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Der Schriftsteller Bernhard Mücke beantragt einen Reisepass. Der Punkt am Ende seiner Signatur stört den Amtsschimmel – dieser wiehert gewaltig!
Daraufhin sieht sich Mücke genötigt, auf sein liebgewonnenes Zeichen der Interpunktion zu verzichten. Direkt nach dem Behördengang stürzt er von einer Brücke in den Tod, die Kripo ermittelt.
Ein Zeuge der etwas anderen Art meldet sich zu Wort: Ein Grafologe, der Mückes Unterschrift unlängst analysiert hatte, gibt anhand des Schriftbildes zu bedenken, dass der Dichter aus einem ganz bestimmten Grund den Verlust seines Punktes nicht verkraftet haben könnte.
Die Ursache, die zum Ableben Mückes führte, überrascht.
„Eine weitere Kostprobe seines tiefschwarzen Witzes, den er mit feinen Beobachtungen und Geschick zum Komödiantischen würzt.“
Doris Wirkner (Gießener Allgemeine)
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Die Wahrheit ist unser wertvollstes Gut.
Lasst uns sparsam damit umgehen.
Mark Twain
Dreißig Jahre Grafologie, dreißig Jahre Signaturen – betrachtet, begriffen, bewertet. Dreißig Jahre! Was soll ich sagen: So ein Fall wie Bernhard Mücke ist mir noch nicht untergekommen. Aber der Reihe nach.
Das Revolverblatt titelte: Todes-Fall! Peng! Schriftsteller (43) stürzt von Brücke! Peng, peng! Darunter zweispaltig, zwölfzeilig das Foto vom Verunglückten. Peng, peng, peng!
Das Abbild war zwar verpixelt, aber ab den unteren Augenlidern stand die Nase, die an die eines Rummelboxers erinnerte, knochenscharf im Fokus. Rechtlich gesehen hätte der gesamte Kopf unkenntlich gemacht werden müssen.
Dem Chefredakteur Bartholomäus S. schien augenscheinlich das Risiko gering, sich selbst ins Knie zu schießen. Vielleicht hatte eine Vorab-Recherche ergeben, dass Bernhard Mücke Single gewesen sei und dass Verwandte, sofern vorhanden, mit ihm über Kreuz gelegen hätten. Allem Anschein nach war S. Pragmatiker und mochte sich gedacht haben: Wo kein Kläger …
Und sollte dann doch noch jemand aus der Hecke springen, um das postmortale Persönlichkeitsrecht einzufordern, zöge S. wie gewohnt Plan B aus der Schublade: „Beschwerdeführern mit Geld das Maul stopfen!“ Er praktizierte in solchen Fällen „publizistisches Greenwashing“, wie er es nannte, was Freikaufen von Problemen meinte. Dem allgemeinen Vernehmen nach war die Kriegskasse gut gefüllt und die Güterabwägung in Zweifelsfällen war intern klar geregelt: „Auflage vor Recht!“
„Spüren, was geschieht!“, warb die Zeitung. Folglich war der aktuelle Aufmacher hart auf Kante genäht: „Wir berichten gefühlsecht – für Sie!“ Der Autor jedenfalls, Christian N., kolportierte mit viel Liebe zum Detail, wie es zur Deformation der Nase gekommen war. Und S. hatte höchstpersönlich das Autorenprofil zu N. getextet, das unter dessen Beitrag abgedruckt stand, wonach Christian N. "unser Experte fürs Hautnahe" war – mehr noch: eine „Edelfeder“ mit dem „Gespür fürs Ungewöhnliche“. Ferner galt N. als Spezialist für, wie Journalisten so sagten, „steile Einstiege“ in Texte: „Hatte Gott gepfuscht, als er M.s Nase schuf?“
Aber Butter bei die Fische:
6. Mai 2011, 23 Uhr, Potsdamer Ecke Kurfürstenstraße: Bernhard M. betritt die in rotes Schummerlicht getauchte Pinte. Dieser Laden fehlt ihm noch in seiner Raupensammlung. Verständlich, denn M. ist Romanautor, und Erzähler gehen gerne in die Welt hinaus, um dort Menschen, Macken, Meinungen zu beobachten. Ihre Eindrücke verdichten sie dann zu Storys.
Überrascht und freudig erregt sieht M. unverhofft seinen Literaturagenten Dr. Jens D. (53) am Tresen sitzen. Zielstrebig steuert er den Mann an. Dieser steckt in einem Designer-Fummel aus Leder. Wenn D. nachts auf Trebe geht, weiß M., dann trägt er immer Designer-Fummel. Passt schon, denkt M. auch diesmal. Das Teil lässt D. vom Habitus zehn Jahre jünger erscheinen, zumindest bei günstigen Lichtverhältnissen.
An der Theke angekommen, legt M. von hinten seine rechte Hand flach und schwungvoll auf der linken Schulter des nicht mehr ganz taufrischen Ledermannes ab. Es klatscht gewaltig.
„Ha, ha, ha!“, prustet M. Er hat vorgeglüht und schon ziemlich was intus. So fällt auch seine weitere verbale Begrüßung betont vertraulich aus: „Alte Drecksau! Du hier?“ M. ist mit seinem Agenten per Du. Die raue Ansprache ist vom Faible für einen deutsch-amerikanischen Schriftsteller inspiriert: Charles Bukowski. M. will von den Besten der Besten lernen. Schon öfter saß er mit seinem Agenten nach 22 Uhr und nach zwei brüderlich geteilten Flaschen Rotwein in irgendeiner Kaschemme an der Bar, wo sie dann über Bukowskis Ausspruch „Fast jeder kommt als Genie auf die Welt und wird als Idiot begraben“ philosophierten.
„Ich hoffe, du freust dich, mein dummes Gesicht zu sehen“, schiebt M. nach dem Schulterklatscher nach.
„Immer wieder gerne“, erwidert der Angesprochene, „ha, ha, ha!“
Eine, höchstens zwei Sekunden später dreht er seinen Oberkörper blitzartig nach links und platziert seine rechte Faust mitten in M.s Gesicht. Rums! M. torkelt drei, vier Schritte nach hinten und fasst sich an die Visage. Er fühlt noch das über seinen Mund rinnende Warme, bevor ihm schwarz vor Augen wird und er seitlich wegkippt wie ein stümperhaft an die Wand gelehntes Brett.
Ach herrje, plötzlich liegt es ihm blank vor Augen wie ein gewetztes Messer: Der Mann an der Theke weist im Halbprofil nur eine gewisse Ähnlichkeit mit M.s Agent auf.
Wer hätte das gedacht? – Der Typ mit dem nunmehr blutbefleckten Siegelring am rechten Mittelfinger ist Niko P. (50), Inhaber der Destille, das heißt: Puffvater, Türsteher und Rausschmeißer in Personalunion.
Er ist eine kleine, aber sportliche Erscheinung – genau wie Dr. Jens D., und wie dieser auch mit einem Tick zu viel Kunstfett im streng nach hinten gekämmten Haar.
Wirklich zum Verwechseln ähnlich!
Als Quellen wurden Niko P. und M.s Agent D. benannt, beide inzwischen im Ruhestand. Ersterer habe sich, so wusste Christian N. ebenfalls zu berichten, in ein weit entferntes Land abgesetzt: dorthin, wo immer die Sonne scheine und für Leute mit seiner Durchschlagskraft Milch und Honig flössen. Indessen verbringe Dr. Jens D. seinen Lebensabend in Jurys für Literaturpreise.
Natürlich: Auch unabhängig von M.s präsentierter Nase ließen die Keywords „Bernhard“ und „Schriftsteller“ keine Zweifel aufkommen, von wem hier die Rede war.