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Drachen sind tot. Jedenfalls die meisten. Doch in Ashitara sterben sie niemals vollständig. Nach dem Verrat durch Herzmörder bleibt Vanjura kaum Zeit, ihre Wunden zu lecken – denn noch immer marschieren Karai und Samira gegen die Flammenträger. Mit Hilfe von Sturmrächer und Tara setzt sie alles daran, die Abtrünnigen aufzuhalten, die von einem Urdrachen begleitet werden. Und da ist auch noch Herzmörder, der sich mit ihrem Herzen davongemacht hat. Während über ihr die Kämpfe toben und unter ihr die Wahrheit begraben liegt, muss Vanjura entscheiden, wem sie noch vertrauen kann: dem Drachen, der einst ihr Herz stahl, oder dem, der an ihrer Seite kämpft. Denn nicht nur Eleysas ist in Gefahr – sondern ganz Ashitara. Und es könnte untergehen, wenn Vanjura die falsche Wahl trifft. Das Finale der magischen Dilogie
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Seitenzahl: 397
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Dörte. Halb Döner, halb Torte!
Impressum:
Text: Nika S. Daveron
Umschlag: Nika S. Daveron (Adobe Stock: liuzishan, Jade, DM7, Shutterstock: Nadia Murash)
Lektorat: Jess A. Loup
Korrektorat: Tamara Weiß
© 2025 Nika S. Daveron
Hülsdonkstr. 157
47877 Willich
Für eine Auflistung der Triggerwarnungen im Buch »Herzmörder«, können Sie Nika S. Daveron gerne per Mail unter: [email protected] oder über ihre Facebookseite https://www.facebook.com/NikaSDaveron/ kontaktieren.
Nika S. Daveron
NACHTSCHMETTERLING
Inhaltsverzeichnis
KAPITEL 1: EIN HERZ FÜR EINEN DRACHEN
KAPITEL 2: DAS WINTERGOLDSCHNÄBELCHEN
KAPITEL 3: DAS HERZ VON ELEYSAS
KAPITEL 4: KRIEGSRAT
KAPITEL 5: DER URDRACHE
KAPITEL 6: UMARATH – HERZ DES FEUERS
KAPITEL 7: NACH DEM RAUCHWEIN
KAPITEL 8: DAS KONKLAVE
KAPITEL 9: DER ÜBERFALL
KAPITEL 10: DIE DRACHENLEGION
KAPITEL 11: AUF DER JAGD
KAPITEL 12: DIE LOGIK DES TODES
KAPITEL 13: GLUTBRINGER UND NACHTSCHNITTER
KAPITEL 14: EIN PLAN
KAPITEL 15: ELEYSAS RUFT UM HILFE
KAPITEL 16: DREI VERRÄTER
KAPITEL 17: KRIEG DER DRACHEN
KAPITEL 18: LEBEWOHL
ÜBER DIE AUTORIN
Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit vergeht, denn für mich ist sie Schall und Rauch. Ich bin ein Geist, gefangen im Gestein – in einem mächtigen Körper, den ich nicht zu regen vermag. Alles an mir ist zum Zerreißen gespannt, aber ich selbst verliere mich in Erinnerungen, denn sie sind alles, was ich noch habe. Immer öfter taucht darin Anjali auf.
Als wir Kinder waren, spielten wir neben den Eingängen zur Mine, ließen Steine in die tiefen Schächte plumpsen und warteten, bis der Aufprall zu hören war. Ich selbst befinde mich in diesem Zwischenzustand des Wartens. Ich warte auf den Aufschlag, doch er kommt nicht. Und ich bin unfähig, mich zu bewegen, und werde es immer sein, bis jemand kommt und mir hilft. Aber ich selbst habe den Weg hierher versiegelt, und er wird dafür sorgen, dass mich niemand findet. Ich hasse ihn. Herzmörder. Er hat mich betrogen, und ich musste den Preis bezahlen. Weil ich nicht hören wollte. Weil ich dachte, ich wäre klüger als der Drache.
Sturmrächer hat mich vor ihm gewarnt. Tara hat ihm nicht getraut. Und nun … nun bin ich hier. Anjali ist ebenfalls fort, während Herzmörder die Freiheit dort draußen genießt. Vermutlich schert er sich nicht darum, was Karai getan hat und noch tun könnte – er wird Ashitara nicht retten. Vielleicht breitet er einfach seine Flügel aus und fliegt davon. Noch hat er es nicht getan. Sein Name – ich finde ihn immer. In dem Geflecht aus Magie und Welten ist es, als würden die Zeichen seines Namens vor meinem Auge immer wieder entstehen und zu mir sprechen. Er ist noch hier. Gar nicht weit fort. Aber wenn ich ihn holen will, muss ich mich irgendwie befreien. Ohne Hilfe? Wird mir das vielleicht nicht gelingen. Ich muss der Wahrheit ins Auge sehen: Ich bin jetzt an seiner Stelle. Eingesperrt im Gestein der Honlai-Mine. Herzmörder hat mich betrogen, um seine eigene Haut zu retten. Ich weiß nicht, ob er es von Anfang an geplant hat, aber ich vermute es. Umso mehr schmerzt es, und mein Zorn wird Pochen in meiner Brust größer. Einen Herzschlag besitze ich nicht mehr. Drachen haben kein Herz. Wenn ich ihn erwische, wird er spüren, was ein Nachtschmetterling vermag. Sein Kosename … jetzt ist es wohl der Name, den ich tragen werde, bis ans Ende dieser Zeit. Ich habe das Gefühl, dass ich mich nicht einmal mehr an meinen richtigen Namen erinnern kann … Alles wirkt so verschwommen und falsch. Die Momente mit Herzmörder allerdings haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Er ist hier, und ich werde ihn finden, wenn ich nur irgendwie mein Gefängnis verlassen kann.
Eines meiner Augen schaut in die Finsternis. Das andere erblickt Fetzen der Realität. Die Farne, die mich vor neugierigen Augen verbergen. Kleine Tupfer des Stollens … In dem sich niemand befindet. Niemand wird hinunterkommen, Herzmörder wird dafür sorgen.
Es muss schon ein Wunder geschehen, damit ich entkomme und Rache üben kann. In meinen finsteren Gedanken klammere ich mich an Tara. Aber ob die Aschekriegerin einen Finger rühren wird, um mich zu retten? Ich bin mir nicht sicher. Nach Herzmörders Verrat traue ich meinem eigenen Urteilsvermögen nicht mehr. Er hat mir das Herz gestohlen, mich in Sicherheit gewogen und anschließend ein Messer in meinen Rücken gestoßen und mich zu einem Drachen gemacht, der nun in der Honlai-Mine festsitzt, damit er endlich die Freiheit genießen kann.
Und die Schwärze greift nach mir. Etwas in der Welt der Drachen ruft unaufhörlich, und ich weiß nicht, ob ich mich dem hingeben soll. Ich habe Angst, dass ich das, was einst Vanjura war, unwiederbringlich verliere, wenn ich nachgebe. Die Magie ruft. Das Gestein singt. Und ich? Ich möchte dem Ruf nicht folgen.
Wenn ich das Auge schließe, dann kehre ich zurück in die Welt der Drachen. Hier ist nichts außer dem Stein, der grün leuchtet und pulsiert, als wäre er etwas Lebendiges. Was er genau ist, vermag ich nicht zu sagen. Herzmörder und ich haben unseren Pakt hier besiegelt.
In dieser Welt kann ich ihn beinahe schmecken und riechen. Sein Name leitet mich. Ich fühle mich freier hier, denn mein menschlicher Körper gibt mir Sicherheit. Aber ich weiß nicht, wohin ich gehen muss, was in der Dunkelheit lauert, und selbst mit Drachenfeuer könnte ich diesem Ort wohl kein Licht schenken.
Ich weiß nicht, wie viele Tage vergehen, bis ich mich entschließe, loszulaufen. Es ist jetzt meine Welt, also bin ich bereit, sie zu erkunden. Bei allen Höllen, ich war eine Geologin. In dieser verdammten Mine, die mich verschluckt hat. Erforschen liegt mir im Blut. Und was macht es schon, wenn ich herumlaufe? Sturmrächer ist nicht zurückgekommen. Wahrscheinlich genießt er seine Freiheit. Ob er Tara auch hintergangen hat? Vielleicht ist sie jetzt an seiner Stelle. Ich traue keinem Drachen mehr in diesem Leben, auch wenn ich gerade selbst einer bin.
Meine Schritte hallen in der Schwärze wider. Es ist warm und angenehm. Die Luft riecht nach … Veilchen, wenn ich mich richtig erinnere. Alle meine Gefühle, Gedanken und Erinnerungen werden jeden Tag aufs Neue durchgeschüttelt, und manchmal vergesse ich Worte oder Namen, die ich mir eigentlich problemlos ins Gedächtnis rufen sollte.
Ich laufe und laufe, bis ich ein Licht erreiche. Es scheint hell in dieser allumfassenden Schwärze, und es ist so warm und heimelig, dass alles in mir dorthin strebt. Ich möchte dort sein und mich daran wärmen. Es erinnert mich, auf eine abstrakte Weise, an die Küche in Anjalis und meinem Blauen Haus. Zuhause. Heimat. Ein Ort, an dem man sich glücklich und geborgen fühlt.
Als ich nähertrete, erkenne ich, dass es sich um eine kleine Flamme handelt. Gerade groß genug, damit ich die Hand um sie schließen kann. Doch das Licht ist hell und rein. Urplötzlich erlischt das Feuer und Rauch steigt empor. Das Licht jedoch bleibt. Ich sehe den Schlieren dabei zu, wie sie aufsteigen und sich verformen. Zwölf sind es. Sie sind groß und haben Flügel, zahnbewehrte Mäuler und große Klauen. Urdrachen.
Ich begreife in diesem Moment, ohne mich an irgendeine Erzählung erinnern zu können, dass ich der Geburt Ashitaras beiwohne. Aus dem Rauch steigen Länder und Städte auf, formen sich neu, verändern sich und bilden so einen Boden, während die Luft von den Drachen bevölkert wird. Einer der Urdrachen kommt dem Boden immer näher, und plötzlich zersplittert seine Gestalt in mehrere Einzelteile. Sie verteilen sich erneut in der Welt, und wieder fliegen Drachen empor. Einen von ihnen erkenne ich. Er mag nur ein Wesen aus Rauch und Licht sein, doch seine Gestalt kenne ich gut. Zu gut. Es ist Herzmörder. Mein Herz schlägt schneller, ich schmecke seine Lippen noch einmal auf meinen.
Abermals sinkt einer der Urdrachen zu Boden, während sich die Landschaft erneut verändert.
Plötzlich ziehen Armeen von Menschen über das Land. Einer der Urdrachen wird aus dem Himmel gepflückt, mit Maschinen, die so mächtig sind, dass sie selbst eine solche Kreatur bannen können. Es werden mehr und mehr Krieger, und schließlich verpufft der Drache aus Rauch. Ein merkwürdiger Schleier legt sich über die Welt. Irgendetwas flüstert mir, dass es sich um den Traum handelt. Das ist es, was uns in Ashitara alle verbindet. Die Clans träumen gemeinsam – in einer Welt – doch sie haben sich voneinander entfernt. Damals jedoch müssen sie sich zusammengeschlossen haben, um den Urdrachen zu töten.
Von denen gibt es immer noch einige. Manche von ihnen steigen in den Himmel auf, andere werden niedergerungen.
Als nur noch einer verbleibt, scheint Ruhe in der Welt einzukehren. Ich sehe Gebirge, die sich erheben, Städte, die wachsen, und immer wieder surren die Drachen umher. Einer lässt sich auf dem höchsten Gipfel nieder – dem Monojetsu. Es ist Sturmrächer, ich weiß es einfach.
Was dort geschieht, kann ich nicht genau erkennen, so detailliert ist diese winzige Geschichte meiner Welt nicht. Aber Herzmörder würde ich unter Tausenden erkennen. Immer wieder sinkt er zu Boden, verschwindet dort und steigt dann wieder in die Lüfte auf. Das sind die Phasen, in denen er seine Herzen gestohlen haben muss. So wie meines.
Einer der Urdrachen wird von den kleineren Drachen angegriffen. Es ist eine heftige Schlacht über der Glutsteppe, und schließlich ringen die schnellen und wenigen Drachen ihn nieder. Eine Kugel aus Rauch bildet sich über der Stelle.
Der letzte Urdrache taucht schließlich in ein Meer aus Rauch. Es muss der sein, mit dem Herzmörder und ich zusammengestoßen sind, der den Karai entfesselt hat. Seinen Namen kenne ich nicht, und ich glaube nicht, dass sich sein Wesen mit den anderen Drachen vergleichen lässt, die menschliche Vernunft und Sprache besitzen. Oder haben sie sich mit den Menschen von Ashitara zusammengetan, als sie auf die Erde sanken? Es war nicht wirklich zu erkennen, ich kann nur mutmaßen.
Nicht nur Herzmörder verschwindet immer wieder – alle Drachen tun es. Nur kommen einige nicht wieder. Bis schließlich gar keiner mehr zu sehen ist. Vermutlich der Zeitpunkt, als Herzmörder versiegelt wurde. Die Flammenträger haben ihn eingesperrt. Und Sturmrächer war auf dem Gipfel des Monojetsu gefangen …
Es dauert eine ganze Weile, bis ich wieder einen der Drachen zu Gesicht bekomme. Es ist Herzmörder, der mit dem Urdrachen kämpft und knapp entkommt, bevor er wieder verschwindet, während der Urdrache zurück in die Nebelsümpfe kehrt und dort versinkt. Dafür erhebt sich nun auf dem Berggipfel der letzte Drache. Sturmrächer.
Der Rauch verharrt still vor mir, und ich schaue nun auf ein Puzzle, das meine Welt darstellt. Und ihre Geschichte. Ich lasse mich neben dem filigranen Kunstwerk aus Rauch nieder und starre aus einer neuen Perspektive auf all die Länder und Landstriche. So muss es ein Drache sehen, wenn er durch die Lüfte fliegt.
Ich bin müde, also rolle ich mich neben dem Rauchkunstwerk zusammen und schließe die Augen. Zeit hat keinen Wert mehr. Ich kann nur noch beobachten und die Schwärze erkunden, die mich umgibt. Offensichtlich gibt es Wunder darin. Schwingungen. Magie. Ich habe viel Zeit, sie zu erkunden. Doch alles, was in mir brennt, ist der Wunsch nach Rache.
Es ist eine Stimme. Sie kommt aus der Ferne, aber sie sucht mich. Die Magie verrät es mir. Der Ruf hallt zu mir hinüber: »Nachtschmetterling.«
Als ich die Augen öffne, liege ich immer noch genauso da wie zuvor. Doch das wunderbare Kunstwerk aus Rauch ist verschwunden; an seiner Stelle flackert nur noch die Flamme.
»Nachtschmetterling!«
Aus der Dunkelheit taucht Sturmrächers menschliche Gestalt vor mir auf. Sein silbriges Haar erinnert mich an Herzmörder, doch sein Gesicht ist sanfter, weicher. Seine Augen, blau mit goldenen Sprenkeln, erinnern an einen Wintersturm, der Eleysas in besonders finsteren Jahren heimsucht und alles in Eis verwandelt. Er trägt einen einfachen Umhang, seine filigranen Hände hat er verschränkt, und sein wacher Blick lässt mich zusammenzucken.
»Ich dachte schon, du wärst eingeschlafen.«
»Das war ich auch«, entgegne ich müde.
»Tu das nie.« Er atmet hörbar auf. »Niemals, Nachtschmetterling. Versprich es mir. Du könntest Hunderte von Jahren verschlafen. Wir brauchen dich jetzt. Karai marschiert immer noch auf Eleysas und die Minen. Herzmörder mag dir seinen Körper übereignet haben, aber …«
»Ich will meinen eigenen Körper wiederhaben«, fauche ich, und der Zorn bringt mich sofort auf die Beine.
»Ich weiß. Aber solange er dein Herz hat, benötigst du ein anderes, um dich in seiner Welt zu bewegen.«
»Er hat meine Schwester eingesperrt, mich betrogen, mich verraten und mir am Ende alles genommen«, schleudere ich ihm entgegen. »Und das soll ich jemand anderem antun?«
»Ich weiß das alles«, wiederholt Sturmrächer ruhig. »Aber wenn du nicht aus diesem Gefängnis herauskommst, wirst du sterben, sobald Karai einen Weg in die Minen findet.«
»Dann hol mich raus. Du hast deinen Körper wieder.«
»Nicht einmal meine Magie vermag Gestein zu schmelzen. Dafür bräuchtest mächtige Drachenblüter. Richtige Magier, nicht das, was du bist … Vielleicht hätte ein Urdrache die Kraft, aber er ist an seinen Körper gebunden und kann dich nicht erreichen.«
»Irgendwer hat Herzmörder versiegelt. Und es war kein Urdrache.« Ich habe es genau gesehen, keine der riesigen Kreaturen war beteiligt, als Herzmörder verschwand. Oder habe ich etwas an der Geschichte nicht richtig verstanden?
»Du brauchst ein Herz«, erklärt Sturmrächer geduldig. »Eines, das es dir ermöglicht, dieses Gefängnis zu verlassen und dich zu wandeln. Nur dann kannst du Herzmörder aufspüren.«
»Ich will …«
Plötzlich überkommen mich die Tränen. Ein heftiger Schluchzer bricht tief aus meiner Brust hervor. Ich kann nichts dagegen tun. Das alles ist so ungerecht. Ich hätte ihm alles gegeben. Nein … Ich habe ihm alles gegeben. Und so dankt dieser Scheißkerl es mir.
Sturmrächer schließt mich in seine Arme. Sein Körper strahlt Hitze aus, so wie mein eigener, aber es ist eine andere Wärme als die eines Menschen. Etwas Ursprüngliches, aber auch Dunkles liegt darin.
»Ich weiß, dass das alles schwierig ist, aber wenn du die Flammenträger retten willst … deine Stadt, deine Schwester, dann musst du den Weg des Drachen gehen. Glaub mir … Rache ist niemals schön.«
»Ich will Rache. Aber ich will nicht das letzte Bisschen Menschlichkeit in mir verlieren«, sprudelt es aus mir hervor. »Wenn ich nur … Wenn ich nur herauskäme.«
»Das wirst du nicht. Was immer Herzmörders Körper gefangen hat, es hält nun dich. Und mit jedem Wimpernschlag, jedem Moment rücken die Soldaten näher an die Stadt heran.«
»Wo bist du?«, frage ich leise und wische mir verstohlen über die Augen, was in Sturmrächers Umarmung schwierig ist. Er lässt mich nicht los.
»In der Nähe. Tara und ich sind da.«
Sturmrächer schaut mich an, als suche er etwas in meinem Blick. Tara … ich hätte der Aschekriegerin nie zugetraut, dass sie loszieht und einen Drachen befreit. Ob sie es noch einmal tun würde, jetzt, wo sie weiß, was aus mir geworden ist?
»Sie würde dir ihr Herz geben.«
»Nein«, entfährt es mir sofort. »Ich will das nicht. Ich wüsste auch nicht, wie ich es nehmen soll … Auf gar keinen Fall ziehe ich sie da mit hinein.«
Sie hat schon genug durchgemacht. Ich will nicht, dass jemand anderes dasselbe erleidet wie ich. Was, wenn ich ebenfalls so wahnsinnig wie Herzmörder werde und dann ist sie an meiner Stelle, weil ich mein Herz nicht zurückbekomme? Der Kreislauf wird weitergehen, wenn ich …
»Es ist ganz einfach. Du musst nur …«
»Was?«, höhne ich. »Mit ihr schlafen?«
Sturmrächer schüttelt den Kopf. »Es gibt viele Wege, sich an ein Herz zu klammern, um mit hinaus in die Welt getragen zu werden. Das mag vielleicht Herzmörders bevorzugte Methode sein, aber du musst das nicht …«
»Ich werde auf keinen Fall Taras Herz benutzen.«
»Aber sie gibt es dir. Freiwillig.«
»Warum sollte sie? Sie kennt mich doch kaum.«
Sicher, wir haben uns Geschichten am Lagerfeuer erzählt, ein paar Dinge miteinander durchgestanden. Aber das hier ist etwas ganz anderes. Etwas, das ungeahnte Konsequenzen hat.
»Ich kann dir keines geben, Nachtschmetterling, auch wenn ich es mir wünschte. Du brauchst eines. Sonst kannst du draußen nicht existieren.«
»Ich will es nicht. Nicht von Tara oder irgendwem«, antworte ich.
»Dann wirst du hierbleiben müssen, während die Dunkelheit über Ashitara hereinzieht. Der Urdrache wird sie alle gegeneinander aufhetzen. Jetzt sind es nur die Aschekrieger und die Nachtmahre, die sich gegen die Flammenträger verbünden. Danach werden sie sich gegenseitig zerfleischen. Und dann alle anderen. Das ist alles, was der Urdrache im Sinn hat. Er ist böse, Nachtschmetterling.«
Vielleicht kein Wunder. Die Menschen haben seine Brüder und Schwestern getötet, obwohl sie die Menschen doch erschaffen haben. Sie sind gefallene Götter, die Ashitara verlassen haben. Und einer von ihnen wartet nun auf seine Rache. Ich bin nur ein winziger Schmetterling, gefangen im Strom des Windes. Unwichtig. Meine eigenen Gefühle, mein Wunsch nach Rache … All das ist so klein dagegen.
»Was denkst du, wann sie Eleysas erreichen?«, frage ich.
»Es dauert noch. Herzmörder hat ihre Flotte ziemlich verstümmelt, und sie warten auf Nachschub.«
»Das heißt, es ist noch nichts verloren«, erwidere ich langsam.
»Nein. Wenn du dich dazu entscheidest, die Macht, die Herzmörder dir gegeben hat, für Eleysas zu nutzen, dann könntest du zumindest den Überfall verhindern. Wir sind die Einzigen, die davon wissen.«
»Was springt für dich dabei heraus?«, will ich wissen. Wenn ich von Herzmörder eines gelernt habe, dann, dass man niemals einem Drachen trauen sollte. Und Sturmrächer ist einer. Einer der ältesten, wie ich vermute.
»Ich möchte nicht, dass Ashitara von einem Urdrachen verschlungen wird.«
»Du bist doch selbst von einem erschaffen worden.«
»Und unter euch Menschen ist es völlig normal, dass sich niemand jemals gegen seine Eltern auflehnt? Nachtschmetterling, das war vor Tausenden von Jahren. Sie zeugten uns mit Gewalt, Feuer und Blut. Wir sind ein Produkt für sie. Eines, das ihnen schnell langweilig wurde. Sie sorgten sich nicht um uns, sie spuckten uns in die Welt und erwarteten, dass wir darin klarkommen. Sie gaben uns nichts. Außer unsere Namen. Wir waren einmal achtzehn. Und jetzt sind wir nur noch zu zweit.« Sturmrächers Worte klingen verbittert. »Ich verstehe, wie schwer es dir fällt, mir zu vertrauen. Aber welchen Nutzen sollte ich davon haben, dich zu hintergehen?«
»Weil ihr nur noch zu zweit seid«, ist meine Antwort. »Vielleicht willst du nur Herzmörders Körper befreien, um ihn ihm zurückzugeben.«
Sturmrächer öffnet den Mund und schließt ihn dann wieder. Er fährt sich durch die Haare und schüttelt den Kopf. »Das würde ich nie tun. Ich habe dich immer vor ihm gewarnt. Erinnerst du dich an den Tag, als wir uns in Nurhana trafen? Ich habe es dir gesagt. Dass du vorsichtig mit ihm sein musst. Herzmörder ist verschlagen und mächtig, und wenn es nach mir geht, dann hat er seinen Kerker im Gebirge mehr als nur verdient – nach der Sache mit Nachtschnitter.«
»Nachtschnitter?«
Er räuspert sich, und seine Gestalt beginnt zu flackern. »Ich komme wieder, Nachtschmetterling. Aber du musst mir versprechen, nicht einzuschlafen, denn ich weiß nicht, ob ich dich dann noch einmal wecken kann. Schau ins Feuer, wenn du wissen willst, was mit Nachtschnitter geschah. Es zeigt dir alles, was uns Drachen zugestoßen ist, nachdem die Urdrachen uns erschaffen hatten.«
»Warte, ich …«
Doch er verpufft vor meinen Augen zu Rauch, der davonfliegt. Ein paar blaue Funken sprühen mir entgegen, und anschließend erinnert nichts mehr daran, dass Sturmrächer gerade noch vor mir stand.
Mir bleibt nichts anderes, als zurückzubleiben und zu warten. Ganz gleich, wie sehr es schmerzt. Ich kann mich doch nicht einfach an Tara klammern … Aber es wäre zumindest kein Diebstahl. Ich nehme es ihr nicht weg. Ich hänge mich nur an sie, so wie Herzmörder es zu Anfang bei mir getan hat. Oder? Ich habe keine Ahnung, wie Drachenmagie funktioniert. Ich war noch nie einer. Dummerweise bin ich es jetzt. Also muss ich anfangen, meine Probleme auch wie einer zu lösen. Wenn ich Tara nicht schade, dann ist es doch in Ordnung? Nein, alles daran ist unnatürlich.
Ich schüttle selbst den Kopf, weil ich diesen Gedanken einfach nicht zulassen möchte. Vielleicht werde ich auch so wahnsinnig wie Herzmörder. Und dann? Wenn Verbannung in die Erde oder die Freiheit zur Wahl stehen … kann ich mir dann noch selbst trauen? Ich glaube nicht.
Mir bleibt sowieso nichts anderes übrig, als zu warten. Herzmörder konnte diesen Ort aus eigener Kraft nicht verlassen. Wie soll es mir dann gelingen?
Ich wandere ziellos durch die Dunkelheit. Manchmal so weit, dass ich die Flamme nicht mehr sehe und in vollkommener Schwärze verschwinde. Pinkfarbene Funken umtanzen mich gelegentlich, doch wenn sie verlöschen, bleibe ich allein zurück – in einer Finsternis, in der nichts geschieht und nichts von Bedeutung ist. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht. Ich kann nicht erahnen, ob es Tag oder Nacht ist, denn Sturmrächer hat mich davor gewarnt zu schlafen. Also geistere ich umher in der Welt, aus der die Drachen ihre Magie schöpfen. Manchmal höre ich Flüstern, doch es sind keine Worte, die ich verstehe – eher ein sanftes Summen, eine Melodie, der man nicht folgen kann, weil sie dissonant ist. Sie würde mir einen Schauder über den Rücken jagen, wenn ich sie als Mensch hörte. Doch als Drache? Drachen fürchten sich nicht. Nicht vor so etwas.
Bei einer dieser Wanderungen bemerke ich eines Tages ein zweites Licht in der Dunkelheit. Weit entfernt von der Flamme. Es ist winzig, kaum mehr als ein flüchtiges Aufblitzen am Rande meiner Einbildung, und doch existiert es. Eine Ewigkeit vergeht, bis ich es erreiche. Als ich mich herabbeuge, erblicke ich einen kleinen Vogel. Aus purem Gold. Wie seltsam. Wieso ist er hier? Vorsichtig nähere ich mich der filigranen Figur und strecke die Hand danach aus. Das Gold ist warm und scheint regelrecht zu pulsieren. Mein nächster Atemzug verändert die Finsternis vollkommen.
Auf einmal stehe ich unter der brennenden Sonne und muss die Augen schließen, weil ich ihr Licht nicht mehr gewohnt bin.
Wo, bei den drei tiefen Gruben des Henkers, bin ich?
Als ich die Augen wieder öffne, glaube ich, diesen Ort aus Taras Erzählungen zu erkennen: die Glutsteppe, Heimat der Aschekrieger. In der Ferne steigt Rauch auf, und ein hämmerndes Dröhnen erfüllt die Luft.
Vorsichtig drehe ich mich um und entdecke ein Zelt neben einem schmalen Wasserlauf, der kurz davor ist zu versiegen. Zwei Personen kauern im Schatten und ruhen sich aus. Eine junge Frau lehnt sich an den Rücken eines Mannes, der mir nur allzu bekannt vorkommt. Das silbrig-weiße Haar, die Art, regungslos zu verharren – es ist …
»Herzmörder.«
Keiner der beiden dreht sich zu mir um. Die Frau ist atemberaubend schön, viel schöner als jede andere, die ich je gesehen habe. Ihre mandelförmigen Augen glühen im Schatten rot, ihre Haut ist makellos wie frische Milch. Auch ihr Haar weist silbrige Strähnen auf, ist jedoch nicht so hell wie das von Herzmörder und Sturmrächer.
Sie trägt die Kleidung der Aschekrieger – luftig und weit, in einem hellen Beige, das sie vor der Sonne schützt. Doch sie würde in jeder Stadt auffallen, denn sie ist anders als die Menschen. Ebenso wie Herzmörder.
»Es ist hübsch hier«, sagt die Frau leise.
Als ich nähertrete, sehe ich, dass sie mit der einen Hand ein paar Vögel mit goldenem Gefieder füttert. In der anderen hält sie einen Laib Brot. Die Tiere zeigen keine Angst, obwohl sie so klein sind.
Herzmörder lehnt sich zurück, sodass die Frau von seinem Rücken rutscht, und lacht. Behutsam bettet sie seinen Kopf in ihren Schoß und streicht ihm das Haar aus der Stirn.
Der Anblick versetzt mir einen Stich – obwohl ich ihn hasse. Die Eifersucht ist trotzdem präsent. Ich habe ihn einmal geliebt. Dumm, wie ich war.
»Viel zu heiß«, entgegnet Herzmörder und gähnt ungeniert. »Wir sollten bei Nacht verschwinden. Einfach die Flügel ausbreiten und weg. Die Aschekrieger sind mir zu … gewöhnlich.«
»Ach, komm«, erwidert die Frau lachend. »Du willst mich nur wieder dazu überreden, nach Eleysas zu fliegen. Du hast einen Narren an den Flammenträgern gefressen.«
Herzmörder macht ein missbilligendes Geräusch. »Unsinn, ich fühle mich dort nur besser. Freier. Dem Himmel näher.«
»Und dass du dich für die Flammenträger interessierst, ist nur zufällig?« Sie neckt ihn, das hört man an ihrer Stimme.
»Nicht ganz zufällig, nein«, gibt Herzmörder zu. »Sie … Sie gehen den Dingen auf den Grund. Sie sind nicht so dumm und dogmatisch. Vor allem die Frauen. Bei den Nachtmahren sind sie still und schweigsam und tun nur, was ihr Mann von ihnen verlangt. Bei den Aschekriegern sind sie genauso tumbe Kampfmaschinen wie die Männer.«
»Es ist nicht sehr nett, wenn du vor mir von anderen Frauen sprichst«, tadelt sie ihn.
Keiner der beiden beachtet mich, als ich einen Schritt näher mache und ihre Stimmen lauter werden. Ich existiere hier nicht. Ich bin nur ein Beobachter. So wie in Herzmörders seltsamer Zwischenwelt, jener Welt der Drachen, in der nur wir existiert haben. Geschieht das hier gerade? Oder sehe ich die Vergangenheit?
Ich trete unter die Zeltplane und erblicke Herzmörders Gesicht. Er hält die Augen geschlossen und scheint die Berührung der Frau zu genießen.
»Du weißt doch, was ich meine. Ich liebe es, ihnen zuzusehen. Sie sind … Schlauer als die anderen.«
»Schlauer? Die Aschekrieger erschaffen Maschinen, die die Welt verändern könnten.«
»Um sie zu beherrschen. Nicht, um sie zu verstehen oder die Welt zu einem besseren Ort zu machen.«
»Du tust ihnen unrecht.«
»Nein, ich habe sie lange genug studiert. Schon bevor du herkamst und dich ihrer annahmst.«
Die Frau zieht ihre Hand zurück. Für einen Moment leuchten ihre roten Augen intensiver.
»Ich helfe ihnen. Sie kennen mich. Und sie hören auf mich. Ich mache sie besser und flüstere ihnen nicht irgendeinen Unsinn ein, der sie in Unglück stürzen könnte.«
»Ich will mich doch gar nicht mit dir streiten, Nachtschnitter.«
Jetzt verstehe ich. Nachtschnitter. Sturmrächer hat sie erwähnt: Wenn es nach mir geht, dann hat er seinen Kerker im Gebirge mehr als nur verdient, nach der Sache mit Nachtschnitter.
Das hier ist die Vergangenheit. Und sie wird sicher nicht gut ausgehen.
»Ich auch nicht mit dir.« Ihr Lächeln kehrt zurück. »Aber meine Meinung wirst du nicht ändern. Die Aschekrieger sind gut für Ashitara.«
»Sturmrächer behauptet dasselbe von den Nachtmahren«, ist Herzmörders Antwort.
»Siehst du, und mit ihm kannst du auch befreundet sein.«
Herzmörder lacht. »Mit dir bin ich nicht befreundet.«
Sie beugt sich zu ihm herab. Ihre langen Haare verdecken ihr Gesicht.
»Sondern?«
»Du bist mein.«
Sie küssen sich vermutlich, ich kann es durch Nachtschnitters Haare nicht sehen.
»Dann sollten wir einen Kompromiss schließen«, schlägt sie vor.
»Welchen?«
»Wir besuchen Sturmrächer in den Nebelsümpfen. Dann ist keiner von uns Zuhause.«
»Meinetwegen«, ist Herzmörders Antwort.
Die Szene verändert sich. Plötzlich brennt die Sonne nicht mehr auf mich herab, sondern ich stehe in einem Schankraum, der mir nur allzu vertraut ist. Es ist Sturmrächers Spelunke in Nurhana. Sie hat sich kein bisschen verändert, obwohl das, was ich sehe, mindestens fünfhundert Jahre her sein muss.
»Wie lange warst du schon nicht mehr in deinem Körper?«, fragt Herzmörder gerade.
Er steht am Tresen, während Nachtschnitter auf einem Hocker dahinter Platz genommen hat.
»Schon eine Weile. Ich brauche ihn derzeit wirklich nicht.« Sturmrächers altbekannte Stimme hier zu hören, ist seltsamer als die von Herzmörder. Vielleicht, weil ich kurze Zeit zuvor noch mit ihm gesprochen habe. Doch er sieht mich hier nicht.
»Denk dran, du darfst ihn nicht zu lange verlassen«, mahnt Herzmörder.
»Jaja«, entgegnet Sturmrächer abwehrend. »Aber jetzt wüsste ich erst mal gerne mehr über euch. Wie kommt das? Ausgerechnet ihr beide?« Er grinst.
»Hey, wir reden hier von dir«, entgegnet Herzmörder. »Wieso bist du hier? Warum hast du eine Schenke? Da stimmt doch was nicht?«
»Ist nicht meine.« Sturmrächer verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich betreibe sie nur für jemanden.«
»Du bist ein Drache«, ereifert sich Herzmörder. »Wieso musst du plötzlich schuften wie ein Mensch?«
»Ich mache es gerne.«
»Für wen?«
»Für eine Frau.«
»Wusste ich’s doch.«
»Sie kriegt ein Kind und sie … sie kann es momentan nicht.«
»Ein Kind?« Nachtschnitter horcht auf. »Von dir?«
»Sie nicht albern. Von einem Menschen.«
»Und du … Bist genau was für sie, dass du ihre Arbeit übernimmst?«
»Jemand, der ihr hilft.« Ich merke genau, dass Sturmrächer ausweicht.
»Du hast doch irgendwas davon. Kein Drache tut je etwas aus purer Herzensgüte«, knurrt Herzmörder.
Nachtschnitter schnaubt verächtlich. Ich habe den Eindruck, die ersten Risse in ihrer Beziehung vor Augen zu sehen. Ihr gefällt der Ausspruch nicht. Sie empfindet nicht so. Und es ist nicht das erste Mal, dass ihr etwas missfällt, man kann es in ihrem Gesicht lesen.
Herzmörder ignoriert sie.
Beim nächsten Wimpernschlag stehe ich an einem Ort, der mir vage bekannt vorkommt. Es ist die Straße im Gebirge, die hinab in die Nebelsümpfe führt. Vielleicht nicht genau die Straße und auch die Gebetsfahnen sind bunter und neuer, aber ich kenne die Vegetation, die gewölbten Wege und das Pflaster der Steine.
Als ich mich umdrehe, stehen Herzmörder und Nachtschnitter voreinander. An Nachtschnitters Körperhaltung erkenne ich sofort, dass sie wütend ist. Sie hält die Arme verschränkt vor der Brust und hat das Kinn gereckt, um Herzmörder, der größer ist als sie, in die Augen zu sehen.
»Sie haben nichts dergleichen getan. Ich habe sie doch gesehen, die Legionen. Sie ziehen durch die Glutsteppe. Keiner von ihnen war dort, als das Kloster fiel. Es waren Banditen.«
»Es waren Aschekrieger. Ich habe ihre Maschinen gesehen.«
»Sie wurden gestohlen, Herzmörder. Bist du blind? Sie konnten sie nicht einmal richtig bedienen, bei dem Überfall wurden sie fast alle selbst getötet, als die Sachen in die Luft geflogen ist! Ich habe dir davon erzählt. Mehrfach. Aber du hörst lieber den Flammenträgern zu als mir.«
»Weil alles, was aus deinem Mund kommt, die Lügen der Aschekrieger sind. In dem Kloster lebten Nonnen. Gute Frauen, die sich um Wanderer und Gläubige gekümmert haben. Sie beteten die Heiligen an. Niemandem haben sie etwas getan.«
»Ich habe sie nicht getötet.« Nachtschnitter sieht aus, als ob sie ihn am liebsten schlagen will, ihre Hand zuckt im Affekt. Kein Wunder. Er hört ihr nicht zu.
»Wie kannst du sie nur verteidigen?«, faucht Herzmörder sie an.
»Ich versuche dir begreiflich zu machen, dass sie es nicht waren. Deine Nonnen wurden Opfer eines Banditenüberfalls. Außerdem haben wir uns geschworen, uns nicht bei solchen Dingen einzumischen.«
»Das ist hinfällig«, zischt Herzmörder. Ich kenne seinen Zorn, manchmal trat er hervor, wenn er über die Flammenträger sprach. Ich befürchte, das hier ist der Grund, warum er sich so verraten von ihnen fühlt. Oder vielmehr die Vorgeschichte. Und ich bin eine von ihnen. Das wird mir erst jetzt klar. Ich bin alles das, was er einst verteidigt hat … und nun aus tiefstem Herzen hasst.
»Sie werden dafür zahlen.« Herzmörder tritt zurück und beginnt sich zu wandeln. Sein Körper wächst und wird größer, seine Flügel sprießen aus seinem Rücken empor, während Nachtschnitter einen erschrockenen Schritt zurück macht.
»Warte«, ruft sie, doch Herzmörder stößt sich in seiner Drachengestalt bereits vom Boden ab und erhebt sich in die Lüfte.
Ehe ich überhaupt verstehe, was geschieht, wechselt die Szene erneut. Ich bin wieder in der Steppe. Dieses Mal in einer belebten Stadt. Es scheint Markttag zu sein, ich sehe allerhand Stände, eine belebte Straße vor mir, sogar der Geruch von frischen Kräutern und gebratenem Fleisch dringt zu mir hindurch. Es mag nicht Eleysas sein, aber es gefällt mir hier. Doch durch das, was ich bereits gesehen habe, ahne ich Böses.
Und es dauert nur einen kurzen Moment, bis es über die Stadt hineinbricht … Das Böse in Form von Herzmörder. Sein Zorn ist gewaltig und er lässt Feuer auf die Menschen regnen, die sich panisch in Sicherheit bringen, während ich nur dastehe und sie einfach durch mich hindurchlaufen. Das ist der Herzmörder, den ich bei dem Kampf mit dem Urdrachen erlebt habe.
Doch ein zweiter Drache taucht direkt aus dem Licht der Sonne auf ihn hinab und verbeißt sich in seinen Hals. Ihre roten Schuppen verraten es: Nachtschnitter. Ihre schwarzen Flügel schlagen wild und fegen die Spitzen zweier Türme hinunter, die daraufhin einfach in sich zusammenfallen. Die Kräfte der beiden Drachen sind gewaltig, als Herzmörder sich gegen sie wendet. Die Menschen suchen ihr Heil in der Flucht, versuchen sich zu den Stadttoren durchzuschlagen, doch ich sehe, wie sie sich gegenseitig niedertrampeln, Kinder oder Alte zurückgelassen werden. Es ist das pure Chaos und ein Blutbad, das auf Herzmörders Kappe geht. Weil er nicht auf Nachtschnitter hören wollte. Die beiden Drachen fauchen und toben, sie sind einander ebenbürtig, obwohl Nachtschnitter kleiner ist als Herzmörder. Aber nur für den Moment. Denn nicht nur in der Größe unterscheiden sie sich, sondern auch in ihrer Kraft. Und so kommt es, wie es kommen muss. Herzmörder verbeißt sich in ihrem Hals, die beiden gehen zu Boden, reißen ein Gebäude dabei ein und die Asche senkt sich über das Drachenfeuer, das die beiden verspuckt haben. Die Flammen ersticken, die beiden Körper verschwinden auf dem Boden.
Ich werde einfach von der nächsten Szene verschluckt, die mir die Magie zeigen will. Es ist Nachtschnitters zerschundener Körper unter den Trümmern. Aus ihrer Kehle sprudelt Blut, Tränen haben ihre Bahnen auf ihren staubigen Wangen hinterlassen, als sie voller Hass in Herzmörders Gesicht starrt, der über ihr kauert.
»Nachtschnitter …«, flüstert er.
»Du bist ein Mörder«, entgegnet sie. Alles in ihr ist erloschen. Bis auf den glühenden Hass. Ich verstehe sie nur zu gut. »Wie konntest du nur …?«
Ihr Körper erschlafft, sie verdreht die Augen, während Herzmörder sinnlos nach ihrem Oberkörper greift und anschließend versucht, das Blut irgendwie aufzuhalten. Er hat sie getötet. Erst ihr Herz – symbolisch zumindest – dann ihren Körper. Sie waren einmal glücklich, doch er hat sich von seinem Zorn auf die Aschekrieger verleiten lassen. All das trägt er mit sich. Und jetzt hat er wieder jemanden verraten. Nun verstehe ich, was Sturmrächer meinte. Als die Bilder verebben, bin ich wieder allein in der Schwärze. Auch der kleine Vogel ist verschwunden, der mir den Weg in die Vergangenheit gewiesen hat.
Ich höre meinen eigenen Herzschlag, während ich versuche zu verdauen, was ich in den Visionen gesehen habe. Herzmörder fühlte sich unverstanden und muss geglaubt haben, Nachtschnitter habe sich gegen ihn gewendet – gemeinsam mit den Aschekriegern. Er hat ihr nicht getraut. So wie er am Ende dachte, dass auch ich ihn verrate. Wahrscheinlich ist er mittlerweile vollkommen paranoid, es ist mir bereits früher aufgefallen, doch diese Sache hier erklärt einiges. Vor allem, weil er anschließend von den Flammenträgern verraten wurde, die ihn in das Gestein der Berge verbannt haben …
Ich wüsste zu gern, was dort geschehen ist, aber die Magie gibt es mir nicht Preis. Dafür bemerke ich eine starke Vibration, die mir durch Mark und Bein geht. Erschrocken tauche ich aus der Welt auf und öffne mein verbliebenes Auge.
Der Gang vor mir ist leer, doch ich höre Stimmen aus der Ferne. Sind die Aschekrieger und Nachtmahre bereits über die Flammenträger hergefallen? Ich lausche angestrengt und bete im Stillen, dass irgendwer sich in diesen Gang verirrt. Vielleicht hilft es mir, wenn jemand auf mich aufmerksam wird. Dann kann das Clanoberhaupt mich nicht weiter ignorieren, sobald es mehr Flammenträger gibt, die von meiner Existenz wissen. Oder vielmehr von Herzmörders. Das ist nicht mein Körper. Nur temporär. Ich bin kein Drache.
Das Grollen und Donnern hat aufgehört und ich spüre außer dem Gestein selbst nichts mehr. Bitte … Betretet diesen Stollen. Sicher ist mein Zauber bereits verpufft, ich habe ihn vor so langer Zeit gewoben. Es kommt mir zumindest wie eine Ewigkeit vor. Ich versuche angestrengt, zwischen den Ranken irgendetwas zu erkennen, aber es dauert eine Weile, bis ich die winzige Bewegung bemerke. Es ist ein Vogel. Ein kleiner, gelber Vogel, mit schimmerndem Gefieder. Er ist winzig und ich glaube, er gehört zu einer Gattung, die in der Glutsteppe heimisch ist. Als Kinder haben Anjali und ich Vögel beobachtet. Ein Steckenpferd meines Vaters, was meine Schwester an mich weitergegeben hat. Hier unten in den Minen sieht man nur selten welche, die sich verflogen haben. Sie sterben leider schnell und es kümmert die Arbeiter nicht. Es ist ein Wintergoldschnäbelchen, wenn ich mich richtig entsinne. Sie kommen manchmal im Frühjahr bis nach Eleysas. Die Gewissheit trifft mich unvermittelt: Nachtschnitter hat sie gefüttert, als ich sie und Herzmörder beobachtet habe. Oder vielmehr ihre Vergangenheit.
»Flieg schnell weg, Kleiner«, sage ich zu ihm, und meine Stimme scheint den Vogel zu erreichen, denn er flattert erschrocken in die Höhe, lässt sich aber schließlich noch ein bisschen näher nieder und pickt auf dem Boden herum. Dabei kann es hier kaum etwas Essbares für ihn geben.
Er kommt auf mich zugehüpft, verschwindet zwischen dem Grün der Ranken und taucht dann ganz plötzlich wieder auf, während er ungestört nach Futter sucht.
»Du wirst hier verhungern«, sage ich zu ihm.
Das Wintergoldschnäbelchen interessiert sich nicht für meine Worte und ich scheine dem Vogel auch keine Angst einzujagen. Deprimierend genug, immerhin bin ich ein Drache. Allerdings einer, der im Gestein festsitzt.
Der Vogel lässt sich nicht beirren. Und irgendwie macht er mich wütend. Er hätte die Möglichkeit davonzufliegen. Die Minen zu verlassen. Doch sein Verstand wird das nicht begreifen und er wird kümmerlich eingehen. Ohne jemals wieder das Tageslicht zu sehen. Was ist, wenn das auch mein Schicksal sein wird? Gibt es denn gar nichts, das ich tun kann?
Das Wintergoldschnäbelchen stößt ein herausforderndes Zwitschern aus und flattert in die Höhe, außerhalb meines Sichtfelds, das von den Ranken erheblich eingeschränkt wird. Urplötzlich prallt es gegen mein Auge, ich kann gar nicht schnell genug reagieren, es schmerzt und ich zucke zurück. Das Grollen, welches den Berg durchfährt, ist ohrenbetäubend.
Was ist hier gerade passiert? Es kommt mir vor, als habe Nachtschnitter persönlich eingegriffen. Warum sonst bin ich dem Vogel begegnet?
Ich bin zurück in der Schwärze, weil ich das Auge geschlossen halte, und als ich es wieder öffne, ist der Gang nicht mehr leer. Ich erkenne eine Silhouette, verborgen von den Ranken und nur schemenhaft erkennbar. Doch es steht jemand vor meinem Gefängnis.
»Wer ist da?«, frage ich erschrocken.
Stille.
Ich weiß nicht, was ich tun soll.
»Komm näher. Ich kann dich nicht sehen.« So hat Herzmörder mich gelockt. Aber ich will niemanden locken … Ich will nur hier raus. So muss er sich gefühlt haben, als ich den Gang zu ihm entdeckt habe. Stets in der Angst, dass ich einfach wieder verschwinde und ihm sein Schicksal überlasse. Hätte ich es mal besser getan. Und jetzt bin ich es, die sich an die Hoffnung klammert, bemerkt zu werden.
»Ich tue dir nichts. Komm näher.« Ich hoffe, man merkt mir die Verzweiflung in der Stimme nicht an. Vielleicht kann die Person mich auch gar nicht hören, denn Herzmörders Stimme drang nur über die Magie zu mir durch. Wenn diese Person aber nicht magisch begabt ist, dann wird sie mich vielleicht nicht einmal bemerken.
»Sie ist hier.« Eine vertraute Stimme. Tara! Bei den drei Gruben, sie und Sturmrächer haben ihr Wort gehalten.
Eine zweite Gestalt taucht in meinem Sichtfeld auf, dann werden die Ranken beiseite gerissen und ich erblicke Sturmrächer in seiner menschlichen Gestalt. Aber etwas ist anders an ihm. Es ist ein Glühen, das von ihm ausgeht. Er hat seinen Körper zurück und kann sich jederzeit wandeln. Ich weiß kein besseres Wort, aber er scheint nun … ganz zu sein. Mächtiger. Stärker. Sein helles Haar schimmert unwirklich im Licht einer Honigfackel, die Tara hält.
»Ihr seid gekommen …« Mein Seufzen klingt merkwürdig durch die Gesteinsschichten hindurch, die auf mich drücken.
»Ich habe doch gesagt, dass wir dich nicht alleine lassen. Wir müssen Karai und Samira aufhalten.«
Tara sieht nicht eben begeistert aus. Ich kann ihr das nicht antun. Es ist gegen ihren Willen, alles in ihr sträubt sich, mir einen Platz an ihrem Herzen zu geben. Weil ich nun ein Drache bin. Ihre dunklen Augen huschen hin und her, aber sie vermeidet es, mich anzusehen, und ihre verschränkten Arme sprechen genau dieselbe Sprache.
»Kannst du versuchen, das Gestein zu lockern? Du bist nun wieder im Vollbesitz deiner Kräfte«, schlage ich Sturmrächer vor.
»Und ich würde sofort die Flammenträger alarmieren, dass ihr Drache fort ist. Sie ziehen ihre Magie aus ihm – jetzt wo der Körper wieder bewohnt ist, sollte sie wunderbar funktionieren. Auf keinen Fall werde ich das tun. Es ist zu gefährlich.«
»Aber wie wollen wir sie warnen, wenn sie die Gefahr nicht kommen sehen?«, hält ausgerechnet Tara dagegen. »Niemand wird einer Aschekriegerin und einem dahergelaufenen Kerl Gehör schenken.«
»Nein«, stimme ich zu. »Schon gar nicht das Clanoberhaupt.« Sie hat ja recht.
»Also. Nimm dir ein Stück von meinem Herzen und lass uns zuallererst Karai und Samira aufhalten, bevor wir uns auf Herzmörder stürzen.« Taras Stimme klingt fest, aber ich kann ihre Angst förmlich riechen. Ob das eine der Begleiterscheinungen meines neuen Körpers ist?
»Ich möchte nicht einfach …«
»Wir haben keine Zeit für Gewissensbisse«, drängt Sturmrächer. »Ich würde dir meins geben, wenn ich eins hätte, aber ich besitze keines. Und du gerade auch nicht. Tara besitzt als einzige eins, also ist sie deine Chance. Und sie gibt es dir freiwillig. Nun zier‘ dich nicht und greif zu.«
»Es … es tut mir leid, Tara«, murmle ich.
Die Aschekriegerin schüttelt den Kopf und streicht sich das dunkle Haar aus der Stirn. »Das muss es nicht. Wir sitzen gemeinsam in der Tinte. Und du bist nicht wie … er.«
»Das hoffe ich.« Das hoffe ich wirklich.
Ich atme tief durch und konzentriere mich auf Tara. Auf ihr Herz. Als ich die Augen schließe, steht sie plötzlich vor mir, direkt neben der winzigen Flamme. Der Stein, auf dem Herzmörder und ich unseren Pakt besiegelt haben, ist nun ebenfalls zu sehen, doch ich werde diesen Weg sicher nicht wählen.
Tara sieht sich erschrocken um. »Wo bin ich?«
»In der Welt der Magie. Ich wusste nicht, dass es so einfach ist, einen Menschen hinüberzuziehen. Das ist für mich alles so … neu. Und das hier bin auch gar nicht ich, sondern er. Wenn du dich fürchtest oder dich anders entscheiden willst … ich kann es verstehen.«
Wirklich. Ich will Tara nicht noch unglücklicher machen. Sie muss schließlich auch verdauen, dass ihre Schwester eine miese Verräterin wurde – und sich noch weniger um sie schert als Karai um mich …
»Nein, es ist nur … Ich betrete eher selten die Welt der Magie. Eigentlich gar nicht. Ist sie wie der Traum?«
»Sie stammt aus den Drachen selbst. Als sie sich mit den Menschen zusammengetan haben. Glaube ich zumindest. Hey, ich bin noch nicht lange Drache, schon vergessen?«
Tara grinst unsicher, aber ich bin froh, dass sie mich nicht mehr so wachsam ansieht.
»Dann mach jetzt, damit es schnell vorübergeht. Ich weiß, dass du mir nichts tun willst, Vanjura, aber es macht mir trotzdem Angst.«
»Ich weiß«, gebe ich zurück und nähere mich ihr.
Mein Blick ist geschärft, selbst unter ihrer weiten Tunika und ihrem Mantel kann ich die Umrisse ihres Herzens sehen. Es schlägt wie ein Vogel, der in einem kleinen Käfig flattert – laut und panisch. So gelassen, wie sie spricht, ist sie nicht. Aber Aschekrieger sind darauf gedrillt, ihre Angst nicht zu zeigen – furchtlose Krieger auf dem Schlachtfeld und in den Lüften. So habe ich Tara kennengelernt, und so steht sie auch jetzt vor mir.
»Falls es schmerzt, tut es mir jetzt schon leid«, sage ich entschuldigend. Erschrocken reißt Tara die Augen auf, doch es geht rasend schnell. Ich scheine einfach mit den Fingern durch die Stoffe ihrer Kleider zu gleiten, meine Hand sucht gezielt im Gewebe und findet das Herz sofort. Es ist, als würde ich meine Finger in pure Magie tauchen, nicht in einen wirklichen Körper. Tara keucht trotzdem erschrocken auf, als ich fest zugreife und mir ein Stück Menschlichkeit zurückhole.
Plötzlich stehe ich nicht mehr in der Schwärze, die mein Gefängnis war, sondern draußen im Gang, neben Tara und Sturmrächer. Meine zerfetzten Kleider, die ich anhatte, als Herzmörder mich eingesperrt hat, sind wieder da. Und ein paar rosafarbene Funken fliegen in Form von Schmetterlingen davon. Ich bin frei. Zumindest so frei, dass ich diesen Körper zurücklassen kann.
Tara lehnt neben mir an der Wand des Ganges und atmet schwer.
»Scheiße, das schmerzt höllisch, Vanjura«, bringt sie schließlich japsend hervor. »Erinnere mich daran, dass ich dir das nie wieder erlaube.«
Sturmrächer lacht. »Drachen sind nicht zimperlich.«
»Ach«, macht Tara böse und öffnet die Augen wieder. Anschließend sieht sie mich prüfend an. »Und du kannst jetzt, genau wie er, die Magie der Drachen nutzen? Einfach den Körper wechseln, wie es dir beliebt?«
»Ich habe keine Ahnung, wie es funktioniert, aber vermutlich ja«, erwidere ich.
Sturmrächer grinst. »Karai und Samira werden sich wundern, wenn ihnen plötzlich zwei Drachen dazwischenfunken.«
»Du vergisst den Urdrachen«, mahne ich. »Und Herzmörder. Wer weiß, was in ihm vorgeht. Vielleicht fühlt er sich dazu berufen, sich den Aschekriegern und den Nachtmahren anzuschließen.«
»Das glaube ich nicht«, antwortet Sturmrächer.
»Meine Schwester«, sage ich. »Wie kann ich sie aus der Welt der Magie befreien? Herzmörder hat sie dort eingesperrt. Aber ich habe sie nicht gefunden.«
»Darum können wir uns später kümmern«, entgegnet Sturmrächer. »Jetzt müssen wir erst einmal Eleysas gegen die Flotte verteidigen. Sonst hast du nachher kein Heim mehr, in das deine Schwester zurückkehren kann.«
Etwas Merkwürdiges geht in den Honlai-Minen vor sich. Als wir den Aufzug und die großen Produktions- und Logistikhallen erreichen, wird mir klar, dass niemand arbeitet. Wirklich niemand. Wo, bei den drei Gruben, sind alle?
Wir schweigen bei unserem Aufstieg, vermutlich sind wir alle drei in unsere eigenen Gedanken versunken, die uns nun heimsuchen.
Die seltsamen Erschütterungen, die ich im Gestein gespürt habe, verheißen nichts Gutes, und die Magie flüstert unentwegt auf mich ein: Verschwinde. Breite die Flügel aus und flieg' davon.
»Ich war noch nie in einer Mine, aber ist das normal?«, bricht Tara das Schweigen, als wir am Ende der Lagerhalle Tageslicht erkennen.
»Nein. Hier geht es normalerweise sehr geschäftig zu. Ich ahne Schlimmes. Vielleicht sind sie schon da.«
»Nein. Unmöglich. Wir waren vor ihnen hier, und als wir hinuntergestiegen sind, war alles voller Menschen, die gearbeitet haben. In dieser kurzen Zeit hätten sie unmöglich zu den Waffen greifen können. Und ich höre auch nichts. Das ist das Unheimlichste daran.«
In der Tat – bis auf die Magie gibt es keine Geräusche, die darauf schließen lassen, dass draußen ein Kampf um die Stadt tobt.
»Wir dürfen sie jedenfalls nicht zu Herzmörders Körper durchlassen«, fährt Sturmrächer fort. »Seine Magie ist das, worauf sie zielen. Und damit auch die Möglichkeit, dein Herz wiederzuerlangen. Das muss unsere oberste Priorität sein.«
»Wieso schlägt sich der Urdrache auf die Seite der Nachtmahre und Aschekrieger?«, frage ich. »Was hat er davon? Ich habe nicht den Eindruck, dass sie die Menschen besonders lieben. Immerhin haben wir in Ashitara einige von ihnen getötet. Und ihre Nachkommen geschaffen. Dich und Nachtschnitter und …« Herzmörders Name kommt mir immer noch nicht über die Lippen.
»Ich sehe, du hast in die Flamme geschaut«, antwortet Sturmrächer. »Was ihn antreibt, kann ich nicht sagen. Nur vermuten. Und es ist eine Frage für einen anderen Tag. Erst einmal müssen wir Karai zurückschlagen. Und deine verlotterte Schwester.« Er wirft einen Seitenblick auf Tara.
»Das erledige ich gerne selbst«, ist ihre finstere Antwort.
Ich kann mir vorstellen, wie sie sich fühlt. Jetzt noch viel mehr. Tara ist plötzlich omnipräsent in meinen Gedanken. Ich kann ihre Gefühle erspüren, ihren Zorn, der in ihr brodelt. Samira nimmt darin sehr viel Raum ein.
»Wo sind denn nur alle?«, frage ich, um Taras Gedanken abzuschütteln. Sie toben so laut in meinem Kopf, dass sie mich jederzeit verdrängen könnten.
»Ich hatte gehofft, dass du eine Antwort darauf hast«, gibt Sturmrächer zurück. Sein Blick huscht hin und her durch die große Halle, in der mich Karai vor einer Ewigkeit noch abgeholt hat. Es kommt mir vor, als läge das hundert Jahre zurück.
»Gibt es eine Pause?«, schlägt er vor.
»Nein. Es sind Schichten. Hier ist immer jemand. Sie kümmern sich nicht viel um Gäste, in den Honlai-Minen arbeiten Tausende, aber normalerweise müssten wir jemandem begegnen«, murmle ich.
Alles hier wirkt wie das unnormale Abbild meiner Welt. Als wäre es der Traum. Doch selbst der ist niemals so leer wie die Minen.