Mr. Seven Notrump - Thorsten Widow - E-Book

Mr. Seven Notrump E-Book

Thorsten Widow

3,7

Beschreibung

Als junger Student lernt Maximilian über das Bridgespiel die angehende Ärztin Emily kennen. Gut ein Jahr teilen sie alles: Träume, Leidenschaft, kulturelle Höhepunkte und einen Talisman namens Mr. Seven Notrump. Eine gemeinsame Perspektive entwickeln sie jedoch nicht. Ihre Biografien passen nicht zusammen. Maximilian will es nicht wahrhaben. Er möchte, dass sie – seine Traumfrau – versteht, was ihn bewegt. Deshalb erzählt er Emily sein ereignisreiches Leben. Trauriges wie Amüsantes. Halten kann er sie nicht. So nicht. Ihre anfänglich überschwängliche Beziehung scheitert, ohne je wirklich abgeschlossen gewesen zu sein. Beide heiraten einen anderen Partner, werden Eltern, machen Karriere. Ihre Seelenverwandtschaft überlebt ebenso wie Mr. Seven Notrump. Knapp 25 Jahre nach ihrem ersten Kuss sehen sich Emily und Maximilian wieder.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 306

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,7 (18 Bewertungen)
7
4
2
5
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Oma

Für Sabine

Für mich

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Nachwort

Vorwort

Als ich mich am 8. Februar 1985 von Maximilian trennte, sah ich keinen anderen Ausweg, mich zu befreien. Wir waren unserer Hilflosigkeit zum Opfer gefallen. Wir stürmten offenen Auges in unser Aus. Das Aus einer großen Liebe. Ich betätigte „bloß“ den Abzug; zielte nicht dorthin, aber ich traf mitten in Maximilians Herz. Keine Wahl – so empfand ich es – blieb mir bei der Art und Weise, wie ich unsere Beziehung beendete.

Was ich ihm an den Kopf warf, klang brutal, ich weiß. Sollte es auch. Unabhängig davon, ob es der Wahrheit entsprach oder nicht; ich musste einen endgültigen Schlussstrich unter UNS ziehen. Zu ausweglos! Diskutieren wollte ich nicht mehr. Die erhebliche Verletzung, die meine Formulierung bei Maximilian zwangsläufig hervorrufen musste, war insofern beabsichtigt. Jedweder Weg zurück sollte von vornherein verbaut sein. Für ihn und vor allem für mich.

Vergessen habe ich ihn nie. Nicht ohne Grund „überlebte“ unser Cockerspaniel-Talisman namens Mr. Seven Notrump mehr als zwei Jahrzehnte unversehrt, bevor ich meinen Maximilian wieder traf.

Ende Oktober 2008 – fast 24 Jahre nach unserer gemeinsamen Zeit – erhielt ich sein Buch „Mr. Seven Notrump“. Unsere Liebe lebte wieder auf.

Emily

Grafschaft, im Februar 2011

1

Samstag, 21. Januar 1984

Hallo Maximilian!

Mein Name ist Emily. Ich bin neu in Oldenburg und auf der Suche nach jemandem, mit dem ich ab und zu Bridge spielen kann. Die Präsidentin des Oldenburger Bridgeclubs gab mir Deine Adresse. Wäre schön, wenn Du mal Zeit und Lust hättest, Dich bei mir zu melden. Ich wohne auch in einem Studentenwohnheim; im Hermann-Ehlers-Haus, Eichenstraße 105/107, Zimmer 7.

Gruß Emily

Als Maximilian nach seinem Jogging vor dem kleinen Appartement seines Studentenwohnheims auftauchte, fiel ihm sofort dieser Zettel in die Augen. Er prangte in DIN-A4-Größe an seiner Tür. Schöne Schrift, dachte er. Und: Na endlich ein guter Ansatz der Präsidentin unseres Bridgeclubs, junge Leute beim Bridge zusammenzuführen. Bei diesem Kartenspiel, das ausschließlich zu viert funktioniert, benötigt man nun mal zwingend einen festen Partner, mit dem man dann regelmäßig auch die Turniere spielen kann. Insofern ergeben „Partnervermittlungen“ einen Sinn.

Etwas überrascht war er aber trotzdem über die Nachricht. Frau von Henn, so hieß die Leiterin des Bridgeclubs, wusste doch, dass Maximilian gar nicht auf der Suche nach einem Bridgepartner war. Maximilian hatte nämlich vor einigen Monaten mit Bridgespielen begonnen und war mit Franz gleich an einen der besten Lehrmeister und Partner Deutschlands geraten. Insofern bestand wirklich kein Handlungsbedarf.

Auf der anderen Seite gehörte eine ausgeprägte Wissbegierde, sprich: Neugier zu Maximilians Charakter. Für ihn stand deshalb von vornherein fest, dass er Emily einen Besuch abstatten würde, einfach um zu sehen, wer sich hinter den Zeilen verbirgt. Ein Versuch könnte nicht schaden. Vielleicht entstünde sogar ein gutes Verhältnis und Emily könnte einspringen, sofern Franz mal verhindert wäre.

Neben seinem Studium hatte sich Maximilian voll diesem faszinierenden Kartenspiel verschrieben. Wer ihn kannte, wusste, was das bedeutet: am liebsten jeden Abend inklusive der Wochenenden dieser Leidenschaft nachgehen. Und da konnte es konsequenterweise nicht schaden, sich nicht ausschließlich auf einen Partner zu stützen, sondern einen Plan B parat zu haben.

So war er schon immer gewesen: ganz oder gar nicht! Ursprünglich hatte er sich dem Schachspiel gewidmet. Das fing schon im zarten Alter von knapp 5 Jahren an. Auch wenn es seinem Vater zunächst etwas schwer gefallen war, seinen Sohn von der „Notwendigkeit“ zu überzeugen, bereits im Kindesalter einen Denksport zu erlernen, packte den Sohnemann das Königliche Spiel dann doch zusehends mehr und er entwickelte einen enormen Ehrgeiz.

Nach wenigen Jahren gehörte er zu den besten seiner Altersgruppe, trainierte jeden Tag und spielte mit 14 Jahren seinen Vater, Julius, an die Wand, der bei allem Stolz doch schwer daran zu knabbern hatte, und die gemeinsamen Partien vermutlich deshalb zur Seltenheit verkamen. Kurz vor seiner Volljährigkeit errang er mit seiner Mannschaft in Unna sogar zweimal die Deutsche Jugend-Vizemeisterschaft.

Unerwartet für viele Nahestehende kam es dennoch zu einem jähen Ende seiner vormals ehrgeizigen Ambitionen auf den 64 Feldern:

Maximilians schulische Leistungen hatten sich kurz vor Beginn der Oberstufe auf dem Gymnasium in Unna – vielleicht auch aufgrund der mit der Trennung seiner Eltern einhergehenden nervlichen Belastungen – dramatisch verschlechtert. Es drohte erstmals in seiner Karriere ein herber Dämpfer, der so gar nicht zu ihm passen wollte und erst recht nicht zu seinem Vater, der fürderhin alles unternahm, seinem Sohn das Überspringen der schulischen Hürde zu ermöglichen.

Flugs wurden 4 Nachhilfelehrer engagiert, die dem Nachkömmling in den von Blauen Briefen bedachten Wackelfächern helfen sollten. In einem grandiosen Kraftakt gelang das Projekt und fortan gab es keine Probleme mehr. Vor dieser Aktion hatte Maximilian aber nicht nur seinem Vater versprechen müssen, seine Schachaktivitäten zugunsten der Schule massiv zu reduzieren.

Auch Maximilians Französisch-Lehrer, beide im selben Schachklub, sagte auf der Rückfahrt einer Klassenfahrt von Straßburg „ganz im Vertrauen“ zu ihm: „Maximilian, aus meiner Sicht hast Du jetzt genau zwei Möglichkeiten. Du wirst Schachprofi und lebst davon, oder Du gibst das Schachspiel auf und machst Abi!“

Derart unharmonisch hatte es zuvor niemand auf den Punkt gebracht. Klang aber irgendwie dennoch überzeugend. Also entschloss sich Maximilian, Abi zu machen, denn es sollte ja etwas aus ihm werden und vom Schachspiel konnte in Deutschland quasi niemand zufriedenstellend leben.

Und ein weiterer Aspekt beeinflusste seinen Entschluss: Obgleich es mit seiner Mannschaft zu den erwähnten Erfolgen reichte, musste er sich doch eingestehen, dass nach den anfänglichen rapiden Fortschritten ein gewisser Stillstand auf seiner persönlichen Leistungskurve eingetreten war. Für Maximilian stand unumstößlich fest: Der Zenit ist überschritten! Also auf zum nächsten Abenteuer! Er wollte sich intensiv einer neuen Herausforderung widmen, freilich erst nach dem bestandenen Abitur und der 15-monatigen Wehrdienstzeit. Dass es einmal Bridge sein würde, ahnte er bis kurz vor Aufnahme seines Studiums im Oktober 1983 noch nicht; Bridge war ihm allenfalls mal klischeehaft in irgendwelchen Fernsehserien im Zusammenhang mit älteren englischen Damen am Teetisch untergekommen.

Es muss zu dieser Zeit gewesen sein, als seine Mutter, die selber vorher einen VHS-Bridgekurs absolviert hatte, ihn auf ihren damaligen Lehrer, den besagten Franz, aufmerksam machte. Franz war eigentlich Bratschist im Oldenburger Staatsorchester. Er nahm sich für das Bridgespiel jede Menge Zeit, da er es liebte und weder finanzielle noch zeitliche Sorgen kannte.

Maximilians Mutter, Christiane, die ebenfalls in Oldenburg studierte, regte an, er solle sich unverbindlich mit Franz verabreden. Schließlich sagte man Maximilian (auch aufgrund seines Schachtalents) eine gewisse Kombinationsfähigkeit nach, die beim Bridge nur nützlich sein könne, weil es dem Schach sehr vergleichbar sei. Seine Mutter sollte Recht behalten.

Schon beim ersten Treffen mit Franz bestätigte sich das. Und mir nichts Dir nichts hatte sich das Bridge-Virus in Maximilians Hirn festgesetzt. Da war es: Das neue, heiß ersehnte Abenteuer. Ihm wollte er fortan viel Zeit widmen, selbstverständlich nicht auf Kosten seines Studiums. Oder doch?

Jetzt las Maximilian ein weiteres Mal Emilys Zettel. Was war zu tun?

Kurz ging er den geplanten Ablauf des bereits bis zum Nachmittag voran geschrittenen Tages durch. OK, erstmal was essen, dann – wie bereits versprochen – bei der Zimmernachbarin auf einen Tee vorbei schauen und abends mit Franz nach Delmenhorst zu einem Turnier fahren.

Also, essen ist nicht so wichtig und die Teeverabredung nebenan könnte er kurz halten, plante er. So wäre noch etwas Zeit für eine Stippvisite bei Emily. Hoffentlich ist sie überhaupt da, sagte er zu sich.

Eine Stunde später schwang er sich aufs Fahrrad und wollte die knapp 15 Minuten zum Hermann-Ehlers-Haus radeln. Wollte er zumindest. Der Weg von seinem Studentenwohnheim zu Emily brachte es zwangsläufig mit sich, dass er bei seiner geliebten Großmutter vorbeikam, zu der er, anders als zu seiner Mutter – also der Tochter der Großmutter – einen nahezu täglichen Kontakt pflegte.

Hatte er der Alten Dame nicht einen kurzen Besuch versprochen? Ja, ursprünglich wollte er das auf dem Heimweg vom Joggen ins Wohnheim erledigt haben, zog es dann aber doch vor, den Termin mit seiner Oma auf später zu verschieben, zumal seine Sparsamkeit ihm befahl, die noch auf seinem Herd befindliche Tomatensuppe vom Vortag nicht schlecht werden zu lassen. Da stand er nun und musste trotz seiner Neugier auf Emily seiner lieben Oma wenigstens für ein paar Minuten „Hallo“ sagen.

In dem Bestreben, den Besuch zeitlich überschaubar zu halten, erzählte er die Geschichte mit dem Zettel, machte es eilig, und seine Großmutter hatte ein Einsehen. Deutlich zum Ausdruck gebracht wurde ihr Verständnis durch zwei Frikadellen, die sie ihrem Enkel mit einem herzlichen „Viel Glück!“ noch mit auf den Weg gab. Welche Bedeutung konnte nun noch die Tomatensuppe zuhause haben, die dank der gestrigen Zugabe von Sahne „umzukippen“ drohte? Kaum ins Gewicht fiel auch, dass das „Viel Glück!“ seiner Großmutter wohl eher der für den Abend vorgesehenen Teilnahme an dem Bridgeturnier in Delmenhorst gegolten haben dürfte als seinem Treffen mit Emily.

Bewaffnet mit den Frikadellen setzte er sich auf sein Fahrrad, verschlang die „Fleischbrote“ und trat kräftig in die Pedale.

2

Wer war diese Emily? Warum trieb ihn eine innere Unruhe? Vorahnung?

Gegen 16:30 Uhr erreichte Maximilian diesen hässlichen Betonklotz, in dem Emily ihrer Ansage nach untergekommen war.

In Oldenburg gab es damals drei große Studentenwohnheime. Das Hermann-Ehlers-Haus war architektonisch mit Abstand das grauenvollste und erinnerte eher an einen zu hoch geratenen Plattenbau als an ein Haus für kreative und fantasiebegabte Geister. Dafür waren die Mieten günstig und pekuniäre Vorteile erfordern eben gelegentlich Konzessionen.

Immerhin verfügten alle Zimmer draußen über einen eigenen Klingelknopf. Aber wo sollte er klingeln?, kannte er doch nur ihren Vornamen und die Zimmernummer.

Das schöne an diesen anonymen Massenwohnanlagen, analysierte Maximilian für sich, ist doch, dass so viele Leute darin wohnen, dass irgendwann irgendjemand kommen würde, um das grauenvolle Monster zu verlassen bzw. zu betreten.

Gesagt, getan. Nach ca. einer Minute öffnete ein mittelalterlicher Mann, der entweder der Hausmeister sein musste oder der Prototyp eines Dauerstudenten, von denen es damals jede Menge gab. Maximilian ergriff sofort die Chance, setzte einen möglichst unbeteiligten oder besser routinierten Blick auf und folgte dem Herren in einen langen Flur im Parterre.

Schnell durchschaute Maximilian das System der Zimmer-Nummerierungen. War auch nicht so schwierig. Wer verläuft sich schon in einem trostlosen Flur, von dem links und rechts die, wie man unter Studenten damals sagte, Iso-Zellen fein durchgezählt abgehen.

Im Eingangsbereich bog er links in den Flur und sah an dem vierten Zimmer das als Pistole gemalte Türschild nach Bond-Manier mit der Aufschrift „007“. Kein Problem, mein Name ist Bond, James Bond, flüsterte er sich zu und klopfte erwartungsvoll an den Verschlag. Kurz überlegte er noch, ob es nicht effektvoller sein würde, einfach in unverwechselbarer Superman-Verkleidung von außen durchs geschlossene Fenster zu springen und zu rufen: „Du hast mich gerufen, hier bin ich!“

Während er noch selber darüber schmunzelte, öffnete Emily die Tür.

Auch im Nachhinein wissen beide nicht, ob es bereits dieser Moment war, der sie so füreinander einnahm. Kann sein, kann nicht sein. Beide waren nicht unbedingt auf der Suche nach einer Beziehung, ebenso wenig sehnten sie sich nach einer flüchtigen Bekanntschaft. Das Mindeste, was gesagt werden kann ist, dass sofern Vorstellungen im Vorfeld vorhanden gewesen waren, sie nicht enttäuscht wurden. Sie hielten sich auf Anhieb für sympathisch.

Artig stellten sie sich gegenseitig vor. Emily erzählte, dass sie für ein paar Monate in Oldenburg sei, um das Praktische Jahr, das letzte Jahr ihres Medizinstudiums, zu absolvieren. Eigentlich studiere sie in Göttingen. Die Klinik in Oldenburg-Kreyenbrück sei ein Ausbildungs-Krankenhaus der Uni Göttingen.

Bridge habe sie bereits früh in der eigenen Familie gelernt. „In Göttingen machte ich durch Zufall Bekanntschaft mit einer jungen Amerikanerin. Wir haben begeistert zusammen gespielt, ohne Verbissenheit“, schwärmte sie.

Und da sie noch relativ neu sei in Oldenburg, hätte sie Lust, eventuell übers Bridgespiel neue Leute kennen zu lernen.

„Du spielst bestimmt viel besser als ich. Bin noch ein absoluter Anfänger“, wollte Maximilian Emilys Erwartungen gleich von Anfang an dämpfen. Oder waren es bloß seine eigenen? „Das werden wir dann noch sehen“, entgegnete Emily gelassen. In aller Kürze berichtete er ihr, wie er über Schach zum Bridge gekommen war.

„Leider bin ich heute Abend schon zum Bridge verabredet, sonst könnten wir schon ein bisschen üben. Aber wie sieht es denn bei Dir morgen aus, Emily?“

„Morgen wäre gut, aber wenn es Dir nichts ausmacht, kannst Du gern auch heute noch später bei mir klingeln. Es ist der siebte Klingelknopf in der obersten Reihe. Die meisten finden es nicht auf Anhieb. Habe gar nicht geguckt, ob mein Name schon dransteht. Ich heiße mit Nachnamen Bellis.“

„Würde ich gerne machen, könnte aber nach 23 Uhr werden. Wir müssen erst noch aus Delmenhorst zurück fahren.“

„Das macht mir nichts aus. Versuche es dann einfach. Ach, darf ich Dir ’was zu trinken anbieten? Habe ich ganz vergessen zu fragen. Viel kann ich Dir nicht offerieren. Ein Wasser, einen Tee oder einen Kaffee?“

„Ein Kaffee mit Milch wäre nicht übel“; entschied Maximilian.

Und während Emily ihre winzigkleine Kaffeemaschine anwarf, beobachte er sie. Wie alt mochte sie sein? Wenn sie schon so weit war in ihrem Studium, sicherlich etwas älter als er. Sie war schlank, ungefähr so groß wie er und hatte hellbraune halblange Haare.

Mit gerade 21 Jahren blickte er zwar schon auf einige Beziehungserfahrungen zurück, hatte sich allerdings nie wirklich damit beschäftigt, auf welchen Typ Frau er eigentlich stand. Vermutlich empfand er die Frage ohnehin als Quatsch.

Seine „erste große Liebe“ hieß Peggy, ging in die 9-te – er in die 11-te – und war gut zwei Jahre jünger als er. Ganz romantisch wählte sie damals einen blassrosa Brief, um ihm ihre Liebe zu gestehen und zu fragen, ob er sie an der Schule abholen würde, wenn sie am Samstag aus dem Landschulheim in Föckinghausen zurück käme. Sie war ihm vorher nicht aufgefallen. Allenfalls grüßten sie sich gelegentlich, da sie die beste Freundin einer seiner Schulfreunde war.

Einmal mehr obsiegte seine Neugier: Er erwartete das Mädchen, verschoss sich sofort in sie und die nächsten zwei Jahre hielten sie Händchen.

Peggy war ein rassiger Teenie, braun gebrannte Haut, pechschwarze Lockenmähne und eine erotische Figur – aber auch ein pubertierender Teenie. Sie verbrachten eine stürmische, turbulente Zeit miteinander, geprägt von extremen Streitereien mit ihren Eltern, naiv-subtiler Romantik und unerfüllten Sehnsüchten.

Danach gab es in Maximilians Leben noch die eine oder andere Liebelei; nichts Ernstes, nichts von Dauer und vor allem nichts, was er in eine neue Beziehung herüber retten wollte. Eben auch nicht den Typ Frau, sondern er wollte offen sein für die Liebe seines Lebens, so sie denn seinen Weg kreuzen würde.

„Nimmst Du Zucker in Deinen Kaffee?“, riss Emily ihn aus seinen Gedanken. „Süßstoff, wenn Du hast, sonst nur Milch.“ Sie reichte ihm die Espressotasse, füllte ihre ebenfalls auf und erschöpfte damit den gesamten Inhalt der Maschine. Nie vorher war ihm ein so kleines Gerät untergekommen. Aber der Kaffee, leicht nach Mokka oder Zimt schmeckend, mundete vorzüglich.

Sie redeten über Bridge, ihre bisherigen Erfahrungen und wie selten es sei, dass sich ein Paar dabei harmonisch am Tisch gegenüber sitze. Schließlich sei ja automatisch immer der Partner schuld an den schlechten Ergebnissen. Eine echte Zerreißprobe insbesondere für Paare, die sich ohnehin bei jeder Kleinigkeit in die Haare geraten. „So wie beim Tennis-Mixed“, stellten beide fest.

Draußen war es längst dunkel geworden. Ihre Nachttischlampe erlaubte einen klaren Blick auf ihre Gesichtszüge, ihre Mimik und Gestik: Ästhetik pur!

Wenn es überhaupt etwas gab, von dem er gesagt hätte, dass es für eine attraktive Frau unerlässlich sei, dann ausdrucksstarke, markante Bewegungen. Authentische Bewegungen, wie sie nur Frauen machen, die ihren Weg kennen, die sich nicht beirren lassen, denen man vertrauen kann, da sie sagen, was sie denken. Körpergefühl und Vertrauenswürdigkeit gehörten für ihn unabdingbar zusammen. Von Anfang an merkte Maximilian, wie gut diese Merkmale auf Emily zutrafen. Sie begann, ihn unaufhaltsam in ihren Bann zu ziehen.

Eigentlich wollte er sie nach ihrem Alter fragen, zog es dann aber doch vor, diplomatischer vorzugehen: „Wann hast Du Abi gemacht und seit wann studierst Du?“

Ausführlicher, als er sich erhofft hatte, schilderte sie: „Nach meinem Abi im März 1977 in Buxtehude kellnerte ich zunächst in einem Hamburger Ausflugslokal namens Kiekeberg. Meine Ausbildung zur Krankennschwester startete im Juni in Hameln, wohin meine Familie im Monat zuvor gezogen war. Im Mai 1978 wurde ich 20. Bis zum Sommersemester 1978 musste ich auf meinen Studienplatz warten.“

Dachte ich mir, resümierte Maximilian. „Numerus Clausus?“

„Klar, lag die Wartezeit am viel diskutierten NC. Um die Zeit, die durchaus hätte 5 bis 6 Jahre betragen können, sinnvoll zu überbrücken, wäre ich zunächst als Schwester am Krankenhaus geblieben und hätte mir nach der Ausbildung einen Job in der Gegend von Lausanne gesucht. Das Ziel, im Krankenhaus zu arbeiten, verfolgte ich seit meinem 10. Lebensjahr.“

Wow! Die Botschaft hatte ihm gerade noch gefehlt, um sein anfängliches Bild, das wenn man ihn gefragt hätte, schon weit gediehen war, zu bestätigen. Sage ich doch: planvoll und konsequent. Seine Einschätzung zu Emilys Ausführungen endete in einem „Ich bin beeindruckt! Es war für Dich in erster Linie der Wunsch, anderen zu helfen, der Dich dahin führte, wo Du jetzt schon bist. Wann wirst Du Dein Studium abschließen?“

„Wenn alles gut geht im Herbst; im Frühjahr 1985 sollte auch meine Doktorarbeit so weit sein.“ Ist schon ein toller Studiengang, in dem es möglich ist, parallel zu promovieren, dachte Maximilian, sagte es aber nicht, um ihren Erfolg nicht zu schmälern.

„Was studierst Du eigentlich und was hat Dich nach Oldenburg verschlagen?“, erkundigte sich Emily.

„Also, die Wahl des Studiengangs Wirtschaftswissenschaften kann nur als Zufall bezeichnet werden. Als ich anfangen wollte, gab es an der Uni Oldenburg außer Lehramt drei Fächer, die ich hätte mit meinem Notendurchschnitt studieren können: Politik, Sozialwissenschaften und Pädagogik. Nicht, dass mich die Fächer nicht interessiert hätten, nur – für die künftige Arbeitslosigkeit zu studieren, wollte ich nicht unbedingt. Dann fiel mir auf, dass bedingt durch meine vorherige Erfüllung meines Dienstes am Vaterland, auch Wehrpflicht genannt, die NC-Regelung gelten musste, wie sie vor meiner Wehrpflicht zur Anwendung gekommen wäre. Und da gab es eben für Wirtschaftswissenschaften noch keinen NC. Zwei Tage später schrieb ich mich dafür ein. Viel kann ich noch nicht sagen, aber schon jetzt bin ich total fasziniert und werde dieses Semester bereits drei Scheine machen.“

„Das hört sich auch nicht schlecht an. Und wieso Oldenburg?“, hakte sie nach.

„Ich mag Oldenburg sehr. Kenne es, weil wir früher hier gewohnt haben, als ich ein Kind war. Außerdem lebt meine liebe Großmutter hier und meine Mutter liegt an der Uni in den letzten Zügen ihres Psychologie-Studiums. Deshalb fiel die Wahl leicht. Muss aber gestehen, dass ich im Frühjahr bei der Studienplatz-Vergabestelle in Dortmund war, um mich für Jura einzuschreiben. Jura läuft übers Verteilungsverfahren. Studienplatz ist sicher, aber Du weißt nicht, wo Du zum landest. Mir wiesen sie einen Platz in Hamburg zu. Letztlich bin ich dann doch hier eingetrudelt und bin froh darüber.“

„Und wie alt bist Du?“

„Bin vor ziemlich genau einem Monat 21 geworden.“

Maximilian nahm den zweiten und damit letzten Schluck aus seiner Tasse, schaute auf die Uhr und stellte zu seinem Bedauern fest, dass er aufbrechen musste, um noch rechtzeitig zu Franz zu kommen. Er wartete bestimmt schon mit angelassenem Motor auf ihn.

„Emily, ich kann leider im Moment nicht länger bleiben. Das Bridgeturnier in Delmenhorst ruft. Würde aber gern danach nochmal bei Dir reinschauen.“

„OK, klingele einfach, ich freue mich. Solltest Du nicht mehr kommen, rufe mich doch morgen an. Wir haben hier ein Etagentelefon. Kannst ja auch eine Nachricht hinterlassen.“

Sie tauschten die Nummern und er schwang sich auf sein Fahrrad, das direkt vor der Tür stand. Beim Wegfahren glaubte er Emily noch schemenhaft am Fenster erkannt zu haben.

Was war passiert?, horchte er in sich hinein, als er sich dem Haus von Franz näherte. Er konnte es nicht genau deuten, war sich nur sicher, dass ihm die Ablenkung in den kommenden Stunden entweder gut tun oder er sämtliche Spiele vergeigen würde – dann ganz zum Leidwesen von Franz, der ebenfalls nicht gern verlor.

Tatsächlich wartete Franz bereits vor der Tür und flugs befanden sie sich auf der Autobahn gen Delmenhorst. Eine gute halbe Stunde Fahrt sollte vor ihnen liegen. Zeit genug, Franz von Emily zu erzählen.

Obgleich es am Bridgetisch manchmal zum Knatsch kam, wenn Maximilian etwas verbockt hatte, pflegten Franz und er ein freundschaftliches Verhältnis. Sein Bridgepartner war viel älter und hätte mühelos sein Vater sein können. Er war trotz seiner Ehe mit einer erheblich jüngeren Frau nie Papa geworden, trug aber dennoch eine reservierte Fürsorge in sich.

„Franz, Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist!?“, hob Maximilian an. „Wenn Du so strahlst, kann es sich nur um eine Frau handeln“, mutmaßte Franz.

Maximilian erzählte, was vorgefallen war und hatte Mühe, seine plötzliche Hibbeligkeit zu verbergen. War es Desinteresse oder die Befürchtung von Franz, Maximilians Konzentrationsfähigkeit könnte im Verlaufe des Abends weiter leiden? Franz jedenfalls sagte trocken: „Na es ist doch riesig, wenn der Oldenburger Bridgeclub eine Verstärkung erfährt. Bring‘ Emily doch einfach demnächst zu einem Bridgeabend mit.“

Ein paar Minuten später erreichten sie das Spiellokal. Sie verbrachten einen anregenden Abend. Sie waren auf dem zweiten Platz gelandet, wie sie tags darauf erfuhren. Als sie schon fast wieder Zuhause bei Franz angekommen waren, fragte Maximilian ihn, welche Musik er als Experte ihm mit Schmetterlingen im Bauch jetzt empfehlen würde (auch in dieser Hinsicht war Franz ein guter Berater): „Höre Dir am besten Vivaldis ’Die Vier Jahreszeiten’ an und dann vor allem den Frühling.“

Maximilian bedankte und verabschiedete sich von Franz in strömendem Regen. Wie so häufig war Maximilian am Nachmittag etwas suboptimal angezogen aus seinem Wohnheim im Johann-Justus-Weg losgefahren. Trotz des offensichtlichen Regenrisikos trug er lediglich ein Polohemd und eine viel zu dünne Jacke, die die Nässe geradezu in sich aufsog.

3

Gegen 23:15 Uhr stand er vor dem Hermann-Ehlers-Haus. Endlich! Er triefte wie eine Springbrunnenfigur. Es war spät und sein Anblick bestimmt kein optischer Hochgenuss. Es dauerte etwas, bis Emily per Knopfdruck die Außentür öffnete. Begleitet von seinem doch leicht schlechten Gewissen stiefelte er den Flur, der ihm jetzt gar nicht mehr so trist vorkam, entlang bis zum Zimmer Nummer 7. Emily hörte ihn vorsichtig klopfen und streckte ihr Gesicht in den Türspalt. Sie erkannte ihn und ließ ihn rein.

„Sorry Emily, ist doch spät geworden. Aber ich wollte Dich unbedingt noch mal sehen.“

„Ich hatte zwar schon geschlafen. Trotzdem freue ich mich, dass Du gekommen bist.“

„Kann ich irgendwo meine nasse Jacke ausziehen, ohne hier alles feucht zu machen?“

„Hänge sie einfach ins Bad. Du findest es auf dem Gang gegenüber der Küche auf der linken Seite.“

In Rekordzeit war Maximilian zurück in Emilys Zimmer. „Erzähl mal, wie war es in Delmenhorst?“

„Oh, wir erhielten ganz interessante Kartenverteilungen. Ich lieferte Franz relativ wenige Gründe, mit mir zu schimpfen. Emily hast Du Lust? Ich habe mir ein paar Kartenverteilungen aufgeschrieben. Bist Du im Besitz von Bridgekarten? Ich zeige Dir einige Hände. Dann können wir ja auch sehen, wie wir gespielt hätten.“

„Gute Idee!“, stimmte Emily begeistert zu und wies Maximilian angesichts der Enge des Raums einen Platz auf dem Teppich vor dem Bett zu. Im Schneidersitz saßen sie sich gegenüber. Schnell hatte Maximilian die Karten entsprechend seiner Aufzeichnungen und seinem Gedächtnis verteilt.

Während Emily nachdachte, wie sie das Blatt reizen würde, studierte Maximilian sie wie schon am Nachmittag. Emily war eine attraktive und ungewöhnliche Frau, mit der er sich unbedingt wieder verabreden wollte.

Fern jeder Müdigkeit spielten sie bis zum Morgen weiter, tranken Kaffee, ulkten herum und gingen gegen 5 Uhr in der Früh auseinander, da sich Emily fürs Krankenhaus fertigmachen wollte. Sie war für den Sonntagvormittagsdienst eingeteilt.

15 Minuten danach traf Maximilian völlig glücklich in seinem Studentenwohnheim ein. Er fühlte, dass ihn eine unwiderstehliche Macht ergriffen hatte, von der er allerdings noch nicht präzise sagen konnte, worin sie bestand, wie sie zu beschreiben war. Er spürte nur ihre kitzelnden Auswirkungen; ein wohliges Gefühl, einem leichten Rausch gleich. Riesige Elefantenherden, die sich stampfend im Bauch auf den Weg machten, um von den Schmetterlingen das Regiment zu übernehmen.

Trotz der Kühle auch in seinem Zimmer – sein Fenster war in der Nacht stets geöffnet – lag er auf der Decke, genoss die ihn umgebende Seelenwärme, ließ den wundervollen Tag Revue passieren. Tagträumer?

Schlafen wollte er jetzt nicht. Wäre ihm wohl auch nicht gelungen. Die Zeit ist so kostbar. Zu viele Dinge schossen ihm durch den Kopf. Seine Fantasie fuhr mit ihm Achterbahn. Außerdem lohnte sich der Schlaf kaum noch, da er um 8 Uhr zum Tennis verabredet war. Lieber noch ein wenig nachdenken, abheben und entschweben. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen; schon immer gewesen.

Zwei Schreck-Szenarien türmten sich plötzlich vor ihm auf. Sie drohten, seine beflügelten Emotionen wenn nicht zu zerstören so doch abrupt zu unterbrechen. Bevor er sich also mit den unwillkommenen mentalen Störfeuern beschäftigen wollte, brauchte er – so geistesgegenwärtig war er noch – einen Verbündeten, den er in Vivaldi mit seinem „Frühling“ fand.

Zufall? Erst vorige Woche hatte er sich „Die Vier Jahreszeiten“ in einem Plattenladen als Musikkassette besorgt. Schon ewig gehörte das Werk zu seinen Favoriten.

Maximilian war von Vivaldis Ansatz, ausschließlich mittels der Musik und der Sonetten die Vorstellungskraft anzuregen, begeistert. Damit hob sich der Komponist von so vielen Zeitgenossen ab, die Opern schrieben, um sich somit zusätzlich der optischen Eindrücke der Zuschauer sicher zu wissen.

Vivaldi war irgendwie purer. Und dann das dazu gehörige Sonett:

Der Frühling ist gekommen,

und festlich begrüßen ihn die Vögel

mit frohem Gesang.

Und die Quellen zum Säuseln der Zephiretten

fließen schon mit süßem Gemurmel.

Während sich der Himmel

mit schwarzem Mantel bedeckt,

kommen einzelne Blitze und Donner,

den Frühling anzukündigen.

Doch als sie schweigen

beginnen die Vögel von neuem

ihr tonreiches Lied.

Und dort, auf schöner, blühender Wiese

beim lieblichen Säuseln

von Blättern und Gräsern schläft der Hirt,

den treuen Hund zur Seite.

Zum festlichen Ton des Dudelsacks

tanzen Nymphen und Schäfer

in der geliebten Wohnung

des Frühlings zu seinem prachtvollen Erscheinen.

Gibt es etwas Romantischeres auf Erden? Derart gestärkt, begann er, sich den ersten Punkt akribisch vorzunehmen, der ihn wie ein Feuerball in den Kopf getroffen hatte und dort im Begriff war, alles niederzubrennen:

Selbst wenn ich ihr sympathisch bin – und einiges deutet ja darauf hin – was soll sie bloß mit mir anfangen? Zu jung, zu unerfahren, zu emotional, zu unkonventionell, zu unterschiedlich zu ach, wer weiß was noch? Passt nicht!

Der „Frühling“ war verklungen. Puccinis Arie, „É lucevan le stelle“, in der sich Cavaradossi kurz vor seiner Erschießung in seinem Abschiedsbrief an Tosca erinnert, nahm Besitz von seinem Bewusstsein:

Und es leuchteten die Sterne

Und es leuchteten die Sterne und die Erde duftete;

die Gartentür kreischte;

und ein Schritt streifte den Sand.

Sie trat ein, duftend und fiel mir in die Arme.

Oh, süße Küsse, o schmachtende Liebkosungen

während ich vor Leidenschaft

ungeduldig die schönen Formen

aus den Schleiern löste.

Für immer ist der Traum

meiner Liebe verschwunden.

Die Stunde entflohen.

Und ich sterbe verzweifelt und

habe das Leben nie mehr geliebt!

Na das sind ja fantastische Aussichten. Bin doch viel zu jung zum Sterben. Und das wegen entsagter Liebe? Ist man nicht immer zu jung zum Sterben, oder ist man das nie? Jetzt übertreibst du maßlos, Maximilian, beruhigte er sich. Ganz sicher würde er nie unglücklich sein. Er lebte schließlich unter einem Glücksstern, der ihm schon hier und da aus der Patsche geholfen hatte und ihm stets den rechten Weg wies.

Auf den wird auch künftig Verlass sein, also worum ging es noch mal beim zweiten mentalen Störenfried? Stimmt, es hatte mit Maximilians angeborener Ungeduld zu tun und wog nicht ganz so schwer, wie der erste vermeintliche Kummer:

Gesetzt den Fall, Emily würde ihn auch ähnlich begehrenswert finden, wie er sie und gesetzt den Fall Emily sei auch ungeduldig, ab sofort mit ihm möglichst viel Zeit zu verbringen, was dann? Wie sollte das funktionieren? Hatte sich Maximilian doch vor Weihnachten entschlossen, an einer Skifreizeit seiner Uni teilzunehmen. Los würde es schon in einer Woche gehen und 10 Tage dauern.

Maximilian – noch angeschlagen von dem ersten Schreckensszenario – sah nun endgültig seine Felle davon schwimmen. Der Klassiker. Er war schnell unterwegs im Kopf. Brütete flugs Ideen aus, setzte sie um, noch bevor sie das Licht der Welt erblickt hatten und vollendete sie meisterhaft in Utopia – oder scheiterte dort.

Bevor er das Thema Emily gedanklich endgültig zu Grabe tragen würde, besann er sich auf das einzige, was ihm in solchen Situationen helfen kann: Sport. Also machte er sich kurz frisch, packte seine Tennisklamotten ein, streifte sich seine wetterfeste Jacke über und radelte in die Tennishalle, die nur wenige Minuten entfernt lag. Es regnete immer noch.

Fast zwanghaft versuchte er, die geistige Beschäftigung mit Emily zu zügeln; beim Tennis wollte er dann komplett abschalten. Runterkommen, Maschine drosseln, Leerlauf anstreben, Engines full stop!! Danach werden wir weiter sehen.

Wäre das gelungen, wäre er nicht Maximilian gewesen, zumindest nicht damals. Dementsprechend holprig lief es auch beim Tennis mit seinem Kommilitonen Stefan. Sein eigenes Spiel bestand aus unzähligen Doppelfehlern. Nicht aus dem Kopf gingen ihm vier Zeilen eines Gedichts, das er selber mal geschrieben hatte:

Besinne Dich, zermartere Dein Hirn nicht weiter,

es ist ein Strudel, keine Leiter,

Denn sonst gelangst Du immer tiefer

in Gedanken ohne Ufer.

Die Empfehlung war gut, allein an der Umsetzung haperte es. Nicht wirklich eine Neuigkeit, aber eine ernüchternde Erkenntnis. Diese Haut war seine Haut, Ausbruch unmöglich. Das Ende seines weltlichen Daseins schien klar vorgezeichnet: Bettlägerigkeit, beginnende Lähmung der Hirnfunktionen, nur das vegetative System arbeitet noch temporär, jahrelanges Siechtum, qualvollster Tod, Beerdigung unter einer abgebrannten Trauerweide, aufgefressen von hungrigen Wildschweinen, im Herzen die unerfüllte Liebe tragend.

„Hey, Sportsfreund, was ist los mit Dir heute? Habe ja nichts dagegen, Dich umzuhauen. Wenn ich meine Punkte aber hauptsächlich Deiner Unkonzentriertheit verdanke, dann ist das nicht sehr befriedigend für mich. Wie Du weißt, studiere ich Sport und suche Gegner, keine Opfer. Also versuch’ bitte, vernünftig zu spielen. Oder wir brechen hier ab und Du erzählst mir, was los ist. Du entscheidest“, beschwerte sich Stefan beim Stand von 6:0, 2:0 für ihn.

„Ich habe heute einfach keinen guten Tag. Die Nacht war kurz und mir schwirren unendlich viele Dinge durch den Kopf. Aber zu reden gibt es nichts, Stefan. Lass’ uns nach meinem Skiurlaub wieder einen neuen Anlauf nehmen. Für heute ist Schluss. Darf ich Dich noch auf einen Kaffee einladen?“, fragte Maximilian.

Stefan willigte aus Höflichkeit ein. Eventuell verband er damit die leise Hoffnung, doch etwas aus seinem Tennispartner heraus zu bekommen. Fehlanzeige! Sollte er Stefan sagen?: Ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. Wie einst der junge Werther seinem Freund Wilhelm gestand. Nein! Sein Verhältnis zu Stefan war rein auf den Sport fokussiert. So sollte es auch bleiben.

Beide kippten den Kaffee in sich hinein; mit einem morgendlichen Koffein-Genuss hatte das beileibe nichts zu tun und sie verabredeten sich für die Zeit nach Maximilians Skiausflug.

Wenn wir doch schon so weit wären, flehte er imaginäre Kräfte an. Was hatte Emily ihm gesagt, wann sie heute aus dem Krankenhaus zurück sei? Oh je, wenn sie es erwähnt hatte, war es ihm entfallen. Mist. Am Ende verständigte er sich mit sich selbst darauf, einstimmig sozusagen, dass sie vom Vormittagsdienst gesprochen hatte. Sie müsste dann bestimmt gegen 13 oder 14 Uhr zurück sein. Wollten sie nicht telefonieren, um sich zu verabreden?

Sein Kopf wurde umgeben von einer schier undurchsichtigen Nebelwand. Hinter dem Nebel – und für einen Bruchteil einer Sekunde schaffte er es, dorthin zu gelangen – war nichts Hartes, nichts woran er sich hätte stoßen können. Vielmehr schien alles butterweich, abstrakt, verschwindend. Ein Knetgummi hätte sich dagegen wie ein massiver Gesteinsklumpen angefühlt.

Maximilian waren diese Irrungen und Wirrungen durchaus geläufig. Aber musste es jetzt so heftig sein? Fast so wie in Fontanes gleichnamigem Roman, in dem sich zwei Liebende unüberwindlichen Grenzen ausgesetzt sehen und schließlich einen anderen Partner, mit dem sie ein mäßig glückliches Leben bestreiten, heiraten. Auch dieses Motiv wiederholte sich in diversen Facetten und Nuancen in seinem Kopf. Erst Tosca und jetzt das.

„Geschieht ihnen gerade recht!“, befand er. Wenn sie sensibel genug sind, ihre Liebe zu erkennen, dann sich aber zu blöd anstellen, sie zu leben – selber schuld! Herz schlägt Verstand lautete seine Devise. Hier war jetzt jedoch womöglich Verstand eher vonnöten als Herz, wenn er Emily umgarnen, ja bezirzen wollte. Zumindest entlang der ersten Schritte. So vernunftgesteuert war ihm Emily alles in allem jedenfalls vorgekommen. Später würde er dann gewahr, wie sie Herz und Verstand ausbalancieren würde, oder dem innersten Verlangen einfach nachgäbe.

Hirn oder Herz, egal, ich muss was tun, befahl er sich. Du wirst jetzt endlich die Tomatensuppe entsorgen, duschen, dann wie sonntags üblich um 12:00 Uhr ein göttliches Mittagsmahl bei Oma einnehmen und anschließend „ganz spontan“, gleichsam von langer Hand geplant, bei Emily klingeln. Geniale Idee! Und Glücksstern nicht vergessen! Der hilft Dir doch immer. Ist es mein Problem, wenn Libretto-, Dramen- und Romanschreiber ihren Protagonisten diesen Glücksstern verweigern? Pech gehabt. Meiner funkelt über mir bei Tag und bei Nacht.

Er schaute aus seinem Fenster gen Himmel. Der Regen hatte noch zugenommen. Man konnte nichts aber auch gar nichts erkennen. Kurzfristig entschloss er sich, aus seinem Glücksstern eine Glücksfee zu machen. Die könne man nämlich, anders als die Sterne, sowieso niemals sehen, selbst bei wolkenlosem Nachthimmel nicht. Feen seien demnach viel wetterunabhängiger und auch dann anwesend, wenn sie unsichtbar seien.

Unter der Dusche erwischte ihn ein weiteres Gespinst. Würde er jetzt zufällig ausrutschen und sich – sagen wir – eine komplizierte Fraktur des kleinen Fingers zuziehen (am bestens links, denn er ist Rechtshänder – so viel Pragmatismus sei erlaubt), wäre es Essig mit dem Skifahren. Er müsste notgedrungen hier bleiben, sich in Emilys Krankenhaus operieren lassen und würde jede Menge individuelle Pflege einer angehenden Medizinerin benötigen. Erst auf der Station, anschließend daheim. Emily würde er es dann überlassen, ob sie die häusliche Nachsorge bei sich oder bei ihm im Johann-Justus-Weg durchführen wolle. Könnte sich ganz schön hinziehen, sei ja schließlich nicht zu unterschätzen so ein Rieseneingriff ins menschliche Skelett.

Kein Zweifel, seine Reiserücktrittversicherung würde einspringen und er würde Emily jeden Tag vom gesparten Geld mit erlesenen Köstlichkeiten bekochen. Tagsüber, wenn Emily sich dann – selbstverständlich völlig abgelenkt – im Krankenhaus befände, nähme er sich die Unterlagen und Dokumente für die Statistik- bzw. Rechnungswesen-Klausuren vor und würde sich auf die in der dritten Februarwoche anstehenden Prüfungen mit Hingabe vorbereiten.

Perfekter Plan. Er sei doch ein großer Stratege – mit ganz viel Herz. Die Umsetzung scheiterte schließlich an einer Kleinigkeit: Wie würde er sicherstellen können, dass bei dem „zufälligen“ Sturz nur der kleine Finger links betroffen wäre? Hm? Unmöglich! Folglich verwarf er das Konzept, entstieg der Duschkabine, freilich nicht ohne sich mit der linken Hand am Waschbecken abzustützen und zielgenau mit den Füßen auf der rutschfesten Matte unverletzt den sicheren Boden unter sich zu finden.

Beim Abtrocknen blickte er in den Spiegel. Zwei Dinge fielen ihm dabei auf: Erstens, das Teil muss dringend mal wieder von den Zahnpastaspritzern befreit werden und zweitens, dass er vor lauter Grübeln praktisch wehrloses Opfer einer unansehnlichen Furche auf der Stirn werden würde, gelänge es ihm nicht zu realisieren, dass er bislang völlig alleine – also ohne Emily – auf Wolke 7 unterwegs war. Um wenigstens einen Umstand von beiden sofort zu beseitigen, sprühte er den Spiegel penibelst gründlich mit Glasreiniger ein, nahm sich ein Küchentuch und wienerte das Objekt seiner Begierde, wie nie zuvor in seinem Leben. Der virtuelle Ansatz der Furche war auch verschwunden.

4

Pünktlich um 11:45 Uhr trudelte er bei seiner Großmutter ein. Wie nicht anders zu erwarten, stand sie noch am Herd – vertieft in die letzten Vorbereitungen für ein wie so häufig phänomenales Fleischgericht, das schon verlockendste Vorboten ins Treppenhaus ausgesandt hatte. Er begrüße seine Oma mit einem Kuss auf die Wange und fing an zu schwärmen:

„Oh Oma, für mich bist Du mit Abstand die größte Köchin weltweit. Weißt Du, dass sich hunderte von Gourmets bereits bei Dir im Treppenhaus versammelt haben? Weitere Scharen belagern sogar die ganz Siedlung. Sie liegen Dir nimmersatt zu Füßen. Die Düfte Deiner Kochkunst machen sie zu Deinen willfährigen Untertanen. Sie kleben förmlich an Deiner Kochschürze. Bitte lass’ sie nicht rein! Bitte, ich flehe Dich an. Wir allein wollen uns an dem Gaumenschmauß ergötzen.“