Muskeln aus Plastik - Selma Kay Matter - E-Book

Muskeln aus Plastik E-Book

Selma Kay Matter

0,0

Beschreibung

„Dieses Buch zu lesen ist wie Herzrasen in Slow Motion. Es tut weh, und das ist schön.“ Fatma Aydemir

Kay ist schwer verknallt – und schwer erkrankt. Auf den Crush folgt jedes Mal ein Crash, auf starkes Herzklopfen Migräne, auf Knutschen Gliederschmerzen. Während Kay versucht, den Folgen von Long Covid zu entkommen, bringen nur die Sehnsucht nach Aron und der Wunsch nach einem starken, androgynen Körper Linderung. „Muskeln aus Plastik“ beschäftigt sich mit chronischer Erkrankung und Transness – und der Art und Weise, wie unsere Gesellschaft über „gesunde“ Körper nachdenkt und spricht. Gibt es überhaupt eine Sprache für Schmerz? Jenseits aller formalen und intellektuellen Traditionen untersucht Selma Kay Matter die dünne Linie zwischen Lust und Schmerz und erdenkt dabei neue Formen von Care, Intimität und queerem Widerstand – ein beeindruckendes, intuitives und bewegendes Debüt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 279

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das ist das Cover des Buches »Muskeln aus Plastik« von Selma Kay Matter

Über das Buch

»Dieses Buch zu lesen ist wie Herzrasen in Slow Motion. Es tut weh, und das ist schön.« Fatma AydemirKay ist schwer verknallt — und schwer erkrankt. Auf den Crush folgt jedes Mal ein Crash, auf starkes Herzklopfen Migräne, auf Knutschen Gliederschmerzen. Während Kay versucht, den Folgen von Long Covid zu entkommen, bringen nur die Sehnsucht nach Aron und der Wunsch nach einem starken, androgynen Körper Linderung. »Muskeln aus Plastik« beschäftigt sich mit chronischer Erkrankung und Transness — und der Art und Weise, wie unsere Gesellschaft über »gesunde« Körper nachdenkt und spricht. Gibt es überhaupt eine Sprache für Schmerz? Jenseits aller formalen und intellektuellen Traditionen untersucht Selma Kay Matter die dünne Linie zwischen Lust und Schmerz und erdenkt dabei neue Formen von Care, Intimität und queerem Widerstand — ein beeindruckendes, intuitives und bewegendes Debüt.

Selma Kay Matter

Muskeln aus Plastik

Hanser Berlin

Dieses Buch ist für alle, die es brauchen.

Geht es darum, zu einer phantastischen Ganzheit oder Reinheit oder einem Zustand ohne Schaden zurückzukehren, und einen Horizont des Glücks und der vollkommenen Gesundheit für immer und ewig zu erlangen, wo nichts klemmt oder reißt oder bricht oder abweicht oder gebraucht wird? Fuck, nein.

Johanna Hedva

I COULD TRY to tell a story that ends with resolution, but the only way to succeed would be to lie. If I lied, I would be whole at the end of the story. Wholeness would be possible.

Cyrus Dunham

Sick Boy Gym

Vom Kraftraum aus sieht man die Alpen. Hinter den drahtvergitterten Fenstern erhebt sich der Üetliberg, links davon liegt silbern der Zürichsee. Gegenüber ragt der Betonturm in den Himmel, in dem ich vor 24 Jahren geboren bin.

Ich mache meinen zweiten Satz Latzüge, acht Wiederholungen, das Ganze mal drei, dazwischen je zwei Minuten Pause. Dabei höre ich die Playlist mit dem Titel Santa T.

Buonasera, dottore,

come sta? Le posso confessare che

mi piace un po’ il dolore?*1

Guten Abend, Doktor,

wie geht’s?

Kann ich Ihnen gestehen, dass

ich ein bisschen auf Schmerzen steh’?

Ich zucke zusammen, als Sylva, die Physiotherapeutin, die heute den MTT*2-Raum betreut, nach meiner Hand greift und mir ein Puls- und Sauerstoffsättigungsmessgerät an den Finger steckt. Ihre Lippen bewegen sich, aber ich verstehe nichts über M¥SS KETA hinweg. Mit meiner freien Hand nehme ich den linken Airpod raus, und sofort fällt meine Gym-Boy-Pumper-Fiktion in sich zusammen. Die Geräusche der Geräte um mich herum sind unregelmäßig. Die Frau neben mir setzt die Gewichte nach jeder Wiederholung knallend ab.

Sylva fragt mich, wie es geht mit den Übungen und ob ich das Gewicht steigern konnte seit letzter Woche. Auf einmal komme ich mir unendlich albern vor, wie ich hier Pumpen spiele in meinem weißen Muscle Shirt, das meine Armmuskeln betonen soll oder das, was davon übrig ist.

»Ja«, sage ich und deute auf die Gewichtsscheiben: 15 kg. Letzte Woche waren es noch 10 kg.

Ich beginne meinen dritten Satz Latzüge. Sylva trägt die Ziffern in eine Tabelle ein, dann entfernt sie sich wieder. Kaum hat sie sich weggedreht, werden meine Bewegungen unsauber, weil 15 kg eigentlich noch zu schwer sind für mich.

Nach dem Training, let me call it that, ich weiß, dass es in Wirklichkeit Therapie heißt, ziehe ich mir in der Garderobe mein Shirt aus und mache elf verschiedene Selfies im Spiegel. Zwei davon sind gut. Ich entscheide mich für das, auf dem meine Oberarme besser zur Geltung kommen, auch wenn ich darauf ein bisschen angestrengt schaue. Ich schicke es Aron und schreibe: tut so gut sport omg.

Aron geht direkt online und reagiert auf mein Selfie mit einem flammenden Herzen.

Ich mache das Roaming wieder aus und ziehe mich fertig um.

Mit dem 33er-Bus fahre ich zurück zu meiner Tauschwohnung, einmal quer durch die Stadt. Über die Limmat, den Hügel hinauf. Ich bin richtig fertig. In meinen Ellbogen- und Fingergelenken kündigt sich leise der Schmerz an.

Als ich ins Treppenhaus und damit zurück ins WLAN komme, sehe ich, dass Aron etwas tippt. Nach einer halben Minute geht er wieder offline. Ich schreibe: hast du gerade noch was getippt? Dann lösche ich die Buchstaben wieder.

Die nächsten Stunden verbringe ich in dem 90 × 200 cm Bett unterm Fenster. Die Schmerzen sind weit wie ein Meer und ich bin ein kleiner Punkt darin. Ich vermisse mein 140 × 200 cm Bett in Berlin. Ich muss hier sein, weil ich noch über meine Eltern in der Schweiz versichert bin und meine Krankenkasse keine Reha im Ausland übernimmt.

Ich wollte meine Reha unbedingt in Berlin machen, aber selbst wenn ich eine deutsche Versicherung gehabt hätte, hätte ich nach meiner COVID-19-Infektion zuerst sechs Monate warten müssen, um einen Termin in der Fatigue-Sprechstunde an der Charité ausmachen zu dürfen, und dann weitere drei bis vier Monate bis zum Zeitpunkt des Termins und dann, im Falle einer positiven Diagnose, noch mal sechs bis zwölf Monate auf einen Reha-Platz in einer beliebigen, sehr wahrscheinlich nicht auf Fatigue spezialisierten Klinik irgendwo im Bundesgebiet.

*

Bei der Anamnese mit Dr. Yıldırım, der leitenden Ärztin der Reha-Station, soll ich meine Krankengeschichte erzählen. Dr. Yıldırım trägt eine Zahnspange aus silbernen Brackets. Ich schätze sie auf Ende dreißig. Ich fühle mich unwohl, weil ich merke, dass ich sie hot finde und mir auf einmal schmerzlich bewusst wird, wie lang meine Haare in der Zeit geworden sind, in der ich alles nicht Überlebensnotwendige cutten musste.

Im September habe ich durchschnittlich 23 Stunden am Tag im Bett verbracht. Wenn ich aufstand und die Spülmaschine ausräumte, bekam ich Gliederschmerzen. Wenn ich vom Bett aus eine E-Mail schrieb, stach es in meinen Fingergelenken. Wenn ich zum Briefkasten ging, konnte ich danach eine Stunde nicht sprechen.

Dr. Yıldırım wiederholt unnötig oft meinen Namen, jedes Mal wenn sie eine Nachfrage stellt, sagt sie »Frau Matter«. »Frau Matter, wie war das, als sie COVID-19 hatten?« »Frau Matter, Sie leben also in Berlin, können Sie sich denn vorstellen, die Reha hier bei uns zu machen?« »Frau Matter, gibt es in Ihrer Familie Autoimmunerkrankungen?«

Ich trage eine Jogginghose und ein T-Shirt, das mir jetzt auf einmal viel zu eng, viel zu feminin vorkommt. An Binder ist nicht zu denken. Im Sommer habe ich mir zum ersten Mal einen bestellt, ihn aber nur ein einziges Mal für eine halbe Stunde getragen, weil meine Lunge keine Chance hatte darin.

Als es draußen schon langsam dunkel wird, bekomme ich eine Nachricht von Aron:

babe, du hast einfach ein sixpack!!

Ich stehe auf, ohne das Licht anzumachen. Es gibt keinen richtigen Spiegel in meiner Tauschwohnung. Im Bad knipse ich die nackte Glühbirne an und justiere den kleinen runden Schminkspiegel so, dass ich darin meinen Bauch sehen kann. Aron hat tatsächlich Recht: in dem kleinen runden Stück Glas zeichnet sich ein deutlich definiertes Sixpack ab.

*

In seinem Monolog Versuch über das Sterben sagt Boris Nikitin zu den Parallelen zwischen der (Un-) Sichtbarkeit von Queerness (seiner eigenen) und Krankheit (der seines von ALS betroffenen Vaters):

Auch wenn ich heute anderen Menschen, die mich nicht kennen, von meinem Partner erzähle, höre ich oft als Reaktion: »Das hätte ich nicht gedacht.« Mir wird dann immer etwas schwindelig, weil die Welt draussen und die Welt in mir drinnen nicht synchron laufen. Gelegentlich bilden sich dann auch leichte Anzeichen von Panik in mir, weil ich das Gefühl habe, dass mir mein Körper entgleitet und aus der Realität fällt. (…)*3

*

Kay, Kay, Kay.

Aron ist die zweite Person nach meinem besten Freund Fritz, die mich so nennt. Ich habe Aron erzählt, dass meine Eltern mich Kay nennen wollten, wäre ich als Bio-Boy geboren, und dass ich überlege, Kay zwischen meinen Vor- und meinem Nachnamen zu setzen.

*

Bei meinem ersten Physiotermin soll ich mich erst mit gestreckten Beinen vornüberbeugen und meine Hände flach auf den Boden legen und dann meine Finger 90 Grad hochbiegen und dann mit den Fingern der einen Hand das Handgelenk der anderen umfassen, und als das alles kein Problem ist, lacht die Physiotherapeutin und sagt: »Ich habe das gleich gesehen, als du reingekommen bist, die Art, wie du dich bewegst, die langen Beine, die Arme, die Hände. Du hast hypermobiles Ehlers-Danlos-Syndrom, Dr. Yıldırım hat das im Übrigen auch. Hast du dir nie die Schulter ausgekugelt beim Klettern?« EDS hat laut Sylva eine große Co-Morbidität mit Post-COVID und trägt zusätzlich zu den Schmerzen bei. Sie zeigt mir Übungen für den Rücken, die ich im Liegen machen kann. Das soll helfen. Als sie meine Wirbelsäule berührt, muss ich heulen.

Dann gibt mir Sylva einen Fragebogen zum Ausfüllen. Die Fragen zielen darauf ab, festzustellen, ob ich mit meiner Ausprägung von Post-COVID die Diagnosekriterien von ME/CFS*4 erfülle, und wenn ja, wie schwer mein ME/CFS ist. Schon während ich den Fragebogen ausfülle, sehe ich mit Blick auf den Auswertungsschlüssel, dass ich klar in die Kategorie ME/CFS falle. Sylva lässt den Bogen unkommentiert und ordnet ihn zusammen mit meinen anderen Unterlagen in einem grauen Ordner ein.

*

Das hypermobile Ehlers-Danlos-Syndrom (hEDS) zählt offiziell zu den seltenen Erkrankungen: <1:5000 Personen sind betroffen. Heutzutage wird allerdings von einem Spektrum gesprochen, auf dem sich weit mehr Menschen befinden. Praktisch all meine bisherigen Lovers hatten zum Beispiel überstreckbare Ellbogen. Neben der Überbeweglichkeit tritt beim hEDS eine große Bandbreite an Symptomen auf, die von einer besonders elastischen Haut über Gelenkschmerzen und Skoliose bis hin zu chronischer Fatigue reichen. Ich erinnere mich, wie ich bei meinem ersten lesbischen Kuss die andere Person am Oberarm griff und darüber erschrak, wie weit sich ihre weiche Haut vom Knochen wegziehen ließ. Ich ließ ihren Arm sofort los, weil ich glaubte, ihr wehgetan zu haben.

Es gibt eine große Überschneidung zwischen hEDS und anderen Syndromen wie Fibromyalgie, ME/CFS, orthostatischer Intoleranz (POTS), Mastzellenaktivierungssyndrom (MCAS) und Immundefekten. Während bei den zwölf anderen Typen von EDS bekannt ist, dass und wie sie genetisch bedingt sind, ist beim hEDS nicht hinreichend geklärt, wie es sich verbreitet.

*

»Die Diagnose von unsichtbaren Krankheiten wie Post-COVID ist schwierig«, erklärte mir der Arzt im Medizinischen Versorgungszentrum*5 (MVZ) Kreuzberg. Dr. Khakpour war der fünfte Arzt, den ich aufsuchte. Ich hatte bereits vier andere MVZ abgeklappert. Die Kardiologin im Wedding hörte mein Herz ab und stellte nichts fest. Der Neurologe in Mitte zuckte die Schultern und empfahl mir, meine Symptome zu dokumentieren. Der Immunologe in Pankow ließ mir sehr viel Blut abnehmen. Der Pneumologe in Schöneberg schickte mich mit einem Asthmaspray nachhause und versprach, davon würden die Beschwerden abklingen.

Dr. Khakpour schrieb in meine Krankenakte: Verdacht auf Post-COVID-Syndrom. Ich bekam eine Krankschreibung für zwei Wochen.

*

Ich bekomme Punkte auf verschiedenen Skalen:

Bellskala: 15/100

Beighton-Score*6: 9/9

Kanadische Kriterien für ME/CFS: 22/38

Dr. Yıldırım erklärt mir am Handy: »Bisher können wir Post-COVID und ME/CFS nur klinisch diagnostizieren.« Ich liege im Bett, während wir telefonieren. Sie hat mich angerufen, um mir zu sagen, dass ich wahrscheinlichCFS habe, aber das weiß ich ja schon.

Der Begriff der klinischen Diagnostik meint ein Diagnoseverfahren, bei dem keine bildgebenden (z.B. Röntgen, MRI, Ultraschall) oder hämodynamischen Verfahren (Untersuchungen der Fließeigenschaften des Blutes) zum Einsatz kommen. Obwohl ME/CFS seit 1969 von der WHO als neurologische Erkrankung eingestuft wird und weltweit ca. 17 Mio. Menschen davon betroffen sind — deutschlandweit ca. 250.000*7, Tendenz schon vor der COVID-19-Pandemie steigend —, gibt es bislang keinen validierten Biomarker, mit dem sich die Erkrankung im Körper nachweisen ließe.*8 Die Erkrankung ist in diesem Sinne doppelt unsichtbar: Man sieht sie den Betroffenen nicht an, und umfangreiche Labortests kommen in der Regel unauffällig zurück. Die einzige Möglichkeit, die Krankheit zu diagnostizieren, besteht darin, Kriterienkataloge durchzugehen und alle anderen Erkrankungen auszuschließen. Die meisten Betroffenen erhalten nach all den Tests jedoch keine Diagnose; in der Regel beschränken sich Ärzt*innen darauf, einen Verdacht auf ME/CFS auszusprechen.

Die WHO schreibt in den FAQ zu ME/CFS:

Derzeit gibt es unter Mediziner*innen keinen Konsens darüber, wie das chronische Müdigkeitssyndrom definitiv diagnostiziert werden kann. […] Die Prüfung […] bestätigte den fehlenden Konsens über ein zuverlässiges diagnostisches Muster von Symptomen, die anhaltende Debatte über die Ursachen und das Fehlen einer einheitlichen oder zuverlässigen Behandlung. Die einzige Konstante in den begutachteten Studien war das Leitsymptom »Müdigkeit«, das über einen längeren Zeitraum anhielt.*9

*

Die Physio ist zweimal die Woche angesetzt, Ergotherapie einmal, und nächste Woche soll noch MTT dazukommen. Die Krankenkasse hat die Reha auf drei Monate bewilligt.

In der Ergotherapie soll ich jedes Mal mehrere Fragebogen ausfüllen. Bei der zweiten Sitzung legt mir die Ergotherapeutin Frau Nikolič einen Fragebogen hin, auf dem ich meine Interessen ankreuzen soll, damit wir herausfinden können, welchen davon ich immer noch oder bald wieder nachgehen kann. Auf der alphabetisch sortierten Liste stehen Dinge wie Bügeln, Curling, Dart, Lesen, Politik, Rendezvous und Zelten.

Es gibt keine einzige Übereinstimmung zwischen den Aktivitäten, die ich mit sehr großes Interesse, und denen, die ich mit Ausführung derzeit möglich markiert habe.

Zu Beginn jeder Therapiesession soll ich mich neu auf der Bell-Skala einstufen. Beim ersten Mal Physio gebe ich mir 30 Punkte. Die Bellskala ist ME/CFS-spezifisch und soll einen Maßstab für den Grad der Behinderung und Einschränkung bei ME/CFS bieten. Die Einträge beziehen sich immer nur auf die Arbeitsfähigkeit und lauten zum Beispiel:

100 Punkte: Keine Symptome in Ruhe, keine Symptome bei körperlicher Belastung, insgesamt ein normales Aktivitätsniveau, ohne Schwierigkeiten in der Lage, Vollzeit zu arbeiten

60 Punkte: Leichte Symptome in Ruhe; deutliche Begrenzungen in den täglichen Aktivitäten spürbar; der funktionelle Zustand beträgt insgesamt etwa 70% — 90% der Norm; unfähig, einer Vollzeitbeschäftigung nachzugehen, wenn dort körperliche Arbeit gefordert wird, aber in der Lage, Vollzeit zu arbeiten, wenn es um leichte Arbeiten geht und die Arbeitszeit flexibel gehandhabt werden kann

20 Punkte: Mittelschwere bis schwere Symptome in Ruhe; schwere Symptome bei jeglicher Belastung oder Aktivität; der funktionelle Zustand ist auf 30% — 50% der Norm reduziert; bis auf seltene Ausnahmen unfähig, das Haus zu verlassen; den größten Teil des Tages ans Bett gefesselt; unfähig, sich mehr als eine Stunde am Tag zu konzentrieren*10

*

Auf dem Weg von der Garderobe zum MTT-Raum komme ich immer am Praxiszimmer von Dr. Yıldırım vorbei. Ich hoffe jedes Mal, dass die Tür genau in dem Moment aufschwingt, in dem ich in Shorts und Shirt und Tennissocken daran vorbeigehe, inzwischen mit Buzz Cut.

Irgendwie bin ich auf Dr. Yıldırım hängengeblieben.

Meine neueste Fantasie: Alles ist weiß. Dr. Yıldırım bittet mich in ihr Büro. Sie untersucht mich mit ihren kühlen Händen und erzählt mir von der neuesten Studie zu subtilen Herzmuskelentzündungen im Zusammenhang mit Long-COVID. Dann dehnen wir gemeinsam unsere überbeweglichen Gliedmaßen. Dr. Yıldırım kann ihren Daumen bis ans Handgelenk biegen, ich kann den Spagat. Dann — und das variiert jedes Mal, wenn ich mir das vorstelle, weil ich mich nicht entscheiden kann, was ich mir am sehnlichsten wünsche — passiert:

a) Dr. Yıldırım küsst mich mit ihrem Zahnspangen-Mund, lange und innig.

b) Dr. Yıldırım duzt mich und erzählt mir, dass auch sie 9/9 Punkten auf dem Beighton-Score hat und genau 15 Jahre älter ist als ich. Dann sagt sie mir, dass alles gut wird.

c) Dr. Yıldırım nimmt mich auf ihren Schoß, zieht mich an ihre Brust, meine Tränen laufen in ihren Arztkittel, und sie lässt mich nie mehr los.

Wenn ich diesen Absatz lese, durchläuft mich ein warmer Schauer aus Sehnsucht und Geborgenheit.

*

Dr., Dr., get me out of here, I am actually well, just like you.*11

*

Meinen zweiten Physiotermin sage ich ab, weil ich mir nicht vorstellen kann, mit dem 33er-Bus bis an den Stadtrand zu fahren.

Bei meinem dritten Termin will die Physiotherapeutin einen Leistungstest mit mir durchführen. Ich sage, dass ich denke, dass das nicht so eine gute Idee ist, weil meine Belastungsintoleranz immer noch so ausgeprägt ist, dass ich nach einem Spaziergang, der 20 statt der regulären 15 Minuten dauert, mitunter Stunden bis Tage mit Gliederschmerzen im Bett liege. Sylva sagt, dass es aber gut wäre, zu wissen, wo meine Belastungsgrenze ist, um dann konsequent darunter beziehungsweise unter 60 % meines Maximalpulses bleiben zu können. Ich sage, dass ich dann aber wahrscheinlich wieder mindestens eine Woche krank sein werde. Sie sagt, dass sie sonst aber nicht wissen kann, was mein Maximalpuls ist. Ich sage, dass wir es ja schätzen können. Sie sagt, dass es schon gut wäre, den Test zu machen, um genau zu wissen, wo meine Belastungsgrenze ist. Ich ändere meine Strategie und sage einfach nichts mehr. Ich liege auf dem Rücken auf der weichen Gymnastikmatte, sie steht etwas ratlos über mir, dann sagt sie: »Ich kann dir ja noch ein paar Rückenübungen zeigen.«

Es kommt mir komplett absurd vor, dass ich meine Tiefenmuskulatur im Bauch trainieren soll, während ich nicht mal in der Lage bin, mir Spaghetti zu kochen, ohne dass sich meine Symptome verschlimmern. Aber of course nehme ich die Übungsanleitung dankbar an und denke bei jedem Bauchanspannen, dass es sich ein bisschen lebendiger anfühlt als alles andere in den letzten Wochen und Monaten.

*

Angefangen hat das Ganze nach meiner COVID-19-Infektion im Frühling, als ich Fritz besuchte. Fritz wohnt auf einem Hügel am Rand von Wien, wo alle Wege nach Planeten benannt sind. Angeblich lebt dort auch Elfriede Jelinek; Fritz behauptet, sie schon mal im Tankstellenshop beim Brotkaufen gesehen zu haben.

Drei Tage nachdem ich mich wieder negativ getestet hatte, war ich meinem Produktionsteam hinterhergereist, um für einen Theaternachwuchswettbewerb zu proben. Ich hatte COVID bekommen, als die anderen schon im Flixbus nach Österreich saßen.

Wir probten in der alten WU, einem heruntergekommenen Leerstand, direkt neben dem Produktionsbüro eines Ulrich-Seidl-Films. Aus der Decke hingen Kabel. Es war Anfang Mai und unglaublich heiß im Raum, was sich ansatzweise durch die südliche Fensterfront erklären ließ, aber mir war noch viel heißer als den anderen. Ich saß im Tanktop da mit meinem ausgedruckten Stück und hatte Wortfindungsstörungen. Mir fielen auch die Namen der Schauspieler*innen nicht mehr ein.

Gegen 16 Uhr bekam ich zunehmend starke Schmerzen in den Knien und im unteren Rücken. Ich fühlte mich grippig. Nach der Probe schleppte ich mich im Dunkeln mit letzter Kraft den Hügel hinauf, von der Bushaltestelle aus 20 steile Minuten.

Es wurde jeden Tag schlimmer. Die Schmerzen breiteten sich in alle Gelenke aus, Finger, Ellbogen, Hüfte, beim Gehen schmerzte meine Brust auf der linken Seite. Wenn ich mich ein paar Stunden hinlegte, wurden die Schmerzen weniger, aber der Effekt hielt nie lange an.

Am dritten Morgen wachte ich zitternd auf und fiel fast in Ohnmacht beim Aufstehen. Ich aß eine halbe Packung Prinzenrolle, die ich in der Küche fand. Danach wurde es etwas besser.

Am Abend, nach der Probe, schmerzten meine Knie so sehr, dass ich kaum noch die Treppe hinaufgehen konnte. Mein Körper fühlte sich an wie im Fieber, aber ich hatte keins. In der Nacht schwitzte ich die ganze Decke nass.

Als ich am nächsten Tag aufwachte, waren die Schmerzen etwas weniger geworden. Ich beschloss, zu duschen. Das Schlimmste schien vorbei. Ich ging nach unten ins Bad und zog meinen Pyjama aus. Als ich mir auch die Socken ausziehen wollte, ertastete ich seltsame Beulen an meinen Schienbeinen: geschwollene, schmerzende Blutergüsse, die aussahen, als hätte ich mir die Beine heftig angeschlagen.

Ich googelte:

blutergüsse blaue flecken corona

blutgerinnung nach corona

blutgerinnungsstörung bluterguss einfach so

Ich rief meine Hausärztin an. Ich schickte ihr Fotos auf WhatsApp. Sie schickte mich mit dringendem Verdacht auf Thrombose in die Notaufnahme.

Fritz war an der Uni. Ich schrieb denen: muss ins krankenhaus, hast du einen tipp, welches?

Fritz schrieb nicht zurück.

Ich zog eine Jogginghose an, putzte mir die Zähne, duschte nicht.

Vor dem Haus belud Fritz’ Mitbewohnerin Lola gerade das Auto. Ich sagte: »Ich gehe ins Krankenhaus, ich habe vielleicht eine Thrombose.« Ich traute mich nicht, sie zu fragen, ob sie mich fahren könnte. Lola sagte: »Oh, okay. Kannst du mir vielleicht kurz mit dem Kaktus helfen?«

»Jetzt?«

»Geht ganz schnell. Ich kann den nur nicht alleine tragen.«

Ich half Lola, den Kaktus ins Auto zu laden. Während Lola den Kofferraum schloss, stellte ich mir vor, wie ich hier an Ort und Stelle tot umfiel. Dann ging ich in der knallenden Sonne den Hügel hinunter zur Bushaltestelle. Die waldigen Hügel wellten sich vor mir. Ich hatte seltsam wenig Angst.

*

Nach der dritten Sitzung befindet mich die Ergotherapeutin für austherapiert. Ich habe den Reader mit der Aufschrift Strategien zum Energiemanagement schon nach der ersten Sitzung komplett durchgelesen. Darin stand nichts, was ich nicht schon im Internet gelesen hatte. Die Rollenspiele aus dem hinteren Teil lassen wir weg, weil die Gruppentherapie in Ermangelung einer Gruppe nicht zustande gekommen ist und man die charakteristischen Situationen (z.B.: »Ihr Kind kommt nachhause und will spielen. Sie brauchen aber gerade eine Pause. Wie kommunizieren Sie das?«) nicht gut alleine durchspielen kann. Es sei denn, Frau Nikolič würde mitspielen, aber das will sie nicht.

Zwischen Ergo und Physio sitze ich im Flur des Rehatraktes und höre meine neue Playlist mit dem Titel ICE BOY. Die Automatikglastür geht auf, und ein Mann mit Knieschiene kommt hereingehumpelt. Der Neid erwischt mich kalt und heftig. Ich tippe auf Bänderdehnung, maximal Kreuzbandriss. Sylva kommt aus dem MTT-Raum und begrüßt den Mann. Er humpelt fröhlich redend hinter ihr her. Verräterin, denke ich, rufe ich fast.

Bevor sie mich aufs Ergometer lässt, misst Sylva meinen Puls. Er ist viel zu hoch. Sylva fragt mich, ob ich Stress habe. Ich sage nein. Sylva fragt, ob ich sicher bin, ob ich nicht vielleicht Stress mit der Arbeit habe. Ich sage, dass ich nicht arbeite. »Also, doch, ich schreibe dieses Stück, aber das stresst mich nicht.«

Sylva sagt, dass es wichtig ist, dass ich immer unter 60 % meines Maximalpulses bleibe, weil sich sonst meine Symptome verschlimmern.

Ich kann schon seit Tagen nichts essen und nicht schlafen. Mir ist konstant schlecht, meine Hände zittern. Ich kann keinen geraden Gedanken denken. Und das ist kein literarisches Bild. Ich meine es absolut wörtlich.

Sylva fragt, ob ich woanders Stress habe, privat vielleicht. Ich sage, »ja, vielleicht ein bisschen privater Stress«. »Ah, okay.« Sylva stellt keine weiteren Fragen, ich soll meine Übungen machen. Ich schaue auf den Üetliberg und versuche, nicht an Aron zu denken, nicht an Aron zu denken, nicht an Aron Aron Aron.

Ich schreibe auf einen Zettel:

Nicht seine Playlist hören (vor allem nicht Track Nr. 18)

Nicht die Playlist hören, die ich für ihn gemacht habe

oder Doja Cat’s Album Planet Her

Nicht nachträglich doch noch auf die Nachricht Bezug nehmen, die ich gestern Morgen um 07:07 Uhr geschrieben und wieder gelöscht habe, bevor er aufgewacht ist

Allein über post-kapitalistische Gegen-Libido nachdenken (und ihn nicht fragen, was er dazu denkt)

Essen & lesen & (viel) schlafen

Ihm nicht schreiben!!

Kein Foto machen von den Bergen, wie sie vor mir aus dem See emporwachsen, während ich auf dem Weg in die Klinik bin

Keine Selfies

Die Zeit nutzen, um auf die dringlichen Mails des Theaters zu antworten und ein paar Rechnungen zu schreiben (sonst werde ich mein Geld nicht mehr kriegen, weil das Jahr zu Ende geht)

Nicht für mehr als 10 Sekunden an seine Wohnung denken

Nicht Eileen Myles zitieren

Aufhören, billige Ausreden dafür zu erfinden, dass ich ihn nicht draußen treffen kann (seine kaputte Waschmaschine, die kalten Temperaturen, meine CFS-Diagnose zählen nicht)

In mein Handy tippe ich:

i fell asleep w a burning heart & i woke up w one*12

Das unsichtbare Königreich

Das Ding mit Kay wird ein Game. Jedes Mal wenn Aron mir schreibt, ist seine erste Nachricht eine Frage an Kay in der dritten Person, und ich schreibe in der dritten Person zurück.

Ich bin immer noch viel im Bett, jetzt wieder in Berlin. Aron schickt mir vinted-Links und kleidet mich aus der Ferne als Tenniscoach ein. Er ist auf Messereise und baut eine Messe nach der anderen auf und wieder ab. Ich bestelle mir Sneakers, die für immer weiß bleiben werden; zum Kontakt mit dem roten Tennisplatzgranulat kommt es nie. Wir stellen uns vor, wie Coach Kay 20 Jahre ältere Frauen unterrichtet, ihnen erst Vor- und Rückhand zeigt und nach der Lektion die Trainerkabine.

Aron schreibt: sie würden immer nur dich buchen

und die ganze woche auf den »unterricht« mit dir warten

i’m sorry, fühlst du dich zu sehr objektifiziert?

Ich: es kann gar nicht genug sein.

*

Jedes Mal wenn mein Handy vibriert, vibriert etwa zehn Sekunden später meine Pulsuhr: Ich habe sie so programmiert, dass sie mich warnt, wenn ich 60 % meines Maximalpulses überschreite. Manchmal schaffe ich es, zu warten, bis sich meine Pulsrate beruhigt hat. Meistens aber entsperre ich hastig den Bildschirm, spüre, wie mein Nervensystem den Rücken entlang Alarmsignale sendet — is it them is it them is it them —, und warte ungeduldig darauf, dass mein Wlan Arons Nachrichten lädt.

*

Die Reha war eigentlich noch nicht zu Ende, aber ich wollte nachhause. Seit ich zurück bin, schwankt meine Punktzahl auf der Bellskala zwischen 30 und 80. An manchen Tagen gehe ich perfekt als gesund durch, gehe in den Supermarkt, gehe Kaffee trinken mit Freund*innen, gehe ins Gym. Dann verschwinde ich wieder auf unbestimmte Zeit in meiner Einzimmerwohnung.

Ich halte meine Fortschritte in einem schwarzen A3-Heft fest: Mit Bleistift zeichne ich eine Kurve, die das Schmerzlevel abbildet, mit Kuli eine, die mein Energielevel angibt. Unter jeden Tag schreibe ich die Anzahl Schritte, die meine Health-App aufgezeichnet hat, und besondere Ereignisse wie »Abgabestress«, »Streit mit …«, »Arztbesuch«, »Training«. Die x- und y-Achsen sind ziemlich schief, weil ich sie im Bett und ohne Lineal gezogen habe. Die beiden Graphen verlaufen in Wellen, Tendenz der Kulikurve insgesamt steigend, Steigungsgrad aber abnehmend. Aus meinem derzeitigen Durchschnittsenergieniveau von 60 Punkten und der bisherigen Steigung berechne ich, wie lange es theoretisch dauern müsste, bis ich wieder bei 100 Punkten auf der Bellskala bin.

*

Es wäre easy, die Benachrichtigungen auszuschalten, aber ich will nicht: Mein Handy ist das verspiegelte Fenster zu einer leicht bedrohlichen, verheißungsvoll glitzernden Welt jenseits von meiner, die in den letzten Monaten immer kleiner und blasser geworden ist.

*

Eine*r der wenigen ME/CFS-Betroffenen, die sich nach schwerer Erkrankung als vollständig geheilt betrachten (und die ich im Internet finden kann), schreibt auf deren Website:

Jemand, der an ME/CFS erkrankt ist, muss akzeptieren, dass er*sie mindestens die nächsten 6—9 Monate lang sehr träge sein wird. Keine Energie zu haben, raubt einem die Persönlichkeit: Soziale Interaktion jeglicher Art […] erfordert Energie, und es ist leicht, es zu übertreiben, wenn man sich auf jemand anderen konzentriert. Selbst wenn man sich großartig fühlt, sollte der Kontakt zu Freund*innen so weit wie möglich eingeschränkt werden, denn die Fortschritte, die man durch wochenlange Disziplin erzielt hat, können sehr schnell wieder zunichtegemacht werden. Diese Krankheit ist einfach brutal.*13

In einer kleinteiligen Anleitung beschreibt dey, was man alles tun (und vor allem nicht tun) soll, um »wieder« »gesund« zu werden.

*

Immer wenn ich in diesen Zustand allumfassender Nervosität gerate, bricht wenige Stunden später — wenn sich mein Nervensystem endlich beruhigt hat — eine Welle aus Glieder-, Lungen- und Gelenkschmerzen in Kombination mit einer abgrundtiefen Erschöpfung über mich herein. Ich kann kaum noch sprechen, mein Denken wird foggy, und jeder Atemzug schmerzt. In der Stille meiner Wohnung warte ich bewegungslos ab, bis sich das Wasser zurückzieht.

In der Medizin werden die von Betroffenen umgangssprachlich Crashes genannten Einbrüche als postexertionelle malaise (PEM) bezeichnet. Die PEM ist das charakteristische Leitsymptom von ME/CFS und Post-COVID*14. Es handelt sich hierbei um die Folge einer Belastungsintoleranz, bei der der Körper mit einer unverhältnismäßigen Erschöpfung und Krankheitssymptomen auf physische, kognitive und/oder emotionale Anstrengung reagiert. Als emotionale Anstrengung zählen nicht nur Konflikte und negativer emotionaler Stress im Allgemeinen, sondern auch starke positive Gefühle wie Euphorie. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS beschreibt den Zustand der PEM: so, als hätte man zugleich eine Grippe, einen Kater und einen Jetlag. […] Jeder Crash geht mit der Gefahr einer Chronifizierung des verschlechterten Gesundheitszustandes einher.*15

*

Aron schickt mir Selfies aus verschiedenen Hotelzimmern. Kassel, Frankfurt, Freiburg, Zürich, Basel, Bern. Wir machen Dadjokes über die leeren Betthälften, neben denen wir beide jeden Abend einschlafen. Beim Einschlafen, oder besser: beim unendlichen Wachbleiben, mergen in meinem Kopf die Tapeten der verschiedenen Hotelzimmer zu einem bunten Edit, und ich sehe vor mir, wie wir auf der freien Betthälfte Sex haben. Ich drehe meinen Kopf zum Fenster, während Aron mich leckt, und sehe, wie draußen das Großmünster hinter der Aare aufragt und die Limmat mitten durch Kassel fließt und der Fernsehturm das gesamte Bild durchsticht, mit einer unbeirrbaren Geradlinigkeit. Als ich geräuschlos in meine Hand komme, ist es in meiner Wohnung stockdunkel.

*

Ich mache meine Physioübungen im Fitnessstudio weiter. Als ich krank geworden bin, habe ich nach einer Weile meine Mitgliedschaft bei Urban Sports Club pausiert: Für 59€/Monat konnte ich alle möglichen Sportkurse, Boulderhallen, Schwimmbäder und Fitnessstudios besuchen. Jetzt gehe ich jedes Mal in ein anderes Fitnessstudio und mache ein kostenloses »Probetraining«. Warum sollte ich den fixen monatlichen Betrag zahlen, wenn so unsicher ist, ob ich es in der Woche darauf überhaupt schaffen werde, meine Wohnung zu verlassen?

Sylva und ich telefonieren einmal pro Woche und besprechen, wie es läuft. Ich sage ihr dann, um wie viel ich meine Gewichte gesteigert habe, und sie sagt mir, wie ich mit dem Ausdauertraining fortfahren soll.

Eigentlich ist Ausdauertraining das falsche Wort; meine Kondition ist ja da. Es müsste eher Ausdauerdesensibilisierung heißen.

Manchmal frage ich Sylva Dinge wie: »Denkst du, ich kann bald wieder Fahrrad fahren?« Sie sagt dann immer etwas in Richtung: »Grundsätzlich schon, ich würde es einfach langsam steigern. Fang mal mit 10 Minuten an.«

Ich weiß nicht, wo ich 10 Minuten entfernt hinfahren soll. Die Distanzen in Berlin sind viel zu weit: Ich habe keine Freund*innen, die nur 10 Minuten entfernt wohnen, zu meiner Uni sind es 40 min mit dem Fahrrad, zur Bibliothek 20 min. In meinem 10-Minuten-Fahrrad-Radius gibt es: einen LIDL, den Bahnhof Berlin Südkreuz und das Tempelhofer Feld.

*

Die einzige etablierte Strategie zum Krankheitsmanagement bei ME/CFS ist das in den 80er Jahren entwickelte Pacing von Aktivitäten. Es bezeichnet die Einhaltung der durch die Erkrankung vorgegebenen Belastungsgrenzen durch Aktivitäts- und Energiemanagement*16. Unter der individuellen Belastungsgrenze zu bleiben, kann je nach Schwere der Belastungsintoleranz bedeuten, nicht zur Toilette zu gehen, den Briefkasten nicht zu leeren, nicht einzukaufen, nicht zu kochen, keine Messages zu beantworten. Pacing ist keine Therapie, sondern dient lediglich dazu, die mit der PEM verbundene Abwärtsspirale so gut wie möglich aufzuhalten.*17 Es bedeutet, den eigenen Körper konstant zu überwachen, um eine Aktivität jederzeit abbrechen zu können, bevor es zu spät ist. Maximale Kontrolle innerhalb des totalen Kontrollverlustes.

*

Ich bin mehr in control als jemals zuvor. Ich denke nie länger als eine halbe Stunde nicht an meine Erkrankung. Wenn ich zur U-Bahn-Station muss, gehe ich so langsam wie möglich. Zwischen dem Duschen und dem Haareföhnen lege ich mich für 15 Minuten ins Bett. Ich verabrede mich für maximal zwei Stunden. Ich trinke keinen Alkohol, ich esse keinen Zucker, ich rauche nicht. Derweil wird mein Hunger nach gewähltem Kontrollverlust und Exzess bodenlos.

*

Ich schreibe:

Yesterday night my

longing felt like

an organ replaced by dry ice.*18

*

Meine erste Ohrfeige von Aron bekomme ich, noch bevor wir uns das erste Mal anfassen. Wir sitzen auf dem Bett und schauen uns wild verknallt an und wissen beide nicht, was als Nächstes kommen soll. Wir können auf keinen Fall Sex haben, weil ich jetzt schon Schmerzen habe und spüre, wie mein Puls rennt. »Vielleicht muss es auf eine andere Art eskalieren«, sagt Aron. »Vielleicht müssen wir raufen. Oder einander ohrfeigen.« Das. Ist. Es. Genau das.

Ich will nichts dringender. Ich halte Aron meine linke Wange hin, damit er sie mit seiner Rechten schlagen kann. Aron kneift die Augen zu, setzt an — und traut sich nicht. Noch mal: nichts. Als ich schon nicht mehr damit rechne, trifft mich Arons Hand mit einer Power, die ich ihm spontan nicht zugetraut hätte.

Meine Wange brennt. Aron geht. Und ich kann tagelang an nichts anderes denken als an Arons Ohrfeige. It makes me pop out of any place I’m in.*19

Ich denke, bei meiner Obsession mit dem Geohrfeigtwerden geht es einerseits um den mir sonst nur zu einem sehr hohen Preis (PEM) zugänglichen Exzess, andererseits aber auch um die unglaubliche Klarheit und Sicherheit dieses Schmerzes mit klarem Anfang und Ende: Ich gebe die Kontrolle für wenige Sekunden ab und bekomme dafür einen erträglichen Schmerz, dem das Versprechen seiner anschließenden Abwesenheit innewohnt. Mehr Kontrolle kann ich mir nicht vorstellen.

Exzess als: ein Heraustreten aus dem, was ist

*

Es stimmt übrigens nicht, dass meine Eltern mich Kay genannt hätten: Sie hätten mich Kai genannt. Aber Aron schreibt immer Kay, nachdem ich am Telefon von Kai erzählt habe, und ich korrigiere ihn nicht. Ich mag Kay. So hieß auch der Fuckboi in der Datingshow Are You the One? — zumindest habe ich es so in Erinnerung. Später schaue ich nach: Die Person in der Show heißt Kai mit i. Als meine kleine Schwester Mavie meinen zweiten Namen in meiner Insta-Bio sieht, schreibt sie: bebi du weißt schon, ich hätte kai geheißen und du ruben?

*