Nach Russland zu neuen Ländereien. Band 1 - Johann Vogt-Wagner - E-Book

Nach Russland zu neuen Ländereien. Band 1 E-Book

Johann Vogt-Wagner

4,9

Beschreibung

Deutschland im 18. Jahrhundert. Die Menschen leiden unter der Willkür der Herzöge und Landgrafen und unter den Folgen des Siebenjährigen Krieges. Auf der Suche nach einem besseren Leben beschließt der hessische Bauer Adam Wagner, dem Manifest der Zarin Katharina Folge zu leisten, in dem Ausländer aufgerufen werden, sich in Russland niederzulassen. Gemeinsam mit anderen Bauern lässt er sich mit Frau und vier Kindern auf das große Abenteuer ein: die Reise in das ferne Wolgagebiet. Allerdings ist die 14-monatige Reise weder einfach, noch problemlos: Die unzureichende Organisation der Umsiedlung seitens der russischen Beamten, die Kälte, das Winterquartier in einfachsten Wohnbaracken – diese schwere Zeit überleben die Umsiedler nur dadurch, dass sie an ihrem Traum von einem besseren Leben in einer nahen Zukunft festhalten. In der Wolga-Region angekommen, müssen sie weiter kämpfen: Entgegen den vertraglichen Festlegungen werden sie mit unmäßig hohen Abgaben belastet, die Preise für ihre Ernte werden zu niedrig angesetzt und ihre Verpflichtungen gegenüber der Staatskasse erhöht. Ihr Leben wird von Nomaden bedroht, die Überfälle auf die nahe gelegenen Dörfer der Deutschen verüben. Die deutschen Siedler sind gezwungen, diese Angriffe zurückzuschlagen. Selbst der Bauernaufstand unter Jemeljan Pugatschow geht nicht an ihnen vorbei. Parallel dazu wird von einem fernen Nachkommen Adams berichtet – von Arnold Wagner. Dieser lebt in der Sowjetunion zur Zeit der Perestroika. Aus seiner eigenen Familiengeschichte und aus Erzählungen von Freunden und Bekannten weiß er, wie schwer das Schicksal der Russlanddeutschen war. Er ist dabei, als der „Eiserne Vorhang“ fällt und sein Volk vor der Frage steht, entweder innerhalb Russlands wieder eine autonome deutsche Republik zu errichten oder in die historische Heimat zurück zu kehren. Als Arnold und seine Freunde versuchen, ersteren Weg zu gehen, stoßen sie auf bürokratische Hindernisse und beschließen, nach Deutschland auszuwandern.

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Die Arbeit hält drei große Übel fern: die Langeweile, das Laster und die Not.

Voltaire. Candide ou l'optimiste

Der Roman berichtet aus der Sicht mehrerer Generationen von Russlanddeutschen eine Geschichte voller Dramatik und Suche. Dem Werk liegen historische Nachforschungen und Materialien aus dem Familienarchiv des Autors zugrunde.

Unseren tapferen Vorfahren gewidmet

Kapitelübersicht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

I

Zu Beginn des Sommers 1765 war der Accreditierte Gesandte Ihrer Kaiserlichen Majestät Katharina der Zweiten Alexander Romanowitsch Woronzow im Begriff, aus Holland in die Sommerferien nach Russland zu reisen. Die Weißen Nächte von Petersburg hatten es dem Grafen seit seiner Jugend angetan; bei jeder anstehenden Reise ins Palmyra1 des Nordens genoss Seine Durchlaucht die Vorstellung, wie ihn ein Wirbel dem Herzen angenehmster Erinnerungen mit sich reißen und wie neue Eindrücke diese wieder beleben würden. Die sanfte, helle Dämmerung, die die Nacht ankündigte, die Ankündigung aber nie wahr machte, war die beste Zeit für lange Spaziergänge und beschauliche Gedanken, gleichwie für mutige Träume und kühne Inspirationen; es war eine Zeit, in der die Jugend unvergänglich schien und in der man noch alles vor sich zu haben glaubte: das Leben, Erfüllung, Siege.

Von überall her kamen zu den Weißen Nächten Politiker und Staatsmänner in die Sommerresidenz Ihrer Majestät, wo ein Ball zu hellnächtlicher Zeit sie erwartete, sowie zauberhafte Konzerte der russischen und italienischen Orpheis der Newa, und ausgiebige Spaziergänge rund um den Großen See. Jene Divertissements wurden unaufdringlich mit staatspolitisch wichtigen Gesprächen verknüpft, dieselben mit Umsicht gelenkt von der Gastgeberin höchstpersönlich.

In diesem Sommer aber war alles anders! Zum ersten Male empfand Graf Alexander Romanowitsch ein Gefühl der Unsicherheit. Zum einen beunruhigte ihn die Abberufung seines Onkels Michail Illiaronowitsch vom Posten des Kanzlers; zum anderen verlief die Anwerbung besitz- und landarmer Bauern aus Westeuropa für die Gründung von Kolonien in den mittleren und unteren Wolgagebieten nicht so glatt und weit weniger zügig als erwartet. Der Onkel war unmittelbar nach seiner Ankunft in Sankt Petersburg vom Amt des Kanzlers abberufen worden, aus Gründen, die seinem Neffen gänzlich unbekannt waren; unklar war auch, inwiefern dies der Gunst Ihrer Kaiserlichen Majestät gegenüber Alexander Romanowitsch selbst abträglich sein würde. Bis dahin hatte die Monarchin ihm ihr Wohlwollen nie versagt, und seine Karriere gestaltete sich mehr als erfolgreich. Mehr noch als offenkundige Ungnade bedrückte ihn die Ungewissheit der derzeitigen Situation. Das Manifest „Über die Verstattung allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich niederzulassen und über die denselben gewährten Rechte“ hatte in den zwei Jahren seit seiner Veröffentlichung nicht zu dem erwarteten Ergebnis geführt. Unter den Franzosen, Holländern und Schweizern gab es, soweit Woronzow wusste, kaum Ausreisewillige; auch von den Deutschen hatten es nur die mutigsten gewagt, ihr Land zu verlassen – nach vorläufigen Angaben lediglich etwa siebentausend Menschen. Der Plan Ihrer Majestät aber war es gewesen, 10.000 Bauernhöfe mit einer Gesamtzahl von 50.000 Kolonisten zu gründen. Einerseits ließ sich eine solch gemäßigte Emigration leichter organisieren, denn es brauchte Zeit, die neu ankommenden Kolonisten zu beköstigen, zu verteilen und auszustatten, andererseits begannen die deutschen Landgrafen bereits zu begreifen, dass man ihnen ihre Leute direkt vor der Nase wegholte, und zwar nicht nur die Männer, sondern ganze Familien: Kinder, Frauen, Männer. Eile war geboten, dafür aber benötigte man zusätzliche Werber, die die deutsche Sprache beherrschten. Von den Deutschen waren nur wenige bereit, ihre Landsleute zur Umsiedlung nach Russland zu überreden; und diejenigen, die sich bereiterklärten, reisten nach einiger Zeit gemeinsam mit denen aus, die sie geworben hatten. Die meisten Bauern brachten dem Manifest vom 4. Dezember 1762 und seinem Nachtrag vom 22. Juli 1763 kein Vertrauen entgegen, da es keine beidseitig unterschriebenen Vereinbarungen waren; zudem waren die Ausführungen in einem solch haarsträubend schwülstigen, bürokratischen Stil abgefasst, dass manche Wendungen selbst bei Alexander Romanowitsch Falten des Unmuts hervorriefen; dem ungebildeten Volke indes erschienen sie wohl gänzlich unverständlich. Man musste den Text vereinfachen und eine Art Vertragsmuster herausgeben. Alexander Romanowitsch hatte den Vorschlag für einen solchen Kontrakt einschließlich einer Präambel, die das Gebiet um Saratow beschrieb, vorbereitet und beabsichtigte, diese unverzüglich, um möglichen Kritikern zuvorzukommen, mit Katharina bei ihrem Zusammentreffen in Zarskoje Selo2 zu besprechen.

Am vereinbarten Tag fuhr der Graf lange vor der festgelegten Zeit nach Zarskoje Selo, um die Schönheit des Schlossparks zu genießen und seine Emotionen in Einklang mit dessen harmonischem Zusammenspiel von Natur und Kunst zu bringen. Der vor nicht allzu langer Zeit angelegte Park rauschte im Blatt seiner schlanken Bäume, die bereits herangewachsen und kräftig gediehen waren; ruhig plätscherte das Wasser in dem Kanal, der ihn umfloss und sein wohltuendes Nass zu allem Lebenden, Wachsenden trug… Der Graf erging sich auf der breiten Lindenallee, immer wieder für eine Weile innehaltend, um die neu entstehenden Pavillons und die entlang der Allee weiß schimmernden Skulpturen zu betrachten. Oh ja! Was für Veränderungen – in nur einem Jahr… Was für ein Tempo, was für eine Wucht! Ihr habt viele Ideen, Mütterchen-Zarin3, so viele grandiose und vielfältige Ideen, nur mit wem wollt Ihr das alles in die Tat umsetzen? Eurer Einladung sind ja auch nicht viele gefolgt, da müsst Ihr wohl noch mit Geldern locken, also tiefer in die Kasse langen. Seltsam nur – den eigenen Leuten ziehen wir das Fell vom Leibe, dieweil wir den Ausländern gebratene Tauben versprechen, und dabei – sollten wir nicht lieber unser eigenes Volk ausbilden, Landreformen durchführen, das Land den Bauern geben, nicht übereignen vielleicht, aber wenigstens verpachten? In Europa erzielen die Landpächter dreimal höhere Ernten als unsere Bauern hier.

„Mein lieber Alexander Romanowitsch, da seid Ihr ja schon, dabei erwarten wir Euch erst zu um elf“, unterbrach eine Stimme die Gedanken des Grafen. „Wir beide haben einen Termin um elf.“

Woronzow wandte sich um und erblickte den eilig herankommenden Grigori Grigorjewitsch Orlow. Katharinas glanzvoller Liebhaber (und, wie man munkelte, heimlicher Ehegatte) war von geradezu reckenhafter Statur; von hohem Wuchs, mit langen muskulösen Beinen und einem wie aus Marmor gehauenen Oberkörper, schien er sich gerade aus einer der antiken Skulpturengruppen des Parkes gelöst zu haben.

„Sehr erfreut, Euch zu sehen, Graf“, die Arme ausbreitend, um Orlow zu umarmen, begrüßte Woronzow den herankommenden Favoriten. „Immer noch im alten Glanze, Grigori Grigorjewitsch. Ihre Majestät scheinen Euch ja mit ihrer Aufmerksamkeit ganz außerordentlich zu beehren.“

Diese mit leichter Ironie ausgesprochenen Worte nahmen Grigori Grigorjewitsch sogleich die Lust, Woronzow zu umarmen; er trat einen Schritt zurück, um sich scherzhaft-elegant zu verbeugen, und wich somit den ausgebreiteten Armen des Grafen aus.

„Nun, mein lieber Graf, Ihr überschüttet mich mit Lobessang, doch spüre ich unter der Hülle den Stachel der Satire. Mit Aufmerksamkeit beehrt sie mich, sagt Ihr? Oh ja, das gebe ich ohne Umschweife zu. Wenn Ihr damit sagen wollt, dass mir nach einem ausgefüllten Arbeitstag kaum noch Zeit zum Schlafen bleibt, habt Ihr wohl recht, Graf. Die ausgesprochene Arbeitsliebe Ihrer Majestät ist überaus lobenswert und ansteckend, aber sie erfordert die höchste Anspannung aller Kräfte, mein lieber Alexander Romanowitsch“, parierte Orlow und fuhr fort: „Und Ihr, Graf, wirkt etwas blass und augenfällig besorgt. Was ist los mit Euch? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Euch die Abberufung Eures Onkels so bedrückt. Euer Onkelchen ist nicht mehr der Jüngste, kommt hinter unsereins nicht mehr hinterher. Die Zeit aber drängt. Doch das wisst Ihr ja selbst, mein teuerster Alexander Romanowitsch. Europa hat uns auf allen Gebieten überholt, wir aber hinken mit der klapprigen alten Garde hinterher, aus der schon der Sand rieselt…“, Orlow hüstelte und lächelte schief.

„Mein Onkel Michail Illiaronowitsch ist ein höchst edelmütiger und ehrlicher Mann und hat sich dem Dienst am Vaterland voll und ganz gewidmet, und zwar zu allen Zeiten. Ihn einfach so, ohne jegliche Ehrerweisung aus dem Dienst zu entlassen finde ich, gelinde gesagt, äußerst undankbar.“

„Gewiss habt Ihr recht, Graf, aber aufgrund der Unzahl an Vorhaben, von denen Ihr, mein Freund, in Kürze erfahren werdet, und glaubt mir, Ihr werdet staunen, haben Ihre Kaiserliche Hoheit einfach nicht die Zeit gefunden, Eurem Onkel für seinen zu allen Zeiten untadeligen Dienst an der Krone zu danken“, versetzte Grigori Orlow mit einer Intonation, die durchaus Zweifel an der Aufrichtigkeit des Gesagten ließ. Die Entrüstung in Woronzows Miene wahrnehmend, fügte er jedoch ernsthaft und ganz unzweideutig hinzu: „Alexander Romanowitsch, Ihre Majestät erlauben sich, nicht so zu regieren, wie es die Untertanen erwarten, die sich an den Regierungsstil früherer Monarchen gewöhnt haben, insbesondere an den von Peter dem Ersten. Diese Regierungsstile sind grundverschieden, sozusagen von absoluter Polarität. Hier wird niemand hinausgeworfen und niemand verfolgt. Hier wird gemeinsames Nachdenken und Handeln angestrebt. Jetzt ist eine Zeit angebrochen, in der selbstständiges Handeln zum Wohle unseres großen Reiches gefördert wird, und Fehler, die ja unausweichlich sind, werden großherzig verziehen. Hochverehrter Graf, das ist unsere Zeit, wir werden uns in unserem riesigen Mütterchen Russland entfalten. Und den Alten danken wir schon noch, sie haben dem Vaterland ehrenhaft gedient.“

„Grigori Grigorjewitsch“, antwortete Woronzow weniger angespannt und in spürbar wärmerem Ton. „Ihr habt Euch seit unserem letzten Treffen verändert. Ihr wirkt wesentlich eleganter, auch Eure Ausdrucksweise ist farbiger. Von absoluter Polarität, woher habt Ihr diesen ungewöhnlichen Ausdruck?“

„He, Alexander, du wirst von mir noch ganz andere Dinge hören“. Orlow war unmerklich zum Du übergegangen. „Ich habe zwei Jahre lang zusammen mit den Herrnhuter Brüdern an dem Manifest gearbeitet, die haben jedes Wort hundertmal abgewogen, jede Wortverbindung solange geschliffen, bis kein Satz mehr auch nur ansatzweise missverständlich war. Jetzt sind wir endlich fertig mit allem, und die ersten von ihnen sind unterwegs zur unteren Wolga, in die Gegend um Zarizyn. Ich bin froh, dass ich mit denen arbeiten konnte, eine hervorragende Schule war das: Verträge, Abkommen, Erläuterungen zu allen möglichen Punkten ausarbeiten… Die sind anders als unsereins, unsere Bauern würden überhaupt nichts unterschreiben, die haben nur Angst. Diese Herrnhuter aber glauben! Die glauben, dass alles, was geschrieben steht, auch erfüllt wird. Und ich glaube das auch, Alexander Romanowitsch, und wisst Ihr, warum?

Die werden uns nämlich, wenn wir irgendeinen Punkt nicht erfüllen, dermaßen mit Briefen überhäufen und stur auf ihren Rechten beharren, bis die Zarin davon erfährt. Und wenn die erst davon erfährt, dann wird sie uns schon lehren, was es heißt, dem Vaterland würdig, treu, ehrenhaft und unter Einsatz aller Kräfte zu dienen“, und Grigori Grigorjewitsch lachte fröhlich los.

„Nun, Graf, bei der Organisation der Anwerbung habe ich auch mit den Kolonisten zu tun, und ich gebe ehrlich zu: ich kann den Sinn dieser Unternehmung nicht ganz nachvollziehen, weder aus unserer Sicht, noch aus der Sicht der Kolonisten.“ Woronzow holte seine Taschenuhr hervor, klickte sie mit dem Daumennagel auf, überprüfte mit kurzem Blick die Uhrzeit und fasste Orlow mit der linken Hand unter, während er ihn mit einer weitausholenden Geste der Rechten einlud, ihm zum Palast zu folgen.

Grigori Grigorjewitsch jedoch rührte sich nicht, langte mit der Hand tief in irgendeine unsichtbare Innentasche, holte ebenfalls seine Uhr heraus, öffnete sie ohne Eile, wobei ein melodischer Klang ertönte, den er bis zu Ende anhörte, blickte vielsagend auf das Ziffernblatt und meinte:

„Ihr habt recht, Graf, es ist an der Zeit. Ihre Majestät dulden keine Verspätung. Lieber ein wenig eher da sein, wir können uns ja noch ins Empfangszimmer setzen.“

Langsam gingen sie am See entlang und beobachteten, wie sich die Enten flügelschlagend und mit lautem Geschnatter auf das ins Wasser gestreute Futter stürzten; obwohl der Gärtner es breit auseinander warf, wollte das muntere Getümmel nicht enden. Während sie sich schon dem großen Palast näherten, unterbrach Orlow das Schweigen und fragte:

„Alexander Romanowitsch, wieso könnt Ihr nicht nachvollziehen, warum die Kolonisten emigrieren wollen? Schließlich erhalten sie von uns solche Privilegien, von denen sie in den eigenen Ländern nur träumen können. Bei uns sind sie freie Landbesitzer, die das geschenkte Land vererben dürfen, obschon natürlich ohne Verkaufsrecht. Aber dieses Recht, edler Graf, hat bei uns sonst nur der Adel!“

„In dreißig Jahren, Grigori Grigorjewitsch, wird dieses, wie Ihr sagt, geschenkte Land für sie nicht mehr ausreichen, und dann werden allmählich, so nach und nach, auch die Privilegien verschwin den. Zum Beispiel die Befreiung von der Wehrpflicht. Da er sich dreht, der Wind, kehrt er zurück4, und alles wird sich wiederholen: die Kriege, der Mangel an Ackerland, die Klagen wegen der Steuerlast. Und dazu noch diese riesige Entfernung zur Heimat, wohin sie wohl ohne Hilfe kaum jemals zurückkehren können.“

„Und wozu sollen sie zurückkehren, Alexander Romanowitsch, sie werden unsere Deutschen sein. Schließlich gibt es in Europa ganz verschiedene Deutsche, und hier werden sie halt unsere Deutschen sein: ein Volk mehr oder weniger – Russland wird das nur bereichern. Ich frage mich nur, wie Ihr die Europäer anwerben wollt, wenn Ihr solche Gedanken hegt. Kommt zu uns, sagt Ihr, und im gleichen Atemzug fragt Ihr: wozu nehmt ihr Dummköpfe das auf euch? Es scheint, als seien wir beide zwei Heere auf verschiedenen Seiten der Front“, versetzte Orlow sichtbar aufgebracht und dachte bei sich „Genau wie sein Onkel und seine Schwester, immer gegenan.“

„Soeben habt Ihr noch betont, Grigori, dass eine neue Zeit angebrochen ist, in der man alle Sorgen und Zweifel offen diskutieren kann, und nicht nur mit Euch, sondern mit Ihrer Majestät selbst… Aber kaum mach ich den Mund auf, schon stempelt Ihr mich zum Feind ab.“

„Nein, nein, natürlich können wir… diskutieren wir das gleich…“ In nunmehr unverhohlen vertraulichem Ton fügte er hinzu: “Mütterchen-Zarin werden Euch sicherlich schnell zur Räson bringen. Vergesst nur nicht, ihr Eure Sorgen und Zweifel mitzuteilen. Sonst muss ich das noch selbst tun.“

Grigori Orlow hatte schon längst jene Grenze überschritten, die, selbst wenn man seine derzeitige Position bei Hofe berücksichtigte, in einem kultivierten Gespräch als erlaubt anzusehen war, und nur seine diplomatische Schule hielt Woronzow davon ab, in ähnlich grober Manier zu antworten. Wie verwunderlich, dachte er, seitens irgendeines ausländischen Beamten hätte mich ein solch ungebührliches Verhalten völlig kalt gelassen, da habe ich gelernt, aus allen möglichen unangenehmen Dispositionen ohne Ehrverlust herauszukommen. Aber hier in Russland… Zu Hause geht einem alles viel näher, selbst das Benehmen eines ungehobelten Flegels in Uniform.

Erregt, mit geröteten Gesichtern, betraten sie das Arbeitszimmer Ihrer Majestät. Katharina erhob sich zu ihrer Begrüßung.

„Meine lieben Freunde, Wir sehen Euch in großer Erregung, Ihr seid doch wohl im Empfangszimmer nicht noch ins Streiten geraten? Soeben sahen Wir Euch doch hier aus dem Fenster noch friedlich plaudern!“

„Ihre Majestät gestatten… Diese Woronzows zweifeln aber auch allenthalben, und was wir auch tun, sie haben immer etwas auszusetzen. Alexander Romanowitsch zum Beispiel macht sich Sorgen, ob nicht bei all unseren Versprechungen die Moral zu kurz komme. Mit seinen Zweifeln verschreckt er uns noch alle Kolonisten!“, platzte Grigori Orlow ohne zu überlegen heraus.

„Genug, mein lieber Grigori Grigorjewitsch, beruhigt Euch. Wir wissen, was Graf Alexander Romanowitsch meint, er hat uns in seinen Briefen seine Gedanken ohne Umschweife selbst dargelegt. Wir geben zu, wir hätten den ethischen Aspekt des Manifests im Senat besprechen sollen. Aber nicht einmal die Herrnhuter haben unseren Aufruf unter diesem Blickwinkel betrachtet. Graf, Ihr seid ein ausgesuchter Moralist! Nun, auf dass Euch Euer Gewissen nicht plage, werden wir Euch im Namen des Russischen Staates zu beweisen suchen, dass vor Gott, also im Sinne unserer christlichen Moral, da wir doch beide Christen sind, unsere Absichten wahrhaft rein sind. Sowohl gegenüber den in unserem Reich bereits wohnhaften Völkern, als auch gegenüber den neu hinzukommenden sind unsere Bestrebungen durchaus edelmütig. Aber was stehen wir herum, meine Herren, macht es Euch bequem, unser Gespräch wird lang.“

Seit sie das Arbeitszimmer der Zarin betreten hatten, war Woronzow noch nicht zu Wort gekommen. Ihn überraschte zum einen, dass im Unterschied zu früheren Zeiten überhaupt kein Austausch von Liebenswürdigkeiten stattfand, zum anderen, dass Grischka Orlow in Anwesenheit Ihrer Majestät, so ganz nebenher und ungeniert, über die Woronzws herziehen konnte und als Antwort nur ein „Genug, mein Lieber“ erhielt. Von dem ungenierten Verhalten dieses „Lieben“ hatte dem Grafen schon seine Schwester, Jekaterina Romanowna Daschkowa, berichtet. Das geht wirklich zu weit, schoss es Alexander Romanowitsch durch den Kopf, laut aber sagte er:

„Ihre Majestät, ich habe keine Sekunde an der Zweckmäßigkeit unseres Unterfangens gezweifelt, doch wissend, mit welchem Interesse und welcher Hingabe Ihre Majestät sich der Philosophie widmen, insbesondere dem Gebiete, das die Schöngeister der Antike, Sokrates und Platon, als das für die Menschheit bedeutsamste ansahen, nämlich der Ethik, habe ich es gewagt, Ihrer Majestät in meinem Brief einzig meine Mutmaßungen bezüglich der Zukunft der Kolonisten zu schildern, so wie die alten Griechen sie erwogen hätten und wie ein Russe von edlem Gemüt es tun sollte – nicht mehr und nicht weniger.“

„Jaja, Graf, genau so haben Wir das auch aufgefasst, und Wir schätzen Eure Feinfühligkeit in Fragen, welche menschliche Schicksale betreffen, sehr“, antwortete die Zarin mit einem Lächeln, während sie sich auf ihren Stuhl setzte, den der hinter ihr stehende Grigori Orlow vorsorglich herangeschoben hatte (Wie ein Lakai, dachte der Graf amüsiert). „Wir haben lange darüber nachgedacht, wie es wohl den Kolonisten in dreißig Jahren ergangen sein wird, und denken, die ersten Jahre werden die schwersten sein, deshalb befreien Wir sie von Steuern und Fron: diese Zeitspanne können wir als Entstehungsperiode der Kolonien bezeichnen. Nicht jede Familie wird vermutlich die Belastungen der ersten Zeit aushalten, und gewiss werden einige darunter sein, die nach Hause zurückkehren wollen – natürlich nach Rückzahlung aller durch sie beanspruchten Mittel. Ein Siedler, der Gewinne erwirtschaftet, wird Russland aber kaum verlassen wollen; das werden eher Familien sein, die es nicht geschafft haben, ihre Landwirtschaft in Gang zu bringen, oder die wegen anderer Dinge verarmt sind – aufgrund mangelnder Arbeitsliebe oder Unstimmigkeiten oder anderer Gründe, die es Uns bei aller Sorgfalt vorherzusehen nicht möglich ist. Aber auch jene armen Schlucker werden wir nicht im Regen stehen lassen. Im Briefwechsel mit dem Euch, Alexander Romanowitsch, bekannten Baron de Beauregard“, Katharina sah Woronzow fragend an, worauf dieser bestätigend nickte, „sind wir zu dem Entschluss gekommen, die Kolonisten, ehe sie nach Russland abreisen, für den Fall der Rückkehr zu versichern. Der Baron empfiehlt, die Versicherungsbeträge in einer Schweizer Bank anzulegen. Wir gehen davon aus, dass der Senat unseren Vorschlag unterstützen wird, allerdings müssen wir noch die Höhe der Versicherungssumme festlegen. Auf diese Weise sichern wir denjenigen, die in Russland nicht heimisch werden, die Möglichkeit der Rückkehr. Sollte man das nicht human nennen, meine Herren? Konnten Wir Eure Zweifel zerstreuen, verehrter Ethiker, Alexander Romanowitsch?“

Woronzow schaute nachdenklich auf das Tintenfass auf dem Tisch und die frischen Tintenkleckse, und dachte voll innerer Begeisterung: die Zarin schreibt viel, und sie schreibt selbst. Spricht fehlerfrei russisch, und kaum ein Akzent. Und kaum deutsche und französische Wörter…

„Da weiß er nichts mehr zu erwidern, da schweigt er tiefsinnig“, entfuhr es Grigori Orlow, und er zitierte auf Deutsch mit entsetzlichem slawischem Akzent: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“.

Die Zarin hob die Brauen, ihre Mundwinkel zuckten leicht – auch sie wundert und amüsiert sich wohl ob eines solchen Aphorismus, stellte Woronzow zufrieden fest. – Orlow aber, keineswegs verunsichert, fuhr entschieden fort: „Unsere Bedingungen sind optimal, niemand bietet zur gegenwärtigen Zeit bessere Bedingungen!“

„Verwechselt die Auswanderung der Europäer in ihre eigenen Kolonien bitte nicht mit unserer Auswanderung, Grigori Grigorjewitsch. Die Europäer siedeln in Ländern, die sie erkämpft, oder genauer, sich angeeignet haben: die Holländer in Südafrika, die Engländer und Franzosen in Amerika et cetera. Diese Territorien gehören schwach entwickelten Stämmen, dort gibt es keine Staatlichkeit in unserem Sinne, und diese Stämme werden nicht allzu ferner Zukunft vernichtet oder bestenfalls versklavt sein, die Ländereien aber betrachten die Regierungen, und auch die Völker üblicherweise als ihnen gehörig. Wir aber wollen unsere Territorien an der Wolga besiedeln, größtenteils mit Deutschen, da wir wissen, wie dicht deren eigene Länder schon besiedelt sind. Die anderen Europäer wandern in ihre Kolonien aus, der Deutsche aber, der seine Scholle liebt, ein unübertroffener Bauer und Gärtner und von Natur aus besonnener Wirtschafter, weiß nicht, wohin. Ich prophezeie Euch, wenn wir innerhalb unseres Reiches Siedlungen von Deutschen schaffen, eines Volkes, das eine so bemerkenswerte Rolle im politischen, wirtschaftlichen und geistigen Leben Europas spielt, dann werden diese auch hier, an der inneren Brandmauer unseres Landes, nicht hinter den Kulissen bleiben wollen. Auch ihrem Glauben und ihrer Sprache werden sie treu bleiben, und sich ihre Ehepartner vorrangig unter ihresgleichen suchen… Plus alle ihnen zugestandenen Privilegien… Seht Ihr nicht auch, dass diese Siedlungen, oder besser das dort lebende Volk in der russischen Völkerfamilie Fremde bleiben werden? Fremde aber sind bekanntermaßen unbeliebt. Vor allem aber beunruhigt mich die Vorstellung, wie sich das Leben der Kolonisten gestalten wird, falls Konflikte zwischen Russland und den deutschen Staaten auftreten…“

Ihre Majestät versuchte, die äußere Ruhe zu wahren, erhob sich langsam hinter dem Tisch, hieß Grigori mit einer kurzen Geste ruhig zu bleiben und zu schweigen, und trat an die Wand, scheinbar zerstreut die an der Wand hängenden Bilder betrachtend. Er trifft ins Schwarze, dachte sie, das sind genau meine Befürchtungen, die ich nie ausgesprochen habe. So wie ich nicht dazugehöre, werden sie es erst recht nie tun. Aber wieso – wieso haben die klugen Herrnhuter dieses Thema nie angesprochen, wieso sind die bereit, in ein fremdes Land zu gehen, und fürchten nicht, dort Fremde zu bleiben?

„Die Herrnhuter haben dem kein Augenmerk gewidmet, Alexander Romanowitsch, was meint Ihr, warum?“

„Das habe ich ihm auch erklärt“, mischte sich Orlow wieder ein, seinen Unmut ob solch philosophischer Gespräche nicht verbergend. „Die haben den ganzen Text quasi durchgesiebt, alles, was zweideutig war, geklärt, keine Fallen entdeckt. Nur unser überaus weiser Herr Graf Woronzow…“ – Ihre Majestät brachte ihn wiederum mit einer strengen Geste zum Schweigen.

„Ihre Majestät, religiöse Sekten stellen ihren Glauben über alles Irdische, und sie folgen ihrer Lehre ohne Vorbehalt. Das verleiht ihnen Kräfte, und somit können sie allen Widrigkeiten und Anfeindungen widerstehen. Sie gehören nirgendwo dazu, ob bei sich in der Heimat oder hier in der Fremde – genau das ist das Geheimnis ihrer Verbundenheit. Die fremde Umgebung und dazu ihr Glaube, das schweißt sie zusammen. Das ist es auch, was sie anstreben.“

„Mit anderen Worten, wir gründen Kolonien an der Mittleren und Unteren Wolga, die für immer Fremdkörper im Organismus unseres Imperiums bleiben werden, die entweder nicht mit unserem Volk verschmelzen werden, oder aber es wird viele Jahre dauern…Vielleicht Hunderte von Jahren… Interpretiere ich Eure Überlegung richtig, Alexander Romanowitsch?“, schloss Katharina und wandte sich, Woronzow fragend anblickend, um. „Aber das ist es doch gerade, was wir brauchen! Hier in Petersburg haben wir schon mehr als genug russifizierte Ausländer, von deren Originalität nur noch die Namen übriggeblieben sind. Hätten wir einfach nur zum Ziel, die Wolgagebiete zu besiedeln, würden wir keine Europäer anwerben. Wir würden uns von jedem Gutsbesitzer einfach nur erfahrene Ackerbauern mit Familien holen, sie freikaufen, ihnen dieselben Privilegien einräumen und sie an die Wolga schicken, um Neuland zu erschließen. Aber das ist es nicht, was wir wollen, Graf Alexander Romanowitsch, o nein! Unser Ziel ist es, die Erfahrungen der Europäer zu übernehmen, diese Erfahrungen auf unsere Bedingungen anzuwenden und zu multiplizieren, zum Wohle dieses großen Reiches. Wir kaufen, werben Gelehrte, Mechanikusse, Handwerker aller Couleur, und jetzt eben auch Landwirte an, um unser Entwicklungstempo zum Wohl aller Völker Russlands zu beschleunigen. Entsinnt Ihr Euch, was König Henri von Frankreich tat, als er nicht den dreifachen Preis für Brüsseler Spitzen bezahlen wollte? Er holte hundert Spitzenklöpplerinnen ins Land, verheiratete sie nach Limoges und gestand ihren Töchtern per Gesetz eine üppige Mitgift aus der Staatskasse zu. Habt Ihr, meine Herren“, fuhr Katharina fort und sah abwechselnd mal Woronzow, mal Orlow an, „denn schon einmal versucht zu errechnen, wie viel Zeit und Geld wir benötigen würden, um unsere Leute im Ausland auszubilden und einen vergleichbaren Erfahrungsschatz zu erwerben? Die Akademie der Wissenschaften hat solche Berechnungen erstellt – kein erfreuliches Bild.“

„Ganz und gar Eurer Meinung, Eure Majestät“, rapportierte Grigori Orlów militärisch-zackig. „Dieses Versenken ins Thema Heimat oder Fremde bringt rein gar nichts, außer vielleicht dem Herrn Woronzów. Die Deutschen kommen gern hierher und leisten Eurer Majestät mit Vergnügen den Eid auf das Wohl des Russischen Imperiums.“

Alexander Romanowitsch runzelte die Stirn, die Zarin schmunzelte, nahm wieder auf dem Stuhl Platz, den Grigori dienstfertig beiseite zog und mit eleganter Geste wieder heranrückte, und fuhr fort:

„Meine Herren, wir werden noch eine ganze Zeitlang im Westen Gelehrte und verschiedene Handwerker ankaufen, und auch fleißige Menschen anwerben, da wir uns das ja leisten können. Die Zeit wird kommen, und die Europäer (und ich meine nicht unsere europäischen Provinzen) werden kommen, um von uns zu lernen.“ Auf Deutsch fügte sie hinzu: „Wir drehen den Spieß um“, und wandte sich dann an Woronzow: „Graf, Ihr wolltet Uns Eure Entwürfe für das Merkblatt zum Manifest zeigen.“

„Gewiss, Ihre Majestät, ich habe Entwürfe mit, und zwar nicht nur für das Merkblatt. Der Aufruf ist in gehobenem Amtsdeutsch abgefasst und ich habe den Eindruck, dass er bei den Bauern nicht das nötige Vertrauen weckt. Deshalb bitte ich Ihre Majestät, das Muster für einen Kontrakt mit den Kolonisten zu prüfen. Er enthält neben einer Einführung einen für Dorfleute leicht verständlichen Vertragstext. Der Kontrakt entspricht dem Manifest vom 22. Juli voll und ganz, mit einer kleinen Ausnahme: die Bauern werden in ein genau festgelegtes Gebiet eingeladen.“

Mit einer Verbeugung übergab Woronzow der Zarin ein Portefeuille mit den Dokumenten. Katharina überflog die Blätter und veranschlagte, dass sie höchstens eine halbe Stunde brauchen würde, sie zu lesen. „ Meine Herren, Ihr gestattet“, sprach sie zu den beiden, die ihr gegenüber saßen, und begann zu lesen.

Die Art Ihrer Majestät zu regieren unterscheidet sich tatsächlich sehr von der ihrer Vorgängerin Jelisaweta Petrowna, dachte Alexander Romanowitsch für sich, die Pause nutzend. Jene hätte nicht einmal andeutungsweise ein „Gestatten Sie“ zwischen den Zähnen hervorgepresst, hätte die Mappe in irgendeine Ecke geschoben, ohne hineinzuschauen, und hätte die Diskussion der Frage auf unbestimmte Zeit verschoben. Später hätte sie jemand anderes damit beauftragt, um sie dann vielleicht ganz zu vergessen. Katharina aber bemühte sich, alle Vorgänge bis in jede Einzelheit zu ergründen, besonders, wenn es um die Kolonisierung ging. Wie eine fleißige, geschickte Gärtnerin versuchte sie, ihre Sämlinge behutsam zu verpflanzen – weit weg… – Woronzow überschlug die Entfernung von Lübeck bis Saratow – so um die zweitausend Werst.

Die Kolonisierung der Steppen im Saratower Gebiet jenseits der Wolga rief in dem Grafen gemischte Gefühle hervor. Er suchte sich mit aller Kraft von dieser Zerrissenheit zu befreien, was aber nicht so recht gelingen wollte. Was könnte seine Zweifel zerstreuen? Die gewissenhafte Analyse aller Für und Wider? Das hatte er mehr als einmal getan – und stets überwog klar das Für. Und trotz allem quälte ihn die Frage. Während er versuchte, das Wesen seiner Zweifel zu ergründen, kam Woronzow zu dem eindeutigen Schluss, dass es in seinem fehlenden Vertrauen in die Aufrichtigkeit der Absichten Ihrer Majestät bezüglich der Kolonisten begründet lag. Doch wiederum, wie konnte Katharina vorausahnen, dass fast ausschließlich ihre eigenen Landsleute auf den Aufruf reagieren würden? Letztendlich war er an alle europäischen Völker gerichtet. Es war diese Zerrissenheit der Deutschen, die es möglich machte, ihnen vor ihren eigenen Augen die Hälfte ihrer Bevölkerung zu entführen! Die Freie Stadt Lübeck würde nicht mit der Wimper zucken und uns für Geld gestatten, den Alten Fritzen höchstpersönlich außer Landes zu bringen. Ob Katharina eine solche Aufstellung der Kolonisten vorhergesehen hatte? Sie war bereit, ihre Landsleute an den südöstlichen Rand des Reiches zu werfen, wo Ackerbau riskant und faktisch Zwangsarbeit war. Trockene Steppenwinde verbrannten hier alles, was nicht gewässert wurde, und nur das Betreiben von Gemüsegärten würde die Kolonisten vor dem Hungertod bewahren. Zudem waren linksseitig der Wolga Zusammenstöße mit Nomadenstämmen an der Tagesordnung… Was also bezweckte sie – an den eigenen Leuten ein Exempel zu statuieren, um andere das Fürchten zu lehren?

„Alexander Romanowitsch, Ihr beherrscht die deutsche Sprache wirklich gut. Der Text liest sich tatsächlich einfacher, es ist alles enthalten“, lobte Katharina und schob die Papiere zu Grigori Orlow hinüber. Und, noch ehe sie die nächste Frage gestellt hatte, erhielt sie die Antwort.

„Nicht ohne die Hilfe meiner Mitarbeiter, Ihre Majestät, und dank aktiver Mitwirkung des Barons Caneau de Beauregard und seines Freundes Otto Friedrich von Monjou“.

„Was haltet IHR, Graf, von der Person des Barons, könnt Ihr ihm vertrauen?“, fragte die Zarin mit besonderer Betonung auf dem IHR. Grigori Orlow unterbrach die Lektüre des Dokuments und blickte Woronzow an. Misstrauen gegenüber Baron de Beauregard zu äußern, war in dieser Situation unmöglich.

Noch eine skeptische Bemerkung, und ich verliere das Vertrauen Ihrer Majestät selbst, reagierte der Accreditierte Botschafter bei sich. (Grigori Orlow, der Präsident der Tütel-Kanzlei5, hatte schon längst alle Vereinbarungen mit dem Baron unterschrieben und diesem die vertraglich festgelegten Gelder überwiesen. Demnach verpflichtete sich der Baron, die betreffenden Maßnahmen zu organisieren, viertausend Kolonisten anzuwerben und auf den ihm an der Mittleren Wolga zugewiesenen Ländereien mindestens zwanzig Kolonien zu gründen.) Oh nein! Ich darf nicht riskieren, dass sich die Gewitterwolken, die jetzt schon über der Familie Woronzow hängen, noch mehr zuziehen. Die Woronzowsche Geradlinigkeit muss ich wohl schweren Herzens beiseite schieben. Meine Schwester hat dieser Emporkömmling schon aus Petersburg fortgeekelt, bei der Entlassung meines Onkels hatte er auch seine Hände im Spiel. Das reicht, schloss er seine Erwägungen, und in entschiedenem, keine Zweifel zulassenden Ton verkündete er „offenherzig“: „Ich konnte beobachten, dass der Baron mit hohem Eifer bei der Sache ist, und ich kann Ihrer Majestät versichern, dass er ein brillanter Anwerber ist. Er verfügt über eine unübertroffene Überzeugungskraft, und wenn man ihn lässt, glaube ich, holt er nicht nur einfache Landwirte, sondern auch den einen oder anderen Landgrafen an die Wolga“, schmunzelte Woronzów gutmütig.

Katharina war jedoch hellhörig genug, die kaum merkliche Heuchelei zu registrieren – solch überschwängliches Lob passte so gar nicht zu dem zurückhaltenden Wesen des Grafen.

„Demnach wart Ihr Euch wirklich in allen Punkten einig, als Ihr am Wortlaut des Kontrakts und der Präambel gearbeitet habt?“

„Es gab einen Punkt, den wir lange diskutiert haben – den Vergleich des Klimas bei Saratow mit dem französischen Klima von Lyon. Der Baron ist der Meinung, dass die klimatischen Bedingungen in diesen Gegenden aufgrund der vergleichbaren Jahresmitteltemperaturen ähnlich sind. Tatsächlich werden an der Mittleren Wolga die kalten Wintergrade durch hohe Sommertemperaturen ausgeglichen, was zu einem vergleichbaren Jahresmittelwert in diesen Gebieten führt. Die Frage ist, ob solch heftige saisonale Unterschiede die Ernteerträge beeinflussen und vor allem, ob sie Einfluss auf die Auswahl der Kulturen haben, die wir dort ansäen wollen. Kann man am linken Wolgaufer Getreide anbauen – Weizen, Roggen, Gerste und ähnliches?“

„Natürlich geht das, am rechten Ufer bauen sie das doch auch an“, knurrte Grigori Orlow finster, mit unverhohlenem Missvergnügen.

„Was man links der Wolga anbauen kann, und was nicht, werden die Kolonisten selbst entscheiden. Die Europäer bringen einen gewaltigen Erfahrungsschatz in Fragen der Selektion mit, daher bin ich sicher, dass sie auch hier Möglichkeiten finden werden, Getreide anzubauen. Und diesen nicht ganz geglückten Vergleich mit Lyon verzeihen wir uns als…“, auf der Suche nach einem geeigneten russischen Wort stockte Katharina für einen Augenblick, fand es nicht und sagte auf Deutsch: „Als Ausgleich“, um dann auf Russisch fortzufahren: „für unser unverzeihlich dummes Gleichnis, als wir die Wolgagebiete in einem Hamburger Blatt als „ödes Land der Skythen“ bezeichnet haben… Meine Herren, seit der Veröffentlichung des Manifestes sind zwei Jahre vergangen und Wir sehen noch immer kaum Erfolge. Unter den ersten siebentausend Kolonisten, die wir aufgenommen hatten, gibt es schon die ersten Heimkehrer, die den Tageblättern höchst unangenehme Details berichten. Zum Beispiel, dass man in Kronstadt alle, selbst Frauen und kleine Kinder, zwingt, Uns auf Knien den Treueid zu leisten. Außerdem kann von einer freien Wahl des Siedlungsortes durch die Kolonisten keine Rede sein – sie werden unter militärischer Bewachung gewaltsam in zuvor durch irgendjemanden festgelegte Gebiete getrieben. Drittens finden die Kolonisten vor Ort statt der versprochenen provisorischen Häuser nur in die Erde gehauene Pflöcke vor. Viele mussten den letzten Winter in Erdhütten verbringen. Et cetera, et cetera…“ Katharina verstummte und gab den Anwesenden die Gelegenheit, etwas zu erwidern.

Hierzu brauche ich nichts zu sagen, dachte Alexander Romanowitsch bei sich. Das, Grigori Grigorjewitsch, ist Eure Angelegenheit, die meine endet in Lübeck. Mal sehen, lieber Freund, wie du dich hier herauswindest. Orlow aber lenkte nur den Blick beiseite. Im Arbeitszimmer trat gespannte Stille ein. Für so eine Organisation der Angelegenheit hätte Peter der Große ihn nach Sibirien geschickt, urteilte Woronzow für sich, aber diesem Menschen wird alles verziehen. Angst hat sie vor ihm, daher hält sie ihn bei sich. Und das, liebes Mütterchen-Zarin, werdet Ihr noch lange tun müssen, noch sehr lange Zeit, den wird man so schnell nicht los, und Eure Angst ist groß.

„Da, wo die Pflöcke eingeschlagen waren, stehen inzwischen warme Häuser für den Empfang der Kolonisten bereit. Holz wird regelmäßig angeliefert“, entgegnete Orlów in vorwurfsvollem Ton und schwieg wieder, ohne den auf Knien geleisteten Eid oder den in Erdhütten verbrachten Winter zu erwähnen.

Graf Grigori Grigorjewitsch Orlow konnte Zurechtweisungen an seine Adresse nur schwer ertragen und wollte sich mit einigen Besonderheiten im Regierungsstil Ihrer Majestät ganz und gar nicht abfinden. Als Katharinas Favorit forderte er von ihr hartnäckig einen eindeutig achtungsvollen Umgangston ihm gegenüber, vor allem in Anwesenheit Außenstehender, wie er sich ausdrückte. „Mein lieber Freund“, pflegte ihm die Monarchin zu entgegnen. „In Regierungsgeschäften seid Ihr alle gleichrangig, und ich bewerte Euch nach Euren amtlichen Verdiensten. Etwas anderes, Grigori, kannst du von mir nicht erwarten.“

Katharina erhob sich hinter Ihrem Schreibtisch, was die Anwesenden ihr sogleich nachtaten. Sie bat Orlow, noch zu bleiben, und trat auf Woronzow zu.

„Alexander Romanowitsch, Eure Zuarbeit zur Vereinbarung nebst Präambel sind hochlöblich. Ein Juwel! Lasst diese zu Tausenden Exemplaren vervielfältigen und verteilt sie unter den Kaiserlichen und den privaten Anwerbern. Auch verbietet den Anwerbern strengstens, jeden beliebigen Bewerber zu nehmen! Den Vorrang geben wir Ehepaaren, am besten mit Kindern. Ledige nur, wenn sie kerngesund und in heiratsfähigem Alter sind. Keinerlei Lumpenpack.“ Nach einer kurzen Pause sprach sie mit bezauberndem Lächeln: “Heute Abend gibt es ein vorzügliches Konzert, Graf, Ihr werdet hoffentlich bleiben?“

„Es wird mir eine Ehre sein.“, versetzte Woronzow, ebenfalls lächelnd, mit einer Verbeugung.

„Nun, Ihr sollt wissen: Wir verpflichten Euch diesbezüglich zu nichts; die Zeit Unserer Untertanen gehört ihnen außerhalb ihres Dienstes am Staat ganz allein, und auch die Zarin darf nicht darauf prätendieren… Obschon Eure Anwesenheit auf unserem Fest Uns Entzücken bereiten würde, so nehmen Wir doch an, dass es Euch, Alexander Romanowitsch, nach so langer Zeit fern der Heimat und Familie sicher drängt, Euren Vater und Onkel, und auch Eure Schwester zu sehen. Übermittelt ihnen Unsere allergewogensten Grüße, insbesondere Jekaterina, die Uns nach wie vor die angenehmste und liebste Freundin ist.“

Nachdem er sich nach allen Regeln der Etikette empfohlen hatte, verließ Woronzow das Arbeitszimmer Ihrer Kaiserlichen Majestät. Ungeachtet dessen, dass das Gespräch erfolgreich verlaufen war und die Zarin ausdrücklich ihre Hochachtung gegenüber der Familie Woronzow betont hatte, blieb der Accreditierte Gesandte nicht zum abendlichen Konzert. „Was immer Ihr auch vorgebt, Mütterchen-Zarin, Eure Vorliebe für Grigori Orlow ist doch zu offensichtlich.“ Mit diesem Fazit nahm Alexander Romanowitsch in der Kutsche Platz, winkte den im Park promenierenden Hofdamen zu und reiste aus Zarskoje Selo ab.

Am 12. August desselben Jahres traf in der Stadt Zarizyn die erste Gruppe der Herrnhuter Brudergemeine ein. Anfang September segneten die alle miteinander versammelten Brüder in einem gemeinsamen Gebet und unter Tränen das ihnen geschenkte Land im Mündungsbereich des Flusses Sarpa; am 14. September wurde der Grundstein für das erste Haus gelegt. Und wieder versammelte sich die Brudergemeine, jenes Haus zum Ausgangspunkt der Stadt des Herrn zu erklären, und das Haus und alle, die darin wohnten, Gottes Segen anheim zu stellen. Sie nannten ihre Stadt Sarepta.

(3 Kön.17:9 Mache dich auf, geh nach Sarepta, das zu Sidon gehört, und bleib dort! Siehe, ich habe dort einer Witwe befohlen, dich zu versorgen. 3 Kön.17:10 Da machte er sich auf und ging nach Sarepta. Und als er an den Eingang der Stadt kam, siehe, da war dort eine Witwe, die gerade Holz sammelte. Und er rief sie an und sagte: Hole mir doch ein wenig Wasser im Gefäß, dass ich trinke!)

Ende Juli 1765 kehrte Alexander Romanowitsch nach Den Haag zurück und ging unverzüglich an die Erfüllung der ihm auferlegten Pflichten. Die zweite Anwerbekampagne gewann, indem man die Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre berücksichtigte und private Anwerber hinzuzog, an Tempo.

 

1 Antike Oasenstadt, berühmt für monumentale Bauwerke und die Wasserquellen, mit denen die Palmengärten der Stadt bewässert wurden

2 Zarskoje Selo (deutsch: Zarendorf): die Sommerresidenz der russischen Zaren

3 Mütterchen-Zarin bzw. Väterchen Zar: übliche Bezeichnung / Anrede der russischen Untertanen für ihre Monarchen

4 Da er sich dreht, der Wind, kehrt er zurück: geflügeltes Wort biblischen Ursprungs

5 Tütel-Kanzlei: von Katharina gegründete Einwandererbehörde

II

Johann Adam Wagner war der dritte Sohn des Johann Christoph Wagner und seiner Frau Katharina, geborene Witte. Mit ihm wuchsen in der Familie sechs weitere Kinder auf: drei Schwestern und drei Brüder. Der kleine Ort, in dem die Wagners lebten, hieß Witteborn, was Katharina mit Stolz erfüllte. „Vermutlich hat Euer Urahn hier mal den Brunnen gegraben“, erklärte sie den Kindern oftmals. „Nur, das ist schon so lange her, dass niemand Genaues net weiß.“

Sie waren nicht reich, aber auch nicht sonderlich arm, eben “gewöhnliche Bauern“. Wenn der Vater von „gewöhnlichen Bauern“ sprach, klang bei ihm der Schalk durch. Er führte seine Hofwirtschaft ausgezeichnet, fuhr gute Ernten ein und zahlte den gewichtigsten Zehnten6 der ganzen Gegend. Seinen ersten Namen – Johann – hatte er allen seinen Söhnen vermacht: zum einen als Erbnamen (obschon, um bei der Wahrheit zu bleiben, Johann zu jener Zeit sowohl als erster, als auch als zweiter Name recht geläufig war), zum zweiten, weil es Johannes war, der den Erlöser selbst getauft hatte, drittens zu Ehren des anderen Johannes, „des Allerliebsten von den Aposteln“, und viertens, weil Johann „Gott gnädig“ bedeutet. Welcher dieser Gründe der erste, zweite, dritte oder vierte war, legte er nicht genau fest, und wann immer er sie zu Gehör bringen wollte – und das wollte er des Öfteren, meist bei einem Krug Bier im Kreise seiner Freunde –, wechselte er die Reihenfolge, vergaß aber nie, alle vier Argumente zugunsten des von ihm so geliebten Namens zu erwähnen.

Sein dritter Sohn Adam war, die körperliche Entwicklung betreffend, der erste. Er überragte seine beiden älteren, gleichgroßen, Brüder um einen halben Kopf. In Witteborn rief man ihn nur den großen Adam, und allen war stets klar, wer gemeint war. Johann Christophs zweiter Sohn Peter diente als Kutscher am Hof des Grafen Ferdinand Maximilian – mit anderen Worten war er es, der den Frondienst ableistete. Alle anderen arbeiteten auf dem Feld, wo die Winterkulturen, Roggen und Weizen, mit dem Sommergetreide, Hafer und Gerste, wechselten; Rüben aber wurden im Wechsel mit Flachs und Erbsen angebaut. Peter und Jakob, der jüngste Sohn, wurden weiland nach dem Kantonreglement7 eingezogen und zählten mit Beginn des Siebenjährigen Krieges8 zur Reserve. Einer nach dem anderen wurden sie in die aktiven Regimentsteile einberufen, die an den Feldschlachten teilnahmen. Als der Krieg 1763 zu Ende war, kehrten weder Peter noch Jakob nach Hause zurück – beide waren gefallen.

„Unsere Gebete haben nicht geholfen, der Herrgott hat unsere Söhne nicht beschützt, Katharina“, seufzte Christoph aus tiefem Herzen, die abgearbeiteten Hände ineinander geschlossen. Die ganze Familie fand sich allmählich zum Abendessen ein. Die Schwiegertöchter deckten geschäftig den Tisch, die Eltern Christoph und Katharina, der älteste Sohn Ludwig sowie Adam saßen bereits und unterhielten sich miteinander.

„Der Herrgott behütet keinen, der eine Waffe trägt, Vater. Bedenkt doch nur: alle haben sie gebetet: Franzosen, Engländer, Russen und Österreicher, und wir auch. Wie soll Er sie alle schützen? Ich glaub schon, Er hat einfach abgewinkt und niemanden behütet: Du sollst nicht töten, ist sein Gebot, also warum soll Er diejenigen schützen, die sein Gebot brechen, die Verbrecher?“

„Halt du deine Zunge im Zaum, Adam, sonst holen sie dich noch zu den Rekruten für solch Geschwätz. Kriegst eine Waffe in die Hand und wirst genau so ein Verbrecher wie deine Brüder.“

„Das schaffen sie nicht. Vorher bin ich weg, Vater, ich gehe weg, ganz weit weg.“

„Und wo willst du hin? Glaubst wohl, anderswo ist es besser als hier? Anderswo kämpfen sie auch, wenn nicht heute, dann morgen, und wenn nicht morgen, dann übermorgen – aber Krieg gibt es auf jeden Fall. Alles führt Krieg gegeneinander, sogar die Tiere und die Pflanzen, aber am meisten die Menschen.“

„Da, wo ich hin will, gibt es Land im Überfluss, und von der Dienstpflicht werden wir befreit.“

„Was denn, willst nach Russland?“, warf Ludwig ein.

„Genau, nach Russland… Karlchen Müller war in Fulda, im Bureau des Baron de Beauregard haben sie ihm paar Papiere zur Kundmachung mitgegeben…Liegen da auf der Kommode, vorm Spiegel. Ich glaub schon, dass die nicht bloß rumbabbeln. Vater, Ihr wisst doch, wer itzo in Russland an der Macht ist?“

„Klar weiß ich das, bin doch nicht blöde, nur davon reden doch jetzt alle“, antwortete der Vater gereizt und erhob sich, absichtlich laut polternd, vom Stuhl. Er ging zum Spiegel, griff sich die Affiche9, drehte sie in den Händen, kehrte zurück und warf sie vor Adam auf den Tisch. „Nun gut, dann hören wir mal. Lies!“, ordnete er an und setzte sich seitlich an den Tisch, mit seiner ganzen Haltung Misstrauen demonstrierend.

Adam faltete die Papiere auseinander, setzte sich zurecht und begann langsam und bedächtig zu lesen. Er las gut, sehr gut sogar. Seinen Kindern las er gern Märchen vor, die er nicht monoton herunterleierte, sondern rollenweise, Ausdruck und Stimme verändernd, vortrug. Die Familienbibel hatte er so manches Mal gelesen, und die Tage, an denen Peter mit Erlaubnis des Landgrafen Bücher mitbrachte, waren für ihn die schönsten. Zeit für seine Lieblingsbeschäftigung fand er immer, besonders im Winter, wenn der Frost das Land mit einer Eisschicht bedeckte und alles ringsum für eine Zeitlang zu erstarren schien.

„Anno 1763, den 22. Juli.

Manifest der Zarin Katharina II Von Gottes Gnaden über die Verstattung allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich niederzulassen und über die denselben gewährten Rechte

Wir Catharina die Zweite, Zarin und Selbstherrscherin aller Reußen10 zu Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod, Zarin zu Casan, Zarin zu Astrachan, Zarin zu Sibirien, Frau zu Pleskau und Großfürstin zu Smolensko, Fürstin zu Esthland und Lifland, Carelien, Twer, Jugorien, Permien, Wjatka und Bolgarien und mehr anderen; Frau und Großfürstin zu Nowgorod des Niedrigen Landes, von Tschernigow, Resan, Rostow, Jaroslaw, Belooserien, Udorien, Obdorien, Condinien, und der ganzen Nord-Seite, Gebieterin und Frau des Jurischen Landes, der Cartalinischen und Grusinischen Zaren und Cabardinischen Landes, der Tscherkessischen und Gorischen Fürsten und mehr anderen Erb-Frau und Beherrscherin.

Das Uns der weite Umfang der Länder Unseres Reiches zur Genüge bekannt, so nahmen Wir unter anderem wahr, daß keine geringe Zahl solcher Gegenden noch unbebaut liege, die mit vorteilhafter Bequemlichkeit zur Bevölkerung und Bewohnung des menschlichen Geschlechtes nutzbarlichst könnte angewendet werden, von welchen die meisten Ländereien in ihrem Schoße einen unerschöpflichen Reichtum an allerlei kostbaren Erzen und Metallen verborgen halten; sowie Holzungen, Flüsse, Seen…“, las Adam vor.

Der Vater bemühte sich, aufmerksam zuzuhören, doch war ihm die eigene Unruhe im Wege. Anlass, beunruhigt zu sein, gab es genug. Im Haus lebten bereits achtzehn Personen: zwei Söhne mit ihren Frauen und Kindern, er selbst und seine Frau, sowie Peters verwitwete Frau und deren verwaiste Kinder. Das Ackerland war längst aufgeteilt und wurde an den ältesten Sohn vererbt. Zwar gab es keine gesetzlich festgelegte Erbfolge, doch so war es halt gebräuchlich, und Christoph sah keinen Anlass, die altherkömmliche, bewährte Tradition zu brechen: Ludwig kam hervorragend mit jeder beliebigen Arbeit klar, war berechnend und arbeitsam. Auch seine Söhne waren fleißig und führten jede ihnen aufgetragene Arbeit willig aus. Leid tat es ihm um Adam. Wegen des Krieges, der sich so lange hinzog, hatte dieser weder die Zeit, noch die Mittel gehabt, ein Handwerk zu erlernen – er musste sich auf dem Hof schinden. Und ohne Handwerk war für einen jüngeren Sohn nichts zu machen. Christophs eigenem jüngeren Bruder Gottfried ging es gut, weil er das Schmiedehandwerk erlernt hatte und vom elterlichen Hof in eine selbst erbaute Schmiede wechseln konnte.

„Sobald dergleichen Ausländer in Unserer Residenz angelangt und sich bei der Tütel-Canzley oder in einer Grenzstadt gemeldet haben werden; so sollen dieselben gehalten sein zu eröffnen, worin ihr eigentliches Verlangen bestehe, und ob sie sich unter die Kaufmannschaft oder unter Zünfte einschreiben lassen und Bürger werden wollen, und zwar namentlich, in welcher Stadt; oder ob sie Verlangen tragen, auf freiem und nutzbarem Grunde und Boden in ganzen Kolonien und Landflecken zum Ackerbau oder zu allerlei nützlichen Gewerben sich niederzulassen; da sodann alle dergleichen Leute nach ihrem eigenen Wunsche und Verlangen ihre Bestimmung unverweilt erhalten werden; gleich denn aus beifolgendem Register zu ersehen ist, wo und an welchen Gegenden Unseres Reiches namentlich freie und zur häuslichen Niederlassung bequeme Ländereien vorhanden sind; wiewohl sich außer der in bemeldetem Register aufgegebenen noch ungleich mehrere weitläufige Gegenden und allerlei Ländereien finden, allwo Wir gleichergestalt verstatten, sich häuslich niederzulassen, wo es sich ein jeder am nützlichsten selbst wählen wird“, las Adam weiter, ausdrucksvoll und ohne zu merken, wie still es um ihn geworden war. Allesamt: die Frauen und Männer, die Halbwüchsigen und die reifen Mannsbilder, und sogar die Kleinsten, ob sie saßen, standen oder lagen, lauschten atemlos seiner Stimme, die so anders klang als sonst. Sie alle waren verwundert und angespannt, nicht nur ob seiner strengen Intonation, sondern auch ob des ungewöhnlichen Textes, der einige unverständliche Worte enthielt. Er las, und alle spürten: er glaubte an das, was er las, oder aber er wollte dieser russischen Zarin sehr glauben. War sie überhaupt Russin? Es hieß, dass sie von hier, aus Hessen stammte. So eine würde sie nicht belügen.

Ludwig lauschte aufmerksam, doch spürte er von Zeit zu Zeit den Blick seines Vaters auf sich gerichtet. Christoph blickte mal aus dem Fenster, mal wandte er für einen kurzen Moment den Kopf in seine Richtung, als wollte er sagen: Da hast du, was du willst!

Gar nichts will ich, dachte Ludwig. Ein einziges Mal habe ich zu ihm gesagt, und das in der Hitze des Gefechts, er, Adam, solle doch mit seiner Familie lieber in die Stadt gehen, statt uns hier vor den Füßen herumzuliegen, da würde sich immer Arbeit für so ein gesundes Mannsbild finden. Der Vater war ihm damals ins Wort gefahren: “Nicht du entscheidest, wer hier wohin zu fahren hat. Noch bin ich hier der Herr im Haus!“

Adam hatte schon vor langem, kaum dass der Krieg vorüber war, begonnen, über sein Schicksal nachzusinnen. Der Hof würde sie nicht alle ernähren können, er musste ein anderes Einkommen, mindestens aber einen Hinzuverdienst finden. Doch wie so viele große und kräftige Menschen, überstürzte er nichts: er würde seinen Fleiß, seine Ordnungsliebe und sein ausgeglichenes Wesen nicht vergeuden. Adam urteilte nüchtern, indes kannte er auch seinen Wert und glaubte, dass seine Tugenden, für die man ihn liebte und achtete, ihn auf den richtigen Weg führen würden. Alle um ihn wussten um seine Zwangslage, und mal von dieser, mal von jener Seite wurden Angebote an ihn herangetragen – so sollte er in der Mühle arbeiten, in der Schmiede, und der Landgraf wollte ihn zum Forsthelfer machen. Adam aber wollte nicht der ewige Zweite sein. Sein hoher Wuchs, seine stattliche Erscheinung, die klaren blauen Augen und sein willensstarkes Kinn mit dem winzigen Grübchen unterstrichen vor allem einen Wunsch – den unmissverständlichen Wunsch, sein eigener Herr zu sein, der ihn bisher auf keines der Angebote eingehen ließ. Er wartete ab. Und sein Warten hatte sich gelohnt. Die Einladung von Katharina der Zweiten, freie Ländereien zu besiedeln, bei Ausübung des eigenen Glaubens und Freistellung vom Rekrutendienst schien ihm (wie er später immer wieder betonte) die Antwort auf seine Gebete zu sein. Adams Verhältnis zum Schöpfer war nicht ungetrübt, doch betete er, wie es sich gehörte, täglich.

„Und, ist noch viel zu lesen?“, fragte der Vater ungeduldig, erhob sich erneut von seinem Stuhl und trat ans Fenster. „Die Kinder haben Hunger, Zeit fürs Abendbrot. Später kannst du’s zu Ende lesen, für die, die das schon begreifen. Die Kinder müssen diesen Unsinn nicht noch hören.“

Christoph liebte es, am Fenster zu stehen und auf den Hof zu schauen, während die Frauen den Tisch deckten. Dabei hielt er Rückschau auf den Tag, zog Bilanz und formulierte in Gedanken bereits die Anordnungen für den kommenden Tag. Adam soll morgen zum Forstmeister des Landgrafen fahren, sortierte er für sich, sich genauer erkundigen, was der zu bieten hat und wie viel sie zahlen. Da hat er sich aber was ausgedacht – in so eine Einöde reisen…

„Adam, so wie ich gehört habe, dürfen nicht einmal die russischen Kriegsgefangenen nach Hause zurück; aber unsere Landwirte rufen sie zu sich. Wie soll man das auffassen?“, fragte Christoph mit sarkastischem Unterton und wandte seinem Sohn das Gesicht zu.

„Soldaten sind das eine, und unsere Bauern eben was anderes. Die Russen müssen Land urbar machen. Vermutlich hat sich die Zarin das nicht selbst ausgedacht, sie hat ja ihre Berater, die werden sie darauf gebracht haben.“

„Du fährst aber nicht an den Zarenhof, sondern in die finsterste Provinz, zu den Barbaren, die nicht einmal die eigenen Verwandten schonen. Was meinst du wohl, um wie viel mehr die euch Siedlern zusetzen werden, die werden euch grün und blau schlagen, Hackfleisch aus euch machen! Oder kennst du deren Gesetze? Weißt du, was sie dir von deiner Ernte lassen und wie viel sie dir wegnehmen?“

„Wartet ab, Vater, immer mit der Ruhe, außer dem Manifest sind da ja auch noch andere Unterlagen, da steht alles genau drin, wer was kriegt, und wie viel…“, erwiderte Adam ruhig, in versöhnlichem Ton.

Er antwortete niemals sarkastisch auf Sarkasmen, rüde auf Grobheiten, bissig auf bösen Spott. Solche Gespräche führten zu nichts, höchstens in eine Sackgasse. Besonders geduldig war er mit seinem Vater. Der Vater hatte ein Alter erreicht, in dem es Zeit wurde, den Hof in jüngere Hände zu übergeben und sich allmählich zur Ruhe zu setzen, er aber schob es hinaus. Schob es hinaus, weil er klar sah, dass Adam es unter Ludwig schwer haben würde – er war ein anderes Kaliber –, doch hatte er noch nichts Eigenes gefunden. Die Lage war schwierig, ja angespannt. Immer häufiger kam es zu kleineren Zwistigkeiten, deren wahre Ursache eben jene Ungewissheit war. Streit aber duldete Christoph in der Familie nicht, unterdrückte ihn schon im Ansatz. Die Methode war einfach: er zwang die Streithähne, zu schweigen. „Ruhe, kein Wort mehr!“, rief er drohend, und sofort schwiegen alle.

Geschickt zog Christoph alle – die Kinder, die Heranwachsenden und die Erwachsenen – zur Arbeit heran. Jedem wies er seine Aufgaben zu und forderte auf das strengste Rechenschaft über ihre Erfüllung. Diese Prinzipien, ein Vermächtnis seines Vaters, setzte er fort und gab sie an seine Kinder und Enkel weiter. Sobald mal wieder ein Enkelchen mehr oder weniger sicher (im wahrsten Sinn des Wortes) auf den Beinchen stand, legte der Großvater sogleich eine Aufgabe fest. So hatte die kleine Marie schon den Auftrag, neben jeden Teller die Löffel zu legen, und zwar so, dass sie quer zur Tischkante lagen, in einem von ihm irgendwann genau festgelegten Abstand zum Teller. Dies brauchte Christoph natürlich nicht alles selbst zu kontrollieren, die Familie übernahm das gemeinschaftlich und forderte ebenso streng, teils auf scherzhafte, teils auf kompromisslose Weise die unbedingte Einhaltung der auferlegten Pflichten.

„Fein machst du das, bist ein fleißiges Mädel! Sieh her, hier auch noch einen, und hier auch. Ganz fein machst du das“, lobte Großmutter Katharina und sah liebevoll zu, wie die vierjährige Marie Elisabeth die Löffel auf dem Tisch verteilte.

Die Kinder nahmen die Pflichten ohne Murren wahr, zunächst nur als Spiel, doch später gingen sie ihnen in Fleisch und Blut über, und sie erfüllten die kleinen Aufträge wie selbstverständlich.

Die allgemeine Geschäftigkeit war wohltuend. Schnell und zügig ward der riesige Tisch eingedeckt; drei geräumige Terrinen mit der in Milch gekochten Gemüsesuppe, Körbe gleichmäßig geschnittener Brotstücke und auf großen Tellern angerichteter Käse standen auf dem Tisch und erwarteten die Familie. Katharina lud alle zu Tisch, jeder setzte sich auf seinen Platz und, nachdem Christoph das Gebet verlesen hatte, schritt man zum gemeinsamen Mahl. Man aß schweigend, auch eine der zahlreichen Regeln, denen die Familie folgte. Von außen gesehen, hätte es scheinen können, als säße am oberen Ende des Tisches ein Tyrann, den alle fürchteten und dem alle deshalb willfährig gehorchten. Doch das war weiß Gott nicht der Fall. Alle von Christoph und Katharina festgelegten Vorschriften waren bar jeder Narretei oder Herrschsucht und fügten sich mühelos in den Alltag der Großfamilie ein, da sie von Vernunft geprägt und für alle Familienangehörigen nachvollziehbar waren.

Nach dem Abendmahl versammelten sich die Erwachsenen wieder um Adam. Die mit heißem Wasser aufgegossene gemahlene und geröstete Gerste verbreitete einen aromatischen Duft, der einen langen, gemütlichen Abend versprach; einen Abend, der sie aus dem Alltag heraus in jenes rätselhafte Land tragen würde, in dem es alles gab und wo alles so gut war. Adam las weiter, ebenso ruhig, mit Pausen, mit seiner Stimme jene Stellen hervorhebend, welche Zahlen enthielten. Als er vorgelesen hatte, dass die Siedler fruchtbarstes, noch unberührtes Land unweit der Stadt Saratow erhalten würden, zwischen dem 50. und dem 52. nördlichen Breitengrad, wo das Klima dem der Provinz Lyon ähnlich sei und sogar die klimatischen Bedingungen am Oberlauf des Rheins übertreffe, hielt es der Vater nicht mehr aus:

„So ein Unsinn! Je weiter östlich, desto rauer das Klima, das lernt man sogar in der Schule. Die Winter sind da kalt und die Sommer heiß und trocken. Was heißt übertreffen? Worin denn?“

Diese Fragen konnte Adam nicht beantworten.

„Vater, erlaubt, dass ich zu Ende lese. Dann können wir immer noch drüber reden.“

„Lies“, knurrte Christoph.

Seine Lebenserfahrung ließ ihn nicht an derartige Versprechen glauben.

Nichts fiel einfach so vom Himmel. Wenn dort alles so schön war, wieso war jener kleine russische Offizier dann hiergeblieben, zu unserem Glauben übergetreten und hatte die Meiersche geheiratet – eine Witwe mit drei Kindern? Schimpfte über Russland auf Deubel komm raus. Das Leben sei hier viel leichter als bei ihnen, sagte er, und das Klima viel milder als bei ihm zu Haus… Gott weiß in welchem Gouvernement. Hier gehe es dem Ärmsten noch besser als dort dem Stadtvolk, von den Leibeigenen ganz zu schweigen. Wer hier arbeite, verdiene sich was zum Beißen, da aber sei es egal, ob man arbeite oder nicht, man verhungere wie ein räudiger Hund. Wie soll ich das bloß verstehen – log er oder log er nicht? Die ganze Welt ist unterwegs, die einen gehen nach Afrika, andere nach Amerika, meiner will nach Russland und der Russe bleibt lieber hier. Ich meine, wo Gott einen zur Welt kommen lässt, da soll man auch leben, arbeiten und sich begraben lassen. Adam ist ein Sturkopf – her mit dem Ackerland, und alles andre wird schon!… Was soll’s, der Apfel fällt nicht weit vom… kommen beide nach mir, der Ludwig, und er auch. Ich wüsste auch nicht, was ich ohne Land machen sollt, hab auch zu nix anderem Lust… Schuld haben diese Aristokraten, die verdammten! Das ganze Land haben die sich untern Nagel gerissen, verpachten einen Teil, bearbeiten den Rest angeblich selbst, verpflichten Verwalter… Ihre Ernten sind miserabel im Vergleich zu unseren, aber wen schert’s…

„… Wo eine schwarze und salpeterreiche Erde, anderthalb und mehr Ellen tief, vermutlich aus der Fäulnis des Grases und der Kräuter entstanden…“

Christophs Augen blitzten auf, er stellte sich diese überaus fruchtbaren jungfräulichen Böden vor, die, brachliegend, auf ihren Besteller warteten. Und da kommt er, pflügt und sät, und bringt Ernten ein, fünfzehn, sechzehn Mal so hoch wie die heutigen… Jetzt würde der Erwerb für alles reichen, was anstand – die Zahlung der Steuern, Futter fürs Vieh und…ein würdiges Leben für die ganze Familie… und auch ein neues Haus für Adam könnte gebaut werden, und dazu eine Schmiede, den gesamten Hausrat erneuern, schöne neue Kleider für die Frauen…

„… dass alle Aussaaten ungedüngt sich fünfzehn- bis sechzehnfältig einernten lassen, wie solches viele Briefe und Beschreibungen sowohl von katholischen als protestantischen Geistlichen, welche sich in der umliegenden Gegend vor Jahren bereits niedergelassen, sattsam bezeuget werden…“

Als er letztere Worte hörte, sprang Christoph jählings, beinahe hüpfend, vom Stuhl hoch. Adam verstummte und sah seinen Vater an – dieser war offensichtlich erregt. Zu sehr stimmte das, was er gerade gehört hatte, mit seinen Gedanken überein, wurde im selben Augenblick ausgesprochen! Fünfzehn, sechzehn Mal! Was war das? Ein göttliches Zeichen? Sollte man ihn gehen lassen, sich nicht wehren? Schweigend zustimmen? Die Augen dem gesunden Menschenverstand verschließen? Oder war es, behüt’s Gott, eine Versuchung, gesandt vom Leibhaftigen, vom bösen Feind, der immer darauf aus war, seine teuflischen Gedanken in ein gottgefälliges Ohr zu flüstern und wahnwitzige Vorsätze zu bestärken?

„Na, Vater, wollen wir beide vielleicht auch alles hinschmeißen, und ab mit den drei Familien nach Russland auf Glückssuche? Sie sollen dort jeder Familie 30 Desjatínen Land abmessen, das sind 120 Morgen, dagegen ist das, was wir hier haben, ein Fetzen Handtuch“, wandte Ludwig sich nachdenklich, mit leisem Spott in der Stimme, an den Vater. Christoph antwortete nicht. Schweigend trat er an sein geliebtes Fenster. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Im Widerschein des Sonnenuntergangs konnte Christoph auf der glimmenden Oberfläche des Fensters wie in einem Rahmen sein Bild ausmachen – ein strenges, trauriges Gesicht, Kinn und Wangen bedeckt mit kleinen Bartstoppeln. Rasieren muss ich mich, sonst seh ich aus wie ein Landstreicher, setzte er wie gewohnt den beunruhigenden Gedanken durch praktisches Tun ein Ende und befahl Adam, weiter zu lesen.

Die Präambel zum Vertragsmuster glich immer mehr einem Supplement11. Karl Müller hatte das Exemplar vom Bureau des Baron de Beauregard mitgebracht, eines von Russlands Zarin Katharina der Zweiten höchstpersönlich bevollmächtigten Anwerbers.

Aus dem Dokument folgte, dass die Ländereien in der Umgebung von Saratow in unvergleichlicher Weise auch für die Viehzucht geeignet seien, da das Gras dort schon im April fußhoch und im Laufe des Sommers teilweise mannshoch stünde.

Das ortsübliche Hornvieh, das an Größe den holländischen gleichkäme, könne man dort für drei, vier bis fünf Rubel erwerben, was ungefähr einem französischen Louisdor entspräche. Ein Zugochse koste sieben Rubel, ein Pferd, welches am Tag zwölf bis fünfzehn Werst zurücklegen könne, nicht mehr als sieben Rubel, und ein ausgezeichnetes persisches Ross, direkt von der persischen Grenze, würde für zehn, zwölf oder fünfzehn Rubel verkauft.

Und wenn man die preiswerten, großen landesstypischen Schafe von den Böcken getrennt auf der Weide hielte, sei ihre Wolle zur Verfertigung der schönsten und feinsten Wolltücher geeignet.

Je nach Wunsch könne man dort ruhig beliebige Getreidearten anbauen, die da seien: Weizen, Mais, Gerste, Bohnen, Buchweizen, Hafer, Erbsen, Linsen und ähnliches, aber auch Kulturen wie Hanf, Flachs und Baumwolle gediehen dort unvergleichlich. Selbst Seide hätte man in jenen Breiten schon gezüchtet, und im vergangenen Herbst Ihrer Majestät, der Zarin, davon Proben zur Verarbeitung nach Sankt Petersburg gesandt, und diese hätten in Glanz und Güte der französischen und piemontesischen Seide nicht nachgestanden. An den Ufern der Wolga wüchsen die Maulbeerbäume wild, und in den Wäldern fände man Mandelbäume, welche den Boden mit den Kernen ihrer Früchte übersäten.

Die Wälder und Felder seien voll von allerlei Geflügel und Wild, als Hasen, Auer-, Birk- und Rebhühnern, Wildtauben, Gänsen, Enten und dergleichen. Man fände daselbst auch verschiedene Tiere, deren Pelzwerk, wie auch das Fell der Rinder nach russischer Art zu weltberühmtem russischem Leder verarbeitet würden und den Händlern beträchtliche Gewinne einbrächten.

Die Wolga sei außerordentlich fischreich. Man könne Hausen, verschiedene Störe, Hechte und Karpfen von ungeheuren Ausmaßen für einen spottwohlfeilen Preis erwerben.

Ein Pfund besten Rind- oder Hammelfleisches oder Specks koste nur wenige Kopeken. Zum gleichen Preis könne man auch ein Dutzend Hühnereier oder alle möglichen Gartenfrüchte erwerben.

Es gäbe auch eine große Vielfalt an wild wachsenden Blumen, darunter violett-weiße, dunkelviolett-weiße und auch rot-weiß-gelbe Tulpen. Auf Feldern und Wiesen wüchse sogar Spargel von so guter Art, wie ihn in anderen Ländern selbst die erfahrensten Gärtner kaum züchten könnten…

Wohlriechende Frühlingskräuter… Bienen… Wachs und Honig…

Diese offensichtlichen Vorzüge… durch den Fleiß der neuen Einwohner… für Handwerksleute, Fabrikanten und in der Landwirtschaft erfahrene Ackersleute… Wohlstand… Warentransport auf der Wolga… nicht nur zu Ost- und Nordsee, sondern auch nach Süden zum Kaspischen Meer, bis zu den Ufern Persiens… über den Don zum Schwarzen Meer und zum Mittelmeer… also rund um Europa… günstige Handelslage… dabei, wie bereits erwähnt, gesundes Klima, kurze Winter… kaum merklich… selbst im Winter Waren für nur 75 Kopeken pro Zentner auf Schlitten bis nach Sankt Petersburg…