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Privatdetektivin Leonie Speer kann ihr Glück kaum fassen: Ihr neuer Klient spendiert ihr eine Kreuzfahrt nach Mallorca, auf der sie seine allein reisende Frau beschatten soll, die er der Untreue verdächtigt. Was wie ein leichter Job aussieht, entpuppt sich schnell als harte Arbeit, denn an Bord stimmt so einiges nicht. Wertsachen verschwinden, das Essen des Sternekochs, der täglich eine Kochshow moderiert, wird vergiftet, und die zu observierende Ehefrau hat mehr als eine Leiche im Keller. Obendrein ist Leonies attraktiver Kabinennachbar, der Russe Juri, ein ziemlich undurchsichtiger Typ. Und als Leonie mit ihrem detektivischen Spürsinn dem Täter auf die Schliche kommt, wird die Sache lebensgefährlich.
Mit Rezepten original mallorquinischer Gerichte zum Nachkochen.
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Mara Laue
Nach Mallorca
in den Tod
Ein (Genuss)-Krimi
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Cover: © by Steve Mayer, nach Motiven, 2023
Korrektorat: Bärenklau Exklusiv
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Alle Rechte vorbehalten
Anmerkung der Autorin:
Alle Personen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen wären reiner Zufall. Aus rechtlichen Gründen sind auch die Reederei »Wavangeer & Wavangeer« und das Schiff »Wave Song« ebenfalls fiktiv. Auch die Diskothek »El Perro de Oro« sowie die sie betreffenden Handlungen sind Fiktion.
Authentisch sind dagegen die angegebenen Orte und Restaurants auf Mallorca sowie die vorgestellten mallorquinischen Gerichte und sonstige kulinarische Köstlichkeiten. Sollten diese Ihren Appetit anregen, dann finden Sie die Rezepte zum Nachkochen am Ende des Buches.
Dort finden Sie auch ein Glossar der im Roman verwendeten spanischen, katalanischen, englischen und russischen Begriffe.
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Nach Mallorca in den Tod
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Epilog
Glossar der russischen und spanischen Ausdrücke
Die Rezepte
Danksagung
Privatdetektivin Leonie Speer kann ihr Glück kaum fassen: Ihr neuer Klient spendiert ihr eine Kreuzfahrt nach Mallorca, auf der sie seine allein reisende Frau beschatten soll, die er der Untreue verdächtigt. Was wie ein leichter Job aussieht, entpuppt sich schnell als harte Arbeit, denn an Bord stimmt so einiges nicht. Wertsachen verschwinden, das Essen des Sternekochs, der täglich eine Kochshow moderiert, wird vergiftet, und die zu observierende Ehefrau hat mehr als eine Leiche im Keller. Obendrein ist Leonies attraktiver Kabinennachbar, der Russe Juri, ein ziemlich undurchsichtiger Typ. Und als Leonie mit ihrem detektivischen Spürsinn dem Täter auf die Schliche kommt, wird die Sache lebensgefährlich.
Mit Rezepten original mallorquinischer Gerichte zum Nachkochen.
***
Ein (Genuss)-Krimi
von Mara Laue
Braunschweig, Montag, 12. August
Leonie tippte das letzte Wort ihres Berichts und lehnte sich mit einem erleichterten Seufzen zurück. Sie streckte die Arme in die Luft, reckte sich und warf einen Blick durch das Panoramafenster auf den Hagenmarkt und den Heinrichsbrunnen. Regen fiel in dichten Strömen und verschleierte die Sicht. Nicht nur deshalb war sie froh, ihren Papierkram abarbeiten zu können, statt nach draußen zu müssen. Auch wenn ihr Aufenthalt »draußen« sich auf den Weg vom Büro ihrer Detektei zum Parkplatz beschränkt hätte, reichte das bei diesem Wetter aus, um trotz Regenjacke ordentlich nass zu werden. Einen Schirm zu benutzen, kam für sie aus Prinzip nicht infrage. Regenschirme waren in ihren Augen etwas für alte Damen und britische Gentlemen, die mit so einem Ding samt Charme und Melone affektiert durch die Gegend stolzierten.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass der neue Klient in zehn Minuten kommen würde, wenn er pünktlich war. Zeit genug, ihren Bericht noch einmal auf Tippfehler durchzulesen. Einen Fall abzuschließen, erfüllte sie immer mit Befriedigung, und zwar unabhängig davon, ob er für ihre Klientinnen oder Klienten positiv oder negativ ausfiel; das war ihr genau genommen egal. Jeder abgeschlossene Auftrag brachte Geld.
Sie holte sich einen Kaffee. Die Eingangstür wurde schwungvoll aufgestoßen und ließ das über ihr befestigte Glockenspiel heftig klingeln. Ronnie kam hastig herein und schüttelte sich wie ein Hund.
»Sauwetter, das.« Er schälte sich aus seinem Regenponcho und hängte ihn an den Kleiderständer neben der Tür. Der Poncho triefte in kleinen Rinnsalen in die am Fuß des Ständers integrierte Auffangschale.
Leonie lächelte. »Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Kaffee?«
Er breitete theatralisch die Arme aus, ehe er die Hände wie zum Gebet faltete. »Meine Retterin!«
Leonie lachte und deutete auf die Kaffeemaschine. »Du weißt, wo er steht.«
Ronnie schnitt eine Grimasse. »Das war gemein. Du könntest ruhig mal etwas netter zu deinem einzigen Bruder sein. Besonders da ich mit guten Nachrichten komme.«
Er ging zur Kaffeemaschine, schenkte sich einen Becher ein und lehnte sich gegen Leonies Schreibtisch. Er machte eine Show daraus, sich die Hände am Becher zu wärmen und in den Becher zu pusten, um den Kaffee abzukühlen. Leonie ignorierte ihn. Sie kannte das Spielchen, mit dem er sie dazu verleiten wollte, ihn zu bitten, sie nicht auf die Folter zu spannen, sondern mit seinen Neuigkeiten herauszurücken. Sie konzentrierte sich auf ihren Bericht.
»Bist du gar nicht neugierig?« Das klang vorwurfsvoll. Und enttäuscht.
Leonie verkniff sich ein Grinsen. »Warum sollte ich das sein? Du platzt sowieso gleich damit heraus, was du erfahren hast. Und falls nicht, lese ich es nachher in deinem Bericht.«
Ronnie seufzte. »Du gönnst mir heute aber auch gar keinen Spaß. Okay. Die gute Nachricht ist, dass …«
Das Klingeln des Glockenspiels an der Tür unterbrach, was er hatte sagen wollen. Das Erste, was Leonie an dem Mann auffiel, der seinen Schirm zuklappte und ihn in den Garderobenständer steckte, war, dass er blass wie eine Leiche wirkte. Sein dunkles Haar klebte ihm nass am Kopf, woraus Leonie schloss, dass er beim Aussteigen aus dem Wagen seinen Schirm nicht schnell genug zur Hand gehabt und deshalb eine gute Dusche abbekommen hatte. Ansonsten wirkte er hager, übernächtigt, und sein grauer Anzug schlotterte um seinen Körper, als hätte sein Träger ihn von einem erheblich korpulenteren Mann ausgeliehen.
Ronnie beugte sich zu ihr herüber und raunte: »Vorsicht, der ist garantiert ein Vampir.«
Leonie unterdrückte ein Lachen. Genau den Eindruck hatte sie auch. Dabei war der Mann lediglich unvorteilhaft gekleidet, und sowohl seine Blässe wie auch seine Figur deuteten darauf hin, dass er den überwiegenden Teil seines Lebens sportfrei im Haus verbrachte.
Der Mann blickte Ronnie an. »Herr Speer? Ich bin Erik Michaelis. Ich hatte mit Ihrer Sekretärin einen Termin vereinbart.« Er nickte Leonie zu.
Ronnie grinste. »Ich heiße zwar auch Speer, aber den Termin haben Sie mit meiner Schwester.« Er deutete auf Leonie. »Sie ist der Boss. Ich bin nur ihr kleiner Angestellter zum Herumscheuchen.«
»Mit einer großen und vor allem vorlauten Klappe«, ergänzte sie und reichte Erik Michaelis die Hand. »Bitte nehmen Sie Platz, Herr Michaelis.« Sein Händedruck war kräftiger, als sie erwartet hatte.
»Ich bitte um Entschuldigung, Frau Speer. Ich dachte …« Er lächelte verlegen.
»Kein Problem«, versicherte sie. »Das denken die meisten Klienten, die meine Dienste zum ersten Mal in Anspruch nehmen.«
Obwohl Leonie die Inhaberin der Detektei war und ihr voller Name am Fenster stand, war in der Vorstellung der meisten Menschen ein Privatdetektiv immer noch ein Mann. Eine Frau in der Branche hielten sie allenfalls für die Sekretärin eines männlichen Detektivs oder in Leonies Fall zwar für die Inhaberin, die aber nicht selbst als Detektivin arbeitete. Trotz aller Gleichberechtigung und Emanzipation brachen solche verkrusteten Klischees nur langsam auf. Nicht ganz zu Unrecht, denn die überwiegende Mehrheit der Detektive bestand tatsächlich aus Männern. Und es gab nicht wenige Menschen, Männer wie Frauen, die sich gar nicht erst meldeten, wenn sie von vorn herein erkannten, dass »der Detektiv« eine Frau war. Aus diesem Grund stand im Telefonbuch und auf der Homepage im Internet nur »Detektei Speer«.
Ronnie trollte sich mit seinem Kaffee hinter seinen Schreibtisch und schaltete den PC ein.
»Mögen Sie einen Kaffee oder Tee, Herr Michaelis? Ich habe auch Mineralwasser und verschiedene Limonaden und Obstsäfte.«
»Ein Kaffee wäre nett, danke.«
Leonie schenkte eine Tasse ein und stellte sie zusammen mit Milch, Zucker und einer Schale Gebäck vor Erik Michaelis hin. Sie nahm wieder in ihrem Sessel Platz und zog einen Schreibblock und Kugelschreiber heran, ehe sie Michaelis auffordernd anblickte, der mit sichtbar zitternder Hand Milch in den Kaffee goss.
»Was kann ich für Sie tun?«, gab Leonie ihm ein Stichwort, weil er offenbar nicht gewillt schien, von selbst mit der Sprache herauszurücken.
Er hüstelte. »Es ist mir einerseits peinlich, Ihre Dienste dafür in Anspruch zu nehmen, aber ich halte es nicht mehr aus. Ich brauche Gewissheit. Ich habe seit einiger Zeit den Verdacht, dass meine Frau mich mit meinem Chef betrügt.«
Ein Routinefall. Im Gegensatz zu den spektakulären Fällen, die die Privatermittelnden im Fernsehen zu lösen hatten, bestand die Arbeit von Leonies Detektei größtenteils aus dem Nachweis von Schwarzarbeit, Aufdeckung von Wirtschaftsspionage, Ermitteln von potenziellen Erben in Nachlassangelegenheiten, dem Überprüfen, ob angeblich kranke Arbeitnehmer wirklich krank waren oder nur krank feierten, dem Beschatten potenziell untreuer Ehegatten sowie Objektschutz.
Leonie hatte ebenso wie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Sicherheitsakademie Berlin eine Ausbildung zur »Fachkraft Detektiv« mit IHK-Abschluss absolviert und eine weitere als »Geprüfte Personenschutz- und Schutz- und Sicherheitsfachkraft«. Sie konnte aufgrund dieser umfassenden Qualifikation in allen Bereichen tätig werden und Ermittlungen ebenso durchführen wie auch Stalking-Opfer und Objekte wie zum Beispiel Kunstausstellungen schützen oder dafür sorgen, dass das Gelände einer Firma optimal gegen Einbrüche gesichert wurde.
In den acht Jahren, in denen ihre Detektei bestand, hatte sie sich einen sehr guten Ruf erarbeitet und sich von einem Drei-Personen-Unternehmen, das nur aus ihr, Ronnie und Katja, der Angestellten der ersten Stunde, bestand, zu einem Dienstleistungsbetrieb mit neun Angestellten und Honorarkräften gemausert. Allerdings war der spektakulärste Fall, mit dem sie es bisher zu tun gehabt hatte, ein untreuer Ehemann gewesen, der seine Frau mit deren junger Stiefmutter betrogen hatte. Dass er deshalb von seinem Schwiegervater ermordet worden war, hatte sie erst später aus der Zeitung erfahren, da ihr Auftrag zu dem Zeitpunkt bereits abgeschlossen gewesen war.
Leonie schrieb als Stichworte »untreue Ehefrau« auf. »Worauf gründet sich Ihr Verdacht?«
»Ich hoffe, ich irre mich.« Das klang verzweifelt. »Ich bin Grafikdesigner und arbeite für die Werbeagentur Carlossa.« Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Wahrscheinlich zu viel, denn meine Frau …« Er schüttelte den Kopf.
Leonie ahnte seine Geschichte, denn Michaelis’ Andeutungen ließen auf das Übliche schließen. Der Ehemann arbeitete viel, um seiner Frau etwas bieten zu können, sie fühlte sich vernachlässigt und bändelte mit einem anderen Mann an, der mehr Zeit für sie hatte oder ihr finanziell noch mehr bieten konnte, möglicherweise beides. Und wenn der Nebenbuhler tatsächlich Michaelis’ Chef war, standen dem eine Menge Möglichkeiten zur Verfügung, sich mit dessen Frau zu vergnügen, indem er Michaelis mit Arbeit zuschüttete.
»Am besten erzählen Sie mir die Sache von Anfang an«, bat Leonie. »Wie lange sind Sie mit Ihrer Frau verheiratet?«
»Sechs Jahre. Und ich liebe sie wirklich sehr.« Das klang aufrichtig.
»Und für Carlossa arbeiten Sie seit wann?«
»Seit ebenfalls sechs Jahren. Selma – das ist meine Frau – hat mich mit Carlos bekannt gemacht.«
»Ihre Frau und Ihr Chef kannten sich also schon vorher?«
Michaelis nickte. »Beide haben mir aber glaubhaft versichert, dass sie nie ein Paar waren. Und ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln. Aber in letzter Zeit …« Er seufzte tief und trank von seinem Kaffee, hastig, als könnte er mit dem Getränk die ganze Sache wegspülen.
Leonie notierte sich ein paar weitere Stichworte. »Wie lange hegen Sie schon den Verdacht, dass sich das geändert haben könnte?«
Er seufzte erneut. Die mögliche Untreue seiner Frau lastete offensichtlich schwer auf ihm. »Meine Frau und ich lieben Kreuzfahrten. Und da wir beide gut verdienen – sie ist Modedesignerin – können wir uns zweimal im Jahr eine leisten.«
Beneidenswert. Leonie war noch nie auf einer Kreuzfahrt gewesen. Nicht nur, weil sie das für ein Urlaubsvergnügen von reichen Rentnern und Leuten hielt, die nicht wussten, wohin mit ihrem Geld, sondern auch, weil ihr der Beruf kaum Zeit für zwei Wochen Urlaub im Jahr ließ, geschweige denn für längere Abwesenheit. Das war der Preis der Selbstständigkeit.
»Vor drei Jahren«, fuhr Michaelis fort, »passierte es zum ersten Mal. Wir hatten unsere Kreuzfahrt gebucht und bezahlt und freuten uns darauf, als Carlos drei Tage vorher zwei wichtige Aufträge an Land zog. Angeblich. Einen im Ausland und einen hier. Den im Ausland, vielmehr die Verhandlungen dafür, musste er selbst übernehmen, da der Auftraggeber in Salamanca saß; in Spanien. Carlos hat eine spanische Mutter. Den anderen Auftrag hat er mir gegeben. Das war eine ganz dringende Sache, von der er meinte, dass nur ich den in der vom Kunden geforderten Zeit hinbekäme. So war es ja auch.«
Er wiegte den Kopf, fuhr sich erneut durch die nassen Haare und leerte seine Tasse Kaffee auf einen Zug. Leonie schenkte ihm nach. Michaelis bedankte sich mit einem Nicken und einem gezwungen wirkenden Lächeln.
»Da die Tickets schon bezahlt waren«, fuhr er fort, nachdem er Milch in den Kaffee gegossen hatte, »ist Selma allein gefahren. Die Mittelmeertour. Mallorca, Menorca, Ibiza, spanische Küste und so weiter. Da hatte ich noch keinen Grund, misstrauisch zu werden. Auch deshalb nicht, weil Carlos noch vor Beginn der Kreuzfahrt abgereist ist und erst vier Wochen nach ihrem Ende von seinem Auslandseinsatz zurückkehrte. Ich habe mir auch nichts dabei gedacht, als sich das Spielchen im nächsten Jahr wiederholte. Wir wollten die Mittelmeertour diesmal gemeinsam machen. Aber wieder kam Carlos nur wenige Tage vorher mit einem Doppelauftrag, der unaufschiebbar war. Und wieder war seiner in Spanien.«
Michaelis wiegte den Kopf. »Er ist zwar gleich am nächsten Tag abgereist, also, noch bevor die Kreuzfahrt begonnen hat, und im Anschluss daran wieder erst Wochen später zurückgekommen, aber das will nichts heißen. Das Schiff legt in verschiedenen nicht nur spanischen Häfen an. Es wäre ihm ein Leichtes, in einem dieser Häfen an Bord zu gehen und mit Selma …« Er blickte Leonie unglücklich an.
»Und jetzt ist wieder derselbe Fall eingetreten«, vermutete sie.
Er nickte. »Zum fünften Mal. Jedes Mal, wenn wir unsere Mittelmeerreise gebucht haben, kommt er mit zwei oder sogar drei Aufträgen dazwischen, von denen er einen irgendwo in Spanien übernehmen muss und ich den anderen sofort und möglichst vorgestern erledigen soll. Und immer so kurz vor der Abreise, dass eine Stornierung nicht mehr möglich ist, ohne den Verlust des Kaufpreises für das Ticket.« Wieder sah er Leonie eindringlich an. »Das kann doch kein Zufall sein.«
»Der wäre zumindest außergewöhnlich. Haben Sie irgendwann einmal nachgeprüft, ob die angeblichen Aufträge Ihres Chefs überhaupt existieren?«
Michaelis nickte. »Nach dem dritten Mal ist mein Misstrauen erwacht, und ich habe ihm nachspioniert. Die Aufträge sind echt, die Kunden sind es auch. Das gilt auch für die, die er mir zugeschustert hat. Aber das will nichts heißen. Die letzten beiden Male habe ich ihm schon gar nicht mehr gesagt, dass Selma und ich wieder ins Mittelmeer wollen. Aber wenn sie mit ihm unter einer Decke steckt, dann hat sie ihm das gesagt.« Er wiegte den Kopf. »Klar, er hat mir jedes Mal den Verlust erstattet und einen dicken Bonus gezahlt, aber ich halte die Ungewissheit nicht mehr aus.«
»Das kann ich sehr gut verstehen«, versicherte Leonie. »Haben Sie mit Ihrer Frau über Ihren Verdacht gesprochen?«
Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich mich irre, wäre sie ewig sauer auf mich, dass ich ihr so misstraut habe; zu Recht. Und ganz ehrlich: Ich habe Angst vor der Antwort. Aber die Ungewissheit ist schlimmer. Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Deshalb möchte ich Sie beauftragen, an meiner Stelle die Kreuzfahrt mitzumachen und meine Frau zu beobachten, ob sie sich tatsächlich mit Carlos trifft. Ich hoffe, Sie können den Auftrag übernehmen?«
»Das kommt darauf an, wie lange die Kreuzfahrt dauert und wann sie startet.«
»Am Sonnabend um sieben Uhr abends von Kiel aus, und sie dauert vierzehn Tage.«
Das war in fünf Tagen.
Leonie nickte. »Kein Problem.« Sie hatte gegenwärtig keinen Fall, den sie persönlich bearbeiten musste. Die laufenden Ermittlungen in dem Erbschaftsfall, mit dem ein Rechtsanwalt sie beauftragt hatte, eilten nicht; er erwartete ein Ergebnis sowieso nicht vor Ende September. Und die Nachforschungen, ob ein Firmenmitarbeiter wirklich krank war oder heimlich schwarzarbeitete, mit denen die Detektei gestern beauftragt worden war, konnte sie in den nächsten zwei Tagen noch erledigen.
»Haben Sie einen gültigen Pass?«, fragte Michaelis. »Den brauchen Sie nämlich.«
»Ja, den habe ich.«
Michaelis atmete auf. »Wir haben eine längere Fahrt gebucht, die nicht im Mittelmeer startet, sondern noch ein paar Städtetouren entlang den Küsten abdeckt: Kopenhagen, London, Lissabon, Malaga, fünf Tage Mallorca und auf dem Rückweg Cadiz, Porto, Cherbourg und Amsterdam.«
Das klang für Leonie wie der Jackpot im Lotto. Da sie ihre gesamte Zeit an Bord nicht damit würde verbringen müssen, Selma Michaelis zu beobachten, würde sie die meiste Zeit Urlaub machen und die Kreuzfahrt genießen können.
»Ich hoffe, an Bord ist noch eine Kabine frei. Die Abreise ist immerhin recht kurzfristig.«
Michaelis nickte. »Das ist kein Problem.« Seine Stimme klang traurig. »Ich hatte für alle Fälle eine zusätzliche Kabine gebucht, ohne dass meine Frau es mitbekommen hat. Ich hatte gehofft, ich würde sie nicht brauchen.«
Er trank seinen Kaffee in dem vergeblichen Versuch zu verbergen, wie nahe ihm die Sache ging. Leonie sah trotzdem die Tränen in seinen Augen schimmern.
»Die Kabine liegt direkt neben der meiner Frau«, fuhr er fort. »Sie müssten nur heute noch online die Formalitäten erledigen, Ihre Personalien übermitteln und so weiter.« Er holte einen dicken Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts und reichte ihn Leonie. »Hier ist alles, was Sie dafür brauchen. Aber es muss noch heute sein, denn heute ist der letztmögliche Tag für die Änderung.«
Leonie nahm den Umschlag entgegen. »Wann hat Ihnen Ihr Chef den Auftrag erteilt?«, wollte sie wissen.
Michaelis seufzte. »Heute Morgen. Eigentlich habe ich jetzt Mittagspause. Ich habe ihm schon Bescheid gesagt, dass ich heute etwas länger brauche, weil ich angeblich noch einen Termin bei meiner Bank habe. Aber er würde meine Abwesenheit sowieso nicht mitbekommen, weil er gleich nach der Ankündigung nach Hause gefahren ist, um seine Sachen zu packen und wahrscheinlich schon auf dem Weg nach Frankfurt zum Flughafen ist.« Er seufzte erneut. »Ich hatte so sehr gehofft, dass …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, habe Selma verwöhnt, war immer aufmerksam, wenn ich da war, und habe sogar ordentlich abgespeckt.«
Das erklärte, warum sein Anzug zwei Nummern zu groß wirkte.
Er blickte traurig auf Leonies Notizblock. »Es hat offenbar nichts genützt.«
»Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, Herr Michaelis«, versuchte sie ihn aufzumuntern. »Warten Sie erst einmal das Ergebnis meiner Ermittlungen ab.«
Er nickte, glaubte aber seinem Gesichtsausdruck nach nicht an einen guten Ausgang der Sache. »Ich erstatte Ihnen natürlich alle Spesen: notwendige Landausflüge, erforderliche Barbesuche an Bord und an Land und so weiter. Dinge, die Sie zum persönlichen Vergnügen kaufen, bezahle ich Ihnen natürlich nicht.«
»Das habe ich auch nicht erwartet. Sie werden an meiner Spesenabrechnung nichts auszusetzen haben, Herr Michaelis. Das verspreche ich Ihnen.«
Leonie hatte sowieso die Angewohnheit, alle Ausgaben für Dinge, die sie zwar im Rahmen eines Auftrags erworben hatte, aber später noch einmal benutzen konnte oder wollte, den Klienten nicht in Rechnung zu stellen. Sie holte ein Vertragsformular aus einer Schublade ihres Schreibtischs und reichte es Michaelis zusammen mit einem Kugelschreiber.
»Wenn Sie das bitte ausfüllen wollen.«
Während er sich alles durchlas und ausfüllte, sah Leonie sich die Unterlagen an, die er ihr gegeben hatte. Das Schiff, das die Fahrt unternahm, hieß WAVE SONG und gehörte der amerikanischen Reederei Wavangeer & Wavangeer. Die für Leonie reservierte Kabine lief noch auf Michaelis’ Namen, aber auf dem Buchungsdokument war ein Internetportal angegeben, auf dem sie das ändern konnte. In dem Umschlag steckten auch zwei Fotos. Das eine zeigte eine attraktive blonde Frau, das andere einen dunkelhaarigen Mann. Selma Michaelis und Carlos Wienand, wie die Aufschrift auf der Rückseite besagte. Die Handy- und sonstigen Telefonnummern und E-Mail-Adressen der beiden lagen zusammen mit Erik Michaelis’ Nummern auf einem gesonderten Zettel bei. Der Mann war wirklich gründlich.
Leonies Strategie stand schon fest. Da Selma Michaelis keine Ahnung hatte, dass ihre Kabinennachbarin eine von ihrem Mann beauftragte Detektivin war, würde sie sich mit der Frau anfreunden. Das gab ihr genug Gelegenheit, sie unauffällig zu beobachten und ihr diskret auf den Zahn zu fühlen. Dabei würde sie schnell feststellen, ob die Dame sich mit dem Chef ihres Mannes traf oder nicht.
Michaelis unterschrieb den Vertrag und verlor kein Wort über die darin geforderte Tagesgage von zweihundert Euro plus Spesen. »Wie geht das jetzt weiter?«, wollte er wissen. »Wann erhalte ich den ersten Bericht von Ihnen?«
»Wünschen Sie regelmäßige Zwischenberichte per Handy oder E-Mail oder einen Bericht nur dann, wenn ich etwas herausgefunden habe, oder nur einen schriftlichen Gesamtbericht mit etwaigem Fotomaterial nach meiner Rückkehr?«
Michaelis überdachte das. Leonie konnte seine widerstreitenden Gefühle an seinem Gesichtsausdruck ablesen, der zwischen Hoffnung, Angst und unendlicher Traurigkeit wechselte. Der Mann liebte seine Frau aufrichtig, andernfalls er mehr wütend als traurig gewesen wäre. Von Wut war bei ihm jedoch nichts zu spüren. Leonie hoffte in seinem Interesse, dass sein Verdacht sich als unbegründet erwies.
»Was würden Sie mir raten, Frau Speer?«
»Dass ich Sie nur kontaktiere, wenn ich Beweise habe, die Ihren Verdacht entweder zweifelsfrei widerlegen oder bestätigen. Im Falle der Unschuld Ihrer Frau melde ich mich dann eventuell erst nach dem Ende der Kreuzfahrt. Also je länger Sie nichts von mir hören, desto wahrscheinlicher ist es, dass Sie sich irren.«
Er nickte. »Das ist mir recht. Gibt es noch etwas, das wir jetzt besprechen müssen?«
»Nein.« Leonie kopierte den Vertrag und reicht ihm die Kopie. »Überlassen Sie alles Weitere mir.«
»Ja.« Er stand unsicher auf und steckte den Vertrag in die Innentasche seines Jacketts. »Dann werde ich Ihren Vorschuss heute noch überweisen. Und wenn Sie rausfinden, dass Selma unschuldig ist, dann ist das Geld gut investiert. Sehr, sehr gut.« Er blickte Leonie unsicher an. »Sie sind auch eine Frau. Würden Sie Ihren Mann betrügen?«
Was für eine Fangfrage! Egal, was Leonie antwortete, es würde nicht dazu beitragen, dass Michaelis sich besser fühlte.
»Nur wenn ich so besoffen wäre, dass ich komplett die Kontrolle verliere. Da ich aber erstens selten so viel trinke und zweitens nicht verheiratet bin, käme ich so oder so nicht in die Verlegenheit.« Die Antwort befriedigte ihn sichtbar nicht. »Herr Michaelis, was ich tun würde, ist nicht relevant. Warten Sie das Ergebnis meiner Ermittlungen ab. Die ganze Sache kann immer noch einen harmlosen Grund haben und tatsächlich Zufall sein.«
Er nickte. »Sie haben Recht.« Er reichte ihr die Hand. »Ich wünsche Ihnen«, er schluckte, »Misserfolg. Von ganzem Herzen. Und ich hoffe, Sie fassen das nicht falsch auf.«
Er wartete Leonies Antwort nicht ab, sondern eilte zur Tür, schnappte im Vorbeigehen seinen Schirm und war mit einem gemurmelten »Auf Wiedersehen!« zur Tür hinaus, die Ronnie ihm eilends aufgehalten hatte.
Ronnie blickte Leonie an und deutete auf seinen Nacken. »Siehst du, was da sitzt?«
Sie nickte. »Ein kleines grünes Ungetüm namens Neid.«
»Klein? Es wird mit jeder Sekunde größer.« Er breitete die Arme aus. »Mann, was gäbe ich darum, an deiner Stelle zu sein. Kreuzfahrt, Sonne, Mallorca, Ferien, Faulenzen, Verwöhnprogramm der Luxusklasse – und alles auf Klientenkosten.« Er seufzte tief. »Warum konnte ich nicht den Termin machen?«
»Weil ich der Boss bin.«
Er schnitt eine Grimasse. »Ja, ja, reib’s mir nur rein.«
Sie lachte, und Ronnie stimmte darin ein. Solche Neckereien waren ihre Art auszudrücken, wie sehr sie sich liebten. Schließlich waren sie unzertrennlich und hatten jenes besondere und innige Verhältnis, das man Zwillingen nachsagte. Leonie war nur deshalb der Boss, weil Ronnie zunächst als Zeitsoldat zum Bund gegangen war, während sie eine Ausbildung bei der Polizei begonnen hatte. Nach fünf Jahren hatte sie gekündigt, weil sie die sexistischen Sprüche einiger ihrer Kollegen und deren zunehmendes Mobbing leid gewesen war. Sie hatte zwar ein dickes Fell, aber nicht warten wollen, bis die Idioten das dünngeschabt hatten.
Als Ronnies Zeit beim Bund zu Ende gewesen war, hatte sie ihre Detektei bereits etabliert. Obwohl sie ihm die Teilhaberschaft angeboten hatte, war ihm lieber gewesen, zunächst als Angestellter einzusteigen. Dabei war es bis heute geblieben. Für den Rest der Truppe war Ronnie sowieso der »Segundo«, wie Paolo ihn nannte, und galt als Leonies Stellvertreter. Was er de facto war.
»Bevor ich es vergesse«, Ronnie setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, »ich wollte dir mitteilen, bevor Herr Michaelis aufgetaucht ist und mich so schnöde unterbrochen hat, dass ich einen ganzen Haufen wunderbarer Beweise dafür habe, dass Huffinger sein Haus ausschließlich von Schwarzarbeitern renovieren lässt, die er sich von der Firma seines Chefs ausgeborgt hat. Obendrein schlägt er deren Arbeitszeit noch auf andere Bauvorhaben auf, sodass deren Bauherren praktisch Huffingers Renovierung mitbezahlen. Einschließlich Baumaterial, Werkzeug und notwendigen Maschinen. Unser Klient Sassner hatte den richtigen Riecher. Sobald er meinen Bericht bekommt, wird seine Sekretärin eine Reihe von fristlosen Kündigungen schreiben müssen.«
Leonie lächelte zufrieden. Zwar befriedigte sie nicht, Menschen der Straftaten oder moralischen Verfehlungen zu überführen, die sie begangen hatten, aber der Abschluss eines Auftrages fühlte sich immer gut an. Besonders wenn das Ergebnis für den Auftraggeber günstig ausfiel.
Sie nahm die Unterlagen von Michaelis zur Hand und übertrug als Erstes seine Telefonnummern, E-Mail-Adresse und Adresse in ihr Klientenadressbuch. Sie führte ein handschriftliches, das sie mit einem selbstentwickelten Code verschlüsselte, damit niemand die Namen ihrer Klienten herausfinden konnte, falls das Buch einmal in fremde Hände geraten sollte. Wer es las, würde es für ein sorgfältig geführtes Haushaltsbuch über die wöchentlichen Einkäufe halten.
Zusätzlich dazu hatte sie eine Liste in einem passwortgeschützten Ordner auf ihrem PC und eine Kopie auf einem ebenfalls passwortgeschützten und verschlüsselten USB-Stick. In der Adressdatei ihres nicht minder passwortgeschützten Smartphones hatte sie immer nur die Daten ihrer aktuellen Fälle, die sie nach deren Abschluss daraus löschte. Falls eine der Listen verloren gehen sollte, was man nie ausschließen konnte, gab es immer noch genug Backups.
»Würdest du das tun?«, fragte Ronnie.
»Was?«
»Deinen Mann betrügen. Wenn du einen hättest.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hoffe nicht. Und vorsätzlich würde ich das ganz bestimmt nicht tun. Aber man kann nie wissen. Eines weiß ich aber mit absoluter Sicherheit: Solange ich meinen Mann liebe und in der Beziehung alles in Ordnung ist, bin ich immun gegen Versuchungen. Sollte ich trotzdem einer erliegen, ist das ein eindeutiges Zeichen dafür, dass in der Beziehung was nicht stimmt. Wenn man mit einem Menschen wirklich glücklich ist, hat man keine Sehnsucht nach einem anderen; auch nicht nach einem Abenteuer.«
Das war zumindest bisher so gewesen. Aber ihre letzte Beziehung war schon eine Weile her und hatte nicht gut geendet. Sie hatte geglaubt, dass zwischen ihr und Ben alles in Ordnung wäre und den Schock ihres Lebens erhalten, als sie im Rahmen eines Routineauftrags eine untreue Ehefrau beschattete und dabei festgestellt hatte, dass der Mann, mit dem sie ihren Ehemann betrog, keine anderer als Ben gewesen war. Obwohl das schon drei Jahre her war, hatte sie immer noch keine Lust, es noch einmal mit einer Beziehung zu versuchen und genoss One-Night-Stands à la carte. Zu etwas anderem ließ ihr der Job sowieso kaum Zeit.
Sie rief im Internet die Seite für die Buchungen der WAVE SONG auf und loggte sich mit dem Passwort ein, das Michaelis mitgeliefert hatte. Sie änderte seinen Namen in ihren um und gab die Nummer ihres Passes ein, den sie im Safe der Detektei aufbewahrte. Sie erhielt umgehend eine E-Mail mit der Bestätigung der Änderung und konnte kurz darauf ihr Ticket und ein paar Kofferanhänger ausdrucken, auf denen ihr Name und die Kabinennummer standen. Die gebuchte Kabine hatte die Nummer 8303, Selma Michaelis residierte in 8301. Auch eine Tischreservierung für das Abendessen wurde umgebucht, sodass sie am selben Tisch wie ihre Zielperson sitzen würde. Perfekter ging es nicht.
Sie recherchierte noch über Mallorca sowie Carlos Wiegand und seine Agentur Carlossa. Er besaß ein Haus auf der Insel. Zumindest ließ ein auf Facebook gepostetes Foto darauf schließen, das ihn am Swimmingpool einer Villa in altem spanischem Stil mit einem Cocktail in der Hand zeigte. Auch der Hintergrund wirkte spanisch, in jedem Fall aber südländisch. Und falls die Unterschrift unter dem Bild keine Finte war, die etwas behauptete, das nicht der Wahrheit entsprach, dann stand die Hütte auf Mallorca: »Mallorca, te quiero«.
Sie übertrug die wichtigsten Dinge in ein Notizbuch, das sie für jeden neuen Fall anlegte, handschriftlich und ebenfalls verschlüsselt. Abgesehen davon, dass ihr das Verschlüsseln von Texten ungeheuren Spaß machte, verhinderte diese Form der Aufzeichnung, dass die Informationen in falsche Hände gerieten. Die Passwörter eines Smartphones und einer Datei waren leichter zu knacken als Leonies Verschlüsselung. Außerdem war es wahrscheinlicher, dass im Falle eines Falles ihr Smartphone gestohlen wurde als ein Notizbuch. Und wenn, dann würde der Dieb kaum auf den Gedanken kommen, dass Leonies darin notierte »Gedichte« ein Code wären.
Nachdem sie damit fertig war, machte sie sich auf den Weg, um den angeblich kranken Angestellten ihres Auftraggebers zu überführen oder zu entlasten. Doch ihre Gedanken kreisten um das unwahrscheinliche Glück, das sie mit dem neuen Auftrag hatte.
Eine vierzehntägige Kreuzfahrt. Nach Mallorca.
Klasse!
Palma de Mallorca, Dienstag, 13. August
Comisario Sandro Ferrer blickte auf die Leiche der blonden Frau und seufzte. Die dritte tote Touristin in diesem Monat, die man am Strand neben der Carretera Dique del Oeste gefunden hatte. Und der Monat war erst zur Hälfte um. Ferrer hielt den Fund an diesem Ort nicht für einen Zufall. Ebenso wenig hielt er es für Zufall, dass nicht allzu weit entfernt auf der Avinguda Joan Miró, nicht weit von der Einmündung der Carrer son Matet, die Diskothek El Perro de Oro residierte. Sie war nicht nur ein Touristenmagnet, sondern zog auch etliche Einheimische an.
Dass die Touristen sich der Gefahr nicht bewusst waren, konnte Ferrer noch nachvollziehen. Wie es möglich war, dass Einheimische, besonders junge Frauen, diese Gefahr ignorierten, verstand er nicht. Als einzige Erklärung dafür fiel ihm ein, dass sie wohl keine Zeitungen lasen, denn die Polizei warnte in den lokalen Zeitungen wie auch in den Nachrichten immer wieder vor den typischen Verbrechen im Disko-Milieu, von denen das Verabreichen von K.o.-Tropfen nur eines war, das die Opfer aber in der Regel überlebten. Die blonde Frau hatte nicht überlebt.
Ferrer beugte sich über sie, um besser sehen zu können, ob sie irgendwo eine Verletzung hatte. Sie lag auf dem Bauch, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt. Ihr Haar bedeckte ihr Gesicht, sodass ihre Züge nicht zu erkennen waren. Immerhin trug sie Jeans und ein ärmelloses T-Shirt, auf dem Hugo, Paco und Luis abgebildet waren, die Wasserpfeifen rauchten und denen ihrem Gesichtsausdruck nach kotzübel war. Darunter stand der Schriftzug »Stoned again« – wieder mal zugedröhnt. Ferrer hatte keine Ahnung, ob die Frau das Shirt zum Scherz gekauft oder ob sie tatsächlich Drogen konsumiert hatte. Das würde die Obduktion ergeben.
Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht, um ihr ungefähres Alter erkennen zu können. Obwohl das Gesicht von Sand verklebt war, erkannte er, dass sie höchstens Mitte zwanzig sein konnte und schön gewesen war. Was für eine Verschwendung! Er suchte in den Gesäßtaschen ihrer Jeans nach einem Ausweis oder etwas anderem, anhand dessen man sie identifizieren konnte und fand nichts. Das deckte sich mit dem Szenario bei den anderen toten Frauen. Wahrscheinlich hatte man sie ausgeraubt, um die Identifizierung zu erschweren.
Ferrer fand aber etwas anderes in einer der vorderen Hosentaschen. Ein Einwegfeuerzeug, das auf dunkelblauem Grund einen goldenen Hund zeigte. Die Dinger wurden im Perro de Oro kostenlos an alle Besucher verteilt. Zwar war das ein starkes Indiz, aber es bewies leider gar nichts, außer dass die Frau irgendwann die Diskothek besucht hatte, aber nicht zwangsläufig am Abend vor ihrem Tod. Trotzdem konnte es nicht schaden, dort einmal nachzufragen.
Ferrer machte vom Gesicht der Toten ein Foto mit seinem Smartphone, überließ den Tatort der Spurensicherung und fuhr mit seinem Kollegen, Inspector Joaquin Perez, zum Perro de Oro. Obwohl es erst früher Nachmittag war, brummte der Laden. Laute Musik drang bis auf die Straße, ebenso Gelächter und das schrille Jauchzen von Frauen, die dem Klang nach zu urteilen schon nicht mehr nüchtern waren. Obwohl Ferrer und Perez Uniform trugen, wurden sie von kaum jemandem beachtet. Zumindest nicht von den Touristen. Der Barkeeper machte jedoch ein finsteres Gesicht, als er sie sah. Kein Wunder, denn Jaume Santiago war bei der Polizei kein Unbekannter. Er hatte schon mehrfach wegen Schlägereien Ärger gehabt, aber bisher nicht so sehr, dass er im Gefängnis gelandet wäre.
Ferrer setzte sich auf einen Hocker und hielt dem Mann das Bild der toten Frau unter die Nase. »War diese Frau gestern hier?«
»Keine Ahnung«, brummte Santiago und machte eine ausholende Bewegung. »Hier kommen und gehen jeden Tag Hunderte von Frauen. Ich kann mir nicht jede merken. Vielleicht war sie hier, vielleicht nicht.«
»Wie wäre es mit gestern Abend?«, insistierte Ferrer und hielt dem Mann das Smartphone ein Stück näher hin. »Eine schöne Frau wie sie wird Ihnen doch aufgefallen sein.«
»Gibt es hier ein Problem?«
Ferrer unterdrückte ein Lächeln und wandte sich dem Sprecher zu. Er hatte darauf spekuliert, dass die Übertragung der Überwachungskamera über der Bar Juan Campillo auf den Plan rufen würde. Campillo war der Besitzer der Diskothek und hatte mehr Dreck am Stecken als man in einem Schweinestall finden konnte. Leider konnte man dem Mann bis heute nichts beweisen. Ferrer hielt ihm das Bild der Toten hin.
»War diese Frau gestern Abend hier?«
»Vielleicht, vielleicht nicht. Was ist mit ihr?«
»Wonach sieht es denn aus?«, fragte Ferrer zurück.
»Nach einer Toten«, antwortete Campillo ungerührt. »Aber damit habe ich garantiert nichts zu tun. Wieso kommen Sie zu mir?«
»Weil die Frau eins Ihrer Feuerzeuge bei sich hatte.«
Campillo griff lächelnd in eine Schale auf dem Tresen, in dem ein ganzer Haufen der Feuerzeuge lag, und reichte Ferrer eins. »Ich wage zu behaupten, dass jeder Besucher eins mitgenommen hat, selbst wenn er kein Raucher ist, weil diese Feuerzeuge ausgesprochen hübsch sind, nicht wahr?«
Ferrer ignorierte das Feuerzeug. Er deutete auf die Überwachungskamera. »Wir würden uns gern die Aufzeichnungen von gestern Abend ansehen.«
»Die habe ich heute Morgen bereits gelöscht, nachdem ich bei der Durchsicht nichts entdeckt habe, was für die Polizei interessant wäre. Sonst hätten Sie sie gerne ansehen können.«
Campillo log, da war sich Ferrer sicher. Beweisen konnte er ihm das allerdings nicht. Obwohl ihm das gegen den Strich ging, lächelte er liebenswürdig. »Die Frau hatte keine Papiere bei sich. Wir müssen ihre Angehörigen ausfindig machen und wären deshalb für jeden Hinweis dankbar.«
Campillo zuckte mit den Schultern. »Versuchen Sie es mal im Hotel Nixe Palace. Viele meiner Gäste wohnen dort.«
»Na, das ist doch schon mal etwas. Vielen Dank.« Ferrer wandte sich grußlos ab.
Mit diesem Hinweis, vor allem mit dem ihn begleitenden Blick, hatte Campillo zugegeben, dass er die Frau erkannt hatte. Ferrer kannte den Kerl schließlich lange genug. Am liebsten hätte er auf der Stelle eine Razzia veranlasst, aber das hätte wenig Sinn. Zum einen war Campillo durch seinen Besuch vorgewarnt, zum anderen gab es für eine Razzia keine Handhabe. Noch nicht. Außerdem waren alle Razzien im Perro de Oro bisher ergebnislos verlaufen. Nicht, weil der Laden grundsätzlich sauber war, sondern weil Campillo jemanden bei der Polizei schmierte, der ihn jedes Mal vorher warnte. Da selbst eine spontane Razzia eine gewisse Vorbereitungszeit brauchte und jeder, der daran teilnahm, natürlich über Einsatzort und Einsatzzeit Bescheid wusste, war die Zahl der infrage kommenden Verdächtigen unüberschaubar groß. Ferrer wusste allerdings genau, was er tun würde, sollte er den Maulwurf jemals entdecken. Der Mann oder die Frau würde dann nicht mehr das Geringste zu lachen haben.
»Sind Sie sicher, dass Sie kein Feuerzeug mitnehmen wollen?«, rief Campillo ihm nach. Es klang höhnisch.
»Danke, ich rauche nicht«, gab Ferrer ruhig zurück und verließ die Disko.
»Der Kerl ist so was von unverschämt, Comisario«, schimpfte Perez und ballte die Faust, als sie das Etablissement verlassen hatten.
»Nur die Ruhe, Joaquin. Wir kriegen ihn schon noch. Eines Tages kriegen wir ihn.«
Campillo wartete, bis die Polizei weggefahren war, ehe er Jaume Santiago die flache Hand so heftig über den Hinterkopf schlug, dass der Mann gegen den Tresen prallte.
»Idiot!«, knurrte er ihn an. »Ich dachte, du hast ihre Taschen geleert. Stattdessen hast du das eine Indiz übersehen, das den Comisario direkt zu mir geführt hat!« Er schlug ihn noch einmal. »Das nächste Mal bist du gründlicher, oder du landest auch im Leichenschauhaus. Kapiert, tonto?«, ließ er es sich nicht nehmen, den Mann als Dummkopf zu beschimpfen.
»Sí, jefe«, antwortete der kleinlaut.
Campillo kehrte in sein Büro zurück, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und dachte nach, während er mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte. Der dritte Todesfall in nur zwei Wochen, der in Zusammenhang mit dem Perro stand, war ein Risiko, das er sich nicht leisten konnte. Comisario Ferrer war ein harter Hund und leider unbestechlich. Wenn es noch mehr Tote gab, die sich zum Perro und damit zu Campillo zurückverfolgen ließen, dann konnte ihm nicht einmal mehr sein Mann bei der Polizei helfen. Das Risiko war einfach zu groß, auch wenn es ihn eine gewaltige Stange Geld kosten würde, für eine Weile die Füße stillzuhalten.
Er griff zum Smartphone und rief seinen Kontaktmann an. »Mit der letzten Charge stimmt was nicht«, warf er ihm vor, als der Mann sich meldete. »Gestern Nacht gab es die dritte Tote. Und ich glaube kaum, dass es drei Menschen in Serie gibt, die zufällig alle auf das Zeug allergisch reagieren. Ich kann den Restbestand nicht mehr verwenden. Also sorg dafür, dass schnellstens Nachschub geliefert wird. Den Betrag für die unbrauchbare Charge ziehe ich natürlich von der neuen Lieferung ab.«
Er ließ dem Mann keine Zeit zu antworten, sondern unterbrach die Verbindung. Was hätte der auch sagen sollen? Campillo hatte ihn in der Hand wie alle anderen, mit denen er geschäftlich zu tun hatte. Das würde auch so bleiben. Allerdings würde er sich bei der nächsten Lieferung nicht auf das Wort des Lieferanten verlassen, dass alles damit in Ordnung wäre, sondern jede einzelne Charge testen lassen. Er hoffte, dass es sich dabei nur um eine versehentliche Verunreinigung handelte. Denn die andere Möglichkeit, dass sein Geschäftspartner ihn mit absichtlich unbrauchbar gemachten Chargen ausbooten wollte, würde Krieg bedeuten. Sollte dieser Fall eintreten, war Campillo entschlossen, ihn zu gewinnen. Um jeden Preis.
*
Kiel, Sonnabend, 17. August
Die WAVE SONG sah zwar nicht so aus, als wäre sie, wie ihr Name besagte, ein Lied der Wellen, dafür besaß sie die Größe einer Tsunamiwelle. Zumindest kam sie Leonie so vor, als sie in der Schlange vor der Sicherheitsschleuse langsam vorrückte. Das Ding war ein Monstrum von majestätischer Präsens, dessen meerblauer Anstrich in Verbindung mit den auf den Rumpf gemalten Wellen, auf denen Meerjungfrauen mit Delfinen unter einer leuchtenden Sonne um die Wette schwammen, Spaß an Bord verhieß.
Leonie hatte sich im Vorfeld mit dem Schiff vertraut gemacht, sich einen Deckplan ausgedruckt und die Eckdaten studiert. Die WAVE SONG war dreihundert Meter lang, fünfundvierzig Meter breit, siebzig Meter hoch, besaß einschließlich der unter der Wasserlinie befindlichen Räume zwanzig Decks und fasste fünftausend Passagiere sowie über tausend Crewmitglieder.