Mr. Lawrence, mein Fahrrad und ich - Shelly King - E-Book

Mr. Lawrence, mein Fahrrad und ich E-Book

Shelly King

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Beschreibung

Ein hinreißendes Debüt für alle Buchliebhaber Maggie hat gerade ihren hochdotierten Job in einem kalifornischen Internet-Startup verloren und findet Trost im «Dragonfly Books», einem verstaubten Antiquariat um die Ecke. Statt auf Jobsuche zu gehen, liest sie eine Schmonzette nach der anderen, freundet sich mit dem schrulligen Besitzer des «Dragonfly» an und lernt nebenbei den geheimnisvollen Fahrradfreak Rajhit kennen. Ihr bester Freund indessen sorgt sich um Maggies Zukunft und verschafft ihr Zutritt zum Lesezirkel einer wichtigen Managerin von Silicon Valley. D.H. Lawrences «Lady Chatterley» steht auf dem Programm. Als Maggie die uralte Ausgabe bei «Dragonfly Books» aufschlägt, entdeckt sie einen in das Buch gekritzelten Briefwechsel, der sie augenblicklich in seinen Bann zieht. Die leidenschaftlichen Botschaften zwischen zwei unbekannten Liebenden berühren sie zutiefst – und öffnen ungeahnte Türen in ihrem eigenen Leben … Ein humorvoller Feelgood-Roman für alle, die insgeheim daran glauben, dass die große Liebe durch Bücher gefunden werden kann – und trotzdem in der Welt von heute leben.

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Seitenzahl: 398

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Shelly King

Mr. Lawrence, mein Fahrrad und ich

Roman

Aus dem Englischen von Judith Schwaab

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein hinreißendes Debüt für alle Buchliebhaber

Maggie hat gerade ihren hochdotierten Job in einem kalifornischen Internet-Startup verloren und findet Trost im «Dragonfly Books», einem verstaubten Antiquariat um die Ecke. Statt auf Jobsuche zu gehen, liest sie eine Schmonzette nach der anderen, freundet sich mit dem schrulligen Besitzer des «Dragonfly» an und lernt nebenbei den geheimnisvollen Fahrradfreak Rajhit kennen. Ihr bester Freund indessen sorgt sich um Maggies Zukunft und verschafft ihr Zutritt zum Lesezirkel einer wichtigen Managerin von Silicon Valley. D.H. Lawrences «Lady Chatterley» steht auf dem Programm. Als Maggie die uralte Ausgabe bei «Dragonfly Books» aufschlägt, entdeckt sie einen in das Buch gekritzelten Briefwechsel, der sie augenblicklich in seinen Bann zieht. Die leidenschaftlichen Botschaften zwischen zwei unbekannten Liebenden berühren sie zutiefst – und öffnen ungeahnte Türen in ihrem eigenen Leben …

Über Shelly King

Inhaltsübersicht

WidmungMottoErstes Kapitel Dich für mich unverzichtbar machenZweites Kapitel Die SilbernadelDrittes Kapitel Näher, als wir dachtenViertes Kapitel Savage Hammerheads und andere VersuchungenFünftes Kapitel Ich werde dich findenSechstes Kapitel Der Handschuh der VenusSiebtes Kapitel Die GetreuenAchtes Kapitel Irrungen, WirrungenNeuntes Kapitel Bahnen schwimmenZehntes Kapitel Es läuft gutElftes Kapitel Das Glas zerbrichtZwölftes Kapitel Das Kräuseln im WasserDreizehntes Kapitel Die gefrorene Erde durchbrechenVierzehntes Kapitel NepentheFünfzehntes Kapitel Finden, was verloren warSechzehntes Kapitel Nur Möglichkeiten bleiben für immerDankZitatnachweise

Für Mama,

die immer sagte, dass ich schreiben soll

Wo ist die menschliche Natur schwächer als in einem Buchladen?

Henry Ward Beecher

 

Denn Connie hatte sich auf den Standpunkt der Jungen gestellt: was der Augenblick gab, war alles. Und die Augenblicke folgten aufeinander, ohne notwendig zueinander zu gehören.

D.H. Lawrence, Lady Chatterley

Erstes KapitelDich für mich unverzichtbar machen

* * *

Die Liebe findet für uns das, von dem wir gar nicht wussten, dass wir es uns wünschen.

Henry

Bücher verändern das Leben eines Menschen nicht, zumindest nicht, wie man im Allgemeinen glaubt. Auf Messers Schneide zu lesen, während man Erster Klasse zum Meditieren in ein Luxushotel fliegt, oder Himmel über der Wüste, wenn man frisch geschieden den Spuren des Schnees am Kilimandscharo folgt, bringt auch nicht mehr Erleuchtung, als sich in Disneylands rotierenden Teetassen ein Schleudertrauma zu holen. Tut mir furchtbar leid, aber so ist es. Und die gebrauchten Bücher hier im Dragonfly sind nicht von mehr Weisheit durchdrungen als die nagelneuen drüben bei Apollo Books & Music. Unsere Bücher sind einfach nur billiger und ramponierter. Doch die Leute kommen immer noch. Sie fragen mich nach einem wundersamen Elixier aus Papier und Wörtern, das ihre Enttäuschungen lindern und ihre erloschenen Leidenschaften zu neuem Leben erwecken könnte. Sie kommen, weil sie glauben, ein Buch habe mein Leben verändert. Keiner von ihnen begreift, dass es nicht das Buch war, das dies bewirkt hat.

Im Rückblick fällt es mir schwer, den Moment dingfest zu machen, an dem alles begann. Ich könnte zum Beispiel sagen, es war an dem Tag, als ich bei ArGoNet gefeuert wurde, an dem Tag, als ich Hugo zum allerersten Mal traf, oder sogar noch weiter zurück, als ich von South Carolina nach Silicon Valley zog. Doch vermutlich nahm in Wirklichkeit alles seinen Lauf an jenem Freitagnachmittag, als Hugo und ich auf diesen beiden ungefederten Sesseln auf dem knirschenden Holzpodest im Schaufenster von Dragonfly Used Books an der Castro Street in Mountain View saßen, dem Herzen von Silicon Valley. Die Passanten, allesamt in gebügelten Hemden mit den baumelnden Firmenausweisen von Google, Yahoo! oder Intuit, sahen Hugo, einen Mann mittleren Alters mit schütterem Haar und einem langen Pferdeschwanz, der ein eselsohriges Exemplar des ersten Waverley-Romans von Sir Walter Scott las, und daneben mich, eine arbeitslose Frau von vierunddreißig, deren Haare dringend eine Farbauffrischung brauchten, im löchrigen Rush-T-Shirt ihres Ex und einer Jeans, die aufgrund angefressener Frustpfunde aus allen Nähten zu platzen drohte. Es war ein sonderbarer Platz, denn man saß wie auf dem Präsentierteller. Doch es war auch der einzige Platz im Dragonfly, an dem es überhaupt möglich war, ein paar Sessel aufzustellen. Überall sonst gab es nämlich nur eins: Bücher, Bücher und nochmals Bücher.

Der Sommer des Jahres 2009 in Silicon Valley war ganz anders als der im Jahr 2001, als stöhnende Zombies von toten Dotcom-Firmen die Straßen überfluteten. Dieses Mal machten die Firmen nicht mehr dicht. Sie setzten einfach nur die Hälfte ihrer Mitarbeiter auf die Straße und nahmen sie gegen ihren Willen von der Gehaltsliste, um ihnen die Chance zu geben, sich «neuen Herausforderungen» zu widmen. Ich versteckte mich im Dragonfly Used Books, um historische Liebesromane in mich reinzufressen und auf das nächste große Ding zu warten. Nichts, was ich nicht schon mal erlebt hätte.

Doch es war mittlerweile sechs Monate her, seit ArGoNet Software meinen Job nach Indien ausgelagert hatte. Ich konnte mir keine Pediküre und kein Restaurantessen mehr leisten und hatte schließlich sogar meinen Kabelanschluss kündigen müssen. Hugo sagte, ich hätte meine Lauscher auf das Universum ausgerichtet, damit es mir neue Abenteuer verhieße. Meine Mutter fand, ich ließe mich gehen.

Gerade las ich Nacht der Sterne, einen der Romane, die ich aus den Stapeln des Dragonfly gefischt hatte. Es hatte auch so herrliche Schmöker wie Ruf des Begehrens, Geliebter Schurke sowie Der Verrat der Piratenkönigin gegeben. Nein, für mich bitte keine frechen Frauenromane mit Cocktails und High Heels. Ich wollte verwegene Mannsbilder mit muskelbepackten Brustkörben und Vollweiber mit gesprengten Miedern. Offenbar war ich in dieser Hinsicht einfach altmodisch.

Als ich an diesem Tag in den Laden gekommen war, hatte ich also Nacht der Sterne aus der Grabbelkiste neben der Kasse gezogen. Liebe und Abenteuer, 2 $ die Tüte, stand auf einem Schild daneben. Auf dem Cover war eine atemberaubende rothaarige Schönheit abgebildet, deren wogender Busen schier über den Ausschnitt ihres elisabethanischen Gewandes quoll. Ein Mann mit nacktem Oberkörper und einer Bon-Jovi-Föhnfrisur im Stil der Achtziger stand im Hintergrund und betrachtete sie bedrohlich. Oder war es eher leidenschaftlich? Manchmal konnte man das einfach nicht sagen.

Natürlich las ich auch andere Bücher. Genauer gesagt, jede Menge Bücher aus jedem anderen erdenklichen Genre. Doch ich liebte Beißerbücher, diese Schmöker mit den hingegossenen Vollblutfrauen auf dem Cover, über deren schneeweißen Hals sich immer ein herb männlicher Held mit perfekten Beißerchen beugt. Es ist einfach etwas Tröstliches an der Tatsache, dass man die ganze Geschichte bereits aus dem Bild auf dem Einband erschließen kann. Zuerst gibt es immer eine politische Intrige, die Held und Heldin auf tragische Weise voneinander fernhält, gefolgt von allerlei Gewissenskonflikten, verhärteten Herzen und möglicherweise einer zwangsweisen Verlobung der Dame mit einem zwar betuchten, aber körperlich wie moralisch abstoßenden Freier. Es kommt zu verschiedenen emotional aufgeladenen, jedoch letztlich unerfüllten Begegnungen, bis die Liebenden schließlich während eines heftigen Gewittersturms wahlweise in einer Höhle, einer Scheune oder einem alten Schäferwagen festsitzen, und da sind sie dann endlich – ausgebeulte Reithosen, vorwitzige Brustwarzen und das gute alte Gerammel, das so alt ist wie die Liebe selbst. Es ist nicht gerade Shakespeare, aber mit Sicherheit ein probateres Mittel, einen Nachmittag totzuschlagen, als ein Besuch auf LinkedIn.

Ich war gerade bei einem kriegsentscheidenden Duell angelangt, als ich die Besitzerin des Kartenladens um die Ecke vor dem Schaufenster des Dragonfly stehen bleiben sah. Sie strahlte Hugo an und klopfte an die Scheibe, doch er rührte sich nicht. Erst als ich ihn anstupste, blickte er auf, sah die Kartenlady, lächelte und hauchte ihr einen Kuss zu.

«Weiß sie eigentlich, dass es für die Immobilienmaklerin, die vorhin hier war, chez Hugo heute Abend Tintenfisch gibt?», fragte ich ihn.

«Maggie, wenn du erst mal so alt bist wie ich, wirst du feststellen, dass es manchmal befreiend sein kann, wenn man nichts weiß», sagte er und wandte sich wieder den Dramen Sir Walter Scotts zu, einer Schwarte, die er auf dem weichen Wulst oberhalb seines Gürtels balancierte, welchen er nach einem Dim-Sum-Mittagessen geöffnet hatte. Ich hatte Hugo nie in einem anderen Outfit gesehen als in Jeans und abgetragenen Baumwollhemden mit aufgerollten Ärmeln. Er war Ende fünfzig und sah mit seiner schwarzgerandeten Brille wie der Leiter eines entlegenen Internats aus, in das die Kinder in englischen Romanen verfrachtet werden. Mr. Chips in Birkenstock.

Ich wandte mich wieder Nacht der Sterne zu. Das Dragonfly war für mich als Beißerbücher-Junkie ein wahres Eldorado. Ich fand diese Bücher überall. Eingeklemmt zwischen einem Reparaturhandbuch für Oldtimer und einer Einführung in tantrischen Sex. Unter der Ladentheke, gleich neben dem Zettelkasten, in dem Hugo die Rechnungen der Bücher aufbewahrte, die Kunden in Zahlung gaben. In den Überresten eines Taschenbücherturms, den Grendel, der Hauskater des Dragonfly, zum Einsturz gebracht hatte, weil er sich nicht mehr so gewandt wie früher zwischen den Regalen hindurchmanövrierte. Die Bücherstapel des Dragonfly waren wie ein verwinkeltes Labyrinth aus Wänden, die sich nach hinten immer weiter verengten, wie die Windungen der Muscheln, die ich als Kind an den Stränden Carolinas so gern gesammelt hatte. Im Allgemeinen war es viel einfacher, das zu nehmen, was man fand, als nach etwas Bestimmtem zu suchen.

Beißerbücher verschlang ich etwa zwei bis drei pro Tag. Auf der allerletzten, halbleeren Seite anzukommen, schenkte mir genau den Flash, der für jeden Programmierer von Videogames der Heilige Gral ist, so wie wenn man bei Guitar Hero «Sudden Death» schafft oder bei FarmVille die Erdbeerkuh gewinnt. «Endlich», sagt der Junkie in dir, «ich hab’s geschafft. Jetzt kann ich aufhören und meine Zeit mit dem Kampf gegen den Hunger in der Welt verbringen.» Doch genau das tut man nicht. Es gibt nämlich noch viel mehr virtuelle Gitarren, auf denen man spielen, und noch viel mehr neonfarbene Hühnerställe, die man gewinnen, oder, wie in meinem Fall, Freibeuter, von denen man träumen kann. Im Vergleich dazu ist die reale Welt einfach läppisch.

Meinen letzten Freund hatte meine Sucht in den Wahnsinn getrieben. Für Bryan, einen iOS-Programmierer, der einen Barcode-Scanner entwickelt hatte, mit dem man die Nährwertangaben verschiedener Fertigprodukte abrufen konnte und den er an verschiedene Diät-Apps verscherbelt hatte, brauchte die Menschheit Beißerbücher ebenso dringend wie ein Kolibri eine PlayStation. «Erfolg muss für dich sein wie Zähneputzen», pflegte er zu mir zu sagen. «Dein neuer Job ist es, dir einen zu suchen.» Darauf konnte ich ihm wohl kaum erwidern, dass ich im Dragonfly ebendiesen neuen Job schwänzte, weshalb ich es besser gleich ließ. Meistens vögelten wir dann. Es ist schier unmöglich für einen Mann, sich genügend auf die Herausarbeitung von Schwächen in deinem Zeitmanagement zu konzentrieren, wenn du gerade mit ihm poppst. Wir waren zwei Jahre zusammen, ehe er nach Austin zog, ohne es auch nur ein einziges Mal zur Sprache zu bringen, dass ich ihn begleiten könnte. Er war ein netter Kerl. Es sind immer nette Kerle. Aber niemand kommt nach Silicon Valley, um sich zu verlieben.

Ich war gerade wieder mit meinem Duell beschäftigt, als ich spürte, wie jemand von hinten gegen meinen Stuhl trat. Als ich mich umdrehte, begegnete ich dem finsteren Blick von Jason, dessen Babylon-5-T-Shirt sich um seine streichholzdünnen Oberarme bauschte, während er einen Finger als Lesezeichen in ein Taschenbuch vom Format eines Heuballens gelegt hatte, auf dessen Cover sich futuristische Ritter einen erbitterten Kampf lieferten. Er selbst wirkte farblos – dunkles, strohiges Haar und eine Haut so bleich wie der Bauch eines Welses –, und sein Kopf sah aus, als hätte er längere Zeit in einem Schraubstock gesteckt. Knappe eins fünfundfünfzig groß, immer leicht humpelnd und mit Gliedmaßen, die in seltsamen Winkeln von seinem Körper abstanden, wirkte er wie jemand, der unter die Räder eines durchgehenden Pferdewagens mit Doppelgespann geraten war.

«Fertig?», fragte Jason.

«Was denn?»

«Mit dem Sessel. Bist du mit dem Sessel fertig?» Er zog jedes Wort extra in die Länge, um keinen Zweifel daran zu lassen, für wie dämlich er mich hielt. Es gab nur zwei Sessel im Dragonfly: das erbsengrüne Relikt mit dem durchgescheuerten Bezug an den Armlehnen, auf dem ich saß, und sein Gegenstück, Hugos blauen Schwingsessel, dessen Füllung sich seit einiger Zeit in alle Winde verstreute und zum festen Bestandteil des Teppichs geworden war.

«Noch drei Seiten in diesem Kapitel.» Ich wandte mich wieder meinem Duell zu.

Jason kam um den Sitzplatz herum und hing lauernd über mir wie ein gotischer Wasserspeier.

«Du hockst schon den ganzen Tag hier.»

Ich sah an ihm vorbei in Richtung Hugo, der immer noch voller Konzentration in sein Buch stierte und so tat, als wären wir nicht im selben Raum.

«Ich bin Kundin», sagte ich zu Jason.

«Schwachsinn. Um Kunde zu sein, muss man etwas kaufen.»

Da hatte er nicht vollkommen unrecht. Hugo ließ mich in der Tat den ganzen Tag im Dragonfly herumsitzen, ohne jemals zu erwarten, dass ich etwas kaufte. Als mein Vermieter in der kleinen Doppelhaushälfte ein paar Blocks vom Dragonfly entfernt, wo wir beide wohnten, hatte er berechtigten Grund zur Sorge, dass ich meine Jobsuche meiner Liebe zum Kitschroman geopfert hatte. Mit der Lektüre von Schmonzetten kann man keine Miete zahlen. Doch Hugo sagte nie etwas. All das konnte sich jedoch nach dem Ersten des nächsten Monats ändern, wenn ich meine letzten Ersparnisse aufgebraucht hatte und sich die bescheidene Zahlung des Arbeitslosengeldes durch den bankrotten Staat Kalifornien wieder einmal verzögerte.

«Ich bin gleich fertig», sagte ich zu Jason und wandte mich erneut dem Duell zu, dem ich, sozusagen als nicht zahlende Sekundantin, beiwohnte.

Jason riss mir die Nacht der Sterne aus der Hand, stapfte zur Ladentheke hinüber und hielt den Schinken einer Kundin hin, die gerade in der 2-Dollar-die-Tüte-Kiste mit den Beißerbüchern wühlte.

«Haben Sie den schon, Gloria?», fragte er sie.

Gloria presste ihre frisch ergatterte Beute an die Katzenapplikation auf ihrem Sweatshirt und las den Klappentext meines Buchs durch.

Ich sprang von meinem Platz auf und schwang mich über das Geländer wie Captain Blood auf einem Masttopp.

«Das wollen Sie bestimmt nicht lesen», sage ich und landete direkt vor Gloria. «Ganz im Ernst: Die Heldin hat Pickel, und der Held ist ein Zwerg. Der Schurke ist eigentlich ein ganz netter Kerl, höchstens ein bisschen schrullig. Liest sich nicht besonders gut. Kommen Sie, ich suche Ihnen was anderes heraus über einen griesgrämigen irischen Rebellen, der versucht, den Mord an seinem Vater zu rächen und zugleich den Verführungskünsten der schönen Tochter seines Erzfeindes zu widerstehen.»

Sie blinzelte mich an, während Jason an mir vorbeirauschte und sich blitzschnell in meinen Sessel fallen ließ. Als ich mich wieder Gloria zuwandte, sah ich, wie sie Nacht der Sterne gerade in einem Jutebeutel verstaute, der bereits vor mehreren anderen Büchern überquoll. Sie zählte zwei Dollar in kleinen Münzen auf die Theke und stapfte durch die Tür hinaus auf die Castro Street.

Hugo hievte sich aus seinem Sessel, klopfte mir auf die Schulter, als wollte er sagen: Hab Geduld, das Universum wird’s schon richten, und ging zum Tresen, um Glorias Judaslohn in die Kasse zu schieben. Ich angelte mir Teuflisches Herz aus der Grabbelkiste und huschte wie ein Eichhörnchen mit seiner Beute zu dem frei gewordenen Platz.

* * *

Ich war etwa fünfzig Seiten von Teuflisches Herz weit gekommen, als mein iPhone den Klingelton «Der Jüngste Tag ist da! Tut Buße, o ihr Sünder!» zu schreien begann. Ich holte das Handy aus meiner Tasche und erblickte Dizzys Bild auf dem Display. Über seinem Foto leuchtete das Wort «Gott». Ich musste endlich daran denken, mein Handy mit einem Passwort zu sichern, wenn Dizzy in der Nähe war.

«Ich sag jetzt mal nichts», meinte Hugo. Nachdem er seines Sitzplatzes verlustig gegangen war, hatte er damit begonnen, eine Kiste mit Thrillern zu durchforsten, die am Morgen ein Kunde in Kommission gegeben hatte.

«Wenn du mir sagst, du sagst jetzt mal nichts über die Tatsache, dass meine Gespräche am Handy von der Regierung abgehört werden, ist das auch nicht anders, als würdest du was sagen.» Ich drückte Dizzy weg, damit er mir eine Nachricht hinterlassen konnte.

«Eigentlich», sagte Hugo, «wollte ich dich eher auf Hirnkrebs hinweisen.»

«Der Jüngste Tag ist da! Tut Buße, o ihr Sünder!», kreischte es erneut aus dem Handy. Dizzy wollte sich also nicht abwimmeln lassen. Jason zeigte mit dem Finger auf ein Schild, das er höchstpersönlich geschrieben und über der Ladentheke aufgehängt hatte:

Eure Handys sind Teufelszeug und werden euch das Hirn auffressen! Schaltet sie aus und lest lieber Bücher!

Unter diese Zeilen hatte Hugo in fetter Schrift hinzugefügt:

Namaste – eure Freunde vom Dragonfly in Liebe und Frieden

Ich ging nach draußen auf den Gehsteig und machte ein finsteres Gesicht, bevor ich das Gespräch annahm.

«Du bist hoffentlich zu Hause, ja? Auf Jobsuche?», fragte Dizzy.

Ich musste mich mit einem Satz vor einem Skateboarder in Sicherheit bringen, der auf Cuppa Joe zusteuerte. Dort angekommen, direkt nebenan, nahm er das Skateboard in die Hand und gesellte sich zu den Horden der Übermäßig Tätowierten & Gepiercten, die die Außentische des Cafés bevölkerten.

«Yep», sagte ich. «Hocke die ganze Zeit an der Kiste.»

«Lügnerin!»

«Controlfreak!»

Dizzy war mein bester Freund. Wir waren in den Sümpfen von South Carolina aufgewachsen. Er war der jüngste von fünf Brüdern, das schwule Mathegenie aus den Lenden eines Schweinebauern. Ich war Einzelkind, die pausbäckige, sommersprossige Tochter einer Schönheitskönigin. Wir mussten uns einfach zusammentun.

«Laut Foursquare hast du vor zwei Stunden bei Dragonfly eingecheckt. Seit wann leitest du den Laden?», fragte er. «Schau mal über die Straße, meine Süße!»

Ich blickte zu dem Café direkt vor Apollo Books & Music hinüber, in dem Dizzy saß, das Handy ans Ohr gedrückt, in der anderen Hand ein Weinglas, mit dem er mir zuprostete. Mit seiner zotteligen Mähne und dem taillenlosen Körperbau sah er aus wie ein Hydrant. Er war etwas kleiner als ich mit meinen eins achtundsechzig, wobei er nicht dazu zu bewegen war, zu sagen, um wie viel. Heute trug er Cargo-Shorts – die ihm bei seinen Stummelbeinen bis auf die Wade hingen – und ein Red-Elvises-T-Shirt. Er zeigte auf ein hohes Glas mit einem kaffeehaltigen Getränk, das auf dem radkappengroßen Tisch vor ihm stand.

«Das ist hoffentlich eine Latte macchiato mit dreifachem Espresso», sagte ich zuversichtlich.

«Mit extra viel Schaum», schnurrte er ins Telefon.

Ich wartete auf eine Lücke im langsam dahinfließenden Verkehr auf der Castro Street und huschte dann schnell zu ihm hinüber. Jahrelang hatte dieser mit mexikanischen Fliesen ausgelegte Vorplatz zu einem stillgelegten Kino geführt, aber jetzt war hier das obligatorische Café untergebracht, das zu jeder Filiale einer großen Buchhandelskette gehört. In der Stadt war die Besorgnis zunächst ziemlich groß gewesen, als Apollo einen Buchladen in dem leer stehenden Theater aufmachen wollte, doch die Unkenrufe waren rasch verstummt. Apollo hatte mit seinen breiten, grell leuchtenden Gängen und den in identischen Polohemden steckenden Mitarbeitern, die den Käufer nach einem kurzen Blick in den Computer zu seinem Buch geleiteten wie ein livrierter Diener im Märchen, alle überzeugt. Hugo war felsenfest davon überzeugt, zu Apollo in Konkurrenz zu stehen. Aber ich fragte mich, ob dort auch nur einer wusste, dass Hugos Geschäft überhaupt existierte. Das Dragonfly machte keine Werbung, es besaß keine Displays, und auch das Ladenschild war kaum der Rede wert. Eigentlich hätte man es mit Fug und Recht ebenso gut als einen Riesenhaufen Bücher plus Registrierkasse bezeichnen können. Dennoch war Hugo der festen Überzeugung, auf der guten Seite im Kampf um die Seele der Buchkäufer zu stehen, die aber keine Ahnung davon hatten, dass sie überhaupt in Gefahr waren. Und so betraten wir Bewohner des Dragonfly nur in äußersten Notfällen das Apollo, zum Beispiel, wenn im Dragonfly das Klo verstopft war oder ein guter Freund einen zu aufgeschäumter Milch mit Kaffee einlud. Doch ich musste zugeben, dass ich gegenüber den Lockungen Apollos nicht gänzlich immun war. Für mich hatten die schicken Tüten und Henkelbecher mit dem aufgedruckten Logo des Ladens den tröstlichen Charme des Vertrauten, weil sie sich nahtlos in meine Sammlung von Klamotten mit den Logos der Software-Firmen einfügten, bei denen ich gearbeitet hatte, Firmen, die Produkte verscherbelten, die es gar nicht gab, an Menschen, die gar nicht das Geld hatten, um sie zu kaufen.

«Ich war so intensiv mit der Jobsuche beschäftigt, dass ich eine Pause brauchte», sagte ich und boxte Dizzy liebevoll auf den Arm. Dizzy arbeitete mehr als achtzig Stunden in der Woche. Seine Hobbys waren die Entwicklung von Open-Source-Software, die Inbetriebnahme seines Autos mit Frittierfett sowie die Unterstützung einer Gruppe von brasilianischen Astronomiestudenten, die glaubten, einen Kometen entdeckt zu haben. Für Dizzy war Zeit eine Einheit, die dazu da war, vernünftig investiert zu werden. Sie nicht effizient zu nutzen, ergab für ihn als Software-Ingenieur, dessen Job es war, Dinge schneller zu machen und dafür weniger Ressourcen zu brauchen, keinen besonderen Sinn.

«Aber heute Morgen hast du gesucht, oder? Hast du gesehen, dass Martin Wong auf LinkedIn eine Empfehlung für dich abgegeben hat? Der hat gerade bei WebEx angedockt.»

Das hatte ich nicht gesehen, weil ich zu sehr mit dem erotischen Geplänkel von drallen Mädels mit gut bestückten Burschen beschäftigt gewesen war. Und was hatte eigentlich Martin, ein Firmenvertreter von ArGoNet, mit dem ich im vergangenen Jahr etwa zwei Sekunden zusammengearbeitet hatte, über mich zu sagen?

Während ich die LinkedIn-App auf meinem Handy anklickte, griff Dizzy in eine Stofftasche mit dem Apollo-Logo, in dem seine neuesten Erwerbungen steckten: mehrere Computerhandbücher mit Bleistiftzeichnungen von Tieren auf dem Cover, ein Elchbaby für HTML 5 und ein Fuchs für iOS. Außerdem war da auch noch Der Zweite Weltkrieg. Die komplette Geschichte in Bildern. Einmal hatte Dizzy auf einer Konferenz von ArGoNet die ersten zwanzig Filmminuten von Der Soldat James Ryan gezeigt, um die Firmentruppen auf den Kampf einzuschwören. «Brückenköpfe!», schrie er. «Wir brauchen Brückenköpfe!» Alle hatten den Kopf zwischen die Knie gelegt, um nicht kotzen zu müssen. Dizzy sagte, es sei die beste Vierteljahreskonferenz gewesen, die sie jemals gehabt hätten.

Das Buch, das er jetzt jedoch aus der Tasche zog, war ein Roman – ein Paperback mit einem Cover in Erdtönen, harten Kanten und einem festen Rücken. Ich konnte es sogar von meinem Platz aus riechen – den würzig-borkigen Geruch frisch geschnittenen Papiers. Meine Fingerspitzen fingen an zu prickeln, wenn ich an den jungfräulich unberührten Einband dachte. Es war ein schmales, zartes Ding, wie ein frisch geschlüpftes Küken. Ganz anders als seine Artgenossen im Dragonfly hatte dieses Buch noch nichts erlebt und war weder in enge Handtaschen gestopft, mit Frühstückskaffee bekleckert oder von spitzen Welpenzähnen angekaut worden. Es handelte sich um eine Ausgabe von Lady Chatterley.

«Das hast du gelesen, oder?», fragte Dizzy. «Die lassen dich doch bestimmt keinen Abschluss in englischer Literatur machen, wenn du D.H. Lawrence nicht gelesen hast?»

«Ja, hab ich gelesen. Proseminar erstes Semester. Du warst übrigens im selben Kurs.»

«Ach, wer merkt sich denn so was? Aber egal, ich hab gute Nachrichten. Wir kriegen noch mal eine kleine Finanzspritze von Wander Fish. Du erinnerst dich doch an Avi Narayan?»

«Klar.» In Wirklichkeit stand ich gerade auf dem Schlauch, aber es war leichter, so zu tun als ob.

«Die hat doch diese Lesegruppe und möchte, dass wir beide beitreten», sagte Dizzy und hielt eine weitere druckfrische Version des Buchs hoch. «Wir sollen alle die gleiche Ausgabe lesen.»

«Ich gehe in keine Lesegruppe. Meine Mutter ist in so einem Kaffeekränzchen.»

«Ja, in demselben wie meine. Aber in diese Gruppe gehen wir. Sie heißt ‹Lesben mit Anspruch› oder so ähnlich.»

«Wir sind keine Lesben, Kumpel.»

«Ich schreibe denen gerade die URL für ihren Blog.»

Verdammt. Der Leseclub meiner Mutter konnte sich noch nicht einmal darauf einigen, wie viel Zucker in den Eistee gehört, und diese Gruppe hatte sogar einen Blog? Ich klickte auf den Link, den mir Dizzy als SMS geschickt hatte. «Silicon Valley Buchclub – Leserinnen mit Anspruch», abgekürzt SVBC-LMA. Die Damen hatten also sogar ein Logo.

«Ähm, Dizzy, du bist keine Leserin.»

«Ja, weiß ich. Die expandieren und haben den Namen noch nicht abgeändert. Ich bin der erste Typ.»

«Die fangen mit dir an?»

«Ja, kannst du dir das vorstellen? Ich bin Avis letzte Hoffnung. Heute war ich bei ihr im Büro, und da hat sie diese Ausgabe von Lady Chatterley auf ihrem Schreibtisch liegen und fängt an, über die Lesegruppe zu reden, und dass gerade zwei von den Mädels ausgestiegen und sie folglich nur noch achtzehn seien. Jedenfalls sage ich, dass ich dabei bin, und dann erinnere ich sie an dich. Dass du dieses Eins-a-Literaturstudium hingelegt hättest, und sie solle dich doch mal zu diesem Spaß einladen. Nächste Sitzung ist bei Avi oben in Woodside. Wahrscheinlich müssen wir einen Sherpa anheuern, um dahin zu kommen. Die treffen sich einmal im Monat. Lesen tun sie bloß altes Zeug. Nur tote Dichter.»

«Tote?»

«Ja, das ist eine der Voraussetzungen. Und natürlich ist alles nur vom Feinsten.»

«Warum sollte ich so was machen wollen?»

«Weil ich noch keinen Bock habe, das sinkende Schiff zu verlassen, Mags. Mit der neuen Finanzspritze haben wir bei ArGoNet endlich eine Chance. Und Avi sitzt jetzt im Aufsichtsrat. Sie kann dich wieder reinbringen.»

Das Ganze hatten wir schon zur Genüge durchgekaut, ich und Dizzy, seit dem Tag vor zehn Jahren, als wir beide unsere Doktorarbeiten sausen ließen und mit seinem 86er-CRX von der Columbia nach Palo Alto unterwegs waren. Man schrieb die späten Neunziger, Dizzy wollte seine Scheibe vom großen Internet-Kuchen abhaben, bevor er aufgefuttert war, und ich wollte bei Dizzy sein. Und so hatten wir beide unsere funkelnagelneuen Universitätsabschlüsse genommen – er seinen in Informatik, ich meinen in Bibliothekswissenschaft – und waren nach Silicon Valley gefahren. Ich hatte vor, zu kellnern und mich dabei nach einem Bibliotheksjob umzuschauen, doch Dizzy brachte mich in seiner ersten Start-up-Firma in der Verwaltung unter, mit einem lächerlich hohen Gehalt, etwa doppelt so viel, wie ich als Bibliothekarin verdient hätte. Bei Start-up-Firmen macht man nie nur einen Job, und ehe ich mich’s versah, saß ich einem Kunden gegenüber und wurde ihm als Leiterin der Dienstleistungsabteilung vorgestellt. Ich war keine Programmiererin, doch ich verstand etwas davon, wie sich Informationen zusammenfügen – und was man machen muss, damit es perfekt aussieht. Die Informatiker liebten mich, weil ich sie gut dastehen ließ. Die Vorstandsetage liebte mich, weil ich es schaffte, den technischen Talk so klingen zu lassen wie den Kleinen Kuschelhasen. Ich fühlte mich wie ein Waisenknabe aus dem Comic, der gerade erst erfahren hat, dass all seine Unzulänglichkeiten in Wirklichkeit Ausdruck seiner magischen Kräfte sind und in der Hall of Justice ein Ehrenplatz für ihn reserviert ist. Dann platzte die große Blase, und Flugzeuge flogen in Türme. Mir wurde der Boden unter den Füßen weggezogen. Dizzy und ich waren angeschlagen, konnten uns jedoch mehrere Jahre mit diversen Jobs bei den Firmen über Wasser halten, die immer noch einstellten. Dann kam die nächste Welle, und die hieß Soziale Medien. Auf einmal gab es wieder Risikokapital, überall im Valley wurden neue Firmen gegründet, und die Halbinsel von San Francisco leuchtete und blinkte abermals wie ein Flipperautomat. Bei einem Treffen für junge Firmengründer hatte Dizzy ein paar Business Angels kennengelernt und brachte die Idee für ArGoNet an den Mann.

Man kann sich ArGoNet als eine Mischung aus Facebook, Twitter und einem Firmenintranet vorstellen. Die Idee war, ein abgeschlossenes, gehostetes Umfeld zu schaffen, in dem die Mitarbeiter sich miteinander vernetzen konnten – und dafür stellte die Firma für jedermann die interne Kommunikation zur Verfügung, geschützt und sicher vor der äußeren Welt. Dizzy und ich hatten alles zu Geld gemacht, was nur ging, hatten als CEO einen BWLer mit Stanford-Abschluss angeheuert und dann direkt über einem chinesischen Reisebüro, einen Katzensprung von der Castro Street entfernt, ein gut fünfzig Quadratmeter großes, fensterloses Zimmer angemietet. Vier Jahre später, nach sechshundert Einstellungen, drei neuen CEOs und fünf Runden Entlassungen hatte der Aufsichtsrat beschlossen, meinen Job nach Indien auszusourcen. Im Fernsehen sieht eine Kündigung immer so aus, dass jemand unter Tränen seinen Kollegen um den Hals fällt und dann mit einem Pappkarton voller Habseligkeiten, aus dem meistens eine mickrige Pflanze herausschaut, nach Hause geht. In der schnöden Wirklichkeit hingegen kommst du eines Morgens ins Büro, findest auf dem Schreibtisch einen Scheck über zwei Wochen Gehalt vor, auf dem auch noch dein Name falsch geschrieben ist, und musst dich an der Tür von einem Sicherheitsmenschen filzen lassen.

«Meinst du das ernst, dass du mich wieder reinbringen willst?»

«War Erwin Rommel nun der Wüstenfuchs oder nicht?»

Ich hatte keine Ahnung, nahm aber an, dass die richtige Antwort ein «Ja» gewesen wäre, denn Dizzy schaute mich nicht an. Das bedeutete normalerweise, dass er es ernst meinte. Und dass er sich Sorgen machte. Wir schipperten in unbekannten Gewässern. Bei ArGoNet hatten wir immer gewusst, was zu tun war, mit wem wir uns zusammensetzen und mit wem wir reden mussten, wenn wir etwas brauchten. Den Code, den Dizzy und sein Team geschrieben hatten, kannte ich in- und auswendig, als wäre es ein Buch, das ich so oft gelesen hatte, dass es sich immer von selbst aufschlug, wenn ich es auf den Tisch legte. Ich begriff die Logik und die Unlogik dieses Codes, kannte all die Haken, die er manchmal schlug und die mich ebenso frustrierten wie amüsierten, kannte die kleinen Workarounds, die ihn Dinge tun ließen, von denen nicht einmal Dizzy etwas wusste.

«Du kannst das», sagte Dizzy. «Ist doch ganz einfach. Du ziehst dir was Hübsches an, sagst was ganz Schlaues. Und dann – Bäm! – stehst du wieder auf der Matte, meine Süße.»

«Wann trifft sich denn dieses Kaffeekränzchen?»

«Morgen Nachmittag.»

Ich spendierte ihm eine Runde Schimpfwörter.

«Das wird schon», sagte Dizzy. «Du kannst doch einer Tapete das Blumenmuster abschwatzen, wenn du willst.»

Ich stellte mir meine Ausgabe von Nacht der Sterne vor, wie sie bei Gloria auf dem Tisch lag, wahrscheinlich neben einer Tüte mit zuckerfreien Keksen und der neuesten Ausgabe einer Illustrierten, dazu Radiogedudel im Hintergrund. Vielleicht hatte ich ja doch den Anschluss an die Literatur verloren.

«Sag, wolltest du denn nicht gestern mit diesem Apple-Hardware-Entwickler nach Napa fahren?»

«Nee, wir haben uns vorgestern Abend in diesem Sushi-Laden in Cupertino getrennt. Hast du denn nicht meine Kritik auf Yelp gelesen?»

Kritiken zu schreiben, war für Dizzy ein Ersatz fürs Tagebuch. Er gab zu allem seinen Senf ab – Filme, Restaurants, Zeugs, das er bei Amazon gekauft hatte. Und Dizzy sagte nicht nur seine Meinung zu den Dingen, die er prüfte und begutachtete, sondern schilderte lang und breit, was denn genau in dem getesteten Restaurant oder mit dem gekauften Gegenstand passiert war, warum und mit wem. Früher hatte ich Dizzys Besprechungen geliebt. Manchmal schrieb ich auch einen Kommentar dazu, in dem ich so tat, als würde ich ihn nicht kennen, und komplett anderer Meinung war als er. Dann verstiegen wir uns und bekamen richtig Stress, der schließlich dazu führte, dass wir von der Website ausgeschlossen wurden, wie zwei Kids, die sich beim Autoscooter-Fahren absichtlich gerammt haben. In letzter Zeit hatte ich mir seine Rezensionen jedoch nicht mehr angeschaut. Es machte einfach keinen Spaß, wenn man sich all die Dinge, über die er schrieb, nicht mehr leisten konnte.

Dizzy kippte seinen Wein hinunter und verzog dabei das Gesicht, als würde ihm etwas weh tun. Danach hielt er sich das Glas vor die Augen und überprüfte seine Leere. «Bärenpisse», sagte er. Schließlich legte er die Hand um meinen Kopf und küsste mich auf den Scheitel. «Ich muss los. Ich bin mit den Code-Kollegen auf ein paar Drinks im Finnegans Wake verabredet. Kommst du mit? Geht alles auf mich.»

Es ging immer alles auf Dizzy. Das war seine herausragende Leistung als Chef.

Beim Finnegans Wake handelte es sich um ein pseudo-irisches Pub, dessen Gäste eingefleischte Fans von Science-Fiction-Büchern und -Serien waren. Früher war ich mit den Kumpels aus der Firma nach einem Vierzehnstundentag gern ins FW auf einen Drink gegangen. Wir aßen frittierte Jalapeños, tranken Guinness und warfen uns gegenseitig Zitate aus Real Genius an den Kopf, bis der Morgen graute. Dann torkelte ich die paar Blocks bis nach Hause, schlief ein paar Stunden, stand auf, und das Ganze ging wieder von vorne los. Das war mein kleiner Triumph, meine Belohnung dafür, dass ich tobende Kunden in flauschige weiche Kaninchen verwandelt hatte. Letztes Jahr um diese Zeit war ich diejenige gewesen, die alle einlud, auch diejenige, mit der alle reden wollten. Heute Abend jedoch wäre ich bloß die arbeitslose Freundin des Chefs.

«Hausaufgaben», sagte ich und hielt Lady Chatterley in die Höhe. Und so verließ er mich, ließ mich ganz allein zurück, mit nichts als dreihundert Seiten viktorianischer Literatur, die zwischen mir und meiner nächsten lukrativen Stelle standen.

«Ich sehe, du hast ein neues Buch», sage Hugo, als ich ins Dragonfly zurückkehrte, um meine Sachen zu holen.

«Raste nicht gleich aus. Ich kann es dir erklären.» Während ich Lady Chatterley in meinem Lederrucksack mit dem ArGoNet-Logo verstaute und den Reißverschluss zumachte, erzählte ich Hugo von der Lesegruppe. Zum Spaß landeten aber auch noch Sturmfahrt der Leidenschaft, Geliebter Schurke und Tochter der Highlands im Rucksack.

«Ich bin mir sicher, dass sich hier auch eine Ausgabe von Lady Chatterley findet», sagte Hugo und eilte in Richtung Lager. «Ich meine, erst kürzlich irgendwo eine gesehen zu haben.»

Im Dragonfly war es so aufgeräumt wie auf einem Campingplatz nach einem Wirbelsturm. Wenn ich darauf warten wollte, bis er das Buch gefunden hatte, an das er sich zu erinnern glaubte, konnte das die ganze Nacht dauern.

«Ich glaube, da war eins in der Abteilung Sport und Gymnastik!», rief ihm Jason hinterher.

Eine Dame, die an dem Tisch mit den Bildbänden stand, schaute ihn finster an und legte den Zeigefinger an die Lippen.

«Was denn?», motzte Jason. «Das hier ist ein Buchladen, keine Bibliothek!»

«Hugo!», rief ich. «Ich glaube, wir sollen alle die gleiche Ausgabe lesen.»

«Faschistenpack!», hörte ich ihn schimpfen, als ich hinausging.

* * *

Wenn man sich die Halbinsel von San Francisco als Hand vorstellt, dann liegt Frisco an der Spitze des Mittelfingers und San José am Handgelenk. Mountain View befindet sich mitten auf der Handfläche. Im Gegensatz zu San Francisco gab es bei uns aber keine Hipster mit Hornbrillen und Rollkragenpullovern, die in umfunktionierten Lagerhallen Codes schrieben. Und obwohl Google persönlich bei uns ansässig war, klang eine Adresse in Mountain View bei weitem nicht so schick wie eine in Palo Alto oder Menlo Park. Würde man in Silicon Valley mit Teppichen oder Papierfabriken Kohle machen, dann wohnten in Mountain View die Fließbandarbeiter und ihre Vorarbeiter. Nur dass die Vierzig-Quadratmeter-Häuschen aus den Fünfzigern Solar-Paneele und Fußbodenheizungen hatten und nicht unter einer Million Dollar zu haben waren.

Trotz der hohen Lebenshaltungskosten liebte ich viele Dinge an Mountain View, so wie die altmodischen, schmiedeeisernen Laternen in den Straßen. Bis auf die Tatsache, dass sie mit Strom betrieben wurden, sahen sie aus wie aus einem Dickens-Roman und erlaubten es mir, auf meinem Nachhauseweg zu lesen. Normalerweise schaffte ich zwischen sieben und acht Seiten, bis ich vom Dragonfly bei mir war, zwei weniger, wenn ich auf einen Savage Hammerhead Mocha zu Cuppa Joe ging, und drei mehr, sollte ich mir eine Portion Mu-Shu-Schweinefleisch beim China-Imbiss holen. Und der Spaziergang nach Hause bedeutete ruhige und ungestörte Lesezeit, weil ich nicht mit Jason um einen Sessel kämpfen musste. Die einzigen Geräusche, die man an der baumbestandenen Straße hörte, kamen von den Familien, die mit den letzten Tätigkeiten des Abends beschäftigt waren: Geschirrklappern beim Abwasch, ein paar falsche Töne auf dem Klavier beim hundertsten Probedurchlauf des Flohwalzers oder das unverwechselbare Giggeln eines Kleinkindes, das durchgekitzelt wurde.

Ich hatte den größten Teil der vergangenen drei Stunden bei Cuppa Joe mit dem Vorhaben zugebracht, Lady Chatterley zu erobern. Davor wollte ich bloß das Kapitel von einer meiner eingepackten Romanzen zu Ende lesen, Sturmfahrt der Leidenschaft, dann würde ich endlich damit anfangen. Doch als ich das Cuppa Joe verließ, war ich mit Sturmfahrt der Leidenschaft fertig und hatte bereits sechzig Seiten von Geliebter Schurke in Angriff genommen. Diesmal würde Lady Chatterley also unberührt nach Hause gehen.

Mit der Zwanzig-Dollar-Note, die mich durch das Wochenende bringen sollte, machte ich einen kurzen Zwischenstopp in einem Asia-Laden und kaufte mir ein paar Instantnudelsuppen und einen Lottoschein. Vor hier aus waren es nur noch ein paar Kreuzungen bis zu der Doppelhaushälfte, die ich mir mit Hugo teilte. Im Garten roch es nach frisch Gegrilltem, und mein Magen knurrte. Offenbar hatte sich Hugos kulinarisches Rendezvous in eine Party verwandelt. Hinter dem Haus waren Gelächter und die flinken Gitarrenakkorde eines Fleetwood-Mac-Songs zu hören.

Ich stapfte die vier Stufen zu der überdachten Veranda hoch, die Hugos und meine Wohnung miteinander verband, und sah, dass meine Fliegengittertür offen stand. Zwischen ihr und meiner Haustür befand sich auf dem Boden ein mit Alufolie bedeckter Pappteller, daran klebte ein Zettel.

Spargel in San-Daniele-Schinken. Und ich hab das Buch für dich gefunden. Komm rüber zur Party.

Dein Hugo

Noch einmal schaute ich mir die dunkle Ecke hinter der Fliegengittertür an, dieses Mal aber genauer. Tatsächlich lehnte da etwas, das man als Buch bezeichnen konnte. Doch es sah ganz anders aus als das, was Dizzy mir gegeben hatte. Das hier kam mir vor, als wäre es dem Büchertod schon mehrmals von der Schippe gesprungen. Am Rücken fehlte der Einband, sodass man die mit Leim verklebten Bögen sah. Der Einband selbst bestand aus speckigem Stoff, der an den Kanten zerschlissen und von der Sonne ausgeblichen und gewellt war. Die vergilbten Seiten knirschten, als ich darin blätterte, als wollten sie sich darüber beklagen, dass jemand sie in ihrem miserablen Zustand in Bewegung setzte. Es war das bibliophile Gegenstück zu dem rostigen Rambler Baujahr 62, den Dizzy auf der Highschool gefahren und den zu besteigen ich mich geweigert hatte, weil ich um mein Leben fürchtete. Es wäre keine Überraschung für mich gewesen, hätte auch dieses Prachtexemplar der Buchdruckerkunst Wolken schwarzer Auspuffgase ausgespuckt. Ich nahm das arme Ding mit nach drinnen. Hätte ich über heiße Milch und ein Gästebett verfügt, würde es das bei mir bekommen.

Meine Wohnung war keineswegs die spiegelbildliche Entsprechung von Hugos Zwei-Zimmer-Palast nebenan, sondern eine Art Auswuchs desselben. Als hätte der Architekt die Spendierhosen angehabt und einen Frühstückstresen springen lassen, der die Andeutung einer Küche von einem Wohnzimmer trennte, das gerade groß genug war für ein Zweisitzer-Sofa, einen Papasan-Sessel, einen 47-Zoll-Bildschirm sowie die fünf Ikea-Bücherregale, die eine Chronik meines Lebens darstellten. Der große Gatsby, der eine explodierende Dr-Pepper-Flasche überlebt hatte. Die Ausgabe von Stolz und Vorurteil, die sich von einer Arschbombe in einen Tümpel nie ganz erholt hatte. Und das einzige Buch, das mir meine Mutter jemals geschenkt hatte: eine bebilderte Ausgabe von Hans Christian Andersens Märchen, die mit der kleinen Meerjungfrau vorne drauf, die Seiten braun und mürbe vom vielen Blättern.

Ich liebte dieses Buch und seine schrecklichen Geschichten. Einen ganzen Sommer lang hatte ich mir wieder und wieder diese Schauerstorys zu Gemüte geführt. Während meine Freunde ihre kindlichen Phantasien bei Dracula, Frankenstein oder Sweet Valley High auslebten, tauchte ich genüsslich in diese Märchenwelt ein, in der es Schicksalsschläge hagelte und niemals ein Happy End gab. Wie bei der kleinen Meerjungfrau, die ihre Stimme für Beine eintauschte und auf der Türschwelle des Prinzen schlief, in den sie sich verliebt hatte. Jeder ihrer Schritte fühlte sich an, als würde ihr mit Messern in die Füße gestochen, und doch tanzte sie für ihn, wann immer er es sich wünschte. Schließlich hatte er eine andere geheiratet, und die kleine Jungfrau hatte sich ins Meer gestürzt und war ertrunken. Meine Mutter liebte den Disney-Film mit den singenden Krebsen und den tanzenden Fischen, doch ich hatte mein Herz sogleich an die kleine Meerjungfrau aus dem Buch verloren.

Immer hatte ich mir gewünscht, ein Mädchen zu sein, dem seine Mutter Bücher schenkte. Ich stellte mir vor, wie sie mir über den Kopf strich und mir einen Blankoscheck in die Hand drückte, damit ich bei Weekly Reader in der Schule nach Herzenslust bestellen konnte. Ich sah sie vor mir, die Bücherregale in meinem Zimmer, die vom Boden bis zur Decke reichten und aus allen Nähten platzten, dazu eine Leiter auf Rollen, auf der ich hin und her fahren und mir genau die Zauberwelt aussuchen konnte, nach der mir an diesem Tag der Sinn stand. Tatsächlich gab es in unserem Haus Bücher in Hülle und Fülle: unberührte Harvard-Klassiker, von Hawthornes Geschichten bis hin zu Hemingways Fiesta, die wie Centurionen über das Wohnzimmer meiner Mutter wachten. Die Bildbände – meistens zusammengetragene Fotos von Ehrfurcht erweckenden Landschaften aus den Südstaaten oder von Fußballhelden aus South Carolina – waren immer penibel abgestaubt und frei von Fingerabdrücken. In der Küche prangten Mamas Kochbücher, noch immer in dem makellosen Zustand, den sie hatten, als sie im Paket von Southern Living eingetroffen waren, ihrer Lifestyle-Bibel für die Südstaaten. Dafür gab es weder Wolfsblut noch Die Schatzinsel oder Der König von Narnia. Die fand ich von ganz allein in der öffentlichen Bibliothek.

Als ich acht wurde, hatte meine Mutter mit blankem Entsetzen reagiert, als ich ihr sagte, ich wolle Bibliothekarin werden. Ich wusste, sie sah mich als Matrone mit Gesundheitsschuhen und Dutt vor sich, die den lieben langen Tag zwischen staubigen Bücherregalen umherhuschte und Bibliotheksbesucher verächtlich und mit säuerlicher Miene auf versäumte Leihfristen hinwies. Es war zwecklos, sie davon zu überzeugen, dass ihre Vision nichts mit dem Traumberuf zu tun hatte, den ich mir ausgesucht hatte. Die Bibliothekare, die ich kannte, waren Superhelden der Datenverarbeitung. So wie die Entdeckungsreisenden der Alten Welt schipperten sie auf den unerforschten Ozeanen der Information herum und zeichneten Karten, damit sich jeder, der sie in Händen hielt, zurechtfand. Und sie waren die Hüter von Dingen, die bei anderen Menschen in Vergessenheit gerieten, sie archivierten die Zufälligkeiten des Lebens und setzten sie wie ein Puzzle zusammen.

Auf der Highschool hatte ich begonnen, ehrenamtlich bei der Bibliothek unserer Stadt zu arbeiten, die in einem kleinen gelben Gebäude gleich am Marktplatz untergebracht war. Das Haus meiner Eltern bestand aus endlos vielen stillen Räumen, in denen sich ein Einzelkind wie ich verstecken konnte, doch die Stille, die in der Bibliothek herrschte, war eine, die vor Leben pulsierte, denn sie war voller Menschen auf der Suche nach dem, was sie sich vorstellten. Und ich konnte ihnen dabei helfen, es zu finden. Ich schob Rollwagen voller Bücher, deren Räder unter der schweren Last quietschten, an Regalen vorbei. Ich stempelte kleine linierte Karten mit dem Ausgabe- und dem Rückgabedatum und schob sie danach wieder in die im hinteren Buchdeckel angebrachte Tasche. Und war meine Schicht vorüber, blieb ich oft noch da, setzte mich auf einen Tritthocker ganz hinten in der Sachbuchabteilung und las die Bücher, die meine Mutter mir nie erlaubt hätte, mit nach Hause zu nehmen – Judy Blumes Geschichte einer ersten Liebe, Toni Morrisons Solomons Lied und tonnenweise historische Liebesromane mit windgeföhnten Haarmähnen und verführerischen Miedern auf dem Einband.

Als Studentin an der Universität von South Carolina hatte ich von Bibliothekaren gelernt, wie man in Erfahrung bringt, was die Leute sich wünschen, und wie man sie zu dem hinführt, was sie brauchen. Und so kam es, dass ich all die Fähigkeiten, die ich benötigte, um bei einer frisch gegründeten Internet-Firma zu landen – zum Beispiel wie man ein Content Management System aufbaute und Schnittstellen schuf, die es am Laufen hielt –, in einer Bibliothek gelernt hatte. Ich begriff, dass jede Informationsmenge einem Muster folgt, das einem roten Faden gleicht. Man muss nur daran ziehen – und alles passt. «Erkenntnis erlegt ein Muster auf und verfälscht», schrieb T.S. Eliot in einem seiner Vier Quartette. «Denn das Muster wird mit jedem Augenblick anders.»

In der College-Bibliothek leistete ich ebenfalls meine Dienste, in der Schicht von acht bis Mitternacht, indem ich mich zähneknirschend dem Klassifizierungsdiktat der Library of Congress beugte. Es war eine überaus meditative Tätigkeit, an den Buchrücken vorbeizugehen und genau den richtigen Platz für ein Werk zu finden. Und jede Nacht, wenn ich hier meinen Rollwagen an den Regalen vorbeischob, um die Bücher nach der Rückgabe wieder an Ort und Stelle zu bringen, stolperte ich über ein Pärchen, das auf die eine oder andere Weise mitten in der Bibliothek seiner Liebe frönte. Manchmal saßen da nur zwei an eine Wand gelehnt und kuschelten sich aneinander, um gemeinsam zu lesen oder ein Nickerchen zu machen, doch gelegentlich hörte ich auch, irgendwo auf der anderen Seite der Regale, das leidenschaftlich-gehetzte Stöhnen, das nur Paare aufbringen, die über kein Zimmer verfügen, in dem sie ungestört sind. Nachts waren die Regale wie der Zauberwald im Sommernachtstraum, und jeder dunkle Winkel war von Torheiten und Turteln erfüllt.

Ich legte Hugos Lady Chatterley auf den Frühstückstresen und schlug das Buch auf der Titelseite auf. Ganz oben hatte jemand handschriftlich ein Datum eingetragen: April 1961. Dann wanderte mein Blick langsam über die restliche Seite und blieb bei dem hängen, was hier eigentlich fehl am Platze war: Die gesamte Seite war wie eine Patchwork-Decke mit handschriftlichen Notizen bedeckt.

Ich knipste die Lampe über dem Tresen an und schaute mir das Gekrakel genauer an. Es sah aus wie die Handschrift eines Mannes, eine Mischung aus Schreibschrift und Druckbuchstaben, nüchtern, aber nicht ohne Schwung und Eleganz. Der Querstrich bei den kleinen ts war kühn und kraftvoll, und auf dem kleinen i prangte statt einem Punkt ein kurzer, schräger Strich, der aussah wie die Flamme einer Kerze.

Die Liebe findet für uns das, von dem wir gar nicht wussten, dass wir es uns wünschen.

Und darunter stand, in einer anderen Handschrift, mit ausladenden, schnörkeligen Buchstaben, fließend und feminin, einer Schrift, bei der ich sofort an grünes Gras im Sommer und wirbelnde Röcke denken musste:

Und ich habe dich hier gefunden.

Ich hob das Buch hoch, packte fest zu, damit es nicht auseinanderfiel, doch offenbar übertrieb ich dabei, denn die Seiten lösten sich und fielen wild durcheinander auf den Tresen. Während ich sie zu einem Stapel zusammenschob, kam mir der Gedanke, wie gern ich Hugo hatte. Ich fand es hinreißend, dass er dachte, ich könne ein solches Buch zu der morgigen Sitzung der Lesegruppe mitnehmen. Das wiederum erinnerte mich an meine Großtante Trudy, die immer eine halbe Grapefruit in ihrer Handtasche mit sich herumschleppte und nie begriff, warum man sie nicht mit ihr teilen wollte.

Ich kaute meine in Schinken eingewickelten Spargelhäppchen, ließ mich in dem muschelförmigen Papasan-Sessel am Fenster nieder und klappte mit einem leisen Knacken des Buchrückens die makellose Ausgabe von Lady Chatterley auf, die Dizzy mir gegeben hatte. Ich war bereit. Das würde ein Mordsspaß werden. Weil ich wollte, dass es ein Spaß wurde. Ich schlug das Buch auf der schneeweißen, lupenreinen und unbeschriebenen Titelseite auf, doch mein Blick wanderte wieder zu dem Papierstapel auf meinem Frühstückstresen zurück.

Die Liebe findet für uns das, von dem wir gar nicht wussten, dass wir es uns wünschen.

Wieder wandte ich mich der Ausgabe in meinen Händen zu. Kapitel 1, Seite 1. Ich zwang mich zur Konzentration. Ich würde dieses Buch heute Nacht lesen, und morgen, in diesem Bücherkränzchen, würde ich den Damen zeigen, wo der Hammer hängt. Bloß dass ich bereits auf Seite 2 das unwiderstehliche Verlangen nach einer Diet Coke und dem Schatz eines Freibeuters verspürte …

Als ich ein paar Minuten später am Tresen an einem Reiscracker mit Käsegeschmack knabberte, wanderte mein Blick erneut zu den flatternden Überresten von Hugos Buch. Fast jede Seite war am Rand mit den Handschriften von der Titelseite vollgeschrieben, stets im Wechsel, was fast wie ein Tattoo aussah. Ich hielt das Buch ins Licht der Lampe. Gleich auf Seite 1 stand Folgendes:

Hallo? Ich heiße Henry. Wer ist da?

 

Hallo, Henry, ich bin’s, Catherine.

 

Catherine, danke fürs Schreiben. Ich werde immer neugieriger.

Henry

 

Geht mir ebenso. Warum Lady Chatterley? Und warum hast du begonnen, in dieses Buch zu schreiben?

Catherine

 

Ich weiß auch nicht so genau. Ich sah einfach dieses arme, zerlesene Buch und hatte vermutlich Mitleid mit ihm. Ich dachte, es könnte mir Gesellschaft leisten. Ich habe den Roman immer gemocht. Wusstest du, dass er ursprünglich mal Zärtlichkeit hieß? Ich liebe die Sanftheit, mit der sie sich lieben. Besonders in Mellors’ Brief am Ende. «Wenn ich schlafen könnte mit meinen Armen um Dich, könnte die Tinte im Faß bleiben.»

Henry