Nachts ist das Meer nur ein Geräusch - Andrew Miller - E-Book

Nachts ist das Meer nur ein Geräusch E-Book

Andrew Miller

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Beschreibung

Maud stürzt in Tims Leben. Sieben Meter tief stürzt sie vom Deck des aufgebockten Segelschiffs auf zerbröckelte Ziegelsteine. Der Schlaks aus guter Familie und die eigenwillige Naturwissenschaftlerin werden ein Paar. Doch als ihre Tochter bei einem Autounfall ums Leben kommt, bricht ihr Leben auseinander. Maud verkriecht sich auf dem alten Segelboot; und obwohl sie vorher noch nie über heimische Gewässer hinausgesegelt ist, macht sie sich von England aus allein mit der „Lodestar“ über den Atlantik auf die Reise. Andrew Miller entwickelt aus einem Familienroman das Drama einer Frau, das von der Liebe erzählt, von Mutterschaft, vom Abenteuer der Einsamkeit und immer wieder vom Meer.

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Maud stürzt in Tims Leben. Sieben Meter tief stürzt sie vom Deck des aufgebockten Segelschiffs auf zerbröckelte Ziegelsteine. Kurz bleibt sie liegen, dann steht sie auf, geht ein paar Schritte und bricht zusammen. Der blonde Schlaks aus guter Familie und die auffällig unauffällige Naturwissenschaftlerin mit den Kringellöckchen werden ein Paar. Doch als die gemeinsame Tochter bei einem Autounfall ums Leben kommt, bricht ihr Leben auseinander. Die durch und durch eigenwillige Maud verkriecht sich auf dem alten Segelboot; und obwohl sie vorher noch nie über heimische Gewässer hinausgesegelt ist, macht sie sich allein auf, mit der »Lodestar « über den Atlantik, auf ins Ungewisse. Den Äquator hat sie vor sich, alles andere liegt dahinter. Und sie besitzt »das Talent zu überleben«.

Zsolnay E-Book

Andrew Miller

NACHTS IST DAS MEER NUR EIN GERÄUSCH

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Paul Zsolnay Verlag

Zum Gedenken an meine Mutter und meinen Stiefvater.

Unsere Lieben sind stets bei uns.

EINS

Allein den Sex ernst zu nehmen,

Ist vielleicht eine Möglichkeit, aber die Sandmassen zischeln,

Da sie sich dem Beginn des großen Abgleitens in das

Geschehen nähern.

John Ashbery

1

Zu Beginn des Frühjahrs im neuen Jahrtausend geht eine junge Frau rückwärts über das Deck eines Bootes. Sie geht langsam, tief gebückt, hält in der linken Hand eine Schöpfkelle und in der rechten ein Gefäß mit heißem Pech. Mit der Schöpfkelle gießt sie in dünnem Rinnsal Pech in die Nähte, in die sie den ganzen gestrigen Tag lang mit einem Hammer und einem Kalfateisen Wergstränge eingeschlagen hat.

Es beginnt also einfach mit Arbeit.

Das Boot ist auf Holzstelzen aufgebockt, das Deck knapp sieben Meter über dem Boden, dem harten Untergrund aus bröckeligem Beton und Ziegelstein, wo die Wärme der neuen Jahreszeit hier und da gegen alle Wahrscheinlichkeit blasse Blumen hervorgetrieben hat, die in flacher Erde wurzeln. Um das Boot herum liegt die Werft, ein Ort, wo früher einmal Schiffe – Fähren, Kohleschuten, Trawler, während des Krieges ein Minensuchboot aus Holz – gebaut wurden, der nun jedoch der Wartung und Instandhaltung von Sportbooten dient, die teils auf Stelzen stehen, teils an den Schwimmstegen festgemacht sind. Man hört das Geräusch von Elektrowerkzeugen und Radios, gelegentlich das Klopfen eines Hammers.

Sie ist allein auf dem Deck. Damit sie besser arbeiten und sich ungehindert bewegen kann, ist der Mast gelegt und das gesamte Takelwerk samt Relingsstützen und Reling entfernt und woanders verstaut worden. Wenn sie mit einer Naht fertig ist, beginnt sie sofort mit der nächsten. Das Pech im Gefäß kühlt ab und wird zähflüssig. Demnächst wird sie die Arbeit unterbrechen und es auf dem Gasbrenner in der Kombüse wieder erhitzen müssen, aber noch ist es nicht so weit.

Unter ihr steht im Schatten des stählernen Bootsrumpfes ein junger Mann, taucht Schrauben in Bleiweiß und singt dabei leise vor sich hin. Er ist hochgewachsen, blauäugig, sieht aristokratisch aus. Sein von weiter weg üppig wirkendes, blondes Haar wird bereits schütter. Er heißt Henley, ist jedoch unter dem Namen Tim bekannt, das ist ihm lieber. Im Raum steht die noch ungeklärte Frage, ob er und die Frau an Deck miteinander schlafen werden.

Eine Schraube in den behandschuhten Fingern, hält er inne, ruft: »Maud! Maud! Wo bist du?«, grinst, als er keine Antwort bekommt, und macht sich wieder an seine Arbeit. Er kennt sie nicht gut, weiß jedoch, dass sie sich nicht auf scherzhaftes Geplänkel einlässt, anscheinend nicht einmal versteht, was das ist. Das empfindet er als komisch und liebenswert, als charakterliche Eigenart, als einen wohltuenden Mangel, der zu den Dingen zählt, die er am meisten an ihr mag, wie zum Beispiel die Unverblümtheit des unverblümten Blicks ihrer braunen Augen, ihre Locken, die bloß Kringel und Löckchen sind, weil sie sich die Haare so kurz schneiden lässt wie die eines Jungen; den in ihren Arm (die Unterseite des linken Unterarms) eintätowierten Schriftzug, eine Überraschung, wenn man ihn zum ersten Mal sieht, sodass man sich fragt, was es vielleicht sonst noch für Überraschungen geben könnte. Den Anflug von Wiltshire in ihrer Stimme, die Art, wie sie an einer Schnittwunde saugt, aber kein Wort darüber verliert, und dass ihre Brüste nicht viel größer sind als Pfirsiche und, glaubt er, genauso hart. Gestern, als sie ihren Pullover ausgezogen hat, hat er zum ersten Mal fünf Zentimeter nackte Haut oberhalb ihres Hosenbundes gesehen und plötzlich einen ganz unerwarteten Ernst verspürt.

Sie sind beide Mitglied des Segelclubs der Universität. Die beiden anderen, die mit ihnen hierhergekommen sind, sind nach Bristol zurückgefahren, vielleicht, denkt Tim, um ihnen ein bisschen Raum, ein bisschen Ungestörtheit zu verschaffen. Denkt Maud das auch? Dass der Weg frei ist?

Er riecht das Pech, das sie verwendet. Außerdem den leicht fauligen Geruch des Flusses, der alten Pfähle, des Schlamms, der amphibischen Vegetation. Das Tal säuft immer wieder ab, ein dem Meer preisgegebener Ort, in den sich zwischen dicht bewaldeten Ufern zweimal am Tag Salzwasser wälzt, das bei Flut an den Wurzeln der Bäume leckt und bei Ebbe kleine Rinnen voller oberschenkeltiefem Schlamm, kahl und glänzend, zurücklässt. Weiter flussaufwärts sind alte Boote versenkt und sich selbst überlassen worden – geschwärzte Planken, geschwärzte Freiborde, manche so alt und verrottet, dass sie Wikinger, Argonauten, die ersten Männer und Frauen der Welt befördert haben könnten. Es gibt Silbermöwen, Reiher, Kormorane, eine ortsansässige Robbe, die unversehens neben Booten auftaucht, mit Augen wie ein Labrador. Das Meer selbst ist nicht zu sehen, aber nicht weit. Zwei Flussbiegungen, dann der Hafen, das Städtchen, die Burgen auf den Landspitzen. Offenes Wasser.

Vor dem Bootsschuppen steht eine Gestalt in rotem Overall und einer Schweißerbrille wie ein Boxer unter einem Schauer blauer Funken. Beim Büro lehnt ein Mann in einem Anzug an einem Eisenpfosten und raucht. Tim streckt sich – ein wohliges Gefühl –, doch als er sich wieder seiner Arbeit, dem Boot zuwendet, nimmt er eine Bewegung durch die Luft wahr, das Huschen eines gefiederten Schattens, das zugleich eine Bewegung über die Oberfläche seines Auges ist, wie der Kratzer eines Dorns. Es muss auch ein Geräusch gegeben haben – einen lautlosen Aufschlag gibt es nicht –, doch was es auch war, es ist im Zischen seines Blutes untergegangen und hat keine Spur seiner selbst hinterlassen.

Er starrt auf die Schöpfkelle, die an einer der mit weißen Blumen bewachsenen Stellen gelandet ist und aus deren Höhlung Pech tröpfelt. Maud selbst liegt weiter weg, mit dem Gesicht nach oben, die Arme über den Kopf geworfen, den Kopf zur Seite geneigt, die Augen geschlossen. Es kostet ungeheure Anstrengung, sie weiter anzusehen, die gerade zu Tode gekommene Frau auf den zerbröckelnden Ziegelsteinen, einen Schuh hat sie an, der andere ist weg. Er hat große Angst vor ihr. Er hält sich mit beiden behandschuhten Händen den Kopf. Gleich wird ihm übel. Er flüstert ihren Namen. Er flüstert noch anderes wie Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße …

Dann öffnet sie die Augen und setzt sich auf. Sie schaut, wenn sie überhaupt irgendwohin schaut, geradeaus auf den alten Bootsschuppen. Sie steht auf. Es sieht nicht so aus, als wäre das schwierig oder schmerzhaft, obwohl sie den Eindruck erweckt, als setzte sie sich aus den Ziegelsteinen und Blumen um sie herum wieder zusammen, erhöbe sich aus ihrem eigenen Staub. Sie geht los – nackter Fuß, beschuhter Fuß, nackter Fuß, beschuhter Fuß –, zwölf, fünfzehn Schritte, ehe sie schlagartig zusammenbricht, diesmal mit dem Gesicht nach unten.

Der Schweißer hat das Ganze durch seine getönte Brille beobachtet. Er dreht die Ventile der Gasflaschen zu, schiebt die Brille hoch und rennt los. Der andere, der Raucher vor dem Büro, rennt ebenfalls, allerdings ungelenker, als wäre das Rennen eigentlich nicht seine Sache oder als wollte er nicht als Erster bei ihr ankommen. Der Schweißer kniet sich neben Mauds Kopf hin. Den Mund dicht am Boden, flüstert er ihr etwas zu, hält ihr zwei Finger an den Hals. Der Mann im Anzug geht wie ein Araber auf ihrer anderen Seite in die Hocke, der Stoff seiner Hose spannt sich über seinen Oberschenkeln. Von irgendwoher ertönt unaufhörlich der grelle Klang einer Glocke. Inzwischen finden sich noch andere ein, weitere Werftarbeiter im roten Overall, die Frau aus dem Büro des Jachthafens, jemand in einer Segellatzhose, der wohl gerade von einem der Boote am Schwimmsteg gekommen ist. »Rückt ihr nicht so auf die Pelle!«, sagt der Schweißer. Jemand reicht atemlos einen grünen Kasten nach vorn. Drei-, viermal sagt die Frau aus dem Büro, sie habe den Rettungsdienst gerufen. Sie sagt Rettungsdienst anstatt Krankenwagen.

Irgendwann bemerken sie alle Tim, der wie am Boden festgenagelt fünf Meter entfernt steht. Sie bemerken ihn, runzeln die Stirn und wenden sich dann wieder Maud zu.

2

Keine Relingsstützen, keine Reling. Und vielleicht haben sich auch die Pechdämpfe auf sie ausgewirkt. Der Krankenwagen war schon von weitem zu hören. Er musste unter anderem den Fluss überqueren. Bei ihrer Ankunft legten die Sanitäter Maud eine Halswirbelsäulenschiene an und drehten sie dann um wie ein kostbares archäologisches Fundstück, eine Moorleiche aus der Zeit um Christi Geburt, so fragil wie Asche. Sobald sie stabilisiert war, setzte einer der Sanitäter Tim auf die hintere Trittstufe des Krankenwagens und erklärte ihm, er habe einen Schock erlitten, müsse sich aber keine Sorgen machen, weil es seiner Freundin unter den gegebenen Umständen recht gut gehe. Man werde sie ans obere Ende des Tals fahren, dort werde sie vom Hubschrauber übernommen. Der Hubschrauber werde sie nach Plymouth in die Klinik fliegen. In einer halben Stunde sei sie dort.

Als Tim wieder zu sich kommt, als das Zittern aufhört und sein Kopf wieder auf eine Weise zu arbeiten beginnt, die ihm bekannt vorkommt, sitzt er mit einer karierten Decke um die Schultern im Büro des Jachthafens. Topfpflanzen, Aktenschränke, Karten des Flusses. Ein sonnengebleichtes Poster von einem Segelboot, einer Rennjacht alten Stils, flach, übertakelt, mit einem Dutzend Besatzungsmitgliedern, die auf der Luvseite sitzen und die Beine baumeln lassen. Die Frau, die den Krankenwagen gerufen hat, unterhält sich leise mit dem Mann im Anzug. Sie bringt Tim einen Becher Tee. Der Tee ist brühheiß und ungenießbar süß. Tim nippt daran, dann steht er auf und faltet die Decke zusammen. Er braucht einen Moment, um den Gedanken abzuschütteln, dass er auch verletzt worden ist, dass eine Verletzung vorliegt, die er finden und sich ansehen müsste. Er bedankt sich bei dem Mann und der Frau (er ist absolut höflich – diese Schulen!), dann geht er hinaus zu der Stelle, wo sein alter Lancia geparkt ist, und fährt nach Plymouth.

Es ist schon fast dunkel, als er dort ankommt. Die Klinik kommt ihm wie einer der schrecklichsten Orte vor, an denen er je gewesen ist. Er kann die Notaufnahme nicht finden. Eine Zeitlang steht er im erleuchteten Eingangsbereich der Urologie, bis ein Pförtner ihn fragt, ob alles in Ordnung sei, und ihm den Weg zeigt – einen zwischen Büschen hindurchführenden Pfad, der zu einem Vorplatz führt, wo Krankenwagen um breite Türen mit Gummiflansch geparkt sind.

Am Empfang will die Frau hinter dem Glas wissen, in welcher Beziehung er zu Maud steht, und nach kurzem Zögern sagt er, er sei mit ihr befreundet. Sie will ihm nichts über Mauds Befinden, ihren Zustand sagen. Er denkt, dass sie es wahrscheinlich nicht weiß. Er setzt sich im Wartezimmer auf eine abgewetzte rote Bank. In seiner Nähe sitzt ein älteres Paar. Die beiden machen den Eindruck von Menschen, die kürzlich aus einer zerbombten Stadt geflüchtet sind – oder wie er sich solche Leute vorstellt. Eine halbe Stunde vergeht. Er geht zum Schalter zurück. Die Frau ist von einer anderen Frau abgelöst worden. Diese hier ist freundlicher.

»Moment, bitte«, sagt sie. Sie ruft auf der Schwesternstation an, irgendwo auf der anderen Seite der Schwingtür. »Stamp«, sagt sie. »Ist heute Nachmittag mit dem Hubschrauber gekommen?« Sie hört zu, sie nickt. »Ja«, sagt sie, »okay … ja … ja … ein Freund … ja … in Ordnung … danke.« Sie legt auf. Sie sieht Tim an und lächelt.

Maud bleibt drei Nächte in der Klinik. Die erste Nacht verbringt sie auf der Intensivstation, dann wird sie zur Überwachung in einen älteren Teil der Klinik verlegt. Von den Fenstern der Station aus kann man zwar nicht das Meer, aber das vom Meer ausgehende Licht sehen. Zehn Frauen zu beiden Seiten des Zimmers, eine mit einer Kinderstimme hinter einem Wandschirm, so fettleibig, dass sie es nicht ertragen kann, angesehen zu werden.

Vom Krankenhaus benachrichtigt, kommen Mauds Eltern aus Swindon zu Besuch. Sie sind beide Lehrer, vielbeschäftigte Menschen. Sie haben eine Tüte Schokokugeln und ein paar Zeitschriften mitgebracht, aus denen einzelne Bilder sorgfältig ausgeschnitten und vielleicht schon mit dem Gerät in der Küche laminiert worden sind, Bilder von der physischen Welt oder Bilder, die das menschliche Dasein illustrieren, jene Aspekte, die sich Schulkindern am ehesten vermitteln lassen. Ihre Mutter nennt sie Maudy, ihr Vater poliert seine Brille. Mitten in der Unterhaltung mit ihnen schläft Maud ein. Ihre Eltern sehen sie an, das wachsweiße Gesicht auf dem Kissen, den Verband um ihren Kopf, der einer enganliegenden Mütze gleicht. Sie schauen sich um, ob ein ruhiger und fachkundiger Mensch da ist, der die Dinge vielleicht in die Hand nehmen könnte.

Bei ihrer Entlassung hat sie ein Gipsbein und ein Paar Krücken. Tim fährt sie nach Bristol zurück. Er hat die letzten drei Nächte in einem Hotel in der Nähe der Docks verbracht, wo chinesische Seeleute in Unterwäsche durch die überheizten Flure streiften, ein breithüftiges Schlendern von Zimmer zu Zimmer, jedes Zimmer mit offener Tür, auf den Betten fläzend Gruppen von Männern, die rauchten und fernsahen.

Er verstaut ihre Krücken hinten im Wagen. Sie ist sehr still. Er fragt, ob er das Radio einschalten soll, und sie sagt, das sei ihr egal. Er erkundigt sich, ob sie Schmerzen hat. Er fragt, ob sie sich an irgendetwas erinnert. Er sagt, es tue ihm leid, und als sie fragt, wieso, sagt er, das wisse er nicht. Es tut ihm trotzdem leid. Dass sie sich verletzt hat.

Ihre Wohnung liegt in der Woodland Road, nicht weit entfernt von der biologischen Fakultät der Universität, wo sie sich auf den Master vorbereitet. Sie wohnt hier schon seit mindestens sechs Monaten, doch für Tim hat der Ort, als er ihr die Treppe hinauf gefolgt ist, etwas seltsam Unbewohntes. Er hat Schwestern – die Zwillinge – und bestimmte Vorstellungen über Räume, die von Mädchen bewohnt werden, die Duftkerzen auf dem Kaminsims, Kleider, die auf Bügeln an der Rückseite von Türen hängen, Plaids, Regenmäntel, Fotos in herzförmigen Rahmen. In Mauds Wohnung sieht er nichts dergleichen. In dem kleinen Flur stehen aufgereiht zwei Paar Sport- und ein Paar Wanderschuhe. Die Möbel im Wohnzimmer sind in drei Brauntönen gehalten. An den Wänden hängen keine Bilder. Licht von der Straße dringt durch ein großes Fenster und fällt auf einen Teppich der Sorte, die dazu gedacht ist, jeglicher Beanspruchung standzuhalten. Alles ist ordentlich. Wenn es nach etwas riecht, dann nach dem Gebäude selbst.

Sie setzt sich in einen der Sessel, die Krücken auf dem Boden neben sich. Er kocht ihr Tee, obwohl keine Milch im Kühlschrank ist. Sie ist blass. Sie sieht erschöpft aus. Er sagt, er finde, er solle die kommende Nacht auf dem Sofa schlafen, außer natürlich, es gebe jemand anders, den sie rufen könne. »Du sollst nicht allein sein«, sagt er. »Jedenfalls nicht in den ersten vierundzwanzig Stunden. Das steht in dem Merkblatt des Krankenhauses.«

»Mir geht’s gut«, sagt sie, und er sagt: »Na ja, wahrscheinlich eher nicht. Jedenfalls noch nicht.« Ihre Schränke sind leer. Er geht in aller Eile einkaufen. Im Supermarkt fragt er sich, ob er ihre Lage ausnutzt, ob er alles andere als bloß ein hilfsbereiter Freund, sondern vielmehr ein manipulatives, berechnendes Arschloch ist. Aber der Gedanke führt nicht sehr weit. Er füllt den Korb, bezahlt und geht, Stadtwind im Gesicht, mit ausgreifenden Schritten zur Wohnung zurück.

Er kocht ein Käsesoufflé. Er ist ein guter Koch, und das Soufflé ist leicht und appetitlich. Sie bedankt sich, isst davon drei Bissen. Sie schläft aufrecht sitzend im Sessel. Es ist ein wenig langweilig, ein wenig besorgniserregend. Als sie aufwacht, sehen sie eine Stunde fern, dann geht sie durch die Tür in ihr Schlafzimmer. Er räumt ab, liegt auf dem Sofa unter seinem Mantel wach. Er würde gern ein geheimes Tagebuch finden und über ihre geheimen Gedanken lesen. Ihre Sexphantasien, ihre Angst vor Einsamkeit, ihre Pläne. Hat sie ein Tagebuch? Seine Schwestern haben Tagebücher, ganze Bände, größtenteils mit kleinen Schlössern daran, aber er ist sich ziemlich sicher, dass Maud keines hat, und wenn, würde sie nicht ihre Sexphantasien, ihre Angst vor Einsamkeit verzeichnen. Durch die Gardine am Fenster sieht er einen leicht verwischten Mond, und als er die Augen schließt, sieht er Chinesen wie Zigarettenrauch dahintreiben.

Er wacht auf, als Maud sich übergibt. Sie hat es bis ins Bad geschafft; die Tür ist offen, das Licht brennt, ein grelles Licht. Er sieht sie von hinten im Nachthemd, über das rosafarbene Waschbecken gebeugt. Viel zu erbrechen hat sie nicht. Er bleibt an der Tür stehen, um sie auffangen zu können, aber sie hat die Finger um die Hähne geschlungen, hat sich abgestützt.

Das Krankenhaus ist fünf Fahrminuten entfernt, jedenfalls zu dieser Nachtzeit. Man nimmt sie sofort auf, fährt sie in einem Rollstuhl weg. Er kommt nicht mehr dazu, auf Wiedersehen zu sagen oder ihr viel Glück zu wünschen.

Als er am nächsten Morgen wiederkommt, sagt man ihm, sie liege auf Elizabeth Fry, einer Station im fünften Stock, auf der Vorderseite. Er steigt viele Treppen hinauf, breite grüne Stufen, ein Fenster bei jedem Absatz, sodass sich die Stadt beim Höherkommen immer weiter ausbreitet, sich als Konglomerat von Städten erweist, Dutzenden vielleicht, jede um das Skelett dessen gruppiert, woraus sie entstanden ist. Zunächst kann er Maud nicht finden. In ihren Betten, ihren Flügelhemden sind die Patienten einander seltsam ähnlich. Langsam geht er an den Fußenden von Betten vorbei, bis er sie schließlich zusammen mit fünf anderen in einem Anbau findet, Name und Aufnahmedatum auf die Weißwandtafel über ihrem Kopf geschrieben.

Sie hat bereits Besuch, eine Frau mit langen, grauen, offen getragenen Haaren und Kitten-Heel-Schuhen mit Leopardenmuster an den großen Füßen. Sie hält sanft eine von Mauds Händen und löst ihren Griff nicht, als sie sich umdreht und zu Tim aufblickt.

»Sie schläft«, sagt die Frau. »Sie schläft schon, seit ich da bin.«

»Aber es geht ihr gut?«

»Soweit ich weiß.«

»Wahrscheinlich ist es genau das, was sie braucht.«

»Schlaf?«

»Ja.«

»Jedenfalls«, sagt die Frau, »ist es das, was man so sagt.« Sie hat einen nördlichen Akzent – Midlands, die nördlichen Midlands, irgendetwas in dieser Richtung. Eigentlich kennt er die Midlands nicht.

»Ich bin Tim«, sagt er, »Tim Rathbone.«

»Susan Kimber«, sagt die Frau. »Mauds Professorin an der Universität. Sie hat mich heute Morgen angerufen. Sie hätte heute Nachmittag ein Tutorium halten sollen.«

»Sie hat sie angerufen?«

»Sie ist bei Bewusstsein. Und es gibt hier irgendwo so was wie ein Telefon auf Rädern.«

»Ich habe sie gestern Nacht hierhergebracht«, sagt Tim. »Sie hat sich übergeben.«

»Ein Glück, dass Sie da waren.«

»Ja. Das war es wohl.«

»Sie sind mit ihr befreundet.«

»Ja.«

»Sind Sie an der Universität?«

»Ich bin vorletztes Jahr fertig geworden. Ich habe Englisch studiert.«

»Dann haben Sie also drei Jahre lang Romane gelesen.«

»Eigentlich zum großen Teil Lektüre über Romane«, sagt Tim. »Aber verglichen mit dem, was Sie tun, Sie und Maud, muss es ein bisschen armselig erscheinen.«

»Eigentlich nicht«, sagt die Professorin. »Und wenn doch, dann soll es wohl so sein.«

»Ich hätte lieber Musik studiert. Ich hätte es tun sollen.«

»Sie spielen ein Instrument?«

»Gitarre. Ein bisschen Klavier. Hauptsächlich Gitarre.«

»Aha«, sagt die Professorin, und ihr Gesicht wird etwas milder. »Sie sind der Gitarrenspieler.«

»Ja. Sie hat von mir gesprochen?«

»Ich frage meine Studenten erbarmungslos aus, vor allem über ihr Privatleben. Maud musste ich natürlich zuallererst einmal beibringen, dass sie ein Privatleben hat. Ich meine, etwas zwischen Arbeit und Schlaf. Etwas, worüber sich diskutieren lässt.«

Einen Moment lang schauen sie beide auf das Bett, auf die schlafende junge Frau.

»Wie gut kennen Sie sie?«, fragt die Professorin.

»Wir sind ein paarmal mit dem Universitätsboot gesegelt. Und einmal ist sie zu einem Konzert gekommen, das ich gegeben habe. Ein Mittagsauftritt in der Kirche am unteren Ende der Park Street.«

»Sie mögen sie.«

»Ja.«

»Sie wollen ihr helfen.«

»Ihr helfen?«

»Sie retten. Da sind Sie nicht der Einzige, fürchte ich. Sie umschwirren sie wie Motten, obwohl sie, soweit ich das beurteilen kann, gar nicht dazu einlädt. Jungs und Mädchen. Vielleicht liegt es an ihren Pheromonen.«

Er nickt. Er weiß nicht recht, was er dazu sagen soll. Allmählich erinnert sie ihn an seine Mutter, obwohl sie eindeutig nüchtern ist.

»Am Telefon«, sagt die Professorin, »hat sie mir gesagt, sie sei vom Deck eines Bootes gefallen. Vermutlich nicht ins Meer.«

»Das Boot war in der Werft. Sie ist auf einen Steinboden gefallen. Knapp sieben Meter.«

»Und dann?«

»Dann?«

»Sie waren doch dabei, oder? Was ist als Nächstes passiert?«

Tim runzelt die Stirn. Aus irgendeinem Grund – aus mehreren Gründen – hat er es unterlassen, sie sich ins Gedächtnis zu rufen, die halbe Minute, die folgte. Nach einer Weile, in der er Bilder wie Porträts in einer Galerie zu sehen scheint – den Schweißer unter seinem Funkenschauer, den rauchenden Mann im Anzug und einen weißen Vogel, eine Möwe, vielleicht sogar einen Reiher, die Flügel in sinnbildlichem Flug über den wogenden grünen Baumwipfeln gespreizt –, sagt er: »Sie ist aufgestanden. Sie ist losgegangen.«

Die Professorin lächelt. »Ja«, sagt sie. »Ja. Das hört sich ganz nach unserer Maud an.«

Zum zweiten Mal führt er sie aus der Tür eines Krankenhauses. Er hat ein neues Merkblatt mit Verhaltensmaßregeln. Sie stakst auf ihren Krücken neben ihm her. Am Himmel bauschen sich kleine, vollkommen weiße Wölkchen.

Wieder geht er einkaufen, dann macht er ihr ein Kräuteromelette mit einem Salat aus importierten Sorten. Sie isst alles auf, wischt mit einer Scheibe Brot ihren Teller sauber.

Er sagt, er spiele ihr etwas vor, wenn sie wolle, und als sie sich einverstanden erklärt oder zumindest nichts Gegenteiliges sagt, fährt er mit dem Lancia zu seiner Wohnung in einem der hohen weißen Häuser mit Blick auf den Fluss, der Hängebrücke auf der einen und den alten Zollspeichern auf der anderen Seite. Er hat die Wohnung zusammen mit einem Spanier gemietet, der zu jeder Tages- und Nachtzeit in einem Restaurant, in zwei Restaurants, mindestens zwei, arbeitet. Tims Anteil an der Miete wird aus dem Geldstrom der Familie bezahlt, jenen Treuhandschaften, Echo alter Arbeit, die von seinen Großeltern eingerichtet worden sind und ihm ein Einkommen verschaffen, das nie viel mehr als bescheiden war, aber dafür – für die Wohnung in dem weißen Gebäude, die luftige Aussicht – ausreicht.

Die spanische Freundin des Spaniers schläft auf der Fensterbank. Sie hat eine Nase wie eine Haifischflosse und blauschwarzes Haar, das so dicht ist, dass man es mit einer Gartenschere schneiden müsste. Er geht leise an ihr vorbei in sein Zimmer, wählt eine Gitarre aus, legt sie in den Kasten, schließt den Deckel, lässt die Verschlüsse zuschnappen und fährt zurück zu Maud.

Sie hat geduscht und sich umgezogen. Ihre Haare sind noch feucht. Er fragt, ob sie sich besser fühlt, und sie bejaht. Sie trinken Tee (er hat Milch gekauft). Eine halbe Stunde lang liest sie in einem Band mit dem Titel Medizinische Physiologie (2. Ausgabe), obwohl ihre Augen manchmal geschlossen sind und das Buch in ihrer Hand zittert. Während es Abend wird, nimmt er die Gitarre aus dem Kasten und zeigt sie ihr. Er sagt ihr, es sei ein Nachbau einer René Lacôte, und Lacôte sei ein berühmter Gitarrenbauer des neunzehnten Jahrhunderts gewesen. Das hier sei Ahorn, und das hier, die Decke, Fichte. Er macht sie auf die Abalone-Rosette, die Rauten und Monde auf der Kopfplatte aufmerksam. Er sagt, er habe tatsächlich auch eine Original-Lacôte, die er vor einigen Jahren bei einer Auktion gekauft habe. Er bewahrt sie im Haus seiner Eltern auf. Seine Eltern haben ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem. Er lacht, dann schaltet er die einzige Lampe im Zimmer ein und setzt sich unter das Licht.

Er spielt, sie hört zu. Er könnte sich das als Modell ihrer gemeinsamen Zukunft vorstellen. Ein Stück, eine kurze Etüde von Fernando Sor, möchte sie noch einmal hören. Verglichen mit einem modernen Instrument hat die Gitarre einen leichten Klang. Sie ist klar und lieblich, ein Instrument, das dafür gemacht scheint, Kinder in den Schlaf zu spielen.

Um zehn hievt sie sich auf ihr gesundes Bein und macht sich bettfertig. Als sie aus dem Bad kommt, hat sie ein Nachthemd an und stützt sich schwer auf die Krücken. Er überlegt, was er zu ihr sagen soll – vielleicht ein weiteres Zitat aus dem Merkblatt des Krankenhauses –, aber es ist Maud, die zuerst spricht. »Du kannst in meinem Zimmer schlafen«, sagt sie.

»Okay«, sagt er. »Bei dir?«

»Aber nicht mit mir«, sagt sie.

»Natürlich«, sagt er. Dann, ernsthafter: »Natürlich nicht.«

Das Bett in ihrem Schlafzimmer ist nicht sonderlich groß, kein richtiges Doppelbett. Sie schlüpft unter die Decke, er zieht sich rasch bis auf T-Shirt und Boxershorts aus. Er legt sich neben sie. Sie riecht – trotz der Dusche – nach Krankenhaus, und als sie den Arm ausstreckt, um die Lampe auszuschalten, sieht er, dass sie noch immer das Krankenhausarmband am Handgelenk trägt. Sie liegt mit dem Rücken zu ihm. Um die Wunde an ihrem Kopf ist ein kleiner Fleck rasierter Kopfhaut. Sie reden nicht miteinander. Er hat eine Erektion, die, wie er weiß, stundenlang nicht abklingen wird, und dreht sich ein Stückchen von ihr weg, damit sie nicht spürt, wie sie gegen sie drückt. Er lauscht ihrem Atem und meint den Moment zu hören, in dem er in den Rhythmus ihres Schlafs übergeht. Er möchte die ganze Nacht wach bleiben und stellt sich das auch so vor, dass er gar keine Wahl hat, aber ihre Wärme dringt in ihn ein wie eine Droge, und als er die Augen wieder öffnet, liegt ein feines Grau von Dämmerung im Zimmer. Sie ist immer noch da, das versehrte Mädchen, das wundersamerweise gerettete Mädchen. Die ganze Nacht haben sie dagelegen wie zwei Steine auf der Straße. Er legt ihr eine Hand auf die Schulter. Sie regt sich, schläft aber weiter. Im Schlaf ist ihr Nachthemd ein Stückchen hochgerutscht, und sein rechtes Knie berührt die Rückseite ihres linken Oberschenkels, Haut an Haut. Vor dem Fenster dröhnt ab und zu ein Auto vorbei.

So kamen sie einander näher.

3

Maud, für einen Moment allein, wie sie splitternackt auf dem Bett sitzt, den Fuß im Gips, ohne Armbanduhr, Armreif oder sonst irgendein Schmuckstück am Leib, ihre Haut beleuchtet vom Licht einer alten, verwinkelten Stadt.

Ihr Schlafzimmer – so schmucklos wie der Rest der Wohnung – wird mit einem möglicherweise nicht betriebssicheren elektrischen Ölradiator beheizt, der nur die Luft in der unmittelbaren Umgebung seiner grauen Rippen erwärmt. Sie kann Kälte gut aushalten. Die vielen Stunden Jollensegeln auf Baggersehen, auf der Themse, auf dem Meer. Nasse Shorts, nasse Füße. Und auch alles andere: verstauchte Zehen, von Leinen aufgeschürfte Haut, im Gesicht ein Striemen von einem Segel, auf dem Oberschenkel ein blauer Fleck wie eine Pfingstrose in voller Blüte, nachdem sie im Unkraut auf der Slipanlage den Halt verloren hat.

Als Schülerin gehörte sie dem Judoclub der Schule an. Der Club trainierte in einer Art Wellblechbaracke auf dem Gelände der Knabenschule auf der anderen Straßenseite. Sie hatte, soweit erkennbar, keine Belüftung, und an den kleinen Fenstern lief sommers wie winters Kondenswasser herunter. Der Lehrer war ein Mann mittleren Alters namens Rawlins, ein ehemaliger Europameister, zu Mauds Zeit jedoch ein halber Krüppel, der während des gesamten Unterrichts Kette rauchte und dessen Hände riesig, rot und mörderisch waren. Wie es dort roch. Das Rums, Rums, Rums der auf die Matte knallenden Körper. Wie man zupacken und wie man die Füße setzen musste. Das eigene Gleichgewicht als Geheimnis, das man hütete und das der Gegner zu erraten, das er zu stören suchte. Rawlins sah, dass sie ihren Mann stand, dass sie sich von größeren Mädchen nicht einschüchtern ließ, nie aufgab, auch wenn Aufgeben sinnvoll gewesen wäre. Eine Zeitlang glaubte er, sie brächte die erforderliche Eigenart mit, um in einem Kampfsport erfolgreich zu sein. Sie erinnerte ihn an einen Hund, den er einmal gehabt hatte, der von einem Auto überfahren worden war und an den er noch immer zuweilen dachte. Als sie ein Mädchen mit Tai otoshi warf und sich dabei einen Finger ausrenkte, fragte er sie, ob er ihn an Ort und Stelle, auf der Matte, wieder einrenken solle. Das war einer seiner Tests. Bei ihm war alles ein Test, eine Möglichkeit zu erkennen, wer man war. Sie nickte. Er nahm ihre weiße Hand zwischen seine roten Hände, sein Blick irritiert von dem Rauch, der von der Zigarette zwischen seinen Zähnen aufstieg. Du siehst mich einfach an, sagte er, du lässt den alten Rawlins nicht aus den Augen, und das tat sie gehorsam, während seine Daumen das Gelenk ertasteten.

Tim ruft durch die geschlossene Tür. »Bist du okay da drin, Maud?«

»Ja«, ruft sie zurück.

»Salonfähig?«

»Ja.«

Er öffnet die Tür. »Ach du meine Güte«, sagt er. »Tut mir schrecklich leid.« Er errötet, sie jedoch nicht. »Ich bin dann drüben«, sagt er.

4

Im Juli fahren sie zu seinen Eltern. Wie sich herausstellt, sind sie in weniger als hundertfünfzig Kilometer Entfernung voneinander aufgewachsen, in benachbarten Grafschaften, doch während Maud in einem Reihenhaus in einer Kleinstadt, halbindustriell, ein Verkehrsknotenpunkt, wohnte, lebte er zwischen offenen Feldern, Ställen, Gehölzen, Rasen. (Die örtliche Jagdmeute braucht zwanzig Minuten, um den Besitz seiner Eltern zu durchqueren, eine Linie von Reitern in Schwarz und Scharlachrot, von den Hufen der Pferde wie Granatsplitter aufstiebende Erdklumpen.)

Sie holpern die Auffahrt entlang. Es ist das Sommertreffen der Rathbones, und vor dem Haus sind bereits vier andere Autos nachlässig geparkt, große, schmutzbespritzte Autos. Die ganze Fahrt von Bristol über hat er von seiner Familie geredet. Während sie sich dem Haus näherten, wuchs seine Überzeugung, dass sie nicht mit ihnen auskommen, sie nicht mögen, sie seltsam finden würde, schwierig. Unerfreulich.

»Hinterher wirst du nicht mehr mit mir reden wollen«, sagt er. Und dann: »Bitte, sei so unhöflich, wie du magst.« Und dann, sehr bestimmt: »Sie merken es sowieso nicht.«

Im Flur – wenn es das denn ist, der Raum (mit eigenem Kamin), der hinter der Haustür liegt (wenn das denn die Haustür ist) – steckt ein Hund die Schnauze zwischen Mauds Beine, während andere, kleinere Hunde an ihren Hacken knabbern. Alte Zeitungen, Hundeleinen, zwanzig Kopfbedeckungen von Strohhüten bis hin zu Südwestern. Öljacken, Reihen von Stiefeln verkehrtherum auf dem Stiefeltrockner, eine Reitgerte, gegen eine Fensterscheibe gelehnt. In einer Kristallschüssel ein Dutzend Schrotpatronen mit Messingböden wie Kleingeld aus einer Hosentasche.

Zwischen dem Flur und der Küche liegen weitere Zimmer, die offenbar einfach bloß Zimmer sein dürfen. Es gibt Hundekörbe, Armsessel, einen Tisch, der sogar noch älter als das Haus aussieht. Von einem der Armsessel aus sieht ihnen ein uralter Hund mit milchigen Augen nach. Tims Mutter ist in der Küche. Sie macht irgendetwas mit Mehl und Fett, ihre Hände stecken in einer Glasschüssel. Sie ist hochgewachsen, mit hennarotem, zu einem straffen französischen Zopf geflochtenem Haar. Sie trägt ein geblümtes Kleid, geschnürte Lacklederstiefel, eine Metzgerschürze. Sie hält Tim die Wange hin, lächelt Maud an. »Ich habe kalte Hände«, sagt sie, »genau das Richtige zum Backen.«

Kinder kommen herein – zwei Jungen und ein Mädchen, das älteste vielleicht acht. Sie jagen einander nach, doch als sie Maud sehen, nehmen sie sich mit einem Mal zusammen. Das Mädchen streckt die Hand aus.

»Ich bin Molly«, sagt das Mädchen. »Das ist Ish, und das ist Billy. Bist du Tims Freundin?«

Die Eltern der Kinder treffen ein, Tims Bruder Magnus und seine Frau, das frühere Model. »Ist es schon Gin-Zeit?«, fragt der Bruder. Er und Tim klopfen einander auf die Schultern. Magnus sieht Maud an, heißt sie im Irrenhaus willkommen. Vor dem Küchenfenster, auf dem glänzenden Rasen, spielen zwei Mädchen im Teenageralter, die Haare zu dicken Zöpfen geflochten, Krocket. Die Art, wie sie die Schläger führen, hat nichts Geziertes. Die Kugeln flitzen über das gemähte Gras.

Wie sich herausstellt, ist es schon Gin-Zeit. Magnus bringt zwanzig Minuten damit zu, die Drinks zuzubereiten, schneidet Zitronen, zerkleinert in einem sauberen Geschirrtuch Eis, misst ab, rührt um.

Der Hund mit den trüben Augen ist auf eine Bank geklettert und frisst einen Keks, den er von einem Teller gezogen hat. Er hat einen Gesichtsausdruck wie ein Märtyrer auf einem religiösen Gemälde.

Beim Geräusch eines Flugzeugs, einem dünnen Summen in der Luft, laufen alle Kinder hinaus. Tim und Maud folgen hintereinander nach draußen. Sie gehen auf die Stallungen zu. Das Flugzeug ist verschwunden, taucht aber plötzlich zehn Meter über der Straße wieder auf, überfliegt knapp die Baumwipfel, dann die Hecken. Magnus’ Frau ruft den Kindern etwas nach, aber ihre Stimme trägt nicht. Sie laufen winkend auf die Wiese hinter den Stallungen zu. Das Flugzeug sinkt sanft aufs Gras, macht einen Hüpfer, setzt auf, bremst ab, wendet und rollt auf die Stallungen zu. Es ist ein ganz kleines, silberfarbenes Flugzeug. Es vibriert leicht und bleibt ein kurzes Stück von der Stelle entfernt stehen, wo sich die Erwachsenen und die Kinder inzwischen versammelt haben. Eine Tür schwingt nach oben, ein korpulenter Mann hievt sich vom Sitz. »Punkte für die Landung?«, ruft er.

Tim sagt zu Maud: »Darf ich dir Daddy vorstellen?«

Das Mittagessen dauert lang, und es geht laut zu. Das Benehmen der Familie hat mit Benehmen nichts zu tun. Das Essen ist köstlich, raffiniert. Es gibt Wein aus einer Karaffe; es gibt Kristallgläser, von denen keine zwei zusammenpassen. Man hat Maud neben Tims Vater gesetzt. Sie nennt ihn Mr. Rathbone, und er sagt, Peter reiche völlig und ob er sie etwa Miss Stamp nennen solle. Er trägt eine rote Kordhose, hat einen dichten Kranz grauer Haare, ein verwittertes und makellos rasiertes Gesicht und eine Stimme, die keinerlei Fülle zu besitzen scheint und doch mühelos alle anderen übertönt. Am Morgen ist er über die Kathedrale von Salisbury geflogen und war stolz darauf, dem Volk anzugehören, das sie erbaut hat. Es habe doch einmal eine Königin namens Maud gegeben, nicht wahr? Habe einen der Plantagenets geheiratet. Er erkundigt sich nach ihrer Arbeit an der Universität, ihrem Forschungsgebiet. Sie erklärt es, sorgfältig, aber nicht ausführlich. Pathologische Wundheilung, Gewebeheilungsreaktion, besonders bei älteren Menschen.

»Leuten wie mir, meinen Sie?«

»Älter«, sagt sie.

»Na, das ist doch was.«

Als sie über Defekte beim Östrogen-Signalweg spricht, scheint er ihr folgen zu können. Er erzählt ihr, er sei bei der Army gewesen und versuche sich seither an diesem und jenem – lese viel, baue Sachen in der Werkstatt, fliege mehr oder weniger nach Gefühl. Er erkundigt sich nach ihrem Unfall. Die Geschichte ihres Sturzes ist schon drei, vier Mal erzählt worden. Die Kinder mögen sie besonders. Vergangene Woche ist der Gips abgenommen worden.

»Haben Sie irgendwelche Narben?«, fragt das Ex-Model.

»Ein paar«, sagt Maud.

»Und was hat das hier zu bedeuten?«, fragt Tims Vater und ergreift ihren linken Arm mit Händen, die ganz anders sind als die von Tim. Er trägt eine Brille an einer Kordel um den Hals. Er setzt sie auf, liest den Schriftzug auf ihrem Unterarm (die Tinte in die Haut einzubringen hat vier Stunden, verteilt auf zwei Sitzungen, gedauert, bei denen ihr blutiger Arm auf einer gepolsterten Stütze lag).

»Sauve … Qui … Peut. Sauve Qui Peut?«

»Jeder muss sehen, wo er bleibt«, sagt Magnus und füllt sein Glas nach.

»Ich weiß nicht recht, ob es das ganz trifft«, sagt Tim. »Oder, Maud?«

»Blödsinn, natürlich trifft’s das«, sagt sein Bruder.

»Jedenfalls besser«, sagt Mr. Rathbone, »als Runen oder irgendein Maori-Unsinn. Wenigstens bedeutet es was.«

»Also, wenn man danach geht«, sagt Magnus, »hätte sie auch Arbeit Macht Frei nehmen können. Das bedeutet auch was.«

»Red keinen Quatsch, Mags«, sagt sein Vater.

Eine von den Zwillingen sagt: »In der Schule ist eine, die will sich das Hohelied in einer Spirale um den Bauchnabel tätowieren lassen.«

»Stimmt gar nicht«, sagt der andere Zwilling.

»Haben Sie denn gewusst, was es bedeutet, Maud«, fragt Tims Mutter, »als Sie es haben machen lassen?«

»Mum, bitte«, sagt Tim.

Sie lächelt. »Es war bloß eine Frage, mein Lieber.«

Sie bekommen das Gästezimmer im ersten Stock, am Westende des Hauses. Wegen der Tapete wird es manchmal das blaue Zimmer genannt, wegen einer gerahmten Schriftrolle, die zwischen den Fenstern hängt, manchmal auch das chinesische Zimmer. Sie bringen ihre Taschen nach oben. Das Zimmer wird von Nachmittagssonne durchflutet. Tim befreit eine Fliege, die gegen eine Fensterscheibe taumelt. »Die Kinder lieben dich jetzt schon«, sagt er.

»Sie kennen mich doch gar nicht«, sagt sie.

Er legt von hinten die Arme um sie. »Wie lange muss man denn jemanden kennen, bevor man ihn liebt?«

»Länger als einen Vormittag«, sagt sie.

»Magst du jemanden von ihnen?«

»Natürlich.«

»Jemand Bestimmten?«

»Deinen Vater?«

»Als kleiner Junge«, sagt Tim, »hatte ich die größte Ehrfurcht vor ihm. Alle haben von ihm geredet, als wäre er der liebe Gott. Aber du musst dich in Acht nehmen. Ich kann mich erinnern, wie wir uns alle hinter einem Sofa versteckt haben, auch Mum, während Dad auf der Suche nach uns von Zimmer zu Zimmer gegangen ist. Das war kein Spiel.« Er schließt die Arme fester um Maud, zieht sie an sich. »Egal, in einer Stunde sind sie sowieso alle betrunken.«

Die lange Dämmerung, blau und violett, blau und purpur. Sie schlendern zur Verandatür hinaus und hinein. Sie trinken Gin, der aus einer blauen Flasche eingegossen wird. Die Kinder scheuchen die Hunde zwischen den Krockettoren hindurch. Tims Mutter, die über das Licht spricht, wie schön es ist, und wie es sich schlicht über alles zu breiten scheint, redet irgendwann wirr, wird weinerlich und nestelt am Stoff ihres Kleides. Tims Vater erklärt Maud, es gebe drei Dämmerungen. »Die hier«, sagt er schnuppernd, »ist die zivile. Später bekommen wir die nautische.«

Blau und violett, blau und purpur. Die Zwillinge, die üppigen Hinterteile in hellen Reithosen, knien auf dem Rasen und zupfen verträumt am gestutzten Gras. Magnus trägt eine Miene leidgeprüfter Langeweile zur Schau. In einem Kleid, das sie selbst genäht hat, spaziert seine Frau hinter den Kindern her.

Bis man sich zum Essen hinsetzt, ist es kurz vor elf, und niemand interessiert sich groß für die Speisen. Tims Mutter hat geweint und sich wieder gefasst, nun artikuliert sie alles, was sie sagt, mit übertriebener Sorgfalt. Als sie fertig sind, wird das kaum berührte Essen einfach zur Seite geschoben. Morgen wird jemand kommen. Jemand wird sich um alles kümmern.

Die Familie zerstreut sich. Tim nimmt Maud bei der Hand, führt sie durch eine Tür in einen Gang und diesen entlang zu einer kurzen Treppe. Hier befindet sich eine Tür mit einer Stirnfläche aus Metall und einem Tastenfeld daneben. Das hier, sagt Tim zu ihr, sei die Schatzkammer. Er lacht, während er den Code eintippt, und sagt, es sei wie die Grabkammer einer Pyramide. In dem Raum ist es merklich kälter als im Rest des Hauses. Die Wände sind weiß gekalkt, daran aufgereiht stehen Regale und Vitrinen. Es gibt kein Fenster.

Er zeigt ihr alles. »Eigentlich weiß ich nicht, was die Sachen wert sind«, sagt er.

Es gibt einige schwere, viktorianische Schmuckstücke. Ein Ozias Humphry zugeschriebenes Porträt, handtellergroß, von einer jungen Frau mit roten Haaren. Eine Erstausgabe von J.M. Barries The Little White Bird (mit einer Widmung für die »hübsche kleine Lilly Rathbone«). Es gibt eine Mappe mit Aquarellskizzen von Alfred Downing Fripp, größtenteils von Kindern am Strand. Es gibt ein Grammophon zum Aufziehen und einen Webley-Revolver, den jemand aus der Familie bei der zweiten Flandernschlacht getragen hat. Es gibt eine rituelle Maske von irgendwoher in Zentralafrika, geschnitzt aus einem dunklen, öligen Holz, ein Artefakt, das eine tote oder unwiederbringlich verlorene Sprache zu sprechen scheint, ohne selbst im Entferntesten tot zu sein. Tim posiert mit der Maske vor dem Gesicht, dem Revolver in der Hand. »Zu mir oder zu dir«, sagt er, die Stimme vom Holz gedämpft.

Auf einem niedrigen Regal liegt in einem rissigen braunen Kasten die Gitarre. Er nimmt sie heraus und legt sie nach einem kurzen Moment des Zögerns in Mauds Hände. Lacôte, Luthier, Paris 1842. Breveté Du Roi. Das Instrument scheint in fast makellosem Zustand zu sein. Es ist überraschend leicht, hat etwas Beschwingtes. Um das Schallloch verläuft ein Muster aus Schildpatt mit Intarsien aus Gold und Perlmutt. Sie gibt es zurück. Er setzt sich auf einen Hocker und beginnt es nach dem Gehör zu stimmen.

»Alte Gitarren«, sagt er, »werden mit dem Alter nicht unbedingt besser. Die meisten verlieren Ton. Aber die hier ist außergewöhnlich.« Er lässt die Finger über die Saiten gleiten, schlägt einen Akkord an, stimmt nach. Er spielt den Anfang eines Stückes, fünfzehn, zwanzig Takte eines Tanzes. »Die Akustik hier ist beschissen«, sagt er. »Aber du bekommst eine Ahnung davon.«

Bei ihr zu Hause – im Haus ihrer Eltern – gab es ein Laminiergerät, den Fernseher, den Ehering ihrer Mutter. An der Wand im Wohnzimmer ein paar bemalte Teller. Taschenbücher.

»Warum bewahrst du sie hier drin auf?«, sagt sie. »Das ist, als hätte man ein Boot, mit dem man nie segelt.«

»Sie kostet ungefähr so viel wie ein Boot«, sagt er. »Und sie ist sehr viel leichter zu stehlen.« Er legt sie in den Kasten zurück, hebt den Kasten wieder auf das Regal und stellt, als er sich umdreht, fest, dass Maud die Maske ansieht, als ob diese den Blick erwiderte. Er hat so etwas noch nie gesehen. Er beschließt, nicht darüber nachzudenken.

Als die Schatzkammer wieder verschlossen und verriegelt und der Alarm aktiviert ist, bewegen sie sich zusammen leise durch das teilweise beleuchtete Haus. Es ist spät. Niemand ist mehr auf den Beinen. Er öffnet ihr Türen, fordert sie auf, in die menschenleeren Zimmer zu schauen. Jedes Zimmer hat seinen besonderen Geruch. Der Salon riecht nach Leder und Blumen; der kleine Salon nach dem letzten Feuer des Winters. Das Arbeitszimmer stinkt nach schlafenden Hunden. Das Musikzimmer riecht nach dem in das schwarze Holz des Klaviers eingeriebenen Bienenwachs. Überall, auf jeder Oberfläche, stehen Bilder von Kindern und Hunden. Oben sieht es zunächst so aus, als wären sie die Letzten, die zu Bett gehen, die Letzten, die noch wach sind, doch als Maud mit ihrem Waschbeutel zum nächstgelegenen Badezimmer gefunden hat, brennt dort noch Licht und die Dusche läuft. Sie setzt sich auf die Stufe gegenüber der Tür und wartet. Die Dusche wird abgestellt, und kurz darauf kommt Magnus heraus, ein Handtuch um die Taille geschlungen. Beim Abendessen hat er, während er ihr von dem guten Wein nachgegossen hat, mit einer Stimme, mit der er unter anderen Umständen etwa heikle finanzielle Informationen hätte weitergeben können, zu ihr gesagt: »In unserer Familie geht es immer ums Ganze. Wir machen in aller Regel keine Gefangenen.« Nun, da er Maud auf der Stufe sitzen sieht, reißt er das Handtuch herunter, wickelt sich langsam wieder darin ein und tapst den Flur entlang davon. »Gute Nacht«, ruft er über die Schulter. »Bist eine komische Nudel.«

Im blauen Zimmer, dem chinesischen Zimmer, krümmt sich Tim um ein Uhr morgens über Maud wie jemand, der gestolpert ist, jemand, der ausgepeitscht werden soll. Alle paar Sekunden vollführt er einen zitternden Stoß wie ein Hund, dringt tiefer in sie ein, gleitet ein Stück weit heraus. Sie sind seit fünf Wochen ein Paar. Jedes Mal, wenn sie miteinander schlafen, möchte er sie rasend machen, aber er macht jedes Mal nur sich selbst rasend. Das Keuchen, die unterdrückten Ausrufe beschränken sich auf ihn. Bei Maud geht lediglich der Atem ein wenig schneller. Ist sie bei anderen Männern lauter geworden? Er macht sich Sorgen, ob er es richtig macht; ob er zum Beispiel wie wild in sie hineinrammeln sollte anstelle dieses langsamen, stockenden Vögelns, das nun, da er mittlerweile sechsundzwanzig ist, seine sexuelle Eigenart, sein sexuelles Schicksal zu sein scheint.

Er hat ihr nicht erzählt, was Professor Kimber im Krankenhaus über die schwirrenden Motten gesagt hat. Er ist sich nicht sicher, wie viel er wissen will. Wenn Maud nicht dazu eingeladen hat, heißt das dann, sie hat sich nicht darauf eingelassen? Oder heißt das, sie haben gar keine Einladung gebraucht, und Maud als Maud war Einladung genug? Diese Eigenschaft von ihr, für die er das Wort noch nicht gefunden hat, die jedoch in ihrem Blick zu liegen scheint, etwas Absichtsloses, Verletzliches, subtil Unanständiges, das für alle möglichen Leute nahelegen könnte, sie würde sich, wenn man sich ihr nur direkt genug, mutig genug näherte, schlicht hinlegen und sie machen lassen.

Was hat er gefunden? Wen hat er gefunden? Ist diese Liebe klug?

Im Zimmer ist es nicht ganz dunkel. Vom Flur sickert elektrisches Licht unter der Tür hindurch, und in der Luft selbst liegt Streulicht, das Licht von Sommernächten, wie Meeresleuchten. Sie hat die Augen geschlossen, ihre Arme liegen locker neben dem Kopf, Sauve Qui Peut ein Schattenblock auf einem fahl schimmernden Unterarm.

Er wechselt den Rhythmus. Das alte Bett scheppert. Das Ganze gleicht auf merkwürdige Weise einem Kinderspiel. Er küsst sie auf den Hals, und sie hebt ihm die Hüften entgegen. Das ist zu viel. Er trägt ein Kondom, hat aber das Gefühl, er flute sie, habe Zugang zu ihrem Blut und flute sie. Er vergräbt das Gesicht an ihrer Schulter, ist kurzzeitig blind, ausgelöscht. Ein paar freudige Sekunden lang ruht die ganze Welt auf dem Piepen eines Nachtvogels in den Bäumen am Bach. Dann setzt sich das Zimmer wieder zusammen. Maud greift zwischen sie beide, berührt das Ende des Kondoms. Das heißt – denn sie haben im zurückliegenden Monat gelernt, die sexuelle Pantomime des jeweils anderen zu deuten –, dass er sich aus ihr zurückziehen soll, und zwar vorsichtig. Er hebt sich auf die Knie. Sie dreht sich vom Rücken auf die Seite und setzt sich auf die Bettkante. Eine Zeitlang sitzt sie da und schaut auf das Fenster ohne Vorhang, dann wischt sie sich mit den Handkanten den Schweiß unter den Brüsten ab.

5

Ein nächtlicher Segeltörn im Universitätsboot zur Île de Bréhat. Bei gutem Wind vierundzwanzig Stunden, der Kurs so südlich, wie sie ihn segeln können, die Schifffahrtsstraßen im rechten Winkel schneiden, den Phare du Paon oder Les Heux anlaufen und sich durch die Strömungen einen Weg in den Hafen suchen.

Sie sind zu sechst – drei junge Männer, drei junge Frauen. In puncto Erfahrung besteht kein großer Unterschied zwischen ihnen, obwohl sich manche, wie zum Beispiel Maud, eher mit Jollen als mit Jachten auskennen und sich wohler damit fühlen, nur mit Segel und Wind als mit Törnplanung und Tidenkurven zu arbeiten. Entsprechend den Clubgrundsätzen haben sie (im Pub in Bristol) einen Skipper ernannt. Man hat in geheimer Wahl abgestimmt, die Namen auf Zigarettenblättchen geschrieben, diese gefaltet und in einen sauberen Aschenbecher geworfen. Tim hat mit einer Stimme Vorsprung gewonnen und versprochen, sie alle bei der geringsten Disziplinlosigkeit auszupeitschen. Maud hat zwei Stimmen bekommen, davon eine von Tim. Was die Frage angeht, ob Maud für ihn gestimmt hat, so weiß er, dass zwei nicht für ihn gestimmt haben, und geht lieber davon aus, dass sie keine von beiden war.

Sie legen mit dem Morgen-Hochwasser ab. Der Wind kommt von Westen, Stärke drei bis vier, das Boot bewegt sich in getragenem Rhythmus und krängt gerade so stark, dass ein Bleistift auf dem Kartentisch langsam leewärts rollt. Als sie den Schutz der Bucht verlassen, treten Querströmungen auf, grüne Wasserflächen mit kurzen, kabbeligen Wellen, die den Rumpf zittern lassen und mit Gischtspritzern die Decksplanken dunkel färben. Aber das ist gemütliches, angenehmes Segeln. Sommerluft, der Bootsschatten wie schwarze, knapp unter der Wasserlinie dahingleitende Seide, die Mannschaft frisch, mit frischen Gesichtern, die Wettervorhersage ausgezeichnet. Am Nachmittag dreht der Wind auf Süden zurück. Eine Regenbö, die sie schon aus mehreren Meilen Entfernung näherkommen sehen, lässt die hundert Flächen des Bootes glänzend und tropfend zurück. England verschwindet achteraus in trübem Dunst und erscheint dann wieder verblüffend deutlich, als das Wetter sich verzieht.

In der letzten guten Stunde Tageslicht machen sie zum Abendessen Chili con Carne (Chili sin Carne für den einen Vegetarier), trinken jeder ein Glas Wein, viele Becher Kaffee. Sie schalten die Navigationslichter ein und beginnen mit den Wachen. In einer Stunde werden sie sich in den Schifffahrtsstraßen befinden, mit Schiffen von fünfzig- oder hunderttausend Tonnen, von denen einige so schnell unterwegs sind, dass ein Licht am fernen Horizont binnen fünfzehn Minuten bei ihnen sein könnte. Schiffen, die Gerüchten und Gerede zufolge blind oder fast blind fahren und bei denen der eine oder andere Mann auf einer teilbeleuchteten Brücke sechzig Meter über der Wasseroberfläche vor sich hin döst.

Um zehn vor drei Uhr morgens werden Tim und Maud für ihre Wache geweckt und gehen von leichtem Schlaf ins Leben des Bootes, in die geneigte Welt über. Die Wache, die sie ablösen, hat ihnen ein heißes Getränk gemacht. Eine amüsierte Stimme nennt Tim »Skipper«. Auf dem Kartentisch unter einer roten Lampe der Ärmelkanal, von lederverkleideten Bleigewichten beschwert. Schwache Linien zeigen ihren Fahrtverlauf. Laut letzter Peilung befinden sie sich dreißig Meilen westlich von Jersey. In der Plicht übernimmt Maud die Pinne. Tim geht nach vorn, um nach Schiffsverkehr Ausschau zu halten. Steuerbord voraus sind die zahllosen Lichter einer RoRo-Fähre zu sehen; backbord voraus etwas viel Kleineres – nach der merkwürdigen Beleuchtung zu urteilen vielleicht ein Trawler. Er beobachtet das Schiff eine Weile, sieht, wie sich dessen Kurs ändert, und geht dann in die Plicht zurück.

»Okay?«, sagt er.

»Okay«, sagt sie.

Sie trägt eine blaue Helly-Hansen-Jacke, Jeans, Seestiefel.

»Du solltest dir eine Mütze aufsetzen«, sagt er und zeigt auf seine eigene.

Das Licht des Kompasshäuschens auf ihrem Gesicht, das Unheimliche dieses Lichts. Sie späht zum Großsegel hinauf, zu seinem taubengrauen Schemen unter dem Topplicht. Sie lässt das Boot abfallen, luvt dann einen Strich an und hält es auf Kurs. Mit einer halben Drehung der Winsch holt Tim das Vorschot dichter. Die Fähre passiert sie bereits. Er meint ihre Maschinen zu hören. Vielleicht hört er sie tatsächlich.

»Ein Schwenk nach rechts«, sagt er, »und wir könnten nach Amerika segeln.«

Sie nickt. Sie ist konzentriert.

»Hättest du Lust?«

»Ja«, sagt sie.

»Gut«, sagt er. »Dann gehe ich mal eben unter Deck und schneide den anderen die Kehle durch.«

»Okay«, sagt sie.

»Vielleicht musst du mir helfen, sie über Bord zu hieven.«

»Okay.«

»Oder möchtest du ihnen lieber die Kehle durchschneiden?«

»Hältst du eigentlich Ausschau?«

Er streckt die Hand aus, berührt das kalte Tuch ihrer Jeans. »Okay«, sagt er. »Ich werde mich benehmen.«

Alle zwanzig Minuten tauschen sie die Rollen, einer an die Pinne, der andere auf die Bank auf der Leeseite, um unter den Segeln hindurch Ausschau zu halten. Der Drang, mit ihr zu reden, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, ist beunruhigend stark. Die Liebe macht ihn ein bisschen albern. Da überqueren sie nachts den Ärmelkanal, und er, der nominelle Skipper, denkt an die Schokolade in seiner Tasche und ob Maud sich von ihm damit füttern lassen würde, damit er einen Moment lang die leicht feuchte Wärme ihres Mundes an den Fingerspitzen spüren kann. Er sollte das abschütteln. Er sollte seiner Verantwortung nachkommen. Reiß dich zusammen, Rathbone! Aber trotz aller Ermahnungen ist er der festen Überzeugung, dass die Welt insgeheim von Leuten angetrieben wird, die genau im gleichen Zustand sind wie er jetzt, melodisch, hell erleuchtet, die Nervenbäume ihres Gehirns wie Städte, die man nachts von oben sieht …

Über dem östlichen Horizont der Morgenstern. Um zwanzig vor sechs geht die Sonne auf. Ganz kurz erscheinen Meer und Luft wie neu erschaffen, und sie sind Adam und Eva und treiben auf einem Weinblatt, ein Morgen im Paradies. Dann senkt sich Nebel herab, wie es für Nebel typisch ist, lange Finger davon legen sich zaghaft um die Teile des Boots und verdichten sich, bis man nur noch knapp dreißig Meter, dann zehn Meter weit sieht. Tim holt das Nebelhorn, ruft den Rest der Besatzung nach oben. Sie halten sich bereit, den Motor anzuwerfen, die Segel zu bergen. Neben ihnen rauscht die See. Der Nebel ist geradezu bühnenhaft und undurchdringlich. Tim lässt das Nebelhorn ertönen – es tutet einmal lang und zweimal kurz. Jemand behält unter Deck das Radar im Auge, alle anderen sind an Deck, beugen sich in den Nebel. Sie hören die Nebelhörner anderer Schiffe. Sie sprechen im Flüsterton, sehen Formen, eingebildete Landzungen, Schiffe aus Rauch. Im UKW-Funkgerät, auf dem offenen Kanal, meldet sich plötzlich eine Stimme in einer Sprache, die keiner von ihnen kennt. Der Tonfall ist ungewöhnlich. Vielleicht handelt es sich um eine Warnung irgendwelcher Art, aber es klingt eher wie eine Rezitation oder ein Ruf zum Gebet.

6

In ihrem Fach an der Uni findet sie eine Stellenanzeige vor. Sie ist aus dem New Scientist ausgeschnitten worden, auf dem Rand steht, in Professor Kimbers Handschrift, Interessiert?

Ausgeschrieben ist die Stelle eines Projektstudienleiters, die in ein, zwei Jahren zur Position eines wissenschaftlichen Mitarbeiters in der klinischen Forschung ausgebaut werden soll. Die Firma heißt Fenniman Laboratories, ist in amerikanischem Besitz, hat aber eine Niederlassung in Reading. Maud bewirbt sich und wird zu einem Gespräch eingeladen. Sie nimmt den Zug von Bristol aus. Die Fahrt führt sie durch Swindon, und während der Zug abbremst, blickt sie von den Papieren in ihrem Schoß auf (der Hochglanzbroschüre mit Informationen über die Firma) und lässt den vollkommenen vertrauten Ausblick auf sich wirken – die Parkplätze, die Reklametafeln, die alten Lokschuppen und Werkhallen, umgebaut oder verfallen. Der Bahnhof liegt keinen Kilometer von dem Ort entfernt, wo sie aufgewachsen ist und wo noch immer ihre Eltern wohnen. Weiter weg liegt die Schule, die sie besucht hat (ihre Eltern haben nie dort unterrichtet), und dahinter, am nicht ganz sichtbaren Rand der Stadt, das Haus auf dem Anwesen, wo sie, mit fünfzehn, ihre Unschuld an den Vater der Kinder verloren hat, deren Babysitterin sie war. Zwanzig Minuten auf seinem Ehebett, die seidige Tagesdecke, Spätnachmittagslicht an der Wand und strikte Anweisungen, welches Handtuch sie benutzen durfte, als es vorbei war.

Auf dem Bahnsteig ist niemand, den sie kennt, kein Mädchen aus der Schule mit einem Kinderwagen, niemand, den sie von der Tribüne des Fußballplatzes in Erinnerung hat, den sie an den schmalen Drehkreuzen gesehen hat, durch die sie sich zu schieben pflegte, um zuzusehen, wie die Mannschaft durch die verschiedenen Ligen nach unten abrutschte, die Spieler auf dem matschigen Platz dampfend wie Vieh, während der Trainer in seinem weiten Mantel wie wild herumfuchtelte. Dann fahren sie weiter, vorbei an Plakaten, die für Urlaub am Meer werben, vorbei an Lagerhäusern, einem Gewerbegebiet (»Swindon Fahrzeuglösungen«), dem Gürtel aus Neubauten mit knauserig dimensionierten Fenstern, den ersten Feldern …