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Viele Jahre sind vergangen, seitdem sich Adam Wagner mit seiner Familie auf den schicksalhaften Weg zu neuen Ländereien nach Russland begeben hat. Der Alte Adam, eine Eiche, unter der er zu Lebzeiten gern saß, wacht seit Adams Tod über die Geschicke seiner Nachkommen. Diese leben nach wie vor in einem Zwiespalt zwischen Anerkennung und Ausgrenzung seitens der russischen Gesellschaft, der durch ihr eigenes Bemühen um den Erhalt ihrer Traditionen, Werte und der wenigen (noch von Zarin Katharina zugesagten) Privilegien verstärkt wird: die Befreiung von der Wehrpflicht und die kulturelle und religiöse Eigenständigkeit der deutschen Kolonien. Von diesem Kampf erfährt der Leser aus der Schilderung einzelner Episoden, die das Leben der Wagners im Laufe des 19. Jahrhunderts beleuchten, bis der Autor uns an die Schwelle eines neuen, schicksalsträchtigen Jahrhunderts führt. Alexander Wagner, seine Söhne, deren Freunde und Familien erfahren im Strudel der Ereignisse die Auflösung alter Werte und Rechte. Der Alte Adam leidet zunehmend. Wie das ganze russische Volk durchleben auch die deutschen Kolonisten Kriege, Revolutionen, Hungersnöte und stalinistische Willkür, und sie bilden dabei eines der schwächsten Glieder in der Kette: zu allem Ungemach wird auch das Ringen um ihre eigene Identität immer schwieriger und aussichtsloser. Ende des zwanzigsten Jahrhunderts: Arnold Wagner und viele andere Russlanddeutsche sind inzwischen in ihrer historischen und (wie sie hoffen) neuen Heimat angekommen. Doch auch hier gilt es, Hürden und Vorurteile zu überwinden. Werden die aus Russland zurückgekehrten Deutschen endlich in einem Land leben können, das für sie wirkliche Heimat ist, und in dem sie selbst als vollwertige Bürger deutscher Nationalität wahrgenommen und anerkannt werden?
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Seitenzahl: 560
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Meine Aufgabe ist es, die Wahrheit zu sagen, aber nicht, sie glaubhaft zu machen.
Rousseau, Die Bekenntnisse
Der Roman berichtet aus der Sicht mehrerer Generationen von Russlanddeutschen eine Geschichte voller Dramatik und Suche. Dem Werk liegen historische Nachforschungen und Materialien aus dem Familienarchiv des Autors zugrunde.
Unseren tapferen Vorfahren gewidmet
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Der kurvenreiche, stellenweise steil abfallende Weg zum Adamsfeld führte durch einen Eichenhain, zog sich dann an einem kleinen See entlang, an dessen steilem Ufer sich eine hundertjährige Eiche erhob, und verlief danach als gerade Linie weiter, die untere Grenze eines abgemessenen Landstücks markierend. Die Jahre gingen hin, ohne besondere Veränderungen in der Landschaft zu hinterlassen: derselbe Weg, derselbe Hain, derselbe See mit dem weit verzweigten Baum … Und auch dasselbe Stück Land. Nur die Eiche wurde immer höher und breiter, und das Feldstück ging von Adam an Ludwig über, von Ludwig an Jakob und von Jakob an dessen Sohn Alexander. Unter der Eiche stand eine grob gezimmerte Bank, anfänglich ein Lieblingsplatz des alten Adam; später wurde das steile Ufer zum beliebten Treffpunkt der Dorfkinder. Der Grund dafür war ein Seil, das an einem kräftigen, sicheren Ast des Baumriesen befestigt war und ein immer wiederkehrendes Spiel ermöglichte, dessen sie niemals überdrüssig wurden: vom Abhang aus schwungvoll über dem Wasser zu schaukeln und dann weit in das Wasser hineinzuspringen, an einen sanft abfallenden Uferabschnitt zu schwimmen und wieder hinauf zu laufen, um das Spiel zu wiederholen. So wurde der See auf Deutsch auch genannt: Steilufersee, die Eiche aber erhielt den Namen Alter Adam.
Wie die Eiche, wuchs und verzweigte sich auch Adams Familie, und hundert Jahre nach jener Zählung von 1798, die neun Familienmitglieder festgestellt hatte, lebten in Glarus bereits 124 direkte Nachkommen von Adam; weitere 57 waren in umliegende Dörfer gezogen. In Glarus bewohnten die Wagners fünf Häuser: vier davon waren große „Fünfwänder“, und in dem fünften, einem normalen, einst von Adam selbst erbauten Haus lebten jetzt die Familien seiner Urenkel Alexander und Karl. Es versteht sich von selbst, dass zu jener Zeit von Adams ursprünglichem Haus kein Balken mehr übrig war. Erhalten war der noch im letzten Jahrhundert gegrabene Vorratskeller, doch auch er war bereits mehrfach mittels geteerter Balken erneuert worden, und eine Seite hatte Großvater Ludwig Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit Ziegeln ausgemauert.
In den Mauern dieses patriarchalischen Hauses wurden lange Gespräche geführt, die des Öfteren in hitzigen Diskussionen zwischen Gastgebern, geladenen Gästen und den vielen Mitgliedern des Wagnerschen Klans endeten. Anlässe zu Diskussionen und Streits gab es genug.
***
1824
Schon die ersten, ganz geringfügigen Erfolge der Kolonisten gaben den in der Nachbarschaft lebenden Gutsbesitzern Anlass zu Überlegungen: worin wohl ihr Geheimnis bestand? Man fand auch eine Antwort: Privilegien. Eine „unverschämt“ niedrige Kindersterblichkeitsrate, der wachsende Ertrag der Felder, die Dörfer sauber und ordentlich, Kolonisten, die sich vor niemandem bücken und vor niemandem die Mützen ziehen, erstaunlich freundliche Leute … „Begünstigt sind die! Von Steuern befr … ach nein! Die zahlen sie genau wie wir … Aber von der Wehrpflicht sind sie befreit! Davon werden sie immer fetter!“ In der hauptstädtischen und der lokalen Presse entfaltete sich eine Polemik zum Thema „Kolonisten – die neue privilegierte Schicht Russlands“: „geschenktes Land“, „vom Wehrdienst befreit“, „ungehinderte Ausreise garantiert“, „mit einem Wort – der neue Adel!“
Finanzminister Graf Jegor Franzewitsch Kankrin ließ sich, ohne lange zu überlegen, vor den Karren der wutschnaubenden Gutsbesitzer spannen und schlug eine fünfhundert Rubel betragende Rekrutenabgabe von jedem Kolonistengehöft vor.
„Von Adel bin ich hinterrücks, ’nen Arschin1 hab ich in der Büx“, alberte Ludwigs Bruder Christoph und griff sich durch die Hose an sein bestes Stück, während er versuchte, auf Russisch einen Kalauer zu verfassen, als Antwort auf die Worte des Bruders: „Auf deren Feldern machen die Leibeigenen die Rücken krumm, und auf den unseren unsere eigenen Kinder … Wir machen uns selbst zu Knechten.“
„Die Luft würgen sie uns ab, die Halunken! Die Luft zum Atmen!“, Ludwig schlug mit der Faust auf den Tisch. „Sein ganzes Leben hat Vater geschuftet, um das Haus hier abzuzahlen, und das zweite haben wir mit gemeinsamer Anstrengung errichtet … Kurz und gut, es ist einfach nicht zu schaffen, dass jeder seinen eigenen Hof bewirtschaftet … Wir werden Fünfwänder bauen und mit jeweils zwei Familien unter einem Dach leben, die gemeinsam eine Landwirtschaft betreiben.“
„Ist ja nichts Neues – wir hocken eh schon mit zwölf - sechzehn Mann an einem Herd …“
„Was denn, Ludwig, du hast doch schon zwei Söhne, gib doch den einen zum ewigen Dienst2 …“
„Hundsdreck, nur nicht zum Militär … Wir haben einen Vertrag – wir alle, auch unsere Kinder sind vom Wehrdienst befreit …“
Zur selben Zeit wies Jegor Franzewitsch Alexander dem Ersten ein Exemplar jenes Manifests, das die Großmutter des Imperators, Katharina die Zweite, herausgegeben hatte, und in dem der Minister auf der dritten Seite Paragraph 7 unterstrichen hatte, welcher lautete:
„Aller obengenannten Vorteile und Einrichtung haben sich nicht nur diejenigen zu erfreuen, die in Unser Reich gekommen sind, sich häuslich nieder zu lassen, sondern auch ihre hinterlassenen Kinder und Nachkommenschaft, wenn sie auch gleich in Rußland geboren, solchergestalt, daß ihre Freyjahre von dem Tage der Ankunft ihrer Vorfahren in Rußland zu berechnen sind.“
„Eure Majestät, mit diesen Worten – ihre Freijahre von dem Tage der Ankunft ihrer Vorfahren in Russland zu berechnen – gab Katharina die Große uns die Freiheit, die Anzahl dieser Freijahre festzulegen … Es kann doch nicht sein, dass alle Nachkommen auf immer und ewig … Von diesen Nachkommen gibt es, bei dieser Geburtenrate in den Kolonien, bald eine Million.“
„Verehrtester Graf, ich brauche keinen Kolonisten mit der Waffe in der Hand, ich sehe ihn lieber hinter dem Pflug … Noch sind zu wenige Jahre vergangen, um ihn zu den Unsrigen zu zählen, noch ist er nur auf dem Papier russischer Untertan, im Herzen gehören die Siedler noch lange nicht zu uns … Die Aushebung von Rekruten würde sie aufschrecken, und viele von ihnen würden ins Ausland ziehen, in andere Kolonien … Nein, Jegor Franzewitsch, diese Freijahre reichen noch nicht aus …“
Im Ukas Alexanders I vom 23. Dezember 1824 wurden die Kolonisten „auf ewige Zeiten“ vom Wehrdienst befreit.
***
1874
Beständigkeit können wir nirgends beobachten – alles um uns wandelt sich, mal schneller, mal langsamer, und im Schneckentempo verändert sich sogar das Firmament. Doch ist dem Menschen der unbändige Wunsch eigen, zumindest etwas zu verewigen – so, dass es ein für alle Mal ist, und alles klar, und ohne Wenn und Aber.
Die „ewigen Zeiten“ währten für die Kolonisten, die aufgrund des Manifests nach Russland gekommen waren, ein gutes Jahrhundert. Kein Wunder, haben doch im Russischen die Worte für Jahrhundert und Ewigkeit – Wek und Wetschnost – denselben Wortstamm.
Im Manifest des Zaren Alexander II vom 1. Januar 1874 hieß es: „Die Macht des Staates besteht nicht allein in der zahlenmäßigen Stärke des Heers, sondern vor allem in dessen moralischen und geistigen Qualitäten, die nur dann eine hohe Entwicklung erfahren, wenn die Verteidigung des Vaterlandes zur Sache des gesamten Volkes wird, wenn sich alle, ohne Ansehen von Stand und Vermögen, in dieser heiligen Pflicht vereint sehen.“
Die Verordnung von 1874 „Über die Wehrdienstpflicht“ wurde de facto zum Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht. Ihr erster Paragraph lautete: „Der Schutz von Thron und Vaterland ist die heilige Pflicht jedes russischen Unterthanen …“
„Oh nein, das lasse ich nicht zu! Meine Kinder werden keine Waffe in die Hand nehmen!“, empörte sich Johann August auf dem Familienrat, noch immer im selben Elternhaus. In diesem Februar hatten anhaltende Schneestürme gewaltige Schneewehen auf den Straßen und Höfen angehäuft, und die nordwestliche Seite des Hauses, in dem sich die Wagners am Abend versammelt hatten, war bis zur Hälfte mit Schnee zugeschüttet. „Diese Herren können sich bei der Aufteilung auf irgendwas nicht einigen, und ziehen dann die Völker in ihre Scharmützel mit rein.“
„Was willst du machen, August! … Die Wehrpflicht ist für alle russischen Untertanen eingeführt worden … Befreit sind nur die, die die Staatsangehörigkeit nicht angenommen haben …“
„Und die sie nicht angenommen haben, werden mit solchen Steuern belegt, dass …“, warf Johann Philipp ein, der Bruder Jakobs, des Hofbesitzers, und wurde sogleich von ihrem Vetter August unterbrochen:
„Das Recht auf Ausreise hat uns bisher noch niemand genommen … Wir emigrieren nach Amerika!“
Eine solche Wendung des Gesprächs hatte niemand in der verrauchten, gut geheizten Stube erwartet, und alle starrten den „Aufrührer“ in Erwartung einer Erklärung an.
„Heute drücken sie uns die Wehrpflicht auf, morgen machen sie die Grenzen zu, und dann, ehe man sichs versieht, müssen alle russisch sprechen, und wird unser Glaube unterbunden, und werden alle zu Rechtgläubigen umgetauft …“
Johann August wandte den Blick hin und her, bestimmte im Kopf die Himmelsrichtung, tickte mit dem Finger in den östlichen Zimmerwinkel und meinte:
„Hier stellst du die Ikone der Gottesmutter auf, Jakob, und zündest ein Lämpchen davor an.“
„Wie – müssen alle russisch sprechen? Kann man uns denn zwingen? Erstmal müssen sie’s allen beibringen … Und dafür – weißt du, wie viel Lehrer sie dafür brauchen? An der Wolga gibt es schon eine Viertelmillion Kolonisten, und Schulen …“, Philipp kratzte sich den Schädel. „Man bräuchte wahrscheinlich mindestens tausend Lehrer.“
„Die Kirche nehmen sie uns nicht … Alle Zaren haben zu allen Zeiten die Glaubensfreiheit garantiert … Sag uns lieber, warum nach Amerika? Wer hat dich denn darauf gebracht?“, schaltete sich Karl in das Gespräch ein, der gemeinsam mit seinem Bruder Georg in einem Fünfwänder wohnte. (Karl und Georg waren leibliche Brüder von Philipp und Jakob, dem Gastgeber).
„Die Mennoniten. Die haben in Samara einen Sammelpunkt für Ausreisewillige eröffnet. Im Mai geht’s los, über Petersburg nach Amsterdam, und von da aus weiter nach New York …“
„Du willst dich doch wohl nicht den Mennoniten anschließen?“
„Und wenn schon! Im Unterschied zu uns sind die sich einig, die stehen fest füreinander ein, nicht so wie hier in Glarus, wo jeder sein eigenes Ding macht … Die hatten sie für zwanzig Jahre vom Wehrdienst befreit, und ihnen nach Ablauf dieser Frist einen Zivildienst versprochen – als Jäger, Waidmänner, oder bei der Post … und jetzt haben sie alles rückgängig gemacht: zahl dreihundert Rubel oder ab zu den Soldaten … Dabei verbietet ihnen ihre Religion zu kämpfen …“
„Und wenn ihr Dorf mal von Banditen überfallen wird, was machen sie dann?“, fragte Jakobs zwanzigjähriger Sohn Alexander, der bis dahin kein Wort verloren hatte, respektvoll.
„Sie geben ihr Letztes, weil ja nicht Gott die Banditen erschaffen hat, sondern die Menschen haben sie dazu gemacht …“
„Und wenn die anfangen zu morden?“
„Dann ist es wohl Gottes Wille …“
„Hör auf, Bruder, dummes Zeug zu reden“, stöhnte Johann Jakob, den sie neuerdings immer öfter einfach Jakob nannten.
Er geriet außer sich, wenn jemand ständig Gottes Willen erwähnte; die Bibel las er seit langem nicht mehr, und seiner gottesfürchtigen Ehefrau Maria hatte er anbefohlen: „Dass mir dieses Buch nie mehr unter die Augen gerate!“ Und so war es dazu gekommen:
Jakob hatte einmal in einer Zeitschrift einen aufklärerischen Artikel über den Wasserkreislauf in der Natur gefunden. Nachdem er ihn studiert hatte, holte er die unter dem Bett liegende Bibel hervor, blätterte darin, fand die entsprechende Seite und las laut vor: „Das Wasser aber schwoll immer mächtiger an auf der Erde, so dass alle hohen Berge, die unter dem ganzen Himmel sind, bedeckt wurden.“
Jakob sprang vom Bett hoch und setzte sich auf den Rand der Schlafstatt.
„Und woher soll soviel Wasser gekommen sein, „alle hohen Berge“ „unter dem ganzen Himmel“ zu bedecken?“
Mit dieser Frage begann er, den Pastor seiner Gemeinde zu behelligen. Er führte dem Ärmsten einen unwiderlegbaren Beweis für die Absurdität der Geschichte von der Arche Noahs an:
„Schöpfen Sie doch mal einen Eimer Wasser aus dem kleinen See am Alten Adam und gießen sich den über den Kopf, und dann schöpfen Sie noch mal und gießen noch mal, und dann wieder und wieder … Na, und wird das Wasser im See ansteigen oder nicht? So eine Überschwemmung kann an einem bestimmten Ort geschehen, aber niemals zur selben Zeit auf der ganzen Erde!“
Anfänglich hatte der Pastor noch versucht, dem Wort der Wissenschaft gemäße Beweise zu finden, nahm aber sehr bald Abstand von diesem Vorhaben und erklärte, man müsse die Geschichte von Noah sinnbildlich verstehen, „und nicht so wie du, wortwörtlich.“ „Und alles andere, was da geschrieben steht, muss ich das auch mehr als eine Art Allegorie verstehen – oder wie?“
Zu derartigen Diskussionen war der Diener Gottes nicht bereit und beendete jeden weiteren Disput auf brüske Weise:
„Es existieren natürliche Dinge, und widernatürliche und übernatürliche, und letztere liegen in der Hand Unseres Herrn. Deine Sache ist es, zu glauben, und nicht umherzutönen!“
Bei sich dachte er: Man sollte in den Schulen unbedingt die Christenlehre verstärken, damit solche Zweifel ausgerottet werden … nur unsere Protestanten stellen solche Fragen, die Katholiken wagen nicht mal, so was zu denken.
Seitdem besuchte Jakob den Gottesdienst nur noch an Feiertagen und nannte im engsten Kreis den Verfasser der Bibel einen völligen Dummkopf, dem genau solche Dummköpfe gefolgt seien. Wenn man ihm zur Antwort gab, in der Heiligen Schrift offenbare sich der Allmächtige selbst, antwortete er, dass Gott solchen Unsinn nicht verfasst hätte:
„Betrug ist das, klarer Betrug!“
„Ja, glaubst du denn überhaupt an Gott? Gibt es deiner Meinung nach einen Gott?“
„Den gibt es. Doch hüllt Er sich in Schweigen und flüstert niemandem etwas ein!“
„Wieso?“
„Genau so!“
Der Hausherr erhob sich von seinem Stuhl, rieb sich mit der Faust das Kreuz und sagte, dass man zum sechsjährigen Wehrdienst nur Söhne aus Familien einberufe, in denen genügend Arbeitsleute vorhanden seien, so habe es ihm der Dorfschulze erklärt, und aus Glarus würde nur ein Rekrut im Jahr eingezogen, der per Losverfahren zu ermitteln sei.
August ging über diese Erläuterungen hinweg.
„Noch bin ich kein Mennonit, Brüder, aber ich werde mit ihnen gehen, und dann sehe ich weiter … Bis Mai muss ich alles verkauft haben … Mein erworbenes Land teilt unter euch auf.“
***
1898
Und so sind wir im Grunde schon im nächsten Teil unserer Erzählung angelangt. Obwohl die Zahl der Kolonisten aufgrund der Emigration gesunken war, stellten die Wolgakolonien, die sich in den Jahren davor ausgeweitet hatten, Augenzeugen zufolge das Paradies auf Erden dar. Hier blühten und dufteten die Obst- und Blumengärten. Die Flüsse trugen ihr klares, sauberes Wasser – Grundlage bäuerlichen Wohlstands – gleichmäßig durch viele verschlungene Adern hinab zur Wolga. In den großen und kleinen Seen, den Fischteichen und Buchten gab es vielerlei Fisch. Auf den Feldern setzten Weizen, Roggen, Gerste und andere Getreidekulturen ihre Ähren an. In den Gemüsegärten reiften Wasser- und Zuckermelonen. Alles war wahr geworden, was in der Präambel des Vertrags mit jenen Kolonisten gestanden hatte, die auf Katharinas Einladung hin an die Mittlere und Untere Wolga gekommen waren. Es war wahr geworden, doch nicht gleich, sondern hundert Jahre später im Ergebnis beharrlicher Arbeit.
Nur eines war nicht geschehen – die Russifizierung der Kolonien. Selbst nach Ablauf von über hundert Jahren waren die Deutschen Deutsche geblieben. Und nicht nur das: die Pedanterie, Direktheit im Urteil und in der Rede, Ehrlichkeit, Unbestechlichkeit, Arbeitsliebe und andere für die Deutschen typische Eigenschaften hatten sich noch weiter ausgeprägt. Solche Charakterzüge waren selbst in Deutschland kaum noch zu finden; hier aber, in Russland, waren sie förmlich erstarrt, durch die Arbeit gefestigt, und hatten eine bemerkenswerte Beständigkeit erlangt. Doch widersetzte sich der Charakter der Russen, die in den Kolonien lebten, ebenso beharrlich jeder Veränderung. Wie zum Beispiel Iwan Semjonow, der sich mit Elisabeth Lüst verheiratet hatte und in die Kolonie Glarus gezogen war. Er trug sein Hemd mit störrischer Hartnäckigkeit über der Hose, obwohl die Kolonisten sich darüber lustig machten. Die Russen wurden hier „Gebundene“3 genannt, und ärgerte sich jemand über ihre Dickköpfigkeit, hieß es: „Ein Russe hat einen Russen im Busen“, allerdings klang es im Dialekt so: „Ein Ruß hat noch ein Ruß im Busm“. Mit einem Wort: die Deutschen änderten sich nicht, um die Traditionen der fernen Heimat zu bewahren, die Russen aber, weil hier ihre Heimat war.
„Noch was, ich werd mich doch nicht wie ein Deutscher kleiden! Wenn mich Bekannte so erblicken würden, würden sie mich ja auslachen“, erklärte Iwan, warum er sich nicht auf die Art der Kolonisten kleiden wollte.
Auch die Sprache lernte er nicht. Er verständigte sich auf Russisch, und wenn man ihn nicht verstand, flocht er ein paar deutsche Wörter ein. Wenn auch das nichts half, wandte er sich um Hilfe an seine Frau.
„Euch zwingen sie sowieso bald, russisch zu sprechen, Alexander Iwanowitsch, also lernen Sie doch lieber von mir, als dass ich bei Ihnen lerne“, reflektierte Iwan Fjodorowitsch Semjonow in der Schmiede der Familie Wagner, wo er nach sechs gern mal hereinsah. Zu dieser Uhrzeit hatte Alexander seine Arbeit in der Regel beendet und war beim Aufräumen, so dass er sich nebenbei unterhalten konnte. Iwan Fjodorowitsch kam nicht nur der Unterhaltung wegen, sondern auch, um ein Tässchen des aromatischen Kräutertees zu trinken, den der Schmied zum Ende seines Arbeitstages aufbrühte. „Was ich tagsüber an Schweiß vergieße, fülle ich abends mit zwei – drei Bechern Tee wieder auf.“
„Dein Teechen ist gut, Iwanitsch – an Kräutern sparst du nicht.“
„Nicht nur an Kräutern, auch Hagebutten nehme ich reichlich. Meine Katja sammelt und trocknet den ganzen Sommer lang. Ich hab sogar noch Reserven vom vorletzten Jahr.“
Beim Tee wurde der ansonsten eher maulfaule Schmied gesprächig und unterhielt sich zu Semjonows Freude lebhaft mit ihm. Iwan betrübte nur, dass Alexander nach dem üblichen Tee das Gespräch abrupt beendete, seinen Gesprächspartner hinausbegleitete und, nachdem er die Schmiede zugesperrt hatte, heim eilte oder sein Pferd sattelte und nach Majanka flog – einer Ausbausiedlung südöstlich von den Kolonien Glarus und Schaffhausen.
„Dieser herzlose Deutsche“, schimpfte Iwan Fjodorowitsch auf dem Heimweg vor sich hin. „Wie ein Irrer – bloß schnell zu seiner Katja! Lässt einen mitten im Wort stehen, der Puter!“
Heute hatte es der Schmied eilig, zur Ausbausiedlung zu kommen. Drei Jahre zuvor hatten die Brüder Alexander und Karl sich entschieden, Pferde zu züchten, und hatten den Hof in Majanka gegründet. Den ganzen Sommer über hüteten Alexanders Söhne abwechselnd die Pferde. Ihre Mutter Katharina kümmerte sich mit den Töchtern Sophie und Auguste um die Wirtschaft.
Dem Schmied bereitete Sorge, dass Glarus in diesem Jahr nicht einen Rekruten stellen sollte, wie früher, sondern ganze vier. Wie immer gab es den Vorschlag, per Los zu entscheiden. Alexanders mittlerer Sohn Friedrich (auf russisch Fjodor genannt) war im März einundzwanzig geworden, und ihre Familie sollte am Losverfahren teilnehmen.
Die Sonne hatte gemächlich die Wolga überquert und verschwand gerade hinter dem Horizont. Die Schatten der einzeln stehenden Bäume wurden länger. In die Talsenken kroch undurchdringliche Finsternis. Das Gebäude des Pferdestalls wirkte um diese Zeit um gut ein Dutzend Arschinen länger. „Nächstes Jahr bauen wir an – versetzen die Mauer so um fünfzehn Schritt“, überschlug Alexander im Kopf die bevorstehende Erweiterung des Hofes. Er betrachtete seinen Familiensitz von der Anhöhe aus: von hier aus war das gesamte Gehöft (der Chutor, wie der Schmied es gern nannte) gut zu überblicken.
Die Pferde drängten sich bereits ungeduldig im Pferch, hinter dessen breiter, noch geschlossener Pforte die Brüder mit Kleie vermischten Hafer in die Futterkrippen füllten. Auf der anderen Seite des Weges, der in den Innenhof führte, befanden sich ein großer, mithilfe von Holzstangen abgezäunter Auslauf und ein dazugehöriger Stall – das Reich des Zuchthengstes, Siegfried genannt. („Er soll genügend Platz haben, wenn er sich mit den Stuten vergnügt.“) Muskulös, gewaltig, mit glattem seidigen Fell, kam Siegfried nahe an den Koppelzaun heran, schlug mit dem Huf auf die trockene Erde und blickte gierig auf die Stuten; sein stoßweises, tiefes Wiehern rollte durch die abendliche Luft. Der achtzehnjährige Hengst erfüllte seine Aufgabe noch immer zur Zufriedenheit – er deckte ausnahmslos alle, ohne grob zu sein und mit großer Sachkenntnis. Jede ihm anvertraute Stute umwarb er stundenlang, trieb sie ausdauernd mit leisem Wiehern durch den Auslauf, rieb seine Schnauze an ihrer Seite, und irgendwann lief die Stute zur Verwunderung aller von ganz allein in Richtung Pferdestall und der erregte Siegfried folgte ihr langsam, vorsichtig die Beine setzend, worauf sich dort, unter der Überdachung, abseits der neugierigen Blicke, das von der Natur vorgesehene Wunder vollzog, in dessen Ergebnis die Herde und der Wohlstand des Bauernhofes wuchsen.
„Das Schicksal meint es gut mit dir, Siegfried … kannst das Leben genießen“, sagte Alexander, der sich an dem gepflegten mächtigen Hengst freute.
Siegfried spitzte die Ohren und wandte den Kopf für einen Augenblick seinem Herrn zu, doch gleich darauf wurde seine Aufmerksamkeit wieder von der zweijährigen Stute in Anspruch genommen, die neugierig in seine Richtung schielte.
Heute Abend war der Familienvater aufgewühlt und äußerte seine Besorgtheit freiheraus:
„Der Welt droht ein großes Unglück. Die berufen doch jetzt nicht zum Spaß vier Rekruten pro Kolonie ein … Und was da alles in den Zeitungen steht! Als hätten sie alle den Verstand verloren. Wetteifern um die meisten Kanonen, haben Kriegsschiffe noch und nöcher gebaut … Bereiten sich auf einen Krieg vor, diese Unmenschen, haben den Rest der Welt noch nicht unter sich aufgeteilt …
„Wer bereitet sich vor?“
„Die Reichen, wer sonst?! Wer außer denen braucht denn einen Krieg? Für die sind wir Kanonenfutter und keine Menschen … Wir hätten mit den Mennoniten nach Amerika gehen sollen.“
„Beruhigt Euch doch“, unterbrach Andrej, der Älteste, den Vater. „Wehrdienst ist doch noch kein Krieg.“
„Fünf Jahre Wehrdienst, dann noch fünfzehn in der Reserve – bis dahin haben wir den Krieg. Mein Herz kann es spüren – es werden keine zehn Jahre mehr vergehen, bis es kracht.“
„Heinrich Trerin hat seine Zeit abgedient, ist zurück und hat jetzt in Saratow ein Unternehmen eröffnet … Spricht fließend russisch“, schaltete sich der jüngste Sohn Johann ein, der, wenn er nur dürfte, sofort als Freiwilliger zum Heer gehen würde.
Der Halbwüchsige hegte eine offene Begeisterung für Heinrich, der kürzlich ihren Hof aufgesucht hatte, um fünf Pferde zu kaufen. Dieser hatte nach eigenen Worten in einem Dragonerregiment gedient und nannte sich stolz Dragoner. Böse Zungen behaupteten allerdings, er sei nur Trossknecht gewesen und habe die ganzen fünf Jahre Pferdeäpfel weggeräumt. Wie auch immer, Heinrichs Haltung war die eines Offiziers, und auch seine Manieren hatten sich merklich verändert. Erzählt wurde auch, er sei bis über die Ohren in irgendein russisches Fräulein verliebt.
„Wenn du Russisch lernen willst, brauchst du nicht im Heer zu dienen, das kannst du auch in der Schule … Solltest mehr mit deinem Lehrer reden!“
„Aber unser Lehrer kann selbst nicht ordentlich Russisch. Der Schulinspektor hat in der Literaturstunde Tränen gelacht, als Marie Schmidt (unsere beste Schülerin!) ein Gedicht aufgesagt hat. Außer „Nascha Dascha sa Bukascha“4 hätte er nichts verstanden, hat er gesagt, aber angehört hätt’ es sich wie aus einer ihm unbekannten slawischen Sprache. Unser Gebundener Semjonow hat mir schon mehr Russisch beigebracht als der Schullehrer!“
Johann lachte selbst über seine Äußerung, wurde aber von seinem Vater ärgerlich zurechtgewiesen:
„Halt den Mund! Bist noch zu jung, um so im Kreis Erwachsener zu schwätzen …“ Der Vater wandte sich an den mittleren Sohn und fuhr fort: „Morgen ist die Auslosung … Du stehst mit auf der Liste.“
„Steh ich halt drin, geh ich halt dienen … Wenn Gott will, komm ich glimpflich davon.“
„Gott will gar nichts! Er schickt auch niemanden in den Krieg! Gottlose Verbrecher sind das, die die Soldaten in den Krieg hetzen … Stecken dir ein Gewehr in die Hand, zwingen dich zu töten, und am Ende bist du selbst ein Verbrecher, ein Mörder nämlich.“
Fjodor hätte am liebsten etwas entgegnet, hielt sich jedoch zurück. Die endlosen Diskussionen über Angreifer und Verteidiger, über Ursachen und Folgen aller möglichen Auseinandersetzungen und darüber, wer recht habe und wer schuldig sei, endeten jedes Mal in einer Sackgasse. Alle Argumente waren bereits erschöpft; es blieb nur noch, sich auf den Allmächtigen zu berufen.
„Gott hat die Pflicht, die Verbrecher aufzuhalten!“
„Wie soll er sie aufhalten? Er kann nicht einmal ein Staubkörnchen wegpusten, weil Er in uns ist, und nicht hier, und reden tut er mit allen Menschen …“
„Dann soll er sie über das Gespräch auch aufhalten …“
Und so weiter und so fort. In irgendeiner Zeitung hatte Fjodor mal die Abhandlung eines Historikers über die Aufteilung und Umverteilung der Welt gelesen. Die Schlüsse des Autors jenes Artikels erschienen ihm klar und nachvollziehbar, und jetzt wusste er mit Sicherheit, dass die Aufteilung der Welt abgeschlossen war, die Neuverteilung aber bis ans Ende der Zeiten anhalten würde, da sich die Staaten unterschiedlich schnell entwickelten. Und sobald einem von ihnen ein Sprung nach vorn gelingt, wird er sofort danach trachten, seinen Nachbarn ein Stück Land zu entreißen und es sich einzuverleiben.
Der Vater liebte es, nach einem Arbeitstag im Kreise seiner Söhne ein wenig zu philosophieren, wie er es ausdrückte, obwohl ihm des Öfteren die Argumente ausgingen und er sich in die Enge getrieben fühlte. Dann reagierte er hitzköpfig, unterbrach seine Söhne mitten im Wort oder aber brach die Diskussion ganz ab – um am nächsten Tag aufs Neue zu dem unterbrochenen Streitgespräch zurückzukehren oder ein anderes Thema ins Gespräch zu bringen, das ihn bewegte. Romane und irgendwelche sonstigen Dichtereien erkannte Alexander nicht an (sinnlose Zeitverschwendung!), die Begeisterung seines Sohnes Fjodor für Zeitungen und Zeitschriften aber war ganz nach seinem Geschmack. Fjodor wurde zweimal monatlich nach Katharinenstadt gesandt, um Einkäufe zu erledigen, und dort kaufte er billig alte Zeitungen und Zeitschriften auf.
Der Vater brach den Streit wegen der bevorstehenden Auslosung ab (der sowieso nichts ändere, und morgen würde sich auf dem Schulzenhof alles zeigen), und brachte das Gespräch auf ein Gerücht, das in der Gegend umging: Heinrich Trerin habe sich wohl einer Saratower Zelle der Narodniki5 angeschlossen; man müsse sich vor ihm vorsehen.
„Vier Jahre ist es erst her, dass sie diese Brüder auseinandergejagt haben, und schon sind sie wieder da!“, schimpfte Alexander beunruhigt und verärgert. „Wenn sich erweist, dass das wahr ist, lass ich ihn nicht über unsere Schwelle.“
„Und was wird dann aus unserer geplanten Fohlenzucht?“, erklang fast einstimmig ein Aufschrei der Söhne. Die Sache war die, dass Heinrich, nachdem er bei Alexander fünf Hengste gekauft, diesem von seinen weitreichenden Plänen berichtet hatte: „Wir eröffnen in Saratow eine neue Pferderennbahn, und züchten die Rennpferde bei dir im Gestüt …“
„Was hat es dann noch für einen Sinn, sich mit ihm zusammenzutun? Die Gendarmen werden ihn verfolgen und ins Gefängnis stecken, und dann habt ihr eure Rennbahn … Diese Taugenichtse wiegeln alle auf, drängen sich an die Macht, und wenn sie die haben, ergeht’s uns schlecht. Dann schon lieber den Zar, einen anderen brauchen wir nicht …“
„Was sind das schon für Narodniki! Die gibt’s schon lange nicht mehr; jetzt kommen immer mehr die Sozialisten in Mode“, warf der älteste Sohn Andrej ein. „Deren Führer sind Friedrich Engels und Karl Marx. Und Heinrich ist ganz und gar kein Marxist, der hat aus purer Dummheit nur laut sein Mitleid mit einem Saratower Bekannten geäußert, den sie nach Sibirien verbannt haben, als Heinrich beim Heer war …“
Fjodor wühlte in einem Packen alter Zeitungen, die auf dem Tisch lagen, zog ein vergilbtes Blatt heraus und las vor:
„Die Eroberung der politischen Macht wird zur großen Pflicht des Proletariats! – Das ist es, was die Deutschen jetzt den Völkern des Planeten beibringen. Uns betrifft das allerdings nicht: wir haben schließlich kein Proletariat, es gibt also auch nichts zu erobern!“
„Um uns schert sich doch sowieso keiner. Erstens sind wir Bauern, zweitens dem Zaren hündisch ergeben, drittens verstehen wir kein Russisch …“
„Darum geht es nicht, Andrej. Es ist einfach so, dass bei uns acht von zehn Bauernhöfen florieren, und zwei zurechtkommen. Und in den russischen Dörfern ist es umgekehrt: acht können gerade so existieren und nur zwei sind wirklich erfolgreich. Die Sozialisten aber brauchen ein unzufriedenes Volk, ein verarmtes. Deshalb gibt es für sie hier in unseren Dörfern und in Katharinenstadt nichts zu tun …“
„Und ich glaube Folgendes“, erklärte das Oberhaupt der Familie lautstark. „Unzufriedene Menschen lassen sich immer finden, sogar bei uns. Nur – unsere Bauern gehen nicht bei denen an den Haken, weil wir von unserer Wirtschaft keinen Schritt wegkommen … Arbeiten den lieben langen Tag, sind voll ausgelastet. Du sagst, wir hätten keine Arbeiterklasse? Und die Sägearbeiter? Die haben in der Stadt ein Artel6 gegründet, und jetzt treibt sich ihr Brigadier in den Dörfern herum, bietet ihre Arbeit an. Früher sind sie einfach durchs Dorf gekommen, haben hier Brennholz gesägt, da Holz gehackt und gestapelt, ihr Geld erhalten und dann eine Woche lang versoffen. Und das läuft jetzt anders: ihr Brigadier ist ein strenger Kerl, scheucht sie bis in den tiefsten Herbst zur Arbeit. Ihr Geld kriegen sie erst zum Saisonende auf die Pfote, und dann können sie damit machen, was sie wollen. Mit ihrer Zeit wissen sie nichts anzufangen, und so kommen sie auf dumme Gedanken. Und da haben die Sozialisten, diese Spitzbuben, leichtes Spiel und schieben ihnen die Idee von der „Eroberung der politischen Macht“ unter. Na, hab ich recht oder nicht?“
„Was Ihr sagt, Vater, ist wie immer sehr folgerichtig“, bemerkte der jüngste Sohn Johann trocken und hob, Heinrich Trerin nachahmend, die Augen zur Decke, womit er tiefe Nachdenklichkeit demonstrierte. „Das Proletariat muss auch in der Zwischensaison Arbeit bekommen.“ (Das Wort „Proletariat“ hatte Johann von Heinrich, der, als er den jungen Freund in seine Pläne einweihte, gesagt hatte, dass er die Proletarier des Katharinenstädter Artels im Winter beim Bau der Wirtschaftsgebäude bei sich in Saratow beschäftigen wolle.)
Alle blickten den Halbwüchsigen interessiert an. Fjodor, der begriff, woher der Wind wehte, grinste, Andrej schwieg, der Vater aber dachte bei sich, man muss ihn von diesem Heinrich fernhalten, der ist älter und setzt dem Jungen nur Flausen in den Kopf. Laut aber sagte er, und in seiner Stimme klang kaum unterdrückter Stolz mit:
„Du warst für dein Alter schon immer schlau, immer vorneweg, aber jetzt bist du ja ein ganz Weiser geworden!“
Mit diesem „vorneweg“ spielte der Vater auf eine Geschichte an, deren Erwähnung die Familie stets zum Lachen brachte. Vor fünf - sechs Jahren hatte Alexander vor jedes seiner Kinder ein Ei gestellt und verkündet: „Wer seines als erster aufisst, bekommt noch eins.“ Johann ergriff sein ungepelltes Ei, steckte es, ohne lange zu überlegen, in den Mund und kaute es gründlich durch.
An diese Geschichte erinnert, lachten die Anwesenden allesamt los, und Mutter, die dabei war, das Abendessen zu bereiten, prustete: „Dieses Ei wird ihm für immer anhaften.“
„Johann haftet das Ei an, und uns Wagners allen die Eiche, der Alte Adam. Sie fängt an, trocken zu werden … in diesem Jahr ist ein Ast nicht ausgegrünt.“ Nach einer Pause fügte der Vater hinzu: „Kein gutes Zeichen ist das.“
Von seiner Beziehung zum Alten Adam wussten nicht nur die Familienangehörigen, sondern das ganze Dorf. Danach, wie und wann das Blattwerk der Eiche sich verfärbte, sagte Alexander das Wetter für den bevorstehenden Sommer voraus. Sie machten sich darüber lustig, und doch hörten sie auf seine Prognose. Wann immer er an der Eiche vorbeikam, stieg er vom Pferd, ging an den Baum heran, klopfte und strich mit der Handfläche über den Stamm und sprach zu ihm. Nach dem Gottesdienst kam er oft hierher, „um nachzudenken“, und saß bis zum Mittag auf der Bank. „Der Baum spricht mit mir, ich spüre das, und im Gespräch wird die Wahrheit geboren, wie ihr wisst“, erklärte er seiner Familie. „Durch das Gespräch mit dem Baum hab ich schon viele gute Entscheidungen getroffen.“
„Du solltest nicht mit dem Alten Adam reden, sondern mit Gott“, versuchte Katharina den Mann auf den Pfad der Wahrhaftigkeit zurückzubringen.
„Vermittels des Baumes rede ich ja gerade mit Gott, so fällt es mir leichter. Hast du denn nicht gelesen in der Schrift, wie die Vorväter gebetet haben – von Anhöhen, unter Eichen und Feigenbäumen?“
Nach dem tragischen Geschehnis, das seinem Vater Jakob zugestoßen war, begann Alexander, der Eiche auch noch die Gabe der Hellseherei zuzuschreiben. Und das war so.
Einmal, als sie im Schatten unter der Eiche saßen, sagte Jakob:
„Morgen fahren wir nach Balakowo.“
Plötzlich begannen die Blätter des Baumes über ihnen, heftig, laut rauschend, zu zittern, und verstummten ebenso plötzlich; Stille trat ein. Alexander erhob sich von der Bank, sah sich in allen Richtungen um, versuchte, die Ursache des Phänomens zu ergründen, ließ sich dann aber kopfschüttelnd wieder auf der Bank nieder.
„Kein Wind, kein Hauch, der See spiegelglatt, nicht eine kleine Bewegung zu sehen“, wunderte er sich.
„Nehmen wir an, der Alte Adam heißt mein Vorhaben gut“, scherzte der Vater.
Sie beruhigten sich.
Am nächsten Morgen fuhr Jakob auf seinem Leiterwagen, der bis obenhin mit Wasser- und Zuckermelonen beladen war, vom Hof und schloss sich einer Gruppe von Bauern aus seinem Dorf an. Dieses Mal hatten sie beschlossen, ihre Ware im Norden abzusetzen, und nicht, wie sonst, südlich, in Katharinenstadt.
Zunächst schien Jakob das Glück hold zu sein: in Balakowo verkaufte er die gesamte Ware an einen Zwischenhändler. Die mit ihm gereisten Dorfgenossen, die zum Verkauf Äpfel geladen hatten, hatten weniger Glück und mussten an der Anlegestelle warten, bis sich ein passender Aufkäufer fand.
„Ich fahr schon mal los, werd nicht auf euch warten, übernachte am Tabaksee.“
„Graut’s dir nicht, so allein?“
„Ach was, ich fahre vom Weg ab, versteck mich in einem Wäldchen. Wer soll mich da aufspüren? Auf den Wegen ist auch nichts los, kein Mensch ist uns auf der Herfahrt begegnet.“
Gesagt, getan. Am See fuhr er in den Wald hinein, spannte die Pferde ab und ging zum Wasser, um sich zu erfrischen. Hier war es, wo er überfallen wurde. Die Räuber schlugen ihn nieder, nahmen ihm das Geld aus dem Verkaufserlös ab und ließen Jakob besinnungslos am Ufer liegend zurück.
So fand ihn Christian Breitenstein aus seinem Dorf. Dieser hatte seine Melonen ebenfalls verkauft, seinem Bruder die Äpfel überlassen und sich eine Stunde nach Jakob ebenfalls auf den Heimweg gemacht. („Vielleicht hole ich ihn noch ein, wenn nicht, finde ich ihn am See.“)
Jakob kam mehrere Tage nicht zu sich, konnte aber, als er wieder aufwachte, zum Erstaunen aller genau über das Geschehene berichten. Er hatte die Räuber erkannt, sie aber ihn nicht, sonst hätten sie ihn wohl totgeschlagen. Die Brüder Tscherepanow aus dem Dorf Tschernucha waren im ganzen Umkreis bekannt als Schläger und Säufer. Obwohl von den Leuten aus Tschernucha und den umliegenden Dörfern vielerlei Anzeigen gegen sie vorlagen, konnten sie sich ungestraft alles erlauben. Es hieß, in Samara bekleide ein Onkel von ihnen ein hohes Amt, und „wehe einer rührt sie an“.
Nach jenem Vorfall erlosch das Familienoberhaupt allmählich. Die schwere Gehirnerschütterung wurde auskuriert, die verletzten Nieren aber verloren ihre Funktion. Sechs Jahre später starb er.
Die beiden Banditen überlebten Jakob nur um ein Geringes, und einer nach dem anderem verschwand aus dem Leben der Dörfler. Den älteren, Pjotr, fand man mit dem Gesicht nach unten in der Mitte des Tabaksees schwimmend, der jüngere verschwand spurlos. Die Gendarmen befragten die örtliche Bevölkerung ausgiebig, kamen auch nach Glarus, konnten aber nichts herausfinden. Es wurde entschieden, dass Pjotr in bezechtem Zustand ertrunken sei, der jüngere aber, alleingeblieben, habe wohl Angst vor den Feinden bekommen, von denen sich die Brüder in ihrem kurzen, sündigen Leben einige gemacht hatten, und habe das Weite gesucht.
Nicht lange vor seinem Tod hatte Jakob allerdings etwas geäußert, von dem es Alexander ganz unbehaglich geworden war: „Vielleicht hat ja einer von uns dieses Pack erschlagen, aber die Wagners haben schon manches Geheimnis mit ins Grab genommen, keinem was gesagt … Und richtig so! Wozu die Verwandtschaft noch mit einem Geständnis quälen …“
Nach Jakobs Beisetzung behaupteten böse Zungen, Gott habe ihn dafür bestraft, dass er die Heilige Schrift herabgesetzt habe. Dem wurde entgegnet, der Verstorbene habe das Evangelium aber nicht abgelehnt. Pastor Adam Max, der einmal unfreiwillig Zeuge eines solchen Streits wurde, führte daraufhin lange in seinen Sonntagspredigten unwiderlegbare „Beweise“ für den untrennbaren geistigen Zusammenhang zwischen dem Alten und dem Neuen Testament an.
Nachdem er ausreichend philosophiert hatte, lenkte Alexander das Gespräch in wirtschaftliche Bahnen, erteilte Anweisung, wer was am nächsten Tag zu erledigen habe, und befahl alle zu Bett.
Am nächsten Morgen fand auf dem Schulzenhof die Auslosung statt. Fjodor hatte Glück – er bleib daheim. Der Grund dafür war einfach: drei von den neun Kandidaten hatten sich freiwillig zum Rekrutendienst gemeldet.
Der Dienst in der zaristischen Armee wurde unter der Jugend der deutschen Dörfer immer populärer.
1 Arschin: altes russ. Längenmaß (0,71m)
2 Anspielung auf die Dauer des Wehrdienstes, die zu der Zeit bei 25 Jahren lag
3 Bezogen auf den um das Hemd gebundenen Strick
4 Kindervers, vergleichbar mit: „Unser Stinchen sprach zum Bienchen …“
5 Die Narodniki (russ. Volkstümler): eine sozialrevolutionäre Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vorwiegend unter Intellektuellen
6 Artel: in Russland ein freiwilliger Zusammenschluss zur Organisation gemeinsamer wirtschaftlicher Aktivitäten, häufig auch als Frühform von Genossenschaften bzw. gewerkschaftlicher Organisation angesehen
Vor seiner Militärzeit war Heinrich Trerin, so die Leute aus seinem Dorf, ein anderer Mensch gewesen. Fröhlich, umgänglich, vergleichsweise unkompliziert, besaß er das wunderbare Talent, allen zu gefallen. Die Kinder liebten seine fröhlichen, lauten Spiele, den jungen Mädchen widmete er Madrigale, die Kameraden schätzten ihn wegen seiner Furchtlosigkeit und Entschlossenheit, mit den Leuten mittleren Alters redete er über Alltägliches und die Alten grüßte er achtungsvoll und hob, wenn er sie aus der Ferne erblickte, grüßend die Hand. Seine Dorfgenossen brachte er mit Witzen über die neuen Regeln zum Lachen, die die russischen Behörden eingeführt hatten, um die Namen der Kolonisten anzupassen.
„Wir sind jetzt alle Owitschs und Ownas.“7
Entsprechend der neuen Verfügung sollten die Kolonisten „endlich“ zu den in Russland üblichen „normalen“ Vor- und Vatersnamen übergehen. Heinrichs Vater Gottlieb zum Beispiel hieß mit zweitem Namen Tobias, und jetzt stellte sich die Frage, von welchem seiner zwei Namen der Vatersname des Sohnes zu bilden sei: entweder Heinrich Gottliebowitsch oder Heinrich Tobiasowitsch. Sie entschieden sich für ersteren, weil seine Schwester, die auf den stolzen Namen Anna Maria getauft war und nun Anna Gottliebowna oder Anna Tobiasowna heißen sollte, unnachgiebig gewesen war: „Tobiasowna will ich nicht sein, dann schon lieber Gottliebowna.“ Wenn die Älteren diesem umgänglichen jungen Mann nunmehr ihre besondere Sympathie bekundeten und ihn respektvoll Heinrich Wilhelm nannten (Wilhelm war der Name seines Großvaters gewesen), korrigierte er sie höflich und mit einem Lächeln: „Heinrich Gottliebowitsch bitte!“
„Pfui Deuwel! Alles haben sie uns genommen, jetzt geht’s auch noch an unsere Namen! Barbaren!“, schimpfte der ehemalige Dorfschulze Konrad Schlotthauer.
„Nicht alles, Johann Konrad. Das Land haben sie uns auf ewig zugestanden, und auch unsere Kirche ist Lutheranisch.“
In der ersten Zeit nach seiner Rückkehr zeigte sich Heinrich nach wie vor umgänglich: erzählte den Dorfleuten Verschiedenes aus seiner Soldatenzeit, zwinkerte den Mädchen freundlich zu, erwies den Alten wie früher seine Achtung – unterschied sich also kaum von jenem fröhlichen, freundlichen Burschen, als der er zum Militär gegangen war. Die schöne Emma, vier Jahre jünger als Heinrich, hatte nicht geheiratet, um auf ihn zu warten; doch schien er sie überhaupt nicht wahrzunehmen.
„Was war da zwischen dir und Emma?“, fragte sein Vater ihn. „Die will von keinem Burschen in der Gegend etwas wissen.“
„Da war gar nichts, Vater, nicht einmal geküsst haben wir uns. Die, die ich geküsst habe, sind alle ohne Ausnahme verheiratet.“
„Dann küss sie doch mal, vielleicht kommt sie dann von dir los“, scherzte Gottlieb Tobias. „Das Mädel kann einem ja leid tun.“
Heinrich wurde es schwer ums Herz. Er war jetzt fünfundzwanzig, hatte aber nichts vorzuweisen als die Erfahrungen seiner Militärzeit. Alle anderen seines Alters hatten Familien, zwei oder gar drei Kinder, pflügten ihr Land und waren glücklich. Heinrich aber lockte eine solche Zukunft nicht. Warum, konnte er selbst nicht sagen; ihm stand einfach der Sinn nicht danach, und Punkt. Er träumte von etwas anderem.
„Die ganzen vier Dienstjahre hab ich Pferde betreut und alles gelernt, was man darüber wissen muss. Ich kann alles herstellen, was zur Ausrüstung eines Pferdes gehört, kann jeden Hengst zureiten, repariere jeden Leiterwagen und jede Britschka, und sogar richtige Kutschen; und wenn ich das nötige Material habe, kann ich die Produktion jeglicher Pferdetransportmittel organisieren“, teilte er dem Vater seine Zukunftspläne mit. „Ich hab in der Zeit dreihundertfünfzig Rubel angespart und will mit Jermolai Telegin in Saratow ein Geschäft aufziehen, wir haben zusammen gedient. Jermolai hat ein altes Haus geerbt, aber ein großes. Ein Grundstück dabei, so groß wie dein Feld. Dort machen wir unser Artel auf und nennen es auf Deutsch „Rund um das Pferd“. Allerdings beträgt mein Anteil tausend Rubel, Jermolai bringt einen Teil seines Hauses ein, als Kontor, und die fehlenden sechshundertfünfzig Rubel leiht mir die Bank.“
„Und das Grundstück?“
„Das pachtet das Artel vom Besitzer.“
„Also von Jermolai.“
„Ja.“
Gottlieb Trerin ging zu einem Apfelbaum, schüttelte ihn, auf die Erde purzelten reife Äpfel.
„Zeit für die Ernte … Hol dir nachher einen Korb und sammle alles auf, was schon herabgefallen ist. Ich red heute Abend mit Mutter. Die sechshundertfünfzig Rubel geben wir dir – wozu sich in Schulden verstricken.“
„Danke, Vater, ich zahle sie euch auf jeden Fall zurück.“
„Brauchst du nicht, sieh zu, dass du Fuß fasst, das ist Rückzahlung genug … Letztes Jahr konnten wir alles Getreide ins Ausland verkaufen, und die diesjährige Ernte geht wohl auch dorthin, im Austausch gegen Maschinen. Unser Volk können wir, scheint’s, ernähren, aber die Handwerke haben wir vernachlässigt. Du bist auf dem richtigen Weg, Heinrich; nur glaube ich, dass sich Pferdefuhrwerke in den Städten nicht mehr lange halten werden. Was ihr da in Angriff nehmen wollt, ist uralt, wie die irdische Schöpfung, also haltet die Nase in den Wind!“
„Daran haben wir auch schon gedacht, Vater. Unsere Traber bringen wir mit unseren eigenen Gigs auf die Rennbahn. Später werden wir uns auch den Automobilen widmen. Unser Artel nennen wir dann „Rund um Pferde- und Motorwagen“.
„Ich vertraue dir, mein Sohn, voll und ganz, sonst würde ich dir das Geld nicht geben … Bist als Bursche zum Militär gegangen, als Mann zurückgekehrt.“
Mitte August machte sich Heinrich auf einem bis obenhin beladenen alten Leiterwagen auf den Weg nach Saratow. Der Vater und die älteren Brüder hatten sich nicht lumpen lassen und dem angehenden Unternehmer als Zugabe zu dem Geld auch noch ein Pferd, den Wagen („Wenn du ihn auseinandernimmst und einiges auswechselst, ist er wie neu!“), verschiedene Gerätschaften und so viele Lebensmittel zukommen lassen, dass es für ein halbes Jahr langen würde. „Das brauchst du schon mal nicht zu kaufen!“
Ach, die Jugend! Jung und frei sein! Frei von Aufsicht und Maßregeln der Eltern. Unabhängig und selbständig eigene Entscheidungen treffen! Und endlich suche ich mir eine Braut … bin zwar noch jung, aber schon erfahren und reif genug. Eine Braut, von höherer Macht bestimmt, nicht nach irgendwelchen Gesichtspunkten ausgesucht, sondern vom Schicksal gesandt.
Heinrich ließ seinen Phantasien freien Lauf, sie stiegen ihm zu Kopf, betäubten ihn.
Emma, Gertrud, was brauchte er sie … ungebildete Landweiber waren sie, ohne Romantik und Leidenschaft, nur Vernunft, Anstand und Ehrlichkeit zählten … sinnierte der junge „reife Mann“ laut, während er sich von seinem Heimatdorf entfernte.
Heinrich entsann sich einer Person, deren Dienste von zweifelhafter Reinheit er während seiner Militärzeit in der Stadt N. in Anspruch genommen hatte. Jene welt- und lebenserfahrene Dame hatte ihn, den um zehn Jahre jüngeren Milchbart, unterrichtet: „Was bist du unromantisch, Heinrich. Nichts Geheimnisvolles, Ungesagtes, keine Anspielungen … Dein Gesicht ist klar wie Wasser: jeder kann schon im Voraus erkennen, was du sagen oder tun willst. Und deine Geschenke sind immer dieselben, und die Manieren: immer ausgeglichen, immer besonnen. Keine wahre Leidenschaft … Oh, oh, du wirst es noch schwer haben bei unseren Mädels.“
So etwas zu hören kränkte ihn natürlich, vor allem dass er es schwer haben würde bei den Mädels … Auch Jermolai hatte manchmal angedeutet, er grinse wie ein Honigkuchenpferd, sogar seine Ohren würden Besuch kriegen, blöd sähe das aus.
Dabei war er nur den Russen und sonstigen Kanaken und Muselmännern gegenüber so. Mit seinen eigenen Leuten konnte er ganz normal reden. Das kam davon, dass er sich so bemühte, jedes Wort deutlich zu artikulieren, damit sie ihn richtig verstünden, dabei verzog und verzerrte er auch das Gesicht mehr als nötig– so erklärte Heinrich es lautstark einem nicht existierenden Publikum. Diese Angewohnheit musste er loswerden, schließlich war sein Russisch mittlerweile ganz passabel!
Derartige Bemerkungen weckten in Heinrich Zweifel, ob er sich seinen innigsten Wunsch je erfüllen könne. Er träumte von einem russischen Mädchen, nicht einem einfachen (mit einfachen Mädels fand er schnell eine gemeinsame Sprache), sondern einem mit feineren Umgangsformen, aus einer besseren Familie, vielleicht sogar mit adligen Wurzeln. Im dritten Jahr seines Militärdienstes hatte er ein Gedicht Puschkins auswendig gelernt: „O Stunde seliger Vereinung…“, es hatte sich ihm fest eingeprägt, und, wann immer er in seiner Einbildung die geliebte, begehrte Herzensdame besuchte, murmelte er unwillkürlich vor sich hin: „Wo du erschienst mit holdem Gruß, gleich einer flüchtigen Erscheinung, der reinsten Schönheit Genius…“. Seine große Liebe hatte Heinrich bisher nicht getroffen. Jene glimmenden Gefühle, die erloschen, ehe sie richtig aufflammten, hatten in ihm ein gewaltiges Gefühl der Neugierde geweckt, und dieses qualvolle und gleichzeitig süße Sehnen, diese sich zart regenden Empfindungen resultierten in seinen Augen aus dem „unvermeidbaren Schmerz der seelischen Wiedergeburt“. Sein Herz war bereit für das ganz große Gefühl, und schreckte ihn bisweilen auch die eigene Offenheit, die eigene Bereitschaft, sich mit ganzem Herzen, mit allem Sinnen und Trachten einer solchen Liebe hinzugeben, so erlaubten die ihm eigene Entschlossenheit und Furchtlosigkeit dem jungen Mann nicht, vom abgesteckten Weg abzuweichen.
Genau! Der „unvermeidbare Schmerz der seelischen Wiedergeburt“ … Und wer diese Qualen nicht ertragen kann, stirbt, – verkündete Heinrich wiederum laut seine Gedanken. In seiner Erinnerung erstand die Geschichte des tragischen Todes eines jungen Offiziers namens Dejnekin, der im vorigen Jahr die ganze Garnison erschüttert hatte. Gott sei Euch gnädig, Miroslaw Alexejewitsch! Dabei war niemandem an ihm etwas aufgefallen – immer gut drauf, immer umgänglich, und plötzlich erschießt er sich. Wenn die Person es wenigstens wert gewesen wäre! Mit solchen Gedanken bog der Reisende vom Weg ab und hielt an, um zu rasten. Dabei hatte ich sie wahrgenommen, diese versteckte Schwermut, ganz tief in seinen Augen!
Friedlich und gehorsam, wie es sich für ein Arbeitspferd gehörte, wurde Wallach Paul nur aus zwei Gründen unruhig: wenn er Durst hatte oder wenn er Hunger hatte. Im Augenblick verspürte er Durst, und das laute Gluckern in seinem Bauch ließ im Wechsel mit seinem unzufriedenem Wiehern ganz klar die Ursache seiner Erregung erkennen. Während er Paul abspannte, entdeckte Heinrich, dass das Geschirr geflickt werden musste, und beschloss, sich sogleich daranzumachen, womit er den Unwillen des Wallachs hervorrief: Paul begann, den Kopf zu schwenken und von einem Bein auf das andere zu treten, was seinen Herrn an der Arbeit hinderte.
„Schon gut, schon gut“, klopfte Heinrich dem Wallach beruhigend auf den Widerrist. „Ich spann dich erst ab und hole Wasser … Also gedulde dich ein wenig, mein Lieber, ich habe schließlich auch Hunger …“
Während er zum Bach hinab stieg, entsann sich Unteroffizier Heinrich Trerin schmunzelnd der Worte seines Freundes Jermolai: „Pferde sind klüger als Menschen“. Sobald dieser ein wenig über den Durst getrunken hatte, ignorierte er alle sonstigen Themen und begann, seine Zuhörer mit Histörchen über Pferde zu unterhalten, die er irgendwann gelesen oder gehört hatte. Auch selbst hatte Jermolai schon manches erlebt, was die Klugheit dieser Tiere bestätigte.
„Ein Pferd bringt einen von selbst nach Haus – man muss die Zügel nur loslassen …“, und Heinrichs angeheiterter Freund ließ zum Abschluss unweigerlich den Satz folgen: „Pferde sind klüger als Menschen“.
Eine seiner Geschichten war folgende: Jermolai hatte sich einmal auf dem Rückweg zu seinem Truppenteil verirrt. Es wurde bereits dunkel, und er lenkte sein Pferd an den Weggabelungen nach Gutdünken mal rechts, mal links entlang.
„Unerfahren wie ich damals war, begriff ich nicht, warum mein Pferd so unzufrieden war: wenn wir abbogen, fing er manchmal an zu wiehern und den Kopf hin und her zu schwenken. Irgendwann hatten wir uns genug gequält, und da fiel mir der Rat meines Onkels ein, und ich kam auf die Idee, die Zügel hängen zu lassen. Und was meint ihr? Das Pferd hat mich zu den Ställen geführt!“
„Der wollte nichts als fressen und nach Haus in den warmen Pferdestall“, entgegneten ihm seine Kameraden.
„Genau! Fressen! Und nach Haus – richtig! Und du, wenn du hungerst und frierst, findest du den Weg? Siehst du! Sag ich doch: Pferde sind klüger als Menschen.“
Am folgenden Tag, wenn er wieder nüchtern war, gestand er meist ein, dass Pferde nicht immer die Klügeren sind, „aber lernen können wir doch von ihnen“.
Nachdem er den Wallach getränkt hatte, hängte Heinrich ihm einen Futtersack mit Hafer um den Hals, selbst aber legte er sich in den Schatten des Wagens.
Ach, ist das schön! Das Leben ist wundervoll … Wenn wir unser Artel in Gang haben und zu Wohlstand kommen, schaffe ich mir einen Smoking an, einen Zylinder, und unbedingt auch einen Gehstock, und werde Zugang zu allen Salons der Stadt haben. Na, erstmal müssen wir natürlich kräftig arbeiten!
Der künftige Saratower Dandy wurde nachdenklich. Zum x-ten Mal dachte er daran zurück, wie er sich entschlossen hatte, Geschäftsmann zu werden. Selbst bei aufmerksamster Betrachtung konnte Heinrich keinen Grund sehen, seinem Freund zu misstrauen. Wie auch er, war Jermolai im Rang eines Unteroffiziers in die Reserve übergetreten. Obwohl sein Onkel Anton Iwanowitsch Telegin den Posten des Intendanten für die Truppen der Wolgagebiete bekleidete, hatte sein Neffe keinerlei Privilegien und stellte diese Tatsache auch nicht zur Schau. Die Idee, ein Artel zu gründen, war von eben jenem Onkel gekommen, der den Truppenteil, in dem Jermolai und Heinrich dienten, in dienstlicher Angelegenheit besucht hatte.
„Wenn du zur Reserve wechselst, rate ich dir, in Saratow ein Artel aufzumachen“, hatte Anton Iwanowitsch zu seinem Neffen gesagt. „Aufträge kannst du von mir zuhauf bekommen. Nimm auch deinen Freund mit ins Boot, es ist gut, dass er zu den Kolonisten gehört. Die haben da in der Provinz gute Waren, hohe Qualität zu menschlichen Preisen, und vor allem sind diese Leute fleißig und ehrlich, was für ein gemeinsames Unternehmen ja wichtig ist. Wie lange ich den Posten noch mache – keine Ahnung, vielleicht haben wir ja noch genug Zeit, bevor sie mich ablösen. Wer nicht zu faul ist, gründet heutzutage ein Geschäft, wird Unternehmer. Geld regiert die Welt, nicht der Zar!“
Diese Worte seines Onkels gab Jermolai seinem Freund wieder, und im letzten Dienstjahr saßen er und Heinrich ständig „über irgendwelchen Berechnungen, Plänen, Skizzen“. So formulierte es der Gefreite Nikolai Scheffer in seinem Bericht an die Garnisonsführung. Er schloss den Bericht mit den Worten: „Derartige vorschriftswidrige Beschäftigungen ziehen wiederholte Verspätungen und eigenmächtiges Entfernen vom Dienst, wie auch Verschwendung von Militäreigentum nach sich.“ Nikolai war das typische Beispiel eines Kolonisten, der streng, pedantisch alle Vorschriften befolgte, wofür er den Spitznamen Nikolai Ustawitsch, oder einfach nur Ustaw8 erhielt. „Pst, Ustawitsch kommt!“ – und sofort waren alle Soldaten still. In den ersten Dienstjahren wurde der Rekrut Scheffer „ohne Zeugen“ verprügelt, später „versehentlich“ von schweren Gegenständen getroffen; jetzt, im vierten Dienstjahr, mied man den Gefreiten Nikolai Jakowlewitsch Scheffer ganz einfach.
„Auf solche wie ihn stützt sich die eiserne Ordnung in den Kolonien“, erklärte Heinrich den Soldaten Nikolais charakterliche Besonderheiten. „Er ist der festen Überzeugung, dass er richtig handelt, in der Kolonie ist für ihn die Befolgung der von der Gemeinde festgelegten Regeln das Wichtigste, und hier in der Garnison eben die Einhaltung der militärischen Vorschriften. Bei ihm in der Kolonie bestrafen sie die kleinsten Vergehen mit Rutenschlägen. Wenn sich ein Halbwüchsiger respektlos über seine Eltern äußert, gibt es zwanzig Schläge, wenn sich zwei keifende Nachbarinnen laut streiten, kriegt jede fünfzehn, und wenn einer sich besäuft, gibt es fünfzig mit der Rute …“
„Aber du bist doch nicht so …“
„Ich passe mich den Umständen an, aber er kann das nicht … und will es wohl auch nicht.“
Ein zweistöckiges Gebäude, die untere Etage aus Vollziegeln gemauert, die obere bestehend aus Holzbalken. Jermolai hatte ihm das Haus mit allen Details auf Velinpapier aufgezeichnet. Darunter stand die genaue Adresse, und oben rechts auf dem Blatt war der Anfahrtsweg aus Richtung des Fähranlegers skizziert. Die Kummets, Zügel, Bauchriemen und so weiter würden sie in der ersten Etage fertigen, und oben würde er sich einquartieren, so träumte Heinrich weiter, auf dem Rücken liegend, von der Zukunft. In dem Haus hatte ein ganzes Jahr lang niemand gewohnt, sicherlich war alles verstaubt. Er würde gleich am ersten Tag Ordnung schaffen.
Heinrich erhob sich, spannte den Wallach in aller Ruhe an und fuhr auf den Weg.
„Wir übernachten in der Kolonie Näb oder in Orlowka, was meinst du, Paul?“
Das Pferd nickte zustimmend mit dem Kopf.
Gegen Mittag des vierten Tages fand der junge Mann mühelos, ohne jemanden fragen zu müssen, den auf Jermolais Skizze markierten Weg zum Haus. Das hohe Gras, die Kletten, die sich zwischen Tor und Pforte ausgebreitet hatten, die vollgestaubten Fenster – alles zeugte davon, dass hier schon seit langem niemand mehr lebte und dass sich niemand um das Haus kümmerte. So lange auch wieder nicht, überlegte Heinrich, Jermolais Oma war wohl erst ein Jahr zuvor gestorben. Er lenkte das Pferd bis ans Tor, sprang vom Wagen, sah sich um und ging hinüber zum Nachbarhaus. Dort, bei der kinderreichen Familie von Iwan Pankratow, sollte Jermolai die Schlüssel für alle Schlösser des künftigen Artelgebäudes hinterlegen.
„Oi, und wir haben erst morgen mit Ihnen gerechnet, ich wollte morgen früh saubermachen und das Gras mähen“, schnatterte die Nachbarin los. „Iljka9, komm mal, hilf dem Herrn Soldaten beim Abladen. Und ich geh sofort, feg und wisch in der Hütte ganz fix auf …“
„Bin kein Herr Soldat, hab meinen Dienst schon abgeleistet. Wie heißen Sie denn, gute Frau?“
„Die Darja bin ich“, erwiderte sie und dachte bei sich, was für ein höflicher Mensch, siezt mich sogar, gleich zu merken, dass er ein deutscher Kolonist ist.
Die zahlreiche Familie der Pankratows kam auf die Veranda herausgelaufen. Darjas dreijährige Tochter, der es nicht gelang, sich nach vorn zu drängeln, begann zu weinen. Die Mutter nahm sie hoch und die Kleine beruhigte sich. Heinrich konnte sich gleich denken, wer von ihnen Ilja war – der längste, ein vielleicht fünfzehnjähriger Bursche. Neben ihm stand sein jüngerer Bruder, ein weißblonder Bube von kleinerem Wuchs. Ein ungehorsamer Haarwirbel über der Stirn (Enterichfedern, wie der Volksmund sagt), der respektlose, forschende Blick und die gerade Körperhaltung verrieten ein lebhaftes, furchtloses Bürschchen.
„Und wie heißt du?“
„Fomka. Wieso?“
„Lauf zu Telegins, sag Bescheid, dass ich da bin …“
„Und wie viel krieg ich dafür?“
„Einen Fünfer!“
„Ne-e-e, für’n Fünfer lauf ich nicht so weit. Das sind drei Werst hin und drei zurück ... Zwei Fünfer!“ Jermolai hatte von zwei Werst gesprochen. Der Bursche log!
„Na gut, zwei!“
„Jetzt gleich!“
Der künftige Unternehmer zog den Geldbeutel hervor, band ihn auf und holte zwei Fünfkopekenstücke heraus.
„Hier, nimm, aber nun im Laufschritt, beweg die Füße!“
Fomka ergriff zufrieden die zwei Münzen, steckte sie sogleich in die ausgestreckte Hand der Mutter und rannte hüpfend in Richtung des Stadtzentrums.
Eine Stunde später kam eine leichte Equipage mit Fomka und Jermolai angefahren.
„Heinrich! Endlich! Schön, dich zu sehen!“, schrie Jermolai begeistert und sprang vom Tritt, noch ehe die Kutsche anhielt. Während er mit weiten Schritten durch das geöffnete Tor in den Hof kam, rief er der Frau, die dabei war, ein Fenster zu putzen, ärgerlich zu:
„Mit dir hab ich noch ein Hühnchen zu rupfen, Darja!“
Die Freunde tauschten einen kräftigen Händedruck, umarmten sich herzlich und klopften einander lachend auf die Schultern.
„Gehen wir ins Wirtshaus, essen wir was“, schlug Jermolai vor. „Da ist eins gleich um die Ecke. Die sollen hier inzwischen schrubben und mähen, ich hab sie schon im Voraus bezahlt … Das ist vielleicht ne Familie, die haben die Arbeit auch nicht erfunden!“ Jermolai wandte sich an den ältesten Sohn der Pankratows, Ilja, und befahl in strengem Ton: „Das Pferd führst du in den Stall, dann mähst du den Hof und stellst das Fuhrwerk unter das Schutzdach. Wir sind in etwa zwei Stunden wieder hier – dass mir dann alles blitzt!“
„Wir müssten abladen“, erinnerte Heinrich den Kameraden.
„Und wohin damit? In die verdreckte Hütte? Lass man sein – das machen wir nachher zusammen.“
Telegin legte seinem Armeefreund den Arm um die Schulter und zog ihn mit sich auf die Straße.
So begann das ersehnte Leben „auf eigenen Füßen“. Die frischgebackenen Unternehmer teilten die Pflichten unter sich auf und begannen mit der Arbeit. Jermolai übernahm die Produktionsvorbereitung, die Beschaffung von Aufträgen und den Absatz, und Heinrich die Produktion selbst. Fürs Erste beschlossen die Freunde, niemanden einzustellen – solange sie „nicht selbst in Arbeit erstickten“. Jermolai gestattete seinem Freund und Kompagnon, das obere Stockwerk des Hauses ein halbes Jahr lang mietfrei zu bewohnen und versprach, falls Heinrich auch weiterhin dort bleiben wolle, ihm dann einen erschwinglichen Mietpreis zu machen. Auch eine Pacht für das Grundstück brauchte das Artel vorerst nicht zu zahlen. Überhaupt folgte Jermolai den Ratschlägen seines Onkels und sprach, um jegliche Unklarheiten von vornherein auszuschließen, alle Details ihrer gemeinsamen Arbeit mit Heinrich ab. „Besprich alles vorher, schieb nichts auf die lange Bank und vor allem: niemals lügen! Wenn du einen Deutschen einmal belügst, will er nie wieder was mit dir zu tun haben“, belehrte Anton Iwanowitsch den Neffen. „Wenn die Kolonisten einen von ihnen mal beim Klauen erwischen, ist der für immer gebrandmarkt, und wenn er sich auch nach Sibirien absetzt …“ Abschließend erzählte der Onkel Jermolai, wie er zu Beginn seiner Tätigkeit als Intendant in der Arbeit mit den Kolonisten „Fehler“ begangen hatte (genauer ging Anton Iwanowitsch auf seine Fehler nicht ein). Seitdem glaubten sie seinen Worten nicht und verkauften ihm seine Produkte nur gegen sofortige Barzahlung.
Zum ersten Advent erhielt Heinrich Besuch von seinem Vater Gottlieb Trerin. Dieser war mit dem Stand der Geschäfte überaus zufrieden, erteilte Heinrich aber (wie sollte es anders sein?) zum Abschied eine Menge Ratschläge – fast identisch mit denen, die Anton Iwanowitsch seinem Neffen erteilt hatte. „Freundschaft schön und gut, aber beim Geschäft hört die Freundschaft auf … Bringe deinen Kameraden nicht durch zu große Vertrauensseligkeit in Versuchung … Plane Zeit ein für die Kontrolle der Geschäftslage“, und zum Schluss sagte er: „Weiterbilden müsst ihr euch, sonst kommt ihr über Kummets und Zügel nie hinaus.“
Sie kamen aber doch „über Kummets und Zügel hinaus“: im Januar nahmen sie sechs Kutscher, sogenannte Noviki10, in das Artel auf und führten eine Mitgliederversammlung durch, in der Jermolai Telegin zum Starosta11 und Heinrich zu seinem Stellvertreter gewählt wurde. Auf der Versammlung stellte der neugewählte Starosta, nachdem er den Gedanken aufgegeben hatte, die doppelte Buchführung doch noch zu erlernen, den Versammelten auch gleich den Buchführer Johann Ludwigowitsch Kinderknecht vor, einen bejahrten grauhaarigen Menschen, der Haupt- und Grundbuch des Artels führen sollte.
Vom Frühjahr an waren auf den Straßen der Stadt Kutschen mit einer einprägsamen Zeichnung auf den Türen zu sehen, dem Emblem das Artels: um den Kopf eines Pferdes lief statt des Kummets eine Schrift, die besagte: „Rund um das Pferd“.
Mit Anbruch des Frühjahrs gewöhnte Heinrich sich an, nach dem Mittagessen (welches Darja ihm bereitete) einen Spaziergang zu machen, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Meist ging er in Richtung Hauptplatz und kehrte nach zehn Minuten zurück, um noch ein wenig auf der Bank am Haus zu sitzen und das Gesicht in die Sonne zu halten. Wenn Leute vorübergingen, beobachtete er sie unauffällig, so dass sie seine Neugier nicht bemerkten. Das gemächliche Stadtleben, nach dem man die Uhr stellen konnte, war nicht sehr abwechslungsreich – während seiner nachmittäglichen Beobachtungen sah und beobachtete Heinrich fast immer ein und dieselben Leute. Viele von ihnen grüßte er hörbar oder mit einem Kopfnicken.
Dreimal wöchentlich ging auf der anderen Straßenseite eine kleine Gruppe junger Mädchen vorüber. Eine von ihnen erregte Hein