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Wibke Bruhns

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Beschreibung

Wibke Bruhns war eine der bedeutendsten deutschen Journalistinnen. 1938 in Halberstadt geboren, machte sie schon früh Karriere beim Fernsehen und wurde 1971 beim ZDF die erste Nachrichtensprecherin der Bundesrepublik. Damals eine Sensation und ein ungeheuerlicher Skandal. Doch ihre Leidenschaft war die politische Berichterstattung. Was auch immer passierte: Wibke Bruhns war ganz nahe am Zeitgeschehen – und an den Persönlichkeiten, die die bundesdeutsche Geschichte prägten. Ob die Studentenproteste 1968, der Aufstieg und Fall Willy Brandts, der Skandal um die vermeintlichen Hitlertagebücher oder der Mauerfall – Wibke Bruhns' Erinnerungen sind das Zeugnis eines illustren Lebens und ein bestechend frischer Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik.

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Wibke Bruhns

Nachrichtenzeit

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Über dieses Buch

Wibke Bruhns ist eine der herausragenden Journalistinnen unseres Landes. Ob als erste deutsche Nachrichtensprecherin, als politische Berichterstatterin in der Ära Brandt oder als Korrespondentin in den USA

Inhaltsübersicht

WidmungEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnDank
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Für Ida, Sam und Moritz

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Eins

Es gibt noch Menschen, die erinnern sich. Heute Neunzigjährige reden mit schmalen Lippen von den Entbehrungen der Nachkriegszeit. Die Währungsreform im Juni 1948 – einschneidendste Veränderung im Leben der Deutschen nach dem Krieg. Wo kamen plötzlich all die Waren her in den Läden? Wer sollte sie womit bezahlen – erste Apfelsinen, Kugelschreiber! Selbst der Volkswagen war plötzlich binnen acht Tagen lieferbar, für 5300 DM. Wer hatte die? Die Deutschen Ost und die Deutschen West wurden für lange Zeit getrennt. Die Sowjetunion blockierte Land- und Wasserwege nach Berlin. In einem Kraftakt sondergleichen versorgten die Alliierten 2,2 Millionen Westberliner elf Monate lang aus der Luft. Bürgermeister Ernst Reuter am 9. September 1948 vor dem zerbombten Reichstag: »Ihr Völker der Welt … schaut auf diese Stadt.« Was ist dagegen der Kosmos einer Zehnjährigen? Meine Welt. Die hatte andere Prioritäten.

Heute kann ich Weihrauch schwer ertragen. Aber damals, ich war knapp zehn, habe ich mich daran berauscht. Immer wieder schlich ich in eine katholische Kirche in unserer Nähe – Feindesland! –, klaute Weihwasser für die obligatorische Bekreuzigung und kniete mich in eine harte Bank, das Geschehen um mich herum im gesenkten Blick. Da waren die Messbuben (ach, wenn sie doch auch Mädchen nähmen!), die Priester in ihren goldbetressten Gewändern huschten um den Altar, Backwerk wurde in die Luft gehoben zu lateinischem Singsang. Ab und zu klingelte ein Glöckchen, und Weihrauch. Weihrauch!

Feindesland? Für ein evangelisch-reformiertes Kind aus Halberstadt war dies hier vermintes Gelände. Katholiken waren schließlich mit dem Teufel im Bunde. Schwarze Gestalten flüsterten in Beichtstühlen, auf den Gemälden steckten halbnackten Männern Pfeile im Brustkorb, unschuldige blonde Jungfrauen wurden als Hexen im Moor versenkt, und die Inquisition verbrannte sie lichterloh auf Scheiterhaufen. Der Rosenkranz war Perle für Perle Zauberwerk – ich wusste alles. Meine Phantasie war sehr beschäftigt.

Mit dem Glauben an Gott hatte das wenig zu tun. Der war abgedeckt mit dem abendlichen »Müde bin ich, geh zur Ruh …« und sonst nirgendwo präsent. Dies hier war eine Mutprobe eher, verknüpft mit dem wohligen Gruseln, das ich aus Geisterbahnen kannte. Niemand hatte mir beigebracht, dass Katholiken suspekt seien, aber schließlich bekam man was mit am Rande des kindlichen Kosmos: Da wurde die Absicht eines Vetters, eine Katholikin zu heiraten, in der Sippe mit Stirnrunzeln kommentiert. Da gab es Diskussionen um den Hochzeitsritus – katholisch oder protestantisch – und die Drohung, dass künftige Kinder, wenn nicht katholisch getauft, im Fegefeuer landen würden.

Eine meiner großen Schwestern bekam ein uneheliches Kind mit einem verheirateten Mann. Der war katholisch, was denn sonst, und seine Ehe wurde deswegen nicht geschieden – so waren sie halt –, und ein katholisches Flüchtlingsmädchen in meiner Klasse konnte ich auch nicht leiden. Aber der Weihrauch war unwiderstehlich, und die gerührten Blicke der Betschwestern auf das fromme Kind taten mir gut. Bis eine ältere Ordensfrau meine Maskerade durchschaute und in herrischem Ton nach meinen Eltern verlangte. Das war meine Vertreibung aus dem Paradies.

 

Vertrieben, entwurzelt fühlte ich mich sowieso in dieser Zeit. Wir waren umgezogen ins, wie ich fand, unwirtliche Braunschweig. Das war im Sommer 1948, und unwirtlich war damals alles. Trümmer überall, zu Hause in Halberstadt wie hier. Ich kannte es nicht anders. Aber Braunschweig barg eine zusätzliche Tristesse: Es war fremd. Wir waren ausgesetzt. Es fehlte die Geborgenheit des heimatlichen Chaos mit den vielen Vettern und Kusinen. Familie und Freunde waren zurückgeblieben. Dort kannte jeder jeden, hier kannte niemand irgendwen.

Else, meine Mutter, mühte sich, in einem winzigen deutsch-deutschen Grenzort namens Mattierzoll eine kleine Dependance der Halberstädter Familienfirma neu zu beleben – Getreide, Düngemittel, Saatgut hier wie dort. Aber dies war Westen im Gegensatz zur »Zone« auf der anderen Seite, wo Halberstadt lag. Diesseits des Schlagbaums sollte es in eine bessere Zukunft gehen. Die Grenze übrigens war damals noch durchlässig und hieß die »grüne«.

Es gab zwar sowjetische Kontrollposten auf den Straßen und Militärstreifen im Wald. Da musste man Passierscheine vorweisen, sonst landete man im Arrest, von dem nichts Gutes gehört wurde. Daneben aber existierte ein reger Grenzverkehr, illegal über Felder und bäuerliche Sommerwege. Schleuser führten die Menschen gegen Geld von einem Deutschland ins andere, Lastwagen der Firma I. G. Klamroth, über den Krieg gerettet, schlichen mit abgedunkelten Scheinwerfern nächtens durch Forstschneisen im Harz. Sie brachten Elses Möbel und unsere Wintersachen unter Getreidesäcken verborgen von Halberstadt nach Braunschweig.

Braunschweig als Wohnort musste sein, weil es in Mattierzoll keine Schule gab. Das trostlose Kaff war eher mühsam mit dem Zug erreichbar, und mit dem Auto bestand die Gefahr, aus Versehen in der »Zone« zu landen. Für Kunden, Geschäftsleute, Geldgeber ein Risiko, das mit Hilfe eines Büros in Braunschweig umgangen wurde. Dieses Büro: Es lag neben dem Windfang der Gründerzeitvilla, deren Gesellschaftsräume im Hochparterre Else als Wohnung für uns gemietet hatte. Klo auf halber Treppe, Bad im Keller, Küche im Treppenhaus jenseits einer Milchglastür für Dienstboten aus besseren Zeiten. Im Büro ein düsterer Schreibtisch, Besucherstühle, ein Aktenschrank und an der Wand das Klappbett, verborgen hinter einem Vorhang von undefinierbarer Farbe. Dort schlief ich.

Ob ich da immer schlief, weiß ich nicht. Aber in der Osternacht 1949 sollte ich dort schlafen, da bin ich mir sicher. Denn damals wurde meine bis heute andauernde Abneigung gegen Türknöpfe und den »Faust« geboren. Das ging so: Das Haus – die Wohnung eher – war mal wieder voll mit Gästen. Am Samstag vor Ostern war Goethes »Osterspaziergang« dran, mit verteilten Rollen wurde er gelesen seit Jahr und Tag. Früher in Halberstadt versammelten sich dafür viele Menschen in der großen Diele. Jetzt war es deutlich enger hier. Die Tradition aber sollte gepflegt sein, Umstände würden uns nicht hindern. Ich war zehn und durfte zum ersten Mal mitmachen, krähte Handwerksburschen und Bürgermädchen in die Runde und platzte vor Stolz.

Irgendwann muss es gekippt sein. Else schreibt ins Kindertagebuch: »Wibke empört sich lautstark über Gottes Willkür, die den armen Faust dem Teufel so mir nichts, dir nichts ausgeliefert hat.« Ist ja wahr! Aber ich sehe mir den Text an und denke, dass schlicht Langeweile mich da ausrasten ließ. Meine große Schwester Barbara – 25 war sie und ohnehin von mir nicht sehr geschätzt, weil immer sie es war, die an mir rumerzog – erzählte streng etwas von den heiligen Gütern der Nation und naseweisen kleinen Mädchen, und ich wurde ins Bett geschickt. Ins Klappbett im Büro.

Nachts kam der Pudel. Ich hatte immer eine Heidenangst vor Hunden, ob Dackel oder Dogge, und nun dieser Pudel, von dem ich wusste, dass er der Teufel war. Er winselte, heulte – »Knurre nicht, Pudel!« –, ich floh auf den Schreibtisch, das Tier machte Anstalten, mir nachzusetzen. Ich knallte die Tür zu, stand im Nachthemd im Windfang, wollte die Tür zur Geborgenheit der Wohnung öffnen: Da war der Türknopf. Ich konnte ihn nicht drehen. Meine Hände waren zu klein. Hier draußen gab es keine Klingel. Ich schrie, bummerte gegen die Tür. Niemand hörte.

Im Windfang war es dunkel und eiskalt. Keine zehn Pferde hätten mich zurückgebracht ins warme Bett, wo der Pudel lauerte. Wie »Sterntaler« stand ich da, barfuß im dünnen Hemd. Else fand mich am nächsten Morgen zusammengekauert und steif gefroren auf der Fußmatte. Nach einem heißen Bad brauchte sie all ihre Überzeugungskraft, mich ins Büro zu locken, wo unter Tisch und Bett kein Pudel sich verbarg. Trotzdem: Bis heute habe ich meine Vorbehalte gegen den »Faust«, und in allen meinen Wohnungen, wo ich sie vorfand, habe ich Türknöpfe durch Klinken ersetzt.

 

Die Hoffnung, dass westlich des Schlagbaums in Mattierzoll die bessere Zukunft wartete, entpuppte sich als fundamentaler Irrtum. Else zog am 12. Juni 1948 nach Braunschweig, am 1. Juli war der Neustart der Firmen-Dependance. Dazwischen, am 20. Juni 1948, passierte die Währungsreform. Else hatte 50000 Reichsmark bei ihrem Grenzübertritt in der Tasche gehabt, und dieses Startkapital fürs Geschäft schmolz wie Butter in der Sonne.

Sie saß mit zwei Kindern in einer Wohnung, die sie vor Monaten für 250 Reichsmark gemietet und mühsam durch die Wohnungsbewirtschaftung durchgeboxt hatte. Die Währungsreform, die sonst fast überall das Geld 10:1 umwertete, beließ die Mieten bei 1:1, so dass sie jetzt 250 DM zu zahlen hatte. Ihre Aufzeichnungen sind voll von Schilderungen vergeblicher Versuche, den Hausbesitzer zum Einlenken zu bewegen. Warum sollte er auch, denke ich heute. Er war im Recht, und wer weiß, ob er noch eine andere Einnahmequelle hatte. Aber für Else, die eine Kriegsopfer-Rente von 170 DM bezog, war das der Beginn des Ruins.

Der hatte vielerlei Gesichter. Else verstand nichts, wirklich gar nichts vom Geschäft und war abhängig von Mitarbeitern, die sie letztlich betrogen. Nicht nur die Mieten, auch die Gehälter waren jetzt 1:1 in DM auszuzahlen, und die Firma warf nichts ab. Im Gegenteil: Else verlor einen Prozess gegen die Nachkommen jüdischer Vorbesitzer des Betriebes in Mattierzoll, die einen Anspruch auf Nachentrichtung des früheren Kaufpreises hatten.

Der Vorbesitzer, Dietrich Löwendorf, hatte den Laden verkaufen wollen, als der Druck auf jüdische Geschäftsleute immer stärker wurde. Mit dem Erlös wollte er die Auswanderung seiner Familie nach Palästina finanzieren, und sein bevorzugter Abnehmer war die Firma I. G. Klamroth in Halberstadt gewesen. Das waren langjährige Geschäftsfreunde, die sich auch privat mit den Löwendorfs häufiger getroffen hatten. Von denen versprach er sich, dass er seinen Besitz zurückbekäme, sollten die Zeiten einmal besser werden.

Der Firmen-Inhaber Hans Georg Klamroth, mein Vater und genannt HG, war zu diesem Gefälligkeitshandel bereit und wollte 1938 kaufen für 65000 Mark. Der Landrat in Wolfenbüttel verhinderte das Geschäft, der Preis sei zu hoch. Erst 1942 akzeptierte die Behörde diese Summe, und HG kaufte. Für den Umzug nach Palästina war es jetzt zu spät. Außerdem bekam Löwendorf das Geld nicht in die Hand. Fast 20000 Mark gingen für »Reichsflucht-Steuer« und Ähnliches drauf. Für den Rest kaufte sich der alte Herr (die Söhne waren schon in Palästina) eine »Heimstatt« in Theresienstadt, wo er im April 1943 starb.

Dies gehört zu den Geschichten, derentwegen mir immer noch schlecht wird. Einerseits die zertrümmerten Hoffnungen des Dietrich Löwendorf, andererseits Elses damit verwobenes Schicksal. Denn alle früheren jüdischen Liegenschaften in der britischen Besatzungszone, die während des Dritten Reichs von Nicht-Juden gekauft worden waren, mussten nach dem Krieg noch einmal bezahlt werden. Die Militärregierung hatte diese Ansprüche in ein Gesetz gegossen, auch wenn es sich wie hier nachweislich nicht um Arisierung gehandelt hatte. Else kostete dieses Gesetz 42500 DM – neue, harte DM wohlgemerkt. Das Geld lieh sie sich von Freunden in Holland und hat es über Jahre zurückgezahlt. Ihre Firma in Mattierzoll ging darüber in Konkurs.

 

Ihre zwei jüngsten Kinder waren mit Else nach Braunschweig gekommen. Meine Schwester war damals knapp 15, ich wurde 1948 zehn. Hund und Katze waren ein Herz und eine Seele im Vergleich zu uns. Wir überboten uns von klein auf in Perfidie und Hinterhältigkeit, man konnte uns eigentlich nicht allein lassen. Aber Else ließ uns dauernd allein. Was sollte sie machen in ihrem Kampf gegen die wirtschaftlichen Widrigkeiten? Wir waren nicht die Einzigen, die im Strudel der bundesrepublikanischen Gründerjahre an den Rand gespült wurden. Aber die Schwester und ich gingen unterschiedlich damit um. Elses Aufzeichnungen quellen über vor Sorge wegen der Verzweiflungsausbrüche ihrer zweitjüngsten Tochter, die sich quälte mit Versagensängsten in der Schule, im Sportverein, im Freundeskreis. »Lebensuntüchtig« soll ich Dreikäsehoch sie genannt haben, schreibt Else im Kindertagebuch.

Ich sei da ganz anders, meinte sie: selbstbewusst, unbekümmert, neugierig, begabt mit einem Fell, dick wie Kreppsohlen. Keine Zurechtweisung, kein Scheitern mache mir etwas aus. In Windeseile sei ich zurück auf den Füßen und erneut auf dem Weg. Mag ja sein. Aber warum, wenn ich denn ein so optimistisches Kind war, sind diese drei Jahre Braunschweig in meiner Erinnerung gespickt mit Fehlschlägen und Vergeblichkeit? Die Geschichte mit dem Krippenspiel zum Beispiel.

In Halberstadt hatte meine Klasse eins aufgeführt. Jeder, vor allem die Lehrerin, wusste, dass ich immer Texte schrieb, und die Geschichte mit den Engeln und den Hirten und den Königen kannte ich in- und auswendig. Schließlich fanden bei uns zu Hause im großen Familienkreis stets aufwendige Weihnachtsfeiern statt. Kostüme gab es in der Aufführungskiste, Musik wurde sowieso ständig gespielt, und mehrstimmig sangen wir schon zum Frühstück. Also studierte ich das Stück – mein Stück! – mit der Klasse ein. Die Proben dazu fanden in unserer Diele statt, den musikalischen Rahmen besorgte ich bei Vettern und Kusinen, und dann führten wir das auf in der Aula der Schule schräg gegenüber. Großer Erfolg. Natürlich.

Das Elternhaus in Halberstadt

Quelle: Archiv Bruhns

Ein Jahr später in der Braunschweiger Schule hielt ich mich beim Verteilen der Rollen für das hiesige Krippenspiel zurück. Ich wollte das Stück – mein Stück! – auch hier inszenieren. Als alle Rollen untergebracht waren, ging ich mit meinem Ansinnen zum Lehrer. Der verstand erst gar nicht, wovon ich redete, und als ich ihm das Stück – mein Stück! – zeigte, ihm erzählte, wie wir das gemacht hatten in Halberstadt, hat er das vollgeschriebene Schulheft nicht einmal angesehen. Er hat nur gesagt: »Und hier machen wir das anders.« Ich ging dann einen weiten Umweg nach Hause. Ich hatte keine Handschuhe, das weiß ich noch. Else hat die verfrorenen Hände im Kindertagebuch erwähnt, die Geschichte mit dem »Stück« nicht. Vermutlich habe ich sie nicht erzählt.

Objektiv gesehen war die letzte Zeit in Halberstadt ein Alptraum gewesen. Das riesige Elternhaus, lediglich leicht lädiert durch den Krieg, war bis unters Dach belegt mit Freunden, Familie, Flüchtlingen. Immer wieder blockierte sowjetische Einquartierung Zimmer und Bäder, die Heizung funktionierte nicht, in viele Räume waren Öfen gesetzt, für die keine Kohlen aufzutreiben gewesen waren. In den harten Wintern nach dem Krieg litten viele im Haus unter Frostbeulen und Furunkeln. Das Hauptnahrungsmittel war Weizenbrei – ich denke nicht gern daran zurück. Im Sommer wurde in Batterien von Weckgläsern eingemacht, Kinder mussten dafür zentnerweise Erbsen palen oder Johannisbeeren zupfen. Aber das war’s ja: Es waren genügend Kinder da! Zwölf bis fünfzehn lebten ständig am Bismarckplatz, immer kamen noch welche von außen dazu. Das Miteinander verlief keineswegs nur friedlich, aber in Braunschweig sehnte ich mich danach wie nach einer warmen Mütze.

Ich erinnere mich an den Geburtstag der Schwester 1948. Sie wurde 15, und Else und ich, nur wir beide, sangen vor ihrer Tür das obligate Ständchen. In Halberstadt wäre das ein vielstimmiger Chor gewesen. Hier kam ich allein nicht an gegen eine Mutter, die keinen Ton traf. So verläpperte sich denn auch das Osterwasserholen, großes Ereignis jedes Jahr in Halberstadt. Vor Sonnenaufgang zogen alle Kinder durch den Frühnebel an den Goldbach oder die Holtemme – schweigend! Das war der Witz. Es wurde Wasser geschöpft, eiskalt, und damit das Gesicht gewaschen – stumm. Davon würde man schön werden, glaubten wir. Wenn sich der Horizont dann rot färbte, brach der Chor los: »Es tagt der Sonne Morgenstrahl« und »Geh aus, mein Herz, und suche Freud«. Für Else, die zu Hause ausschlief und sowieso nicht singen konnte, brachten wir Osterwasser in einer Milchkanne mit. Sie sollte auch schön werden dürfen.

Das war in Braunschweig nicht ihr Hauptproblem. Die Währungsreform hatte die Fronten zwischen der »Zone« und den drei westlichen Landesteilen verhärtet. In Berlin begann vier Tage danach, am 24. Juni 1948, die sowjetische Blockade. 322 Tage lang, bis Mai 1949, würden 277728 Flüge der Luftbrücke mehr als 2,1 Millionen Tonnen Güter in die eingeschlossene Stadt gebracht haben. Das waren Kohlen, Milch und Kochtöpfe genauso wie Babycreme und Winterpullover. Für Else bedeutete das, außer dass sie mit ihren Berliner Freunden bangte, den deutlich komplizierteren Umgang zwischen der Mutterfirma in Halberstadt und ihrer maroden Dependance in Mattierzoll. Verluste konnten nicht mehr ausgeglichen, Geschäfte nicht mehr aufgefangen werden. Else war mit ihren Existenzängsten allein.

Da war auch für mich nicht viel Platz. Ich war ein spindeldürres, hyperaktives Kind, eine Nervensäge. Else war froh, mich 1949 über das Hilfswerk 20. Juli vorübergehend in ein Kinderheim abgeben zu können. Das gehörte der evangelischen Kirche und lag in Gaienhofen am Bodensee. Sie schickte mich mit dem Nachtzug, Umsteigen um ein Uhr in Hannover. Ein zehnjähriges Kind nächtens allein quer durchs Land – das würden wir uns heute nicht trauen. Fremde Menschen, Freunde von Freunden der Eltern, holten mich in Stuttgart ab. Sie hatten einen großen Hund, oh Schreck, und ich verstand kein Wort von ihrem Schwäbisch. Aber ich aß zum ersten Mal Oblaten und war beeindruckt. Mit einem Kindertransport des Hilfswerks 20. Juli kam ich ans Ziel, und hier erst, so lese ich in einem Bericht der Leiterin, heulte ich mir die Augen aus dem Kopf vor Heimweh.

Ich war hart im Nehmen, immer schon, sonst hätte ich mich gegen die unfreundliche Schwester nicht behaupten können. Wir haben uns übrigens in unserem erwachsenen Leben stets weiträumig vermieden. Aber Heimweh überforderte meine Kräfte. Ich erinnere mich an eine Schlachtfest-Einladung bei einer Klassenkameradin irgendwo auf dem Land. Das war wohl im Winter 1948/49. Kaum war ich dort, beutelte mich das Heimweh. Ich musste – MUSSTE – nach Hause. Ich habe eine hanebüchene Geschichte erfunden von einer Blinddarmreizung, die immer mal wieder auftauche und mich zwinge, sofort, SOFORT, mit meiner Mutter zum Arzt zu gehen. Ob die Gastgeber mir diesen Quatsch geglaubt haben oder nicht, jedenfalls saß ich wenig später im Zug zurück nach Braunschweig. Ich sehe noch das Entsetzen meiner Mutter, als sie mir die Tür aufmachte. Sie hatte das Wochenende kinderfrei disponiert – die Schwester war sonstwo. Else hatte gehofft, ich würde mich bei dem Schlachtfest ordentlich durchfuttern, und es war folglich nichts zu essen im Haus.

Das war kein Einzelfall. Ich frage mich ohnehin, wie Else mit dem knappen Geld ausgekommen ist, vor allem, weil immer wieder durchreisende Freunde mitversorgt wurden. Die nahe Zonengrenze machte Elses Domizil zu einer Anlaufstelle für Pendler von Ost nach West und umgekehrt. Es wurde viel gelesen und diskutiert in diesen Jahren – woher nahm Else die Zeit?! Selbst ich erinnere mich an Wolfgang Borcherts »Draußen vor der Tür« und an die wütenden Diskussionen über die Radioansprachen Thomas Manns in der BBC während des Krieges. Verräter oder Held? Hatte »unser« Nobelpreisträger den Deutschen in den Rücken fallen dürfen, solange sie an allen Fronten kämpften? Wir erlebten doch heute, was es hieß, einen solchen Krieg zu verlieren. Die Wogen gingen hoch, aber eins war klar: Thomas Mann in Amerika hatte keine Ahnung!

Ich lernte bei diesen Streitgesprächen, dass man AUTOREN liest und nicht Titel, also Lion Feuchtwanger und Hermann Hesse oder Erich Maria Remarque. »Emil und die Detektive« oder »Der 35. Mai« waren folglich »Kästners«, und »Ich habe gerade den letzten Twain gelesen« galt »Tom Sawyer und Huckleberry Finn«. Ich sprach über Else Ury und nicht von den zahlreichen »Nesthäkchen«-Bänden – in meiner Klasse müssen sie mich für bekloppt gehalten haben. Meinen Lehrern war diese Vermutung auch nicht fremd. Für einen Hausaufsatz über irgendeinen griechischen Helden habe ich Seiten und Seiten aus Gustav Schwabs Wälzer »Die schönsten Sagen des klassischen Altertums« abgeschrieben und mich gewundert, dass diese Fleißarbeit nicht honoriert wurde. Ich brachte einen Küchenwecker mit in den Unterricht, hellgrün war das Ding und tickte laut. Ich hatte ihn zu meinem zehnten Geburtstag bekommen, ein Datum, zu dem in der Familientradition die erste Armbanduhr fällig war. Else hatte kein Geld dafür, und so ertrug ich tapfer diesen Ersatz. Dass er aus der Klasse verschwinden musste, fand ich gemein.

 

Kein Geld – das überschattete alles, bis ich endlich selbst verdiente. Aber ich kannte es nicht anders, und damals kannte ich auch niemanden, dem es anders ging. Wir lebten von Spenden des Hilfswerks 20. Juli, manchmal Geld, manchmal Wollstrümpfe, mal ein Gutschein für die Schulgebühren. Elses Jugendfreund Theo Delbrück verkaufte elterliche Antiquitäten, holländisches Barock, ans Rijksmuseum in Amsterdam. Schwester Barbara ging immer wieder bei Nacht und Nebel über die Grenze und schleppte Meißner Porzellan, Silber, Gemälde durchs Gebüsch. Das muss man sich auch trauen. Aber nie ist sie erwischt worden, und vieles konnte verscherbelt werden.

Trotzdem waren das Tropfen auf den heißen Stein. Wer hatte schon Geld für so was? Dann wurden mir auch noch die Lebensmittelkarten geklaut, alle! Die Karten für jeden, der bei uns gemeldet war, und das waren viele. Durchreisende Pendler hatten ihre West-Adresse in Elses Wohnung. Ich hatte die Karten abgeholt irgendwo, am Anfang eines Monats war das. Sie waren noch neu und frisch. Ich legte sie auf ein Brett an einem Eisstand. Ich hatte einen Groschen oder zwei als Botenlohn bekommen. Als ich das Eis in der Hand hatte, war der Umschlag mit den Karten weg. Noch heute bekomme ich ein Loch im Bauch, wenn ich an das Entsetzen denke, an die Fassungslosigkeit, dass jemand so etwas tun konnte. Meine Verzweiflung angesichts des Debakels für die Familie! Da hilft es auch nichts, wenn ich mich frage, warum hat Else ihrer zehnjährigen Tochter diese Kostbarkeit aufgebürdet? Warum hat sie mich nicht getröstet? Im Kindertagebuch schreibt sie, ich sei schnell zur Tagesordnung übergegangen, wieder einmal zeige sich mein dickes Fell.

Das hätte ich in der Tat mitunter gebrauchen können. Zum Beispiel in der Sache mit dem Präsentkorb – Betonung auf der ersten Silbe. So nannte ich das damals. Ich war elf, und wir wohnten schon in einer anderen, deutlich billigeren Wohnung am Rand von Braunschweig. Es war dunkel. Ich trieb mich in der Stadt herum. Das tat ich gern. Die Geschäfte waren bunt, und ohne Geld konnte ich wenigstens gucken.

Ich landete auf dem Weihnachtsmarkt – keine Ahnung mehr, wo der war. Ein Mann schenkte mir 50 Pfennige. Das war streng verboten, Else hätte mich gesteinigt. Aber der Mann war schon weg, und ich kaufte mir ein Los an einer Bude. Wunderbare Präsentkörbe standen da als Hauptgewinne, jeden Tag wurde einer verlost. Plötzlich ein Tusch, der Budenbesitzer rief die Nummer aus. Ich sah auf mein Los, und der Schreck fuhr mir in die Glieder: Ich hatte den Präsentkorb gewonnen!!

Ich wurde auf die Bühne gerufen, Menschen gratulierten mir, und mir wurde das Monstrum überreicht. Warum nur hatte ich mir ein Los gekauft, warum war ich nicht Karussell gefahren?! Was sollte ich denn jetzt machen?? Ich erspähte eine große Mettwurst in dem Korb, eine Speckseite war da auch noch, eine Flasche Wein und ein paar Konserven. Damit konnte ich doch nicht nach Hause kommen, wo hatte ich denn das Geld her? Aber wegwerfen ging auch nicht, so eine Mettwurst hatten wir lange nicht gesehen.

Ich ging zu Fuß nach Hause, der Weg war weit und der Korb schwer. Ich fror, und die Tränen liefen mir übers Gesicht. Es war stockdunkel, und ich traute mich zu Hause nicht die Treppe rauf. Im Hof war ein Schuppen, wo ich mich in die Ecke kauerte – ich weiß nicht, wie Else gemerkt hatte, dass ich da hockte. Die Tragödie löste sich auf in einer kräftigen Standpauke wegen der 50 Pfennige. Aber Else musste doch lachen über das kleine Häufchen Elend hinter dem großen Korb, und wenn ich mich recht entsinne, hat die Wurst wunderbar geschmeckt.

 

Im Juni 1950 brach der Koreakrieg aus, und in Europa, besonders in Deutschland, wuchs die Angst, dies könnte ein Probelauf sein für eine Kraftprobe hierzulande. Die Parallelen waren nicht zu übersehen: Korea war seit 1910 von Japan annektiert gewesen und nach dessen Kapitulation 1945 von den Siegermächten USA und der Sowjetunion in zwei Besatzungszonen aufgeteilt. Der 38. Breitengrad wurde zur Demarkationslinie ähnlich wie die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland. Nach dem Angriff Nordkoreas auf den Süden, übrigens mit nur zögerlicher Unterstützung Chinas und der Sowjetunion, flutete das Kriegsgeschehen auf der Halbinsel landauf, landab. Drei Jahre und vier Millionen Tote später landete es wieder dort, wo der Konflikt ausgebrochen war, am 38. Breitengrad.

In Westdeutschland wurden »Vorratskäufe« angeregt. Kanzler Adenauer, noch nicht so versiert in parlamentarischer Demokratie, nutzte die Gelegenheit, den Westalliierten im Alleingang, ohne den Bundestag, die Schaffung von zwölf bundesdeutschen Divisionen anzubieten. Die Reaktion war verhalten. Besonders Frankreich war der Gedanke nicht geheuer, fünf Jahre nach dem Krieg schon wieder deutsche Soldaten im Rücken zu haben.

Für Else war der Koreakrieg lediglich eine neue Variante ihrer deprimierten Weltsicht. Die Schwester allerdings, sowieso stets bereit, jedes noch so entfernte Unglück persönlich zu nehmen, tyrannisierte ihre Umgebung mit Angstzuständen und hysterischen Weinkrämpfen. »Du guckst Dir das interessiert an«, schrieb Else in mein Kindertagebuch.

Ich war anderweitig beschäftigt. Nach meinem Rauswurf aus der katholischen Kirche konzentrierte ich mich auf das Herzog-Anton-Ulrich-Museum. Mir gefielen die Dürers und Rembrandts, die dort hingen, ich war entsetzt über die dicken Frauen bei Rubens. Mehr noch gefiel mir die Anteilnahme anderer Besucher oder der Museumswärter, die sich über das einsame Mädchen auf dem Lederbänkchen wunderten. Ich konnte völlig versinken beim Anblick einer antiken Schäferszene und wartete vorgeblich schüchtern darauf, dass jemand sich meiner bewundernd annahm.

Bei meinen Streifzügen durch die Stadt spähte ich alte Damen aus, denen ich ihre Einkäufe nach Hause trug. Ich half Apfelkisten ausleeren auf dem Markt, immer mit dem gleichen Ziel: Die Leute sollten mich toll finden. Ich konnte Aufruhr erzeugen in der Straßenbahn, indem ich absichtlich in Ohnmacht fiel. Früher in Halberstadt hatten die Erwachsenen sich das zunutze gemacht. Ich wurde zum Brotkaufen geschickt und fiel in den Schlangen beim Bäcker regelmäßig um. Ich kam schneller zu meinem Brot, und ich liebte das Mitleid und die Fürsorge der Menschen drum herum.

Elfriede Fröbrich, eine Dame, die Else in ihrem Haushalt half, nahm mich manchmal mit in die Oper, Stehplätze hoch oben im Rang. Else gab mir einen Jagdstuhl mit wegen der Ohnmacht, und ich hörte den »Fliegenden Holländer« und »Die Meistersinger«. Das Libretto – Frau Fröbrich hatte so was – las ich jeweils vorher und war ziemlich textsicher. Wagner fand ich beschwerlich und Emmerich Kálmáns »Gräfin Mariza« war mir »zu seicht«. So hat es Else im Kindertagebuch notiert. Meine große Liebe allerdings waren Lortzing-Opern. Den »Waffenschmied«, »Undine« oder »Zar und Zimmermann« habe ich, vermutlich zu Recht, nie wieder gehört seitdem. Trotzdem fällt mir noch heute manchmal ein, was ich damals im Treppenhaus gern sang: »Oh, ich bin klug und weise, und mich betrügt man nicht.«

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Zwei

Ein riesiges Land: Klappst du Schweden an seiner Südspitze nach unten, reicht es locker bis Rom und ist mit neuneinhalb Millionen Einwohnern dünn besiedelt – der Bär steppt hier eher selten. Aber trinken tut er. Trotz Prohibition (damals) war das kollektive Alkohol-Problem allenthalben deutlich spürbar. Neue Erfahrung für mich, die ich in Deutschland noch nie Betrunkene erlebt hatte. Jetzt war dies das geringste Problem in all dem Neuen, das mein Umzug von Deutschland nach Schweden mit sich brachte. – Zwei deutsche Politikereignisse jener Zeit: Im März 1952 bot Josef Stalin Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands an bei gleichzeitiger Neutralisierung des Landes. Bis heute streiten Historiker über die Ernsthaftigkeit des Vorschlags. Im September 1952 wurde das Wiedergutmachungs-Abkommen mit Israel unterschrieben. Die Bundesrepublik verpflichtete sich zu Sachlieferungen/Barzahlungen von insgesamt 3,45 Milliarden DM. Nur mit den Stimmen der oppositionellen SPD gelang das Ja im Bundestag. 83 Abgeordnete der konservativen Regierungsparteien waren dagegen oder enthielten sich der Stimme.

Am Brenner war alles zu Ende. Da standen wir, acht Mädchen aus Stockholm, dunkelblaue Pfadfinder-Uniformen, hochbepackte Rucksäcke. Im Sommer 1953 war das, wir waren 13 oder 14 Jahre alt. Zwei Leiterinnen waren so um die zwanzig, und wir konnten es kaum erwarten, nach Italien zu kommen. Wir hatten Venedigs singende Gondolieri im Ohr, schon das südländische Gebrüll an der Grenze klang verheißungsvoll. Wir waren vorbereitet auf Florenz und Rom, das Kolosseum wollten wir sehen, Münzen werfen in die Fontana di Trevi, vielleicht auf dem Rückweg noch auf den Schiefen Turm von Pisa klettern.

Von Stockholm bis Hamburg waren die anderen schon per Anhalter gefahren. Lastwagen waren das jeweils, sonst ging das nicht mit einer so großen Gruppe. Ich war erst dort dazugestoßen, weil ich vorher bei den Geschwistern in Hamburg gewesen war. Wir hatten einen Heidenspaß kreuz und quer durch Deutschland auf wechselnden Ladeflächen. Wir schliefen in Jugendherbergen, sangen uns durch die Landschaft. Endlich war ich »als Deutsche« nützlich, konnte übersetzen, helfen.

Fast ein Jahr hatte es gedauert, bis ich diese Freunde fand. An meiner Stockholmer Schule gab es Eltern, die ihren Kindern untersagten, mit einer Deutschen umzugehen. Ich war all die Monate ziemlich allein gewesen und hatte mühsam lernen müssen, warum ich gemieden wurde – was wusste ich von der Nazizeit? Ich heulte mir die Augen aus dem Kopf, weil ich Teil sein sollte der kollektiven deutschen Schuld. Wieso ich, ein Kind? Ich verweigerte mich. Ich wollte nicht dazugehören. Ich sprach mit Deutschen, selbst mit meiner Mutter nur noch Schwedisch in der Hoffnung, dass mich das befreien würde.

Harte Zeiten in der schwedischen Schule. Klassenfoto von 1952 – die Fünfte von links in der ersten Reihe bin ich.

Quelle: Archiv Bruhns

Das gelang endlich bei diesen Pfadfindern. Deren Leiterinnen hatten beschlossen, die Haftung reiche nicht bis in meine Generation. Den ganzen Winter über wurde ich Woche für Woche eingewiesen. Ich lernte Ski fahren in Lappland, kochen auf Lagerfeuern im Schnee, schlafen im Iglu. Ich schmückte den Gruppen-Weihnachtsbaum nach Landessitte mit blau-gelben Papierfähnchen. Wie gern hätte ich Schwarz-Rot-Gold an unserem Baum zu Hause gehabt. Und wie gar nicht ging das damals in einem deutschen Wohnzimmer. Ich schwor den Pfadfindereid, stand stramm beim Fahnenappell, sang die schwedische Nationalhymne, als wäre sie meine. Und im Sommer fuhren wir los, drei Monate Hitchhike-Ferien durch ganz Europa standen auf dem Programm. Ich war akzeptiert, glücklich der deutschen Bürde enthoben. Bis wir an den Brenner kamen.

Es dauerte ewig, bis die Leiterin, Wera hieß sie, mit unseren Pässen aus dem Kontrollhäuschen zurückkam. Allen war die Einreise erlaubt worden. Mir nicht. Ich hatte kein Visum. Schwedische Menschen brauchten keins. Ich, das deutsche Kind mit einem deutschen Pass, hätte eins haben müssen. 1953 war das noch so, Bestrafung für den deutschen Krieg.

Ein Blitz aus heiterem Himmel hätte nicht tödlicher sein können. Noch heute spüre ich, wie mir die Knie weich wurden. Nicht nur für mich war die Reise hier zu Ende. Alle kamen nicht weiter. Denn mich allein am Brenner zurückzulassen ging nicht, und in Windeseile begriff ich: Die Deutsche, ich also, hatte allen die Ferien versaut. Ich habe erst geweint, als die anderen über die Grenze verschwunden waren, um wenigstens Anstecker und italienische Flaggen für ihre Rucksäcke zu kaufen. Sie brachten mir welche mit. Ich habe sie vor lauter Tränen nicht gesehen, sie auch niemals an meinem Rucksack befestigt.

Niemand aus der Gruppe hat mir einen Vorwurf gemacht. Alle waren sie liebevoll, loyal, haben ihren eigenen Kummer über die verpatzte Reise hintangestellt, um mich zu trösten.

Ich weiß nicht mehr, wie wir durch Österreich gekommen sind. Vielleicht galt unter alten Komplizen der Visumzwang für Deutsche nicht. Der Rückweg am Rhein entlang Richtung Norden hatte eindeutig nichts Italienisches. Es regnete in Strömen, nirgendwo sang jemand »O sole mio«, und die Freude an der deutschen Nachkriegs-Kargheit zwischen Trümmern war gedämpft. Die schwedischen Freundinnen würden jetzt nach Hause trampen, ich strandete wieder bei den Schwestern in Hamburg.

An der französischen Grenze hatten wir noch einmal meine Einreise versucht, vergeblich. Also nicht nur kein Rom, auch kein Paris – wie elend kann man sich fühlen?! Heute weiß ich, dass der Visumzwang für Deutsche nach Italien am 1. November 1954 aufgehoben wurde, nach Frankreich dauerte das bis zum 15. Dezember 1956. An den Grenzen wurden keine Visa ausgestellt. Wochen vorher hätte man sie bei den jeweiligen Konsulaten beantragen müssen. Niemand von uns hatte das bedacht natürlich, aber auch Else nicht.

Hans Georg Klamroth 1944 im Volksgerichtshof kurz vor seiner Verurteilung.

Quelle: Archiv Bruhns

Dabei war sie Referatsleiterin an der deutschen Gesandtschaft in Stockholm, mit Konsularischem zwar nicht befasst, aber immerhin deutsche Diplomatin, die dergleichen hätte wissen müssen. In ihre Zuständigkeit fielen deutsche »Gastarbeiter«, vorwiegend Haushaltshilfen, die der heimischen Misere mit einem Job in schwedischen Nirosta-Küchen entkommen waren. Das waren Tausende, die Else mit den unterschiedlichsten Problemen auf Trab hielten. Aber dass sie darüber ihre vierzehnjährige Tochter im Jahr 1953 per Anhalter auf einen Drei-Monats-Trip quer durch Europa fahren ließ, ohne sich um Visafragen zu kümmern, zeugt von Gottvertrauen oder von – ja, wovon denn?

Ich tippe auf Überforderung. Else lavierte jahrelang weit jenseits ihrer Kräfte. Wie auch sonst? Ihr Mann, der Vater ihrer fünf Kinder, war beteiligt am Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 gewesen und wurde hingerichtet in Plötzensee wegen Hochverrats. Die Familie war nicht nur bei den Nazis stigmatisiert als Verräter. Weit nach dem Krieg noch galten 20.-Juli-Attentäter als Regisseure des Dolchstoßes. Else hatte kein Geld, die Nazis hatten das Vermögen kassiert. Selbst die Kosten für die Hinrichtung – die kamen per Rechnung! – hatte sie sich leihen müssen. Das Kriegsende war für die Familie, wie für Millionen anderer Familien auch, teuer gewesen: Konkurs der Firmenklitsche im Niemandsland diesseits der ostwest-deutschen Grenze. Schulden. Wohnungsprobleme. Gerichtsvollzieher (und das ihr!) in Braunschweig. Alle Kinder in der Ausbildung, jedes einzelne der Zuwendung und Aufmerksamkeit bedürftig. Und wer kümmerte sich um Elses Tränen, tröstete sie in ihrer Einsamkeit?

Der Job im Auswärtigen Dienst war ein Glücksfall, weil er sie finanziell über Wasser hielt. Aber er raubte Else Nacht für Nacht den Schlaf. Sie war dafür nicht ausgebildet. Sie wusste nichts von den Regeln und Bürokratien »im Amt«. Sie war verzweifelt wegen ihrer Unzulänglichkeit und jeden Tag »hundemüde«. Durch ihre Aufzeichnungen zieht sich das Elend: »niedergeschlagen«, »hoch nervös«, »Lebensangst«. Im Kindertagebuch entschuldigt sie sich ständig für ihren Erschöpfungszustand, der – das schreibt sie nicht – keinen Raum mehr ließ für mich.

Ursprünglich, nachdem die kleine Dependance der Familienfirma im westdeutschen Mattierzoll den Bach runtergegangen war, hatte Else sich im neugegründeten Bundes-Bonn beim Protokoll beworben. Sie dachte wohl, das würde sie hinkriegen als Halberstädter Großbürgerin mit ihren perfekten Manieren. Vermutlich hatte sie keine Ahnung, ein wie schwieriger Job das Protokoll ist, wo Tischordnungen (kompliziert genug!) noch das geringste Problem darstellen. Da liegen die Fettnäpfe am Wege, und die Liste diplomatischer Verwicklungen aufgrund von Protokollfragen ist endlos.

Aber Elses Bewerbung war ohnehin müßig. In der neuen Bundesregierung war schon Hans-Heinrich Herwarth von Bittenfeld Protokollchef und in Sonderheit Erica Pappritz dessen Stellvertreterin. Die hatte sich seit 1919 (!) über alle Wandlungen deutscher Politik hinweg im Auswärtigen Dienst gehalten. Mir ist sie im Gedächtnis, weil sie die Nation amüsierte, als sie in einem Benimmbuch vorschlug, man möge auf dem Klo die Wasserspülung mehrfach betätigen, damit niemand durch Geräusche belästigt werde.

 

Else ließ sich vom Fehlstart beim Protokoll nicht abschrecken. Fünf Kinder wollten versorgt sein, die Miete war nicht bezahlt – es MUSSTE eine Lösung her! Ich bewundere sie bis heute dafür, dass Bonn ihr überhaupt eingefallen war. Sie kannte sich nicht aus. Nach nur einem Jahr in Westdeutschland hatte sie keinen Bezug zu bundesdeutscher Politik, keine diesbezüglichen Seilschaften. Ausgestattet lediglich mit dem Mut der Verzweiflung, fuhr sie nächtens 3. Klasse von Braunschweig nach Bonn auf der Suche nach einem Job. Dieses Bundes-Bonn war neu und kaum etabliert. Als Else dort hinkam, müde und mit Nackenschmerzen nach der unbequemen Zugfahrt, hatte das Parlament vor knapp zwei Wochen seine konstituierende Sitzung gehabt, und Konrad Adenauer gab an diesem Vormittag – am 20. September 1949 – seine Regierungserklärung ab.

Else ging geraden Wegs ins Bundeshaus. Wo, wenn nicht hier, gab es Jobs? In der Kantine hörte sie Adenauer über Lautsprecher und traf auf Eugen Gerstenmaier, der dort mit Freya von Moltke saß, ehemals Hausherrin in Kreisau. Beide hörten ebenfalls dem neuen Kanzler zu und kamen mit Else ins Gespräch. Gerstenmaier, Mitglied der Widerstandsgruppe »Kreisauer Kreis«, hatte den 20. Juli überlebt und war seit fünf Wochen Bundestagsabgeordneter der CDU. Fünf Jahre später – 1954 – wurde er Bundestagspräsident und blieb das gut 14 Jahre lang, bis 1969. Der »lange Eugen«, das Abgeordneten-Hochhaus in Bonn, heißt so nach diesem etwas kurz geratenen Bauherrn.

Gerstenmaier half Else. Das gehörte zur Loyalität der 20.-Juli-Leute untereinander, die über Netzwerke die zahlreichen Witwen und ihre Kinder unterstützten. Zu der Zeit war für »Verräterfamilien« noch keinerlei staatliche Regelung getroffen. Er vermittelte Else ein Gespräch mit Herbert Blankenhorn, damals Adenauers persönlicher Referent, und verschaffte ihr für den nächsten Tag einen Termin bei Jakob Kaiser. Der hatte seine Zugehörigkeit zur katholischen Widerstandsgruppe »Kölner Kreis« ebenfalls nur knapp überlebt. Als ehemaliger christlicher Gewerkschaftsführer gehörte er zu den Gründern der CDU-Sozialausschüsse und war im ersten Kabinett Adenauer Minister für Gesamtdeutsche Fragen.

Ich will hier weder über Gerstenmaiers phantasievollen Umgang mit staatlichem Geld reden, was ihn zweimal den Job gekostet hat, noch über Aktivitäten des Altnazis Blankenhorn, der sich als Leiter der politischen Abteilung im Auswärtigen Amt schützend vor frühere Parteigenossen stellte. Was zählt: Gerstenmaiers Intervention zugunsten von Else verhalf ihr dazu, in die engere Wahl als bundesdeutsches Auslandspersonal zu kommen, und nach einem Schnellkurs in der neuen Gesetzgebung – zwei Wochen lang drei Vorträge am Tag – war sie unterwegs nach Stockholm.

 

Ich wurde zunächst abgelegt im evangelischen Bugenhagen-Internat in Timmendorfer Strand. Es gab da ein Stipendium über das Hilfswerk 20. Juli, sonst hätte Else das nicht bezahlen können. Ich habe gemischte Erinnerungen an den Laden: Heimweh, meine erste (unerwiderte) Liebe, Kartoffeln schälen mit einem Messer für Rechtshänder (ich bin Linkshänderin), häufig inszenierte Ohnmacht meinerseits im Unterricht (sehr erfolgreich), Heimweh, zwei Freundinnen für Jahre, Wespenschwärme an der Kuchenbude, Heimweh. Damals hatte sich bei mir eine tiefe Abneigung gegen Ansammlungen von Gleichaltrigen entwickelt. Viel später führte unter anderem das dazu, dass ich mein Studium abgebrochen habe. Ich konnte und kann bis heute diese Wuselmenschen schwer ertragen, die in großen Pulks die Treppen raufstreben und sich geschwätzig in einer Aula oder im Hörsaal niederlassen.

Ich mochte nicht Gegenstand einer Hausordnung sein, nicht um halb sieben von einer Hausdamen-Stimme geweckt werden, der du anhörtest, dass auch sie keine Lust hatte. Ich wollte nicht in Zusammenhängen leben, wo dir – schlimm genug – die Schulzeiten vorgeschrieben waren (ohnmächtig zu werden war ein toller Fluchtweg), wo du mit schnatternden Mitgefangenen schlechtes Mittagessen einnehmen solltest, wo Schularbeiten-Zeit, Chorsingen, Gymnastik, Werken – was weiß ich – exakt geplant waren und du nie, nie, nie allein warst.

Dagegen hörte ich Radio. Bei uns im Zimmer stand eins – keine Ahnung, wem das gehörte. Ich konnte alle Schlager auswendig, kann ich zum Teil noch – »Wenn bei Capri die rote Sonne …« (Rudi Schuricke), »Das machen nur die Beine von Dolores« (Gerhard Wendland) und natürlich die »kleine Cornelia« mit »Pack die Badehose ein«. Die wäre ich gern gewesen.

Eine andere Radio-Erinnerung war die Bundestagsdebatte zum Beitritt in die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Die fand im Februar 1952 statt und war heftig. Warum ich am Radio klebte – 13 war ich – und mir das Für und Wider der deutschen Wiederbewaffnung anhörte, weiß ich nicht. Ich war beeindruckt, dass erwachsene Menschen sich anschrien wie auf dem Pausenhof. Ich schwänzte das Mittagessen und wurde bestraft. Das weiß ich noch und dass ich danach als Einzige in meinem Umfeld mit dem Kürzel EVG etwas anfangen konnte.

Was ich verstanden hatte, sei dahingestellt: Spätestens nach dem Zünden der sowjetischen Atombombe 1949 war deutlich geworden, dass die militärische Überlegenheit des Westens Fiktion war. Die Sowjetunion einschließlich der Ostzone war in Europa mit konventionellen Waffen wesentlich besser ausgerüstet. Der Ausbruch des Koreakrieges 1950 tat ein Übriges. Es sollte ein Gegengewicht her – der Zusammenschluss westeuropäischer Staaten in einem Militärbündnis. Die Deutschen sollten unter Auflagen dabei sein. Wir reden über den Zeitpunkt fünf Jahre nach dem Krieg, und vor allem in der Bevölkerung der Nachbarstaaten hielt die Begeisterung sich in Grenzen. Schwierige Verhandlungen für Adenauer, die er dennoch mit Nachdruck betrieb, weil er sich von einer deutschen Wiederbewaffnung die Rückgewinnung der deutschen Souveränität erhoffte.

 

Zu Hause hatte er es auch nicht leicht. Bevor sie sich mit dem Aufbau einer neuen Truppe beschäftigen wollten, verlangten hohe Offiziere der deutschen Wehrmacht von der Bundesregierung und den Alliierten eine Ehrenerklärung für »den deutschen Soldaten«. Die zweite Bedingung war – jawohl! – die Freilassung deutscher Kriegsverbrecher aus alliierten Gefängnissen und ihre Rehabilitierung. Als Drittes forderten die Ex-Generäle ein Ende der wirtschaftlichen Diskriminierung der früheren Berufssoldaten. Die nämlich erhielten auf Anweisung der Alliierten keine staatlichen Gehälter und Pensionen mehr, sie durften im öffentlichen Dienst nicht beschäftigt werden, und für zivile Jobs fehlte ihnen die Qualifikation.

Die geforderten Ehrenerklärungen gaben General Dwight D. Eisenhower, gerade Oberbefehlshaber der NATO geworden, 1951 vor der Presse auf dem Frankfurter Flughafen ab und Adenauer im Bundestag 1952. Die Debatte um die Wiederbewaffnung, lange Zeit erbittert geführt, erübrigte sich zunächst. Die EVG scheiterte, weil Frankreich um seine Eigenständigkeit fürchtete und 1954 den Vertrag nicht ratifizierte. 1955 wurde Deutschland stattdessen in die NATO aufgenommen, im selben Jahr entstand die Bundeswehr.

 

Noch einmal Radio: Ende 1951 lief die erste Francis-Durbridge-Serie im damaligen Nordwestdeutschen Rundfunk, acht Hörspiel-Folgen »Paul Temple und der Fall Curzon«. Wie bei den späteren Durbridges im Fernsehen (»Das Halstuch«) waren die Straßen leer gefegt. Wir fieberten uns durch das äußerst verwickelte Geschehen, am nächsten Morgen gab es beim Bäcker und in der Schule kein anderes Thema. Die Sendungen zogen sich über fast vier Monate hin, zwei im Monat müssen das gewesen sein. Und wer war zum Schluss der Mörder? Ich durfte als Strafe für irgendwas die letzte Folge nicht hören. Die »Krähe«, Hausdame im Mädchenhaus, hatte sich diese Perfidie als pädagogischen Klops ausgedacht. Weiß der Teufel, weswegen sie sich an mir auslassen musste. Vier Wochen später verließ ich die Schule.

 

Ich fuhr mit dem Schiff nach Stockholm, sieben Tage mit einem Frachter, der »Cremon« hieß. Das kostete zehn DM, und ich schlief in der Messe auf der Bank. Unbehaust ist wohl das richtige Wort für eine so endlose Woche allein unter grauem Himmel, auf dem grauen Wasser im Wind. Fünf oder sechs Kerle auf dem 400-Tonnen-Schiff, niemand sprach mit dem fremden Mädchen – was denn auch? Nebel kam auf, es dauerte einen Tag länger als geplant bis Stockholm, und deshalb holte mich niemand ab. Ich sehe mich noch sitzen, etwas verloren auf der Pier mit meinen Koffern, neben mir das Fahrrad, das ich vom Taschengeld abgespart hatte.

Die große Schwester, in Vertretung von Else mit meiner Erziehung beschäftigt, war vor ein paar Monaten nach Timmendorf gekommen, das ersehnte Rad zusammen mit mir zu kaufen. Aber ich hatte nicht die zugesagten 50 Mark Ersparnisse beisammen. An der Kuchenbude zwischen den Wespen war ich der Versuchung erlegen gewesen, einen »Amerikaner« zu erstehen. Vom Fahrradgeld fehlten 30 Pfennige. Die prinzipientreue Schwester fuhr wieder ab, ich blieb ohne Fahrrad zurück. Erst Wochen später kam sie wieder, und wir kauften endlich das Rad. Sie wurde tatsächlich, als ich erwachsen war, meine Lieblingsschwester. »Amerikaner« allerdings mag ich nicht mehr essen.

Die Sekretärin meiner Mutter fand mich im Hafen und brachte mich in Elses Wohnung, wo wir ab jetzt versuchten, ein Familienleben zu führen. Else hatte mich nach Stockholm geholt, weil sie sich dort wie »auf Montage« fühlte, weit weg von allen Kindern, ausschließlich zum Zweck des Geldverdienens verbannt. Sie hatte nicht bedacht, wie sehr sie überfordert war mit dem neuen Job, auch nicht, dass es kein Vergnügen ist, eine pubertierende Halbwüchsige im Haus zu haben. Ich hingegen brauchte quälende Monate, um mich einzuleben. Alles war bedrohlich: der Linksverkehr, die komische Sprache, die Schule, wo keiner mit mir redete. Else ging früh ins Büro und kam abends stumm vor Erschöpfung zurück, unfähig, sich auf mich einzulassen. Ich sehe mich noch auf dem Garderobentisch hocken, wo ich lange Dialoge mit meinem Spiegelbild führte.

Else Klamroth 1954 an ihrem Schreibtisch in der deutschen Botschaft in Stockholm.

Quelle: Archiv Bruhns

Diese Erfahrung hat sich mir eingeprägt. Bis heute denke ich: So was macht dich entweder kaputt oder stärker. Offenbar war bei mir Letzteres der Fall, aber eine Rosskur wie diese wünsche ich niemandem. Folglich ging es, als ich Jahrzehnte später mit meinen Töchtern nach Jerusalem umzog, vorwiegend darum, derartige Widrigkeiten zu vermeiden. Mein Korrespondentenbüro setzte ich in mein Privathaus, damit ich jederzeit greifbar war. Meine Nichte, gerade fertig mit dem Abitur, kam als Au-pair mit uns für ein Jahr. Die Kinder sollten mit jemandem Deutsch reden können, wenn ich nicht da war. Außerdem war und ist die Nichte hinreißend, ein Geschenk für uns alle. Wir brachten unsere Katzen mit aus Hamburg, schmuse-gut gegen Heimweh. Ich hatte eine Verabredung mit deutschen Kinderbuchverlagen getroffen, dass die uns mit Neuerscheinungen bemusterten, bis die Mädchen Englisch lesen konnten.

Den Töchtern hatte ich zudem ein Angebot gemacht. Sollten sie bis zum Ende des folgenden Jahres, nach 15 Monaten also, Jerusalem immer noch unerträglich finden, würden wir zurückgehen. Die Wohnung in Hamburg war an Freunde vermietet, die darauf gefasst waren, möglicherweise kurzfristig ausziehen zu müssen. Das Ganze war ein Drahtseilakt. Mit dem »Stern« hatte ich nichts abgesprochen und keine Ahnung, wie die Chefredaktion reagieren würde, wäre ich plötzlich wieder da gewesen. Wahrscheinlich hätten die mich vor die Tür gesetzt. Besonders meine ältere Tochter, damals gerade 14, ließ mich zappeln, bis sie sich endlich entschloss zu bleiben. Heute sind beide dankbar für die Jahre in Israel und danach in den USA. Diese Zeit, nicht immer einfach, habe ihnen die entscheidenden Impulse gegeben, sagen sie. Aber weiß man’s? Entweder du gehst kaputt oder du wirst stärker – damit lässt man Kinder nicht allein.

Wenn du die Wahl hast. Else hatte keine Wahl. Sie musste froh sein, im Auswärtigen Dienst untergekommen zu sein. Entschädigung, Kriegsopferversorgung lagen noch in ferner Zukunft. Sie und ihre Kinder lebten von der Hand in den Mund. Dazu gehörte, dass ich nicht »schwedisch« angezogen war. Junge Schwedinnen trugen damals Jeans, T-Shirt und Ballerinas. Zu Röcken, wenn überhaupt, gehörten Nylons. Ich hatte nur Kniestrümpfe, und Else konnte sich Jeans für mich nicht leisten. Für ein ohnehin ausgesondertes Mädchen aus Deutschland bedeuteten Kleider und Röcke Stigmatisierung. Else wuchs allerdings über sich hinaus. Augen-Make-up gehörte für sie eigentlich ins Bordell, aber: Sie schenkte mir Wimperntusche. Ich hatte gejammert, dass meine kurzsichtigen Augen durch die Brille stark verkleinert wurden, und ich liebe die Frau Mutter für diesen Riesensprung über ihren Schatten.

Else wusste, dass es mir nicht gutging – »Wibke einsam«, steht in ihren Aufzeichnungen, »Kummer, weil Wibke traurig«. Aber was sollte sie machen? Mich nach Deutschland zurückschicken – wohin denn? Sie konnte nur hoffen, dass ich mich eingewöhnen würde. Das gelang schließlich, nachdem ich endlich Schwedisch sprechen konnte. Ich war in den ersten Sommerferien (1952) viel beschäftigt als bundesdeutsche Aushilfskraft – drei Monate sind lang, wenn man wenig Leute kennt. Aber ich kannte die Stadt, und Else setzte mich ein für die vielen Jugendgruppen, die nach Stockholm kamen.

Mehrere Knabenchöre habe ich im Gedächtnis, mit denen ich Bootsfahrten durch die Schären unternahm oder sie in das Freilichtmuseum Skansen brachte. Das war, ist wohl noch, eine Kombination von Holzhäuschen mit originalen Einrichtungen aus mehreren Jahrhunderten, dazu Zoo und Vergnügungspark. Bei den Konzerten durfte ich wie ein Groupie in der Garderobe hocken und fühlte mich dem Publikum deutlich überlegen. Einer schwedischen Tageszeitung gab ich ein Interview, in dem ich mich wie die Managerin aufführte. Else fand das nicht komisch. Natürlich habe ich mich auch verliebt, in einen Sopran, höchstens zwölf Jahre alt und halb so groß wie ich. Aber die Stimme! Auch später fand ich große Chorwerke am schönsten, wenn sie von Knaben gesungen wurden – kleine Jungs singen wirklich wie Engel.

 

Richtig verliebt war ich in Folke Sundquist, dem ich nie begegnet bin. Er war »Göran« in dem schwedischen Film »Sie tanzte nur einen Sommer« mit Ulla Jacobsson, der 1952 bei der Berlinale den Goldenen Bären bekam. Der Film war weltweit die Sensation wegen einer winzigen Nacktszene, und deshalb hatte Else mir verboten, ihn anzusehen. Ich bin trotzdem reingegangen, versteht sich, gleich zweimal, weil ich mich doch beim ersten Mal verliebt hatte. Else ist nicht aufgefallen, dass ich fortan alles über Folke Sundquist sammelte. Vermutlich wusste sie nicht mal, wer der junge Mann war.

Sie hatte eine Heidenangst, ich würde bei den »laxen Sitten« in Schweden unter die Räder kommen. Immer wieder taucht im späten Kindertagebuch die Befürchtung auf, ich könne »eine Prinzessin bleiben, aber nie eine Dame werden« – als ob sie sonst keine Sorgen gehabt hätte. Sie war der festen Überzeugung, schwedische Jugendliche seien verwöhnt und ungezogen, intellektuell träge und nur auf flüchtige Sex-Beziehungen aus. Im Kindertagebuch hatte sie im Vorfeld in vielen Varianten darüber nachgedacht, ob sie mich aus dem Internat nach Schweden holen und diesem Sündenpfuhl aussetzen solle. Welche Sündenpfuhle in Internaten lauern, entzog sich ihrer Phantasie. Jedenfalls habe ich Schweden »unbeschädigt« überstanden, und die Sache mit der »Dame« sollen andere beurteilen.

Landschaft besteht in diesem Riesenland aus Wasser und Urwald. Eine derart wilde Vegetation – umgestürzte Bäume, Felsbrocken, Schluchten, Moos – hatte ich vorher nie gesehen. Es war sinnvoll, dass ich bei den Pfadfindern den Umgang mit Karte und Kompass lernte. Auch auf den Schären fand man sich sonst schwer zurecht. Kreuzottern lebten im Unterholz – geh nie ohne Stiefel! –, und die Menge der Blaubeeren wurde nur übertroffen von der Menge der Mücken. Viecher! Riesig! Quaddeln groß wie Weihnachtsplätzchen. Und Elche.

Ich habe manchmal draußen geschlafen bei Wanderungen, Brille neben mir in den Blaubeeren. Knacken und Schlurfen weckten mich eines Nachts. Säulenbeine neben mir, fünf Stockwerke drüber ein Kopf, gut zu sehen gegen den hellen nordischen Himmel, kaum zu erkennen mit halbblinden Augen. Die Brille – trau ich mich, sie aus den Blaubeeren zu fischen? Tritt der Koloss mich? Zertritt er die Brille? Ich rührte mich nicht, hielt die Luft an. Der Kerl hat sich getrollt tatsächlich. Mit Brille sah ich sein majestätisches Hinterteil davonschwingen.

 

Schwedischer Pfadfinder-»Schick« Anfang der fünfziger Jahre. Ich bin die Zweite von rechts.

Quelle: Archiv Bruhns

Es gibt komische Sachen zu essen in Schweden. »Messmör« und »mesost« sind süße Käsesorten, hergestellt aus eingedickter Molke – das möchte man nicht! Überhaupt ist vieles süß in der schwedischen Küche: Brot, Spinat, Salatsaucen, Röstkartoffeln, eingelegte Fische. Die schmecken wunderbar, aber man HÜTE sich vor »surströmming«. Es gibt ihn zum Glück nur im August, Ostseehering ist das, der in der Dose verfault. Die bekommt durch die Gase bedrohliche Beulen. Air France und British Airways erlauben sie nicht einmal im Frachtraum aus Angst vor Explosionen. Das Öffnen dieser Dose ist selbst im Freien Körperverletzung: Es stinkt so infernalisch, dass du eine Kleingartensiedlung damit räumen kannst. Schweden essen das Zeug und halten es für eine Delikatesse. Leider bieten die dann auch »surströmming« an als besondere Leckerei bei einer »kräftskiva«, dem traditionellen Krebsfest. Beide haben im August Saison. Lieber fragen vorher und bei Gefahr des »surströmmings« sofort Grippe kriegen. Die Krebsfeste allerdings sind herrlich, meistens draußen irgendwo, viel Schnaps gehört dazu und ein Sprung in den See gegen den Kater.

 

Das erste Mal Fernsehen in meinem Leben: 2. Juni 1953 – die Krönung der britischen Königin Elizabeth II. Die war 26 Jahre jung und hatte gegen alle Tradition Kameras in Westminster Abbey dabei für eine Übertragung buchstäblich in alle Welt. Die Sendung sah ich in Hamburg im Büro der Schwester, die damals Redakteurin war beim NWDR. Elf Stunden lang lief das Spektakel, eine gigantische Zeremonie von einem anderen Stern. Wie hält die Frau das durch? Muss sie nicht mal was trinken oder aufs Klo? Und wenn die Nase läuft? Oder Schluckauf? Wie kann sie diese Krone tragen, fast fünf Pfund schwer, und wie den wuchtigen Krönungsmantel hinter sich herziehen? Die Schwester und ich haben zwischendurch Würstchen geholt aus der Kantine und Brötchen gekaut, wenn die Chöre sangen. Else hat einen Brief von mir aufbewahrt. »Den Wunsch, Königin zu sein, habe ich jetzt aufgegeben«, schrieb ich, »denn das ist schwere Arbeit!« Aber Prinz Philip sei eine Sünde wert.

 

An Stalins Tod kann ich mich nicht erinnern. Er starb Anfang März 1953, und erst viel später habe ich begriffen, ein wie düsterer Protagonist des 20. Jahrhunderts er war. Für mich war diese Rolle mit Hitler besetzt. Durch den Kalten Krieg, in dem ich groß geworden bin, hatte sich mein Bewusstsein in Ost und West gespalten. In der Bundesrepublik waren wir auf den Westen fokussiert. Die Sowjetunion blieb in unserer Wahrnehmung diffus. Für mich und meine Generation war es selbstverständlich, gegen den Vietnamkrieg auf die Straße zu gehen. Ich kann mich an keinen Protestmarsch gegen den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan erinnern. In der Bundesrepublik wurde Anfang der achtziger Jahre landauf, landab gegen die amerikanischen Pershing-II-Raketen protestiert. Eine Menschenkette entlang der DDR-Grenze oder in Westberlin gegen die sowjetischen SS-20 fand nicht statt.

Es gab Jahrzehnte vorher auch keinen Aufschrei in Westdeutschland, als sowjetische Panzer den Aufstand des 17. Juni 1953 erstickten. Dabei kam es in rund 500 Orten der DDR zu Streiks und Protesten gegen die Obrigkeit. SED-Parteibüros und Polizeidienststellen wurden gestürmt, aus Gefängnissen Häftlinge befreit. Bis heute ist ungeklärt, wie viele Menschen sich beteiligten. Schätzungen schwanken zwischen Hunderttausenden und anderthalb Millionen. Es gab Schießereien, Standgerichte exekutierten Demonstranten, die sowjetischen Behörden verhängten den Ausnahmezustand. 55 Todesopfer sind offiziell belegt, spätere Hinrichtungen einbezogen.

Die Reaktion des Westens war verhalten. Dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, der in Wien festsaß auf einer Tagung, verweigerten US-Offizielle ein Militärflugzeug für seine schnelle Rückkehr. Bundeskanzler Adenauer landete erst nach zwei Tagen in Berlin. Winston Churchill bescheinigte den Sowjets, sie hätten recht gehandelt. In der bundesdeutschen Öffentlichkeit herrschte eine verletzende Ambivalenz gegenüber den Ereignissen. Es fehlte die Bereitschaft, sich zu empören. Immerhin: Am 4. August 1953, keine zwei Monate nach dem Aufstand, erklärte das Parlament den 17. Juni zum gesetzlichen Feiertag, und erst am 3. Oktober 1990 wurde er nicht mehr gebraucht. Bis dahin aber war der »Tag der deutschen Einheit« zum Lippenbekenntnis verkommen, auch in der Bevölkerung.

Die freute sich über den zusätzlichen Badetag, und als Ronald Reagan 1987 am Brandenburger Tor seinen sowjetischen Amtskollegen aufforderte: »Mr. Gorbachev – tear down this wall«, schien das für westliche Zuhörer wieder eine dieser Sonntagsreden zu sein. Dass es anders kam, hat viele im Westen tief erschreckt. Auch zwanzig Jahre später sind Ost und West mental nicht vereint, vermutlich ist das auch zu viel verlangt. Das Emsland und die Oberpfalz (beides Westen) haben auch nur wenig miteinander am Hut.

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Drei

»Jetzt kommt das Wirtschaftswunder, jetzt kommt das Wirtschaftswunder, jetzt gibt’s im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder …«, sangen Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller 1958 in dem Film »Wir Wunderkinder«. In der Tat erholte sich die Bundesrepublik in einem erstaunlichen Tempo. Jeder krempelte die Ärmel hoch. Ich auch. Zukunft war greifbar. 1955 lief der millionste VW-Käfer vom Band. Mit der Freigabe von Devisen setzte die Reisewelle ein. Kühlschränke, Waschmaschinen, Elektroherde waren auf dem Vormarsch – »wir sind wieder wer«, jubelten die Deutschen nach der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz. Konrad Adenauer sammelte in den Fünfzigern zwei Wahlsiege ein. Die ersten Gastarbeiter kamen ins Land, auch Elvis Presley. 1956 wurde die allgemeine Wehrpflicht Gesetz – eine halbe Million Soldaten waren das Ziel. 2,6 Millionen Ostdeutsche waren seit 1949 in die Bundesrepublik geflüchtet. Im August 1961 wurde die Mauer gebaut.

Das Geld hing in den Bäumen. Man musste sich nur ausstrecken danach. Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre konnten Studenten nebenher verdienen, was sie wollten. Das war mir wichtig. Davor, zu Hause bei Else, dann bei Elses Freunden in Berlin, wo ich Abitur machte, war das Geld so knapp gewesen, dass ich abgerissen herumlief wie eine Lumpenliese. Meine spätere Schwiegermutter gestand mir Jahre danach, es habe ihr das Herz zerrissen bei meinem Anblick.

Jetzt, etwa 1958, war ich in Hamburg mein eigener Herr (oder heißt es Herrin?) und entschlossen, Gelegenheiten zu nutzen. Ich habe für die Sozialbehörde Flüchtlingsfamilien in Notunterkünften nach ihren Wohnbedürfnissen befragt – pro Fragebogen 20 Mark; wenn du gut warst, schafftest du fünf am Tag. Das war lukrativ und eine beklemmende Erfahrung: Großfamilien in zwei Zimmern, Katzenklappen in der Eingangstür, riesige Wäschekessel auf dem Kohleherd.

Für »Inter Nationes« betreute ich ausländische Besucher. Damals lief das noch in der Regie des Außenministeriums, erst im Jahr 2000 entstand die Fusion mit dem Goethe-Institut. Für die Gäste der Bundesregierung musstest du dich fit machen in Details über den Hamburger Hafen oder das Innenleben der Volkshochschulen, mit einem Chinesen habe ich Großbäckereien besucht, eine Frau aus der Mongolei wollte alles wissen über Hagenbecks Tierpark. Einem jordanischen Unternehmer sollte ich Deutsch beibringen. Der interessierte sich aber mehr für mich als für unregelmäßige Verben, und das war’s dann.

Ich habe geputzt in Elbchaussee-Villen, weil ich wissen wollte, wie die von innen aussehen. Bei Philips-Valvo packte ich Röhren am Band, in einer Fabrik wusch ich Därme für Wurstpellen – nicht meine Lieblingsbeschäftigung. Bei Springer lud ich nachts Bildzeitungs-Pakete auf Lastwagen – all das brachte Geld in die Kasse, aber vor allem trieb mich die Neugier. Ich wusste damals noch nicht, dass es mir gelingen würde, Journalistin zu werden und vieles zu sehen. Ich befürchtete, dass ich in meinem Berufsleben, was immer das sein mochte, zu dieser Welt – der »richtigen« Welt – keinen Zugang mehr hätte.

In dieser Welt agierten Frauen von beeindruckender Statur und Stimme. Sie begriffen sofort, dass hier das höhere Töchterlein nur mal gucken wollte. Ich bekam die miesesten Jobs. Ich verstand die Fäkalsprache der Damen nicht. Ich war am Band so langsam, dass nachfolgende Kolleginnen fast auf mich losgegangen wären, weil ich ihren Akkord-Takt störte. Aber ich lernte, was man zu tun hat, um vom Staat mehr Unterstützung zu bekommen, wenn der Mann im Knast sitzt. Ich lernte, dass Kinder mit Rum betäubt werden, wenn man selber nach der Spätschicht noch mal um die Häuser will.

Die Schwester einer Kollegin verdiente ihr Geld in Sankt Paulis Herbertstraße. Das war die Puff-Meile mit den Nutten im Schaufenster. Von dieser Dame wurde erzählt, sie habe einen genialen Trick, besoffene Freier auszunehmen. Sie verband ihnen im Liebesspiel turtelnd die Augen. Ein junger Mann, der seine Lehre als Kfz-Mechaniker schmeißen wollte, wurde von seiner Tante, meiner Fließband-Nachbarin, krankenhausreif geprügelt, weil mit dem – so wörtlich – »jetzt jemand mal zur Sache gehen« musste.

Geld hing in den Bäumen auch für Fotojobs – ein Prospekt für den Passagierdampfer »Hanseatic« kam dabei rum. Die Hamburger Gaswerke stellten mich in Musterküchen, Möbelhäuser ließen mich auf Sofas lümmeln. Im Poelchaukamp gab es einen Sportwagenhändler, in dessen sündhaft teuren Karossen ich vergnügt zu Werbezwecken hockte.

Ich hatte viel nachzuholen damals. Erst in Berlin, wo ich nach dem Rauswurf aus dem Plöner Internat bei Freunden der Mutter gelandet war und nun endlich das Abitur machen sollte, erst da – ich war siebzehn – lernte ich, dass die Welt größer ist als meine Privatfehden mit der jeweiligen Schulhierarchie. Else hatte gewollt, dass ich ein deutsches Abitur machte. Deshalb landete ich in diesem Plöner Institut, einer ehemaligen Napola. So hießen bis Kriegsende die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten, Eliteschulen der Nazis. Ich hasste den Internatsbetrieb, hasste die ständigen Kontrollen, hasste das kleinkarierte Personal und legte es darauf an, vor die Tür gesetzt zu werden. Ich war renitent, muffig, aber du meine Güte: Was war ich harmlos!

Ich war verliebt, ja. Das war der Lichtblick in diesem Instituts-Horror. Der Schulleiter in Plön nannte unsere unschuldige Jugendliebe in einem offiziellen Brief an Else »Schüler-Ehe« und beschwor in seiner klebrigen Phantasie die »möglichen Gefahren, mit denen wir Erzieher rechnen müssen«. Zu dulden sei »dergleichen« nicht. Der Mann, Erwin Schmidt hieß er, war »Chef« – kein Spitzname! – eines gemischten Gymnasiums. Wir können nicht das einzige »Paar« gewesen sein.

In einem Telefongespräch neulich mit ebendiesem Freund waren wir beide immer noch fassungslos darüber, wie man uns gejagt hat. Ich verließ die Anstalt, der Freund wenig später auch. Das war 1955. Else im fernen Stockholm musste etwas Neues finden, jetzt die sechste Schule in 13 Schuljahren. Beim Abschied vom »Chef« fiel die für mich traumatische Bemerkung, dass mein schlechter Charakter kein Zufall sein könne, mein Vater sei »schließlich Hochverräter gewesen«.

Leichtverdientes Geld – Werbefoto für einen Hamburger Sportwagenhändler 1960.

Quelle: Claus Harcken

Was lernte ich in Berlin? Dass Familie schöner ist als Internat – Vater, Mutter und zwei Kinder blieb für mich auf Jahre hinaus die erstrebenswerte Lebensform. Was noch? Ich wusste nichts von der Welt. Ich hatte keine Zeitungen gelesen in der Schule, es gab keine. Jetzt lernte ich, dass Adenauer in Moskau die Heimkehr der letzten Kriegsgefangenen bewirkt hatte. Nicht mehr viele lebten noch. 9626 Soldaten plus etwa 20000 Zivilisten waren zehn Jahre nach dem Krieg der Rest von offiziell 1,3 Millionen Verschollenen. Die Menschen kamen schubweise. Der Preis war die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik, die sich bis dahin verweigert hatte.