Mut zum Handeln -  - E-Book

Mut zum Handeln E-Book

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Beschreibung

Renommierte Politiker und Größen der Wirtschaft äußern ihre Ansichten zum Reformstau in Deutschland und rufen zu zweckmäßigen Lösungen auf. Prominente Mitglieder des Konvents für Deutschland wie Roland Berger, Hartmut Mehdorn, Manfred Pohl und Wolfgang Clement nehmen in wegweisenden Interviews und Aufsätzen Stellung zu der Frage, wie Deutschland durch sinnvolle Reformen nach vorn gebracht werden kann. Ihr über Jahre gesammeltes Wissen bringen die Konventmitglieder in ihre ehrenamtliche politische Arbeit für Deutschlands Zukunft ein. Auf dieser Grundlage unterbreiten sie überlegte, erfahrene und mutige Vorschläge.

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LESEPROBE

Henkel, Hans-Olaf; Uhlig, Jane; von Dohnanyi, Klaus; Pohl, Manfred; Herzog, Roman; Clement, Wolfgang

Mut zum Handeln

LESEPROBE

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2008. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40454-7

|11|Reform der Reformfähigkeit

Wie Deutschland wieder reformfähig wird

Vorwort von Bundespräsident a. D. Prof. Dr. Roman Herzog

Als wir den Konvent für Deutschland am 3. Oktober 2003 in Berlin gründeten, stand die Idee im Vordergrund, Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft zusammenzuführen. Hierbei war entscheidend, Mitglieder zu gewinnen, die aus den vier damals im Bundestag vertretenen Parteien kamen, aber kein politisches Amt mehr innehatten. Die Arbeit des Konvents hat ein Generalthema: die Reform der Reformfähigkeit der deutschen Politik und ihrer Institutionen.

Diese Formel – Reform der Reformfähigkeit – mag etwas abgehoben klingen. Aber was sie meint, ist sehr konkret. Die politischen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland sind dem enormen und stetig wachsenden Reformbedarf nur noch sehr bedingt gewachsen.

Dass unser Land Veränderungen braucht, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, um nicht zu sagen: eine Banalität. Jedes Land braucht immer Reformen, denn die Verhältnisse wandeln sich laufend und produzieren ständig neue Herausforderungen. Die Frage ist, wie gut ein Land für diese Herausforderungen gerüstet ist.

Das ist natürlich zunächst einmal eine Frage an die Politiker. Es ist leicht, ihnen den Schwarzen Peter zuzuschieben, und es ist nicht einmal immer falsch. Aber man macht es sich zu einfach, |12|wenn man das Problem mit Politikerschelte für angemessen abgehandelt hält. Denn es liegt wenn schon nicht in allen, so doch in vielen Fällen tiefer.

Der lauterste Reformwille nützt nicht viel, wenn das bestehende Institutionengefüge seiner Realisierung unüberwindliche Hindernisse entgegenstellt. Um zu illustrieren, was ich damit meine, nenne ich als Beispiel hier nur das inzwischen geflügelte Stichwort »Bundesratsblockade«. Es bezeichnet eine Situation, in der Zuständigkeitszuweisungen und Verfahrensregeln bei bestimmten politischen Konstellationen dazu führen, dass nichts mehr geht.

Selbstverständlich darf man daraus nicht den Schluss ziehen, nun einfach alle konstitutionellen Hürden der Entscheidungsfindung zu schleifen: Eine demokratische und rechtsstaatliche Verfassung lebt von checks and balances. Aber man kann – ohne die notwendige demokratische Kontrolle zu beeinträchtigen – Verantwortung klar und eindeutig zuweisen. Im Grunde ist das sogar eine Voraussetzung jeder wirksamen Kontrolle: Wen soll man denn zur Verantwortung ziehen, wenn gar nicht klar ist, wo die Verantwortung für eine Entscheidung liegt?

Ich hoffe, dieses Beispiel macht zweierlei deutlich: einmal, was mit dem Begriff der reformbedürftigen Reformfähigkeit gemeint ist, nämlich die Notwendigkeit, unsere Institutionen so zu gestalten, dass sie Reformentscheidungen erleichtern, anstatt sie zu behindern. Und zum anderen, dass klare Verantwortungszuweisung eines der grundlegenden Prinzipien für derartige »Meta-Reformen« sein muss.

Mit dieser Selbstbindung an die »Meta-Ebene« hat der Konvent nicht nur seine eigene Konsens- und Handlungsfähigkeit gesichert; er hat sich damit auch an den Comment gehalten: Für die konkreten Einzelreformen sind die heute aktiven Politiker zuständig.

Es ist wichtig, das zu betonen. Denn wir wollen nicht in der aktuellen Politik mitspielen, wir wollen aber aus unserer praktischen Erfahrung Anregungen für die Gestaltung der Spielregeln geben. Dass da mancher fragt: »Warum habt ihr eure klugen Ideen nicht |13|verwirklicht, als ihr selbst noch in der Verantwortung wart?«, stecken wir ein. Wir berufen uns auf das Recht, immer noch dazuzulernen – und darauf, dass man aus der Distanz, wenn man selber nicht mehr im Getriebe steckt, die Dinge manchmal klarer sieht.

Reform der Institutionen, um sie reformfähiger zu machen: Davon handelt auch dieses Buch. Aber es ist breiter angelegt. Das betrifft zunächst den Kreis derjenigen, die darin zu Wort kommen. Das »operative« Organ des Konvents, das Reformvorschläge diskutiert und formuliert, ist der Konventkreis. Ihm gehören 14 Persönlichkeiten an, die alle im öffentlichen Leben unseres Landes – in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft – einmal eine wichtige Rolle gespielt haben; einige sind auch jetzt noch in solchen Positionen aktiv. Sie alle kommen in diesem Buch zu Wort, und an vielen Stellen ihrer Beiträge werden Reformvorschläge erörtert, die der Konvent in den letzten viereinhalb Jahren vorgelegt hat.

Außer dem Konventkreis hat der Konvent aber noch ein zweites Organ, das zwar kein beschlussfassendes, aber darum nicht minder wichtig ist: das Kuratorium. In ihm sind die Sponsoren des Konvents vertreten, die Firmen und Institutionen, die unsere Arbeit materiell und ideell unterstützen. Auch sie zu Wort kommen zu lassen, ist ein wichtiges Anliegen dieses Buches. Zum einen deshalb, weil allen Beteiligten viel daran liegt, dass diese Unterstützung nicht im Verborgenen geschieht: Sie und wir haben nichts zu verbergen. Zum anderen aber auch, weil das Kuratorium damit exakt der ihm zugedachten Rolle gerecht wird: zur Diskussion im Konvent auch inhaltlich beizutragen und den Konventkreis davor zu bewahren, im eigenen Saft zu schmoren.

Daraus ergibt sich eine zweite Dimension, in der dieses Buch breiter angelegt ist als die eigentliche Konventsarbeit: die thematische. Die Interviews und sonstigen Beiträge befassen sich durchweg mit Themen, die aus dem Erfahrungs- und Tätigkeitsbereich der Interviewten beziehungsweise Autoren stammen. Also auch solchen, die nicht zur Konventsthematik im engeren Sinne gehören – was indessen nicht heißen muss, dass sie dafür irrelevant wären.

|14|Und drittens ergibt sich daraus ein gesunder und vitaler Meinungspluralismus. Nicht jeder Satz und nicht jeder Gedanke, der sich in diesem Buch findet, ist Konvents-Orthodoxie. Es ist die Meinung des jeweils Befragten oder Schreibenden und unterstreicht nur, was ich oben schon erwähnt habe: Im Konvent haben sich Vertreter der unterschiedlichsten politischen »Glaubensrichtungen« zusammengefunden, die vor allem eines eint: die Sorge um die Reformfähigkeit unseres Landes und seiner Institutionen.

Das darf man allerdings nicht so verstehen, als ob dem Konvent nur diese Sorge einfällt. Das wäre eine Unterschätzung unseres Konsens-Volumens. Das Reformprojekt des Konvents für Deutschland ist nicht etwa (institutionen-)technisch oder gar wertfrei. Dass dahinter Wertentscheidungen stehen, sollte schon am Anfang dieses Vorworts deutlich geworden sein, als von der Bedeutung klarer Verantwortung die Rede war.

So wird der aufmerksame Leser feststellen, dass sich bei aller Themen- und Meinungsvielfalt der nachfolgenden Beiträge ein paar klare und konsequente »rote Fäden« durch das ganze Buch ziehen.

Der erste davon ergibt sich direkt aus der Verantwortung: Mündigkeit. Verantwortung setzt Mündigkeit voraus. Wenn Reformvorhaben Erfolg haben sollen, brauchen wir Bürger, die sich nicht immer zuerst auf den Staat verlassen, bevor sie daran denken, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Man kann übrigens auch diese Aussage als einen Ausdruck des viel beschworenen Subsidiaritätsprinzips verstehen: Dieses verlangt ja trotz seines hochgestochenen Namens nichts anderes, als dass Verantwortung so nahe wie möglich bei den Betroffenen angesiedelt sein soll; und dies nicht etwa nur im Verhältnis der verschiedenen staatlichen Ebenen, sondern auch im Verhältnis aller dieser Ebenen (einschließlich der kommunalen) zu den Bürgern. Mündigkeit und Subsidiarität sind Voraussetzung und Königsweg zum Abbau der Staatsüberforderung und Staatsüberlastung, die ein wesentliches Hindernis für die notwendige Handlungs- und Reformfähigkeit darstellen.

|15|Mündige Bürger zeichnen sich im Übrigen auch dadurch aus, dass sie keine Angst vor den Folgen der Freiheit haben. Als da sind: Wettbewerb, Wandel – und Unterschiede. Auch dies sind Stichworte, die sich wie ein roter Faden durch sämtliche Vorschläge des Konvents für Deutschland und durch dieses Buch ziehen.

Es mag überraschen, dass ich das Stichwort »Unterschiede« in meine Aufzählung aufgenommen habe. Aber es gilt, sich wieder an den Gedanken zu gewöhnen, dass das freie Handeln unterschiedlicher Akteure – seien es Individuen, Bundesländer, Kommunen oder zivilgesellschaftliche Verbände – nicht bei allen zum gleichen Ergebnis führen kann. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit – aber man schaue sich nur einmal die Debatten um die Föderalismusreform (vor allem zur Finanzverfassung) an und die geradezu fetischartige Rolle, die die »Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse« an manchen Stellen spielt. Einheitlichkeit ist ein Postulat, das in Deutschland grandios überbewertet wird. Natürlich machen einheitliche Regelungen uns in vielen Bereichen das Leben leichter, aber das produktive Prinzip ist doch allemal die Vielfalt und nicht die Einheitlichkeit. Wir haben deshalb im Konvent im Kontext der Föderalismusreform die Formel vom »Mut zum produktiven Unterschied« geprägt. Wie viel Mut es dazu braucht, das ist ein Gradmesser für die Reformfähigkeit unseres Landes.

Warum die Vielfalt produktiv ist, habe ich als Stichwort in meiner Aufzählung ebenfalls schon erwähnt: weil sie Wettbewerb produziert. Ein in Deutschland heute nicht mehr uneingeschränkt als politisch korrekt geltender Denker, der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek, hat den Wettbewerb als ein »Entdeckungsverfahren« bezeichnet – ein Verfahren zum Auffinden der besten Lösung. Was immer man sonst gegen ihn einzuwenden haben mag: Hier hat er den Nagel auf den Kopf getroffen. Nur im Wettstreit der Lösungsansätze setzt sich der beste durch – jedenfalls mit ungleich größerer Wahrscheinlichkeit als bei einem octroy irgendeiner Zentrale.

All dies läuft offenkundig darauf hinaus, dass wir in Deutschland |16|eine ziemlich grundsätzliche, aber durch sehr viel Bodenhaftung charakterisierte Reformdebatte brauchen. Die Forderung danach ist die letzte Konstante dieses Buches, die ich hervorheben möchte. Und es ist natürlich dessen Hauptanliegen, diese Debatte zu befördern.

|17|Teil I Politik

|19|Blockade Perfektionismus

Roman Herzog, Vorsitzender Konvent für Deutschland, im Gespräch mit Claus Kleber, Leiter ZDF-»heute-journal«

Kleber: Ich würde mir gerne einen persönlichen Einstieg erlauben. Ich habe ja in der Zeit, als Sie Bundespräsident waren und auf Defizite aufmerksam gemacht haben, dieses Land hauptsächlich aus Amerika gesehen. Und ich weiß noch, dass ich jedes Mal, wenn ich nach Europa kam, geradezu erschlagen war von dem öffentlichen und privaten Reichtum in Deutschland, von der offensichtlichen Sattheit dieses Landes, verglichen insbesondere mit den USA. Und da frage ich mich: Wie kommen wir überhaupt auf die Idee, die Frage zu stellen, ob dieser Staat überfordert sein könnte? Bloß weil manche fordern, dass ein Minimum an Sicherheit, an Wohlstand für alle, an sozialem Netz gewährleistet bleiben muss?

Herzog: Weil wir einen Perfektionismus anstreben, der alles zu blockieren droht. Ich glaube, das Entscheidende ist der Wunsch nach Perfektionismus, den es auch anderswo gibt, der aber in Deutschland am stärksten ausgeprägt ist. Der Wunsch, möglichst jedes Risiko auszuschließen oder sich dagegen abzusichern. Und dann kommt natürlich die Demokratie mit dem allgemeinen Wahlrecht dazu. Jeder ruft da sofort nach dem Staat. Im Staat gibt es immer irgendwelche Politiker, die sagen: »Jawohl, das wird erledigt!«, und damit überfordert sich der Staat selbst. Die großen Risiken |22|müssen abgesichert sein. Aber kleinere Risiken, die es halt auch gibt, unter dem Gesichtspunkt anzusehen: »Es wird schon nicht kommen, aber wenn es kommt, dann werden wir ohnehin damit fertig«, das ist in Deutschland kaum möglich.

|20|

Claus Kleber, Leiter ZDF-»heute journal«, im Gespräch mit ...

|21|

... Roman Herzog, Vorsitzender Konvent für Deutschland

Kleber: Aber da sind wir ja auch nicht anders als andere Länder, mit denen wir im Wettbewerb stehen – also Italien, Frankreich, Großbritannien, USA – , die genauso erwarten, dass Lebensrisiken abgesichert werden.

Herzog: Richtig. Aber diesen Wunsch nach Perfektionierung, den sehe ich in der Öffentlichkeit vielleicht noch bei den Franzosen, aber sonst in Europa in dieser Form nicht. Das ist nicht die Absicherung der großen Risiken beziehungsweise deren Vermeidung – die ist selbstverständlich.

Kleber: Es geht doch vor allen Dingen auch um die Frage, wie viel als Minimum garantiert wird, sozusagen von Staats wegen. Da scheint sich jetzt in der Debatte in Deutschland die Auffassung einzuschleichen, dass dieses Minimum so niedrig, so mies angesiedelt sein muss, dass auch noch der faulste Hund seinen Hintern hochhebt und zur Mehrung des Bruttosozialproduktes beiträgt, nur dann kann es funktionieren. Ist das denn auf Dauer ein Maßstab?

Herzog: Nein, das glaube ich nicht und das meine ich auch nicht. Dann muss man entweder bereit sein, den faulen Hund – wie Sie sagen – mitzutragen, oder man muss bereit sein, in den Einzelfällen – und selbst wenn es zahlreiche Einzelfälle sind – einfach Quod non zu sagen. Wir haben im Grunde zwei große Aufgaben vor uns, jedenfalls, wenn wir es von der finanziellen Seite sehen. Erstens neu zu definieren, wie viel das Existenzminimum ist. Aber Existenzminimum ist eben nicht so, dass es nur gerade am Verhungern vorbeiführt, sondern das Existenzminimum, das in unserer Gesellschaft, in unserer reichen Gesellschaft, akzeptabel |23|und präsentabel ist. Und auf der anderen Seite die damit zusammenhängende, aber nicht identische Frage, welcher Anteil vom Sozialprodukt alljährlich vom Staat umgesteuert oder verteilt werden muss.

Kleber: Auf die Frage nach der Staatsquote kommen wir nachher noch. Bleiben wir zunächst einmal beim Existenzminimum. Wir berichten immer wieder in den Medien über Menschen, die sich an uns wenden und sagen: »Ich arbeite 60 Stunden, auch einigermaßen qualifiziert, und verdiene trotzdem ein Gehalt, das es mir nicht mehr erlaubt, mich selbst oder gar eine Kleinfamilie zu ernähren. Ich muss zum Sozialamt gehen und mich unterstützen lassen.« Gut, wenn es das immerhin gibt. Aber ist das auf die Dauer für jemanden, der sich wirklich abrackert und der nach den Regeln spielt, ein zumutbares Leben?

Herzog: Nein, das ist keine Lösung. Aber so ist es ja im Grunde auch nicht. Wenn der Unternehmer einen bestimmten Lohn nicht zahlen kann, oder vielmehr wenn er nur einen ganz geringen Lohn zahlen kann …

Kleber: … oder will …

Herzog: … oder kann, dann muss eben zunächst einmal der Staat in entsprechendem Maße eingreifen. Und das ist ja auch in unserer Sozialhilfegesetzgebung und in Hartz IV und so weiter mit enthalten. Das ist die Form von Kombilohn, die ich mir eigentlich von Anfang an vorgestellt habe. Die Frage ist jetzt nur, wer soll was kriegen? Soll der Arbeitgeber einen Zuschuss bekommen oder soll der Arbeitnehmer den geringen Lohn, den der Arbeitgeber ihm zahlen kann, nehmen und dann zum Sozialamt gehen? Oder soll man lieber die skandalöse Schere zwischen Brutto- und Nettolohn verringern? Das sind Rechnungsmethoden. Sie haben ja das Problem im Augenblick bei der Frage des Mindestlohns. |24|Da geht es doch nicht darum, dass die Leute wirklich ein einigermaßen komfortables Existenzminimum bekommen, sondern es geht darum, wer es zahlen soll. Beim Mindestlohn zahlt es der Arbeitgeber, und bei dem Kombilohn, der in unserem Sozialhilfesystem angelegt ist, zahlt es der Staat. Und da stellen sich im Augenblick natürlich beide Seiten an. Ich sage voraus, da wird man sich schließlich in der Mitte oder irgendwo in der Nähe der Mitte einigen. So ist das immer. Das ist ja das Angenehme, wenn ein Problem »nur« auf Geldzahlungen hinausläuft. Da kann man beliebig schraffieren.

Kleber: »Beim ›Bimbes‹ kann man sich immer einigen«, sagte ein bekannter Kanzler.

Herzog: Ein bekannter Kanzler. Vor allen Dingen ist das dann auch eine Lösung. Wenn es aber ums Prinzip geht, sind halbe Prinzipien misslicher als ganze.

Kleber: Was ist eigentlich dagegen zu sagen, dass wir uns als Gesellschaft auf Folgendes verständigen: Wer Vollzeit arbeitet, muss in diesem Land einen Lohn verdienen, von dem er leben kann. Und das geben wir dem Arbeitsmarkt – als gemeinsamer Wert erkannt – einfach vor.

Herzog: Ich glaube nicht, dass das realistisch ist. Natürlich kann man sich so was prinzipiell ausdenken.

Kleber: Die Amerikaner machen das.

Herzog: Ja, aber die haben auch keinen Artikel 9, Absatz 3 [Paritätische Mitbestimmung – Anmerkung des Verlags] und keine Garantie des Tarifrechts und der Tarifautonomie im Grundgesetz. Das würde ja bedeuten, dass man alle Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften überhaupt beseitigen müsste.

|25|Kleber: Nein, nein! Was ich meine, ist ein gesetzlicher Mindestlohn.

Herzog: Ja gut, aber ich würde eben nicht sagen, dass ein Mindestlohn garantiert werden muss, sondern ein Mindesteinkommen, das wegen der Steuer- und Beitragslasten viel geringer sein kann. Der Mann auf der Straße, der kleine Arbeitnehmer, der will doch einfach Geld auf seinem Konto sehen – oder in seiner Lohntüte, hätte man noch vor 20 Jahren gesagt.

Kleber: Aber er möchte seinen Lohn lieber durch seine Arbeit, also vom Arbeitgeber bekommen als vom Sozialamt.

Herzog: Aber da sind wir jetzt am prinzipiellen Punkt. Wenn die Situation so ist, dass die Arbeit, die da geleistet wird, auf dem Markt nicht mehr das wert ist, was einen menschenwürdigen Lohn bringt, dann kann man das nicht so machen. Das ist ja unser Problem. Schon eine meiner ersten Reden als Bundespräsident ist in Richtung Kombilohn gegangen. Und zwar aus einem ganz anderen Grund als dem, was in der Öffentlichkeit immer diskutiert wird. In meiner aktiven Zeit als Verfassungsrichter gingen nicht nur 6000 Verfassungsbeschwerden jährlich ein, sondern noch 10000 bis 12000 Briefe von Bürgern, die Hilfe suchten oder die einfach mal ihre Probleme loswerden wollten. Damals habe ich gelernt, dass es doch ziemlich viele Menschen gibt, die von ihrer Ausbildung her, oder auch von ihrer körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit her mit dem Tempo unserer technisierten Gesellschaft nicht mehr zurechtkommen. Das sind Leute, die in der Gefahr schweben, aus der Gesellschaft herauszufallen. Vor 200 Jahren – verstehen Sie mich jetzt nicht falsch – wären die als Gänseliesel oder als Hütejunge oder als Sennen und so weiter zwar auf der untersten Stufe der Dorfgesellschaft, aber immerhin akzeptiert gewesen. Heute fallen sie völlig raus. Das ist ein enormes gesellschaftliches und psychologisches Problem. Und diese Leute dürfen nicht unter die Räder kommen. Denen muss man auch die |26|Möglichkeit geben zu arbeiten. Aber man kann ihnen nicht das geben, was ihre Arbeit wert ist, weil die im Allgemeinen heute maschinell viel leichter erledigt werden kann. In genau dieser Ecke befinden wir uns. Darum bin ich da auch so hartnäckig.

Kleber: Das ist ja ein Fall, in dem Sie sagen: Da muss der Staat korrigieren, was der Markt nicht leisten kann.

Herzog: Ja, natürlich. Warum überrascht Sie das so? Das ist ja der Witz an der sozialen Marktwirtschaft. Die reine Marktwirtschaft überlässt die Wirtschaft und die wirtschaftlichen Verhältnisse ausschließlich ihren inneren Gesetzen. Soziale Marktwirtschaft heißt unter anderem, dass die Ergebnisse beobachtet und gegebenenfalls korrigiert werden müssen.

Kleber: Damit sind wir bei der Rolle des Staates. Es ist ja sehr modisch geworden, alles, was der Staat oder die Bürokratie so macht, als lästig, als unzureichend, als zu behäbig zu bezeichnen. Wenn man sagt, das ist »typisch Staat« oder »typisch Bürokratie«, dann meint man nie etwas Großartiges; dann meint man eigentlich immer etwas Schlechtes. Gleichzeitig gibt es aber auch Beispiele, wo staatliche Leistungen ganz hervorragend funktionieren: die deutsche Infrastruktur, die Schweizer Bahn, das skandinavische Schulsystem. Man kann wahrscheinlich beliebig vieles finden. Sind wir nicht zu schnell dabei, zu sagen: Wir bauen Staat ab und überlassen möglichst viel von der Krankenversicherung, Pflegeversicherung und alles Mögliche mit ein paar staatlichen Leitplanken dem freien Markt?

Herzog: Dass es da Blütenträume gibt, die nie in Erfüllung gehen werden, ist ganz selbstverständlich. Wenn Sie zum Beispiel von heute auf morgen mit einem Schlag das Bildungswesen privatisieren wollten, dann hätten Sie immer noch die gleichen Lehrer. Und wenn die Analyse stimmt, dass die Probleme unseres Bildungswesens zum Teil – wirklich nur zum Teil – auch an den Lehrern |27|liegen, dann haben Sie die Probleme in einem privaten Bildungssystem genauso. Und so ist es in vielen anderen Fällen. Was mir fehlt, und das mahne ich schon seit über 30 Jahren an, ist eine ernsthafte Diskussion über zwei Fragen: Erstens, was kann man der Gesellschaft überlassen und was muss der Staat machen? Und zweitens, wenn der Staat etwas machen muss, wie weit muss er es machen? Das ist sogar die entscheidendere Frage.

Kleber: Da kommt doch der Glaubenssatz von der Subsidiarität?

Herzog: Nein, tut mir leid. Meine Meinung ist, dass man mit dem Wort Subsidiarität überhaupt nichts anfangen kann, weil es nicht klar genug ist. Sondern da muss man einfach Aufgabe für Aufgabe hernehmen und überlegen, wie man sie wahrnimmt. Meine praktische Vorstellung ist, dass man das nur über eine wirkliche Durchsicht der Staatshaushalte erledigen könnte. Das würde jahrelang dauern, aber anders geht es nicht: Punkt für Punkt fragen, was wird mit dem Geld in diesem Titel gemacht, und ist das nötig? Das könnte unsere Staatsfinanzen erheblich entlasten. Man bekäme Spielräume, die man wieder vernünftig nutzen könnte. Und man hätte vor allen Dingen den Blödsinn weg, dass jedes Mal, wenn es um staatliches Sparen geht, alle sofort schreien: Sozialleistungen müssen eingeschränkt werden. Ich will Ihnen ein paar Beispiele nennen. Ich bin der Meinung, dass unsere Infrastruktur hervorragend ist. Da bin ich ganz Ihrer Auffassung. Ich bin aber nicht der Überzeugung, dass das alles vom Staat erledigt werden muss. Und ich will Ihnen gleich ein zweites Beispiel geben, um das Prinzip klarzumachen, das ich daraus ableite. Es gibt unendlich viele soziale Probleme, die bei uns dadurch gelöst werden, dass man generell staatliche Leistungen nicht nur für die Bedürftigen, sondern auch für alle anderen beschließt. Das bringt Vorteile bei der nächsten Bundestagswahl und bei der nächsten Landtagswahl, und man kennt den Fachausdruck dafür: Wahlgeschenke. Die Begründung dafür ist im hohen Grade scheinheilig. Es wird nämlich behauptet, |28|die Leistungsschwachen, die man wirklich unterstützen muss, würden diskreditiert dadurch, dass sie zu einer Behörde gehen müssen. Denken Sie nur – ich komme jetzt zur Infrastruktur zurück – an die augenblickliche Diskussion über die Privatisierung der Bahn. Ich habe zu dieser Frage keine Meinung, weil ich nicht genug davon verstehe. Das Argument der Länderseite lautet: Da gehen dann schwach ausgelastete Strecken kaputt. Das ist sehr wahrscheinlich. Die Frage ist: Wie vermeidet man, dass schwach ausgelastete oder entlegene Strecken kaputtgehen? Da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man erhält die riesige Organisation der Deutschen Bundesbahn aufrecht, oder man überlässt die großen gewinnbringenden Dinge einem privaten Unternehmen wie der Deutschen Bahn und greift im Übrigen vom Staat her da ein, wo es sich nicht rentiert. Ich weiß nicht, was richtig ist, aber das lässt sich rechnen. Ob die Bundesbahn insgesamt teurer ist beziehungsweise die Zuschüsse zur Bundesbahn oder das Auffangen solcher Einzelprobleme, das weiß ich nicht. Aber die Frage könnte man ja mal stellen. Genauso ist es mit vielen anderen Dingen. Ich bin dafür, dass jeder Schüler seine Schulbücher bekommt. Aber ich bin nicht dafür, dass jemand nur deshalb geschont wird, damit der, der sie vom Staat braucht, nicht einmal im Jahr eine Bescheinigung vom Finanzamt vorlegen muss. Das hat es immer gegeben. Ich komme aus einer Zeit, wo es noch Schulgelder gegeben hat. Da war die Lösung eben die: Entweder ist das Schulgeld erlassen worden wegen sozial schwacher Situation, oder es ist erlassen worden wegen guter Leistungen, oder es ist eben bezahlt worden.

Kleber: Wir sind auf diese Einzelfälle gekommen von Ihrer grundsätzlichen Überlegung her, wir müssten staatliche Leistung einzeln angucken und fragen, was wichtig ist. Das heißt, wenn man dann dieses Gleichgewicht zwischen gesellschaftlichen und staatlichen oder privaten und staatlichen Aufgaben überprüfen würde, würde sich die Balance nach Ihrem Plan sicher in Richtung individueller Verantwortung verschieben.

|29|Herzog: Wahrscheinlich ja.

Kleber: Massiv?

Herzog: Das ist eine Einzelfrage, die ich wirklich nicht überblicke. Ich stoße mich nur daran, dass solche Versuche und auch das Untersuchen der Einzelprobleme überhaupt nicht begonnen werden.

Kleber: Weil sie politisch zu schwierig sind.

Herzog: Ja, weil sie politisch zu schwierig sind. Aber es ist doch noch viel schwieriger, dann einen Staatshaushalt mit einer Staatsquote von 50 Prozent oder noch mehr zu haben und dort, wo Not herrscht, überhaupt nicht mehr eingreifen zu können. Das ist doch politisch auf die Dauer viel schwieriger.

Kleber: Das ist ja gewachsen. Das ist das, was wir im Ergebnis den deutschen Wohlfahrtsstaat nennen.

Herzog: Ja.

Kleber: War das ein Irrweg?

Herzog: Das glaube ich nicht, dass man hier von Irrweg sprechen kann. Es war schon falsch …

Kleber: … aber kein Irrweg?

Herzog: Ein Irrweg, der ist ja angelegt. So ein Irrgarten ist ja angelegt, darum gefällt mir das Bild nicht.

Kleber: Würde Holzweg besser passen?

Herzog: Jawohl! Genau, genau! Wunderbar! Ich habe genau das Wort gesucht, aber nicht gefunden. Es ist ja so: Seit etwa 200 Jahren werden |30|Staatsaufgaben, die eigentlich immer in kleinen Dosen wahrgenommen wurden, plötzlich ganz gründlich wahrgenommen.

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|58|Eine Reform für mehr Freiheit

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