten Lesezimmer in der Bibliothek des Unterhauses. Um sie herum waren die Regale mit vielen tausend Büchern gefüllt. Die Mitte der einen Längswand nahm ein breiter gemauerter Kamin mit einem schützenden Ziergitter ein. Draußen vor dem Fenster war London weiß, blassblau und laut. Hier drinnen nicht. Raum B war düster und asketisch, ein Dom der Gelehrsamkeit aus dunklem Holz, einem kräftig gemusterten Teppich und grünem Leder. Hier und da standen diskrete Leitern aus Eichenholz, ganz glänzend vom jahrelangen Gebrauch. Mit Heldenmut kraxelten die Angestellten zu den Büchern in der obersten Reihe hinauf und mit noch größerem Heldenmut einhändig wieder hinab. Schlichte Kronleuchter mit Glasschirmen hingen an Messingketten. Drei Bleiglasfenster blickten auf eine Themse hinaus, die pappkartonbraun in der Sonne glomm.

Die Bibliothek glich in ihrer Anlage der Galerie in einem Tudorschloss. Ein langer Flur verlief mitten durch sämtliche Zimmer. Hölzerne Rundbögen führten zu anderen, stärker frequentierten Bereichen der Bibliothek: hinter Esther zu den Lesezimmern C und D, vor ihr zum Raum A, dem Erkerzimmer und der Handbibliothek. Geräusche, die von Betriebsamkeit zeugten, drangen an ihr Ohr.

Zimmer B, ihr stilles Refugium. Esther saß über ihren mit Bücherstapeln überhäuften Schreibtisch gebeugt und versuchte, sich zu konzentrieren. Gedanken an Mr. Chartwell und seinen Besuch waren eine Wunde, deren Verband behutsam gelüftet werden wollte, damit sie mit flatterndem Magen begutachten konnte, was sich darunter verbarg. Ein Scheusal, eins der besonders scheußlichen Art. Esther sezierte die Einzelheiten.

Das Auftauchen von Beth Oliver, die mit ihrer breiten Hüfte ein paar Bücher zur Seite schob, als sie sich auf den Schreibtisch setzte, erschreckte Esther.

Beth hatte ein hübsches Gesicht, ihr Lächeln war natürlich und offen. Sie war eine sinnenfrohe Genießerin mit einem gesunden Appetit auf alles einschließlich der Mohrrübe, die sie gerade sorgfältig aufs Mark abnagte, wobei sie ihr Werk zwischen den Bissen zufrieden betrachtete. Auch wenn sie sich ihr kurzgeschnittenes welliges Haar noch so oft hinters Ohr klemmte, es fiel immer wieder nach vorn. Es mit der Spitze der Möhre zurückzuschieben, hatte nur den Effekt, dass danach Haare an der Möhre hingen.

»Hallo, Esther, was machst du da?«

»Ach, nichts Besonderes, nur so meine Arbeit«, sagte Esther mit der sterilen Stimme, die sie einsetzte, wenn sie nicht reden wollte.

»Klar doch«, sagte Beth und blätterte beiläufig im obersten Buch eines Stapels. Es trug den Titel Römische Architektur in den West Midlands von England. Sie ließ die Seiten über die Finger schnellen. »Na los. Erzähl schon.«

Sie drängelte sich auf dem Tisch noch ein Stück weiter vor, was eine Büchersäule zum Einsturz brachte. Esther fing die ihr in den Schoß rutschende Lawine kommentarlos ab und stapelte sie wieder auf. »Erzählen? Was denn?«

»Erzähl mir von der Verwandlung deines winzigen Kämmerleins in ein luxuriöses möbliertes Zimmer. Deswegen habe ich dir doch dieses grässliche alte Bett gegeben, oder? Damit du es an ein ahnungsloses Opfer vermieten kannst.«

»Frisch bezogen ist das Bett gar nicht so schlecht.« Esther lächelte sie an. »Solange man nicht darauf sitzt oder liegt, sieht es ganz nett aus.«

»Es sieht nett aus? Das muss ja ein wunderwirkender Bettbezug sein. Hast du nicht gesagt, jemand wollte sich heute Morgen das Zimmer anschauen kommen?«

Esther nahm einen Füller und spielte damit. »Es war jemand da.«

»Wie aufregend! Und wann wird dieser unglückliche Mieter einziehen?«

Esther kaute auf der Füllerkappe und hielt plötzlich den Füller allein in der Hand. Mit der Kappe zwischen den Zähnen sagte sie: »Keine Ahnung. Ich bin mir noch nicht sicher.«

Aber von irgendetwas abgelenkt, grinste Beth und machte seltsame Handbewegungen. Esther kippte mit dem Stuhl nach hinten, um die Ursache zu erkennen. Die vorderen Stuhlbeine hoben sich vom Boden ab, als sie durch den Rundbogen spähte. John Dennis-John, der Leiter der Bibliothek, hämmerte an der Anmeldung in seiner typischen martialischen Art auf eine Schreibmaschine ein. Beth machte ihn nach, indem sie so tat, als bearbeitete sie ein Buch mit Faustschlägen. Dennis-John mit seinem Radarinstinkt blickte ruckartig auf. Esther zog den Kopf ein, und ihr Stuhl rumste zurück. In seine Schusslinie geraten, gab Beth sich den Anschein, ihren Rock glattzustreichen. Das spielt sie gut, dachte Esther, während sie beobachtete, wie Beth sich das Grinsen verkniff.

Ein Prusten entfuhr Esther, ein Aufflackern von Heiterkeit, das augenblicklich erlosch.

Mit langem Hals hielt Beth noch einmal flink Ausschau nach Dennis-John. Sie wartete ab, bis sein Tippen wieder zu hören war. Dann drehte sie sich um und musterte Esther.

»Es?« Beth umfasste einen Ellbogen. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Mir geht’s gut, doch. Nur ein bisschen müde.« Es klang nicht überzeugend.

Beths Pose bekam etwas leicht Sarkastisches. »Mach mir nichts vor, das zieht nicht bei mir, dazu kenne ich dich zu gut, Hammerhans. Ich weiß genau, wann du etwas vor mir verheimlichst.«

»Ich bin einfach sehr beschäftigt, mehr ist nicht.«

»Sehr beschäftigt?« Beth schnippte die Bücher umher, suchte nach einem Stichwort. »Damit?« Draußen wurde es plötzlich lebhaft, als eineGruppeschwatzenderBibliotheksangestellterausdemdreiMeilen langen Gängelabyrinth des Westminster Palace hereinkam. Die lauter werdende Unterhaltung riss ab mit einer künstlich gedehnten Lachsalve, die sich anhörte, wie wenn Tesafilm gespannt und vom Roller gerissen wird. Ein Telefon klingelte und wurde abgenommen. Beth pochte mit dem Daumen auf mehrere Bücher und wählte sich eines zur näheren Prüfung aus. Sie hob es am Deckel hoch, so dass die Seiten herabhingen. »Heilige aus Irland, England, Schottland und Wales… Was machst du denn damit, Esther?«

»Ich muss ein paar Notizen für den Premierminister zusammentippen«, log Esther, wobei sie in winzigen Druckbuchstaben etwas in ein Notizbuch eintrug. »Er will, dass ich was für ihn recherchiere.«

»Notizen für Douglas-Home über Heilige? Sehr glaubhafte Geschichte.« Beth ließ das Buch fallen. »Quatsch«, sagte sie. »Ich glaube, ich kenne diesen verstohlenen Blick. Ah, genau, ich weiß, was los ist … Esther, hast du jemand kennengelernt?«

Esther schnalzte mit der Zunge.

»Hast du ein Rendezvous gehabt?« Von freudiger Hoffnung erfüllt, begeisterte sich Beth an einem Phantasiebild von Esther, wie sie bei Kerzenlicht an einem Restauranttisch saß, mit zwei Löffeln zum Nachtisch.

»Davon kann leider überhaupt nicht die Rede sein«, antwortete Esther. »Es ist kaum zu beschreiben, wie wenig –«

»Meine Damen und Herren Geschworenen«, wandte sich Beth mit süffisanter Feierlichkeit an eine unsichtbare Versammlung, »ich stelle Ihnen hier unsere schamhafte Zeugin vor, eine gute Freundin, die sich der Missachtung des Gerichts schuldig macht, wenn sie sich weiterhin weigert, der Richterin sämtliche Einzelheiten ihres Rendezvous zu schildern.«

»Lass das, es gibt kein Rendezvous.« Esthers Stimme war ungewollt kalt.

VerdutztmachteBetheinenRückzieher.IrgendetwasklangdainEstheran,aberzuschwach,alsdasssieeshättefassenkönnen. Was? Nein, weg war es, Beth musste sich geirrt haben.

»Ich blödele nur rum, Es.«

Esther blickte auf das Notizbuch. »Mir ist nicht nach Blödeln.«

BethmeldetefreundlichWiderspruchanundwurdeunterbrochen.

»Es gibt kein Rendezvous, und ich will nicht blödeln, Beth. Lass uns bitte das Thema wechseln.«

»Na schön.« Beth zog entschuldigend das Kinn hoch. »Tut mir leid. Ich dachte nur, es hätte sein können.« Eine rechtfertigend erhobene Hand landete flach auf dem Tisch. »Das ist doch nicht abwegig, oder? So hässlich bist du auch wieder nicht, Es.«