Schlussakkord - Bernd Mannhardt - E-Book

Schlussakkord E-Book

Bernd Mannhardt

4,4

  • Herausgeber: BeBra Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Vor der Arminius-Markthalle wird ein Straßenmusiker mit einem gezielten Kopfschuss aus einem Fenster des gegenüberliegenden Rathauses getötet. Kommissar Hajo Freisal sieht sich mit der Vielzahl von Verdächtigen konfrontiert: Ist der Täter einer der Angestellten des Bezirksamtes, die sich von der schrägen Musik des Toten seit Monaten terrorisiert fühlen? Oder gehört er zu einer Bande von Schutzgeld-Erpressern? Die Wahrheit, die allmählich ans Licht kommt, verschlägt selbst dem Gemütsmenschen Freisal die Sprache ...

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Seitenzahl: 315

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Bernd Mannhardt

Schlussakkord

Ein Moabit-Krimi

Personen und Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig. Die Orte der Handlung existieren zwar, dienen jedoch lediglich als Kulissen. Kurz, alles ist erstunken und erlogen. Und der echte Bezirksbürgermeister ist beliebt wie George Clooney.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CDROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

 

ebook im be.bra verlag, 2015

© der Originalausgabe:

berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2015

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin

Umschlaggestaltung: Ansichtssache, Berlin

ISBN 978-3-8393-6143-6 (epub)

ISBN 978-3-89809-538-9 (print)

www.bebraverlag.de

Mensch: ein Lebewesen, das klopft, schlechte Musik machtund seinen Hund bellen lässt.

Manchmal gibt er auch Ruhe,aber dann ist er tot.

Kurt Tucholsky

Heißhunger

Am frühen Mittag, als Hauptkommissar Hajo Freisal im Kriminalgericht gebeten war, als Zeuge in einer, wie er es empfand, »unappetitlichen Angelegenheit«, Mordsache Badesee, als Zeuge Auskunft zu geben, drohte Heißhunger seinen ersten zarten Versuch, abzuspecken, zu sabotieren. Er hatte sich um elf Uhr in der Kantine des Präsidiums Rinderroulade mit Kartoffeln und Rotkohl genehmigt.

Just in diesem Moment hatte eine andere Person an anderem Ort, nämlich in der Lobby des Park Inn, auf etwas ganz anderes Appetit: auf einen »Quickie mit Ausblick« – auf der Dachterrasse des Hotels.

Eine prickelnde Location, war sich die Mitdreißigerin sicher. Sie hatte vorab natürlich gegoogelt, wohin sie ihr PSP – Insider wussten, dass das Akronym für Publicsexpartner stand – dieses Mal eingeladen hatte. Dem Stadtportal berlin.de nach zählte das Park Inn mit seinen 37 Stockwerken und 150 Metern Höhe zu den »aufregendsten Aussichtspunkten Berlins«, weil »direkt am Alexanderplatz gelegen«. Für überzeugte Freiluftliebende, wie die Mittdreißigerin eine war, mochte folgender Satz besonders inspirierend sein: Der Lift fährt in die oberste Etage des Hotels und von da aus kommt man durchs Treppenhaus zur Dachterrasse, wo im Sommer Liegestühle bereitgestellt sind. Zudem bietet das Hotel Park Inn immer wieder neue Attraktionen für Abenteuerlustige und auch für diejenigen, die lieber nur zugucken.

Zugucken, hatte sie gedacht, no way! Dass sie jemand beim Publicsex beobachtete, hätte ihr gar nicht geschmeckt, zählte sie sich doch zu jenen, denen es ganz und gar nicht schnuppe war, ob sie erwischt wurde oder nicht. Beim Publicsex ging es ihr ausschließlich um den Thrill des Risikos, entdeckt zu werden – nicht mehr, nicht weniger. Sie spürte, wie ihr Mordsappetit, sich auf dem Hoteldach mit ihrem stattlich gebauten PSP zu amüsieren, ihr feuchte Hände bescherte.

Sie war früher als verabredet am Treffpunkt erschienen, um sich, wie sie es nannte, »mental einzuschwingen«. Auf den Ort als solchen. Der PSP würde sicherlich alle notwendigen Vorkehrungen getroffen haben, was auch und nicht zuletzt das Gewährleisten des Zugangs zum Dach der Lust meinte. Bisher war immer alles glatt gelaufen. Kein Wunder, ihr PSP war ein von einer Agentur vermittelter Profi.

Hajo Freisals aktueller Auftritt vor dem Kadi stand im Übrigen noch nicht mit dem Ereignis in Berlin-Mitte, genauer gesagt im Ortsteil Moabit, in Zusammenhang, das ihn an diesem und den folgenden Tagen auf Trab halten sollte. Obwohl er den Badesee-Täter seinerzeit überführt hatte, waren seine Gedanken abgedriftet. Ihm war urplötzlich Wasser im Munde zusammengelaufen. Klarer Fall: Heißhunger. Nach seinem Auftritt vor Justitia wollte er in der Moabiter Markthalle vorbeischauen. Auf ein Eisbein – mit Salzkartoffeln, ein Novum – und Sauerkraut.

Esslust hatte den Kommissar übermannt. Mal wieder. Dagegen half auch der Vorsatz noch nicht, den er, Mitte fünfzig, 165 Zentimeter groß (Mindestkörperlänge für den Polizeidienst) und mit einem stattlichen Kampfgewicht von 96 Kilo, im Herzen trug: Abspecken! Das war nicht bloß so dahin gedacht; er hatte immerhin schon eine erste Sitzung bei Frau Dr. Maria-Hildegard Balsam hinter sich gebracht. Dr. Balsam war eine promovierte Lebensmittelchemikerin, die schon vor längerer Zeit auf Ernährungs-Coaching inklusive psychologische Beratung umgesattelt hatte. Das Leben rund um die Reagenzgläser war ihr, wie sie Freisal bei ihrem ersten Treffen verriet, »auf Dauer zu steril« vorgekommen.

Das war letzte Woche gewesen. Davor hatte Freisal versucht – kann doch nicht so schwierig sein, hatte er gedacht –, sich auf eigene Faust schlau zu machen. Übers Internet. Denn als erfahrener Kriminalist wusste er, dass es kaum einen anderen Fund- oder gar Tatort gab, der mehr Spuren hinterließ. Warum sollte es sich mit brauchbaren Informationen zum Thema Abnehmen anders verhalten? Aber die Quantität an Informationen hatte auf Freisal schon nach relativ kurzer Zeit der Recherche erdrückend gewirkt. Von Trennkost-Diät war da die Rede, bei der Kohlenhydrate und Eiweiß separiert werden, was ihm immerhin noch nachvollziehbar schien. Dann jedoch wurde es spezieller: Mittelmeer-Diät. Der Verzehr von Obst, Gemüse, Fisch und Olivenöl stand dabei im Mittelpunkt. Als nicht wirklich schmackhaft stellte sich für Freisal die Mono-Diät dar, die den alleinigen Verzehr von Kohlsuppe, Ananas oder Eiern als der Weisheit letzten Schluss anpries. Seine Mundwinkel hatten sich endgültig nach unten verzogen, als er von der Hollywood-Diät las, bei der als Zaubermittel das Schwangerschaftshormon HCG eine wesentliche Abspeckrolle spielen sollte. Der Kriminalhauptkommissar hatte fluchtartig den virtuellen Raum verlassen und war an der nächstbesten Currywurstbude aufgeschlagen, um sich eine doppelte Portion Pommes rot-weiß erst zu bestellen, dann einzuverleiben.

Dr. Balsam hatte ihr Domizil in der Kreuzberger Bergmannstraße, ums Eck vom Chamissoplatz, wo Freisal wohnte. An der Praxis, ein kleines Ladenlokal, war er eher zufällig vorbeigekommen, nämlich just in dem Moment, als er, ein bekennender wie begeisterter Autofahrer, sich ausnahmsweise zu Fuß durch den Kiez bewegte. Er hatte einen arbeitsfreien Tag – dies, obwohl Fernsehkrimis, wie Freisal erst letzten Sonntag kopfschüttelnd festgestellt hatte, den Eindruck erweckten, dass Kripobeamte rund um die Uhr im Einsatz seien und nicht die Bohne Privatleben hätten, ja genau besehen nicht einmal aufs Klo gingen. Freisal war also durch das Kreuzberger Quartier der etwas feineren Art mit seinen mehrgeschossigen Gründerzeithäusern geschlendert. Nachdem er Dr. Balsams Büro wahrgenommen und ihre Offerte »Werden Sie weniger!« auf einem Plakat im Schaufenster gesehen hatte, war er einem spontanen Impuls gefolgt: Er öffnete die Ladentür und trat über die Schwelle. In Folge dessen kündete das kleine Glöckchen am Türrahmen von neuer Kundschaft.

Dr. Balsam kam freundlich lächelnd aus einem hinteren Teil des Ladens herbei. Sie begrüßte den Besucher und bot ihm Platz an in der mit einem rustikalen Tisch und ebensolchen Stühlen ausgestatteten Sitzecke. Die Dutzend Sitzkissen und Yoga-Matten, die in der Mitte des Raumes im Kreis lagen, aber auch die großformatigen Schautafeln an den Wänden, die den Aufbau des menschlichen Körpers und seinen Bewegungsapparat abbildeten, legten die Vermutung nahe, dass hier auch Gruppen betreut wurden.

Hajo Freisal redete ganz seinem Naturell entsprechend nicht um den heißen Brei herum. Er wolle abnehmen, sagte er, und benötige dafür Beratung.

»Da sind Sie hier richtig!«, ermunterte ihn Dr. Balsam und schob nach: »Wenn Sie zunehmen wollten, wäre Curry-King am Mehringdamm die bessere Adresse.«

Dr. Balsams Launigkeit schien speziell zu sein. Aber das schreckte Freisal, dem auch ein gewisser schräger Witz nachgesagt wurde, nicht. Im Gegenteil, er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Schön«, sagte Dr. Balsam, »Sie haben Humor. Damit wäre die erste Hürde genommen. Ich sage meinen Klienten immer: Wenn in den ersten drei Minuten einer Sitzung nicht gelacht wird, können wir das Meeting vergessen.«

»Verstehe«, sagte Freisal. »In meinem Job liegt das etwas anders.« Er berichtete von seinem letzten Verhör. »Unlustig – in jeder Hinsicht!«

Dr. Balsam registrierte die Botschaft genau; weil sie den Besucher noch kennenlernen musste, bot sie an: »Ich neige zur Leichtigkeit im Umgang mit Schwergewichten. Sollte ich da Ihnen gegenüber einmal über die Stränge schlagen, sagen Sie mir das bitte gleich.«

»Mach ich«, erwiderte Freisal. »Nur nichts auf die lange Bank schieben, nicht wahr.«

»Ja – verursacht nur Gefühlsstau.« Dr. Balsam lächelte empathisch. »Sind wir da möglicherweise schon dicht dran an Ihrem Problem? Verraten Sie mir bitte Ihr Alter, Ihre Größe, Ihr Gewicht.«

Auf Dr. Balsams Frage, warum er, die bekannten gesundheitlichen Aspekten mal außen vor lassend, abnehmen wolle, hatte Freisal mehrere Antworten parat. Einer seiner Gründe sei, wie er sagte, ein »Schüsselerlebnis«.

»Sie meinen Schlüsselerlebnis?«

»Ja, auch.« Hajo Freisal berichtete frei von der Leber weg, dass er eines Morgens, kurz nach dem Aufstehen vorm Klobecken hektischer als sonst am Eingriff seiner Schlafanzugshose herumgenestelt habe. Zudem habe er an seinem Oberkörper hinuntergeblickt. »Reine Gewohnheit.« Ein kontrollierender Blick, ob er auch alles zielführend im Griff habe, sei nicht möglich gewesen. »Mein Bauch war im Weg.« Nachdem er dem Druck nachgegeben habe, musste er feststellen, dass er nicht nur den Rand der Klobrille samt Innenseite des aufgeklappten Klodeckels beschmutzt, sondern sich selbst bepinkelt hatte. »Ich spürte, wie der Stoff von warmem Nass durchsuppte, dann Urin an der Innenseite meines rechten Oberschenkels in die Kniekehle lief.« Gott, ist das peinlich, habe er gedacht. Er habe sich regelrecht geschämt – vor sich selbst. »Vielleicht hätte ich mir doch das Pinkeln im Sitzen angewöhnen sollen?«, fragte er Dr. Balsam – eher im Scherz.

»Vielleicht, ja – aber die Mühsal beim Hochkommen von der Klobrille ist für einen Mann Ihres Formats auch nicht zu unterschätzen.«

Schlagfertig, die Dame, dachte Freisal. Das gefällt mir, sinnierte er weiter. Nachdem Dr. Balsam ihm achtundsechzig Euro als Preis für eine Einzelsitzung benannt – das machte zehn Eisbeine bei Paschke in der Moabiter Markthalle, war es ihm spontan durchs Gehirn geflitzt – und den nächsten Termin vereinbart hatte, kam Grundsätzliches zur Sprache.

»Herr Freisal, vergessen Sie alles, was Sie über Wunderdiäten gehört haben. Nachhaltiges Abnehmen ist keine Frage von Hokuspokus oder Selbstkasteiung, sondern von innerer Haltung, äußerer Disziplin und einer Prise Geduld.«

»Also, an meiner Haltung soll’s nicht scheitern«, sagte er. »Nur bei der Disziplin …«

»Kann man auch üben. Es geht im Kern um die Umstellung von Ernährung, also das Ablegen schlechter Gewohnheiten.«

Freisal gefiel die Direktheit; Dr. Balsam, eine Frau um die vierzig mit sportlichem Kurzhaarschnitt, wurde ihm immer sympathischer. Auch das »Ablegen schlechter Gewohnheiten« hatte ihn nicht weiter beunruhigt. Bei einer späteren Sitzung würde er Dr. Balsam darüber informieren, dass er erst vor gut einem halben Jahr mit Saufen und Rauchen aufgehört hatte. »Auch nicht vergnügungssteuerpflichtig«, würde er dazu sagen.

»Abnehmen ist ein Kampf mit Schweinehunden. Sich dünner zu machen heißt, ein vorbestimmtes Gewichtsziel erreichen – ohne sich dümmer zu machen. Vergessen Sie die gängigen Schönheitsideale, die dienen dem Abverkauf von Produkten. Sie müssen sich wohlfühlen, nur darum geht’s.«

»Und wieder sehen können – wo ich hinpinkle, meine ich«, ergänzte Freisal, wohl nicht zuletzt deshalb, um seine »Haltung« zu demonstrieren, dem Fettsuchtgrad von 35 Punkten Paroli zu bieten. Der war während des Gesprächs zwischen ihm und Dr. Balsam von der Beraterin eher nebenbei via BMIRechner im Internet ermittelt worden. »Der Body-Mass-Index ist umstritten«, hatte sie gesagt, »aber einen brauchbaren Anhaltspunkt bietet er schon, vorausgesetzt man gehört keinem Olympiakader an oder schuftet auf dem Bau.« Dem BMI-Index nach schrammte Freisal an der Grenze zur zweiten von drei möglichen Adipositas-Stufen.

»Dreißig Kilo zu viel auf den Rippen«, konstatierte er und gab unumwunden zu: »Beim Treppensteigen schnaufe ich wie die Brockenbahn beim Erklimmen ihres Berges. Dann erst das ewige Schwitzen – am ganzen Körper. Die Kleidung zwickt schon beim Hochtragen eines einzigen Kastens Mineralwasser in den ersten Stock.« Er berichtete auch, dass er über die Jahre versucht habe, dem entgegenzuwirken, in dem er Ober- und Unterwäsche ein paar Nummern größer kaufte.

»Ein Klassiker«, stellte Dr. Balsam fest. »Hilft aber nicht, sich in Zelten zu verstecken, richtig? Andererseits ergibt es auch keinen Sinn, falschen Ehrgeiz zu entwickeln. Wenn es unterm Strich gelingt, dass Sie in einer Woche ein Kilo weniger werden, sind Sie gut dabei.« Dr. Balsam empfahl, gleich ein Zwischenziel abzustecken. »Was halten Sie von zehn Kilo weniger?«

»Klingt überschaubar.«

»Und weniger bedrohlich, nicht wahr?«

Freisal lächelte ermutigt und verabredete sich mit der Beraterin zur ersten regulären Sitzung – in der Woche, in der er als Zeuge vor dem Kriminalgericht geladen wurde. Eine erste praktische Übung hatte ihm Dr. Balsam gleich mit auf den Weg gegeben.

»Esstagebuch anlegen und notieren, wann Sie was zu sich nehmen. Alles aufschreiben, bitte! Versuchen Sie, es bei drei Mahlzeiten zu belassen: Frühstück, Mittagessen, Abendbrot, möglichst nichts nach 20 Uhr essen. Und notieren Sie das eigene Gewicht. Am Morgen netto, also nach dem Stuhlgang und ohne Kleidung.«

Diese Spielregeln schienen Freisal so überschaubar wie einfach. Beim Verabschieden zwinkerte ihm Dr. Balsam zu. »Und warten Sie nicht bis morgen, sich eine Personenwaage zu kaufen.«

»Woher wissen Sie …?«

»Erfahrungswert.« Sie schmunzelte. »Und Ihren großen Spiegel, der mal in Ihrem Wohnungsflur hing und jetzt nutzlos im Keller steht, sollten Sie wieder hochtragen, aufhängen und endlich mal wieder hineinschauen.«

»Mach ich«, sagte Hajo Freisal. Er war verblüfft, mehr aber beglückt. Schier euphorisch von Gemüt, freute er sich darüber, an Dr. Balsam geraten zu sein. Von ihr war keinerlei Vorwurf zu hören gewesen, mit dem er insgeheim gerechnet hatte. Nein, nicht dass er geunkt hätte, eine Beraterin würde ihm auf den Kopf zusagen, dass er »furchtbar fett« sei – aber dass er mit einem »erhöhten Herzinfarkt-Risiko« lebte, schon. Dr. Balsams Gangart war jedoch, wie sie Freisal erläutert hatte, »nicht konfrontativ, sondern klientenorientiert«. Das bedeutete, dass die Befindlichkeiten und Bedürfnisse des Betroffenen im Mittelpunkt der Beratung stünden, alles in allem zum Zwecke einer »positiven Verstärkung«.

Genau genommen wie beim Verhör, hatte er gedacht; auch da sollte nicht das Gegeneinander an erster Stelle stehen, sondern das Aufbauen einer »kooperativen Beziehung«. So hieß es nicht zuletzt in einem Lehrbuch für Kriminalisten. Freisal wusste natürlich darum. Seine Rhetorik bei Verhören ließ diesbezüglich jedoch zu wünschen übrig, wenn er »mit der soften Nummer« nichts erreichte und sein Gegenüber ihn »eh bloß verarschte«. Er bevorzugte dann eine, wie er es nannte, »zwar subtile Methode, die jedoch Gewaltanwendung ausschließt«. Allein die Androhung von Gewalt war untersagt. Kategorisch. Ob er das gut fand, wusste er nicht immer. Es kam ganz auf den Delinquenten an. Mit Kopfschütteln erinnerte er sich dann und wann daran, dass mal ein Kollege seinen Job verloren hatte, weil er einem Kindesentführer beim Verhör das »Zufügen von Schmerzen« angedroht hatte. Der Delinquent hatte partout nicht sagen wollen, wo er das Kind versteckt hielt, obschon er die Tat als solche gestanden hatte. Das Kind war, weil es zu spät gefunden wurde, erstickt im »Versteck«, das sich als ein Erdloch entpuppte.

»Wenn Tatverdächtige nicht kooperieren wollen, spiele ich das Schweigespiel«, hatte Freisal seiner Assistentin verraten. Das hieß, »die Kunden« beim Verhör in Widersprüche zu verwickeln, die nicht verbaler Art waren.

»Nonverbales wird unterschätzt«, hatte er am frühen Mittag in der Kantine gesagt, bevor er sich zum Kriminalgericht aufmachte.

»Inwiefern?«, hatte Gutzeit gefragt.

»Körperliche Reaktionen können verräterisch sein.«

»Vor oder nach Stromschlägen?«

»Kollegin, bitte! Auch indirekte Hinweise sind Hinweise«, hatte Freisal gesagt und angemerkt: »Bei mir sitzen Sie in der ersten Reihe.«

Und tatsächlich, keine zwei Tage später würde Yasmine Gutzeit hinter einer Beobachtungsscheibe im Gefängnis Moabit Platz nehmen, während ihr Chef ins Vernehmungszimmer trat.

Warten

Während Hajo Freisal im Flur auf seinen Zeugenaufruf wartete, tastete er nervös auf seiner Wildlederjacke in Höhe der linken Innentasche herum. Darin steckte sein Esstagebuch – ein kleines Chinanotizbüchlein. Wie auch immer es mit seinem »Kohldampf« weitergehen würde, er wollte sein Essverhalten, wie von Dr. Balsam aufgetragen, dokumentieren. »In brutalstmöglicher Genauigkeit.«

Als Freisal das dachte, wartete besagte Mittdreißigerin an der Bar in der in gediegenen Brauntönen gehaltenen Park-Inn-Hotellounge auf ihren PSP. Sie hatte sich einen Campari-Orangensaft bestellt, legte ihre Lippen um den dazugehörenden Strohhalm, sog einen kleinen Schluck und schwärmte still und leise vor sich hin, wie aufregend das letzte Rendezvous gewesen war – oben auf dem Aussichtsrund der Siegessäule. Ein spannender Ort. Auch für Touristen, die mehrheitlich die rund fünfzig Meter hohe Plattform zu erstürmen pflegten. Um zur Siegessäule zu gelangen, mussten Besucher einen Fußgängertunnel unter der Fahrbahn durchschreiten. Unmittelbar vor dem Ausgang waren an der Tunneldecke künstlerisch gestalte Hinweise auf Wim Wenders’ Spielfilm Der Himmel über Berlin angebracht. Der Filmtitel war Ende der Achtziger in einzelnen Lettern aus silbrig glitzerndem Kunststoff an die Decke geklebt worden. Ein verschmitztes Lächeln legte sich auf das Gesicht der Frau an der Bar. Amüsiert erinnerte sie sich, dass ihr PSP und sie spontan in schallendes wie – der Akustik eines Tunnels geschuldet – hallendes Lachen ausgebrochen waren, als sie sahen, dass da offenbar ein Scherzbold das H des Himmels durch ein P ersetzt hatte.

»Warst du das?«, hatte sie ihrem PSP zugeraunt.

»Meine Liebe, du unterschätzt meinen Humor«, sagte er.

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