Unendlich: Wie viele Leben brauchst du? - Nika S. Daveron - E-Book

Unendlich: Wie viele Leben brauchst du? E-Book

Nika S. Daveron

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Beschreibung

Als Xenia nach ihrem Tod vor dem Tor der Unendlichkeit steht, muss sie feststellen, dass man sie nicht einlässt. Sie hat vor Jahrhunderten einen Liebesschwur getätigt - und solange dieser nicht erfüllt oder eingelöst wird, bleibt ihr das Jenseits verschlossen. Dumm nur, wenn man keinerlei Erinnerung an den Geliebten hat. Und nun gezwungen ist, noch einmal von vorn anzufangen. Und noch einmal. Und noch einmal.

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Seitenzahl: 425

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Impressum:

Texte: Nika S. Daveron

Umschlag: Nika S. Daveron (Bildmaterial Adobe Stock, tapaton, Nig3la & Canva)

Lektorat: Jess A. Loup

Korrektorat: Tamara Weiß

Für eine Auflistung der Triggerwarnungen im Buch »Unendlich: Wie viele Leben brauchst du?«, können Sie Nika S. Daveron gerne per Mail unter: [email protected] oder über ihre Facebookseite https://www.facebook.com/NikaSDaveron/ kontaktieren .

Nika S. Daveron

UNENDLICH:

Wie viele Leben brauchst du?

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Tag 1.0

Tag 1.1

Tag 1.2

Tag 1.3

Tag 1.4

Tag 1.5

Tag 1.13

Tag 1.14

Tag 1.15

Tag 1.16

Tag 1.17

Tag 1.18

Tag 0

Tag 1.20

Tag 1.21

Tag 1.22

Tag 1.23

Tag 2.0

Tag 1.24

Tag ???

ÜBER DIE AUTORIN

Prolog

»Sie haben einen Schwur geleistet.«

»Ja, das sagten Sie bereits.« Ich schaue auf den Tisch vor mir. Er ist altmodisch und sieht aus, als wäre er seit Jahrhunderten in Benutzung. Tiefe Kerben ziehen sich durch das Holz. Dahinter sitzt ein Mann ohne Gesicht. Er trägt einen schwarzen Umhang mit Kapuze. Er ist nicht der erste, den ich treffe – sicher kann ich mir aber nicht sein, weil sie alle gleich aussehen. Mittlerweile kenne ich diesen Raum wie meine Westentasche. Ich bin immerhin schon über fünfzig Mal hier gewesen. Oder noch häufiger? Jedenfalls sehr oft. Wenn auch mit vielen Jahren Abstand. Es fällt mir immer dann ein, wenn ich durch die erste Tür gehe. Sie ist rot und führt in diesen Raum. Der wiederum endet in einem Tor. Das Tor der Unendlichkeit heißt es. Und dahinter befindet sich das Jenseits, die Glückseligkeit, kurzum - ich will da rein. Aber ich darf nicht.

»Wissen Sie«, sage ich zu dem Mann ohne Gesicht. »Sie könnten es mir doch einfacher machen. Lassen Sie mir meine Erinnerungen fürs nächste Leben. Dann sehen wir uns nur noch ein letztes Mal wieder, bis ich diesen blöden Fluch …«

»Schwur!«

»Ja, ja, dann eben Schwur, los bin. Es ist viel einfacher, wenn ich weiß, wonach ich suche. Sonst lebe ich nur mein Leben. So wie ich will. Ohne Schwurpartner.«

In der Zwischenwelt besitze ich Erinnerungen an all meine Leben. Außer mein erstes - in dem ich diesen Schwur gab. In der normalen Welt bin ich jedoch stets ein unbeschriebenes Blatt. Mein letztes Leben war abenteuerlich. Ich war Bergsteigerin, Skilehrerin und bin Tauchen gegangen. Super. Das habe ich vorher noch nie gemacht. Aber so langsam habe ich keine Lust mehr, immer wieder von vorne anzufangen. Wieso habe ich überhaupt jemandem ewige Liebe geschworen? Und wem? Ich bin so eine Idiotin. Mit Rückblick auf meine diversen Leben weiß ich: Ewige Liebe ist Unsinn. Ich habe so viele Männer und Frauen geliebt. Ewig ist eine Zeitspanne, die Menschen normalerweise mit bis zum Tod verbinden. Aber hier und jetzt trauere ich keinem von ihnen nach. Also war wohl nichts davon ewig.

»Möchten Sie den Schwur brechen, Miss Cervantes?«, fragt der Mann ohne Gesicht.

»Ich kann mir halt nicht vorstellen, dass ich immer noch dieselbe Person liebe, der ich einst den Schwur gab«, entgegne ich. »Also werde ich, falls ich ihn oder sie finde, um eine Auflösung bitten.« Ob diese Person, dieses zweite Ende des Bandes, auch jedes Mal verzweifelt vor dem Tor der Unendlichkeit steht und nicht reinkommt? Das wäre mir immerhin ein schwacher, schadenfroher Trost.

»Sie lassen nach«, tadelt der Mann ohne Gesicht mich.

»Würden Sie auch, wenn Sie zum hundertsten Male abgewiesen werden. Ich will nur noch meine Ruhe.«

Gerne wüsste ich, wie ich hier drin aussehe. Aber es gibt keine Spiegel im Zwischenreich. Ich kann nur an mir herabsehen. Glatte Haut. Ich bin wohl nicht alt.

»Brauchte irgendjemand schon einmal so viele Versuche?«, frage ich.

»Nein«, räumt der Mann ohne Gesicht ein.

Wow. Ich bin ein absolut hoffnungsloser Fall. Genau wie mein Pendant. Offensichtlich eine absolute Idiotin mit dem Gespür eines toten Igels.

»Ich will meine Erinnerungen für die nächste Runde«, sage ich nachdrücklich. »Sie sehen doch, dass ich zu blöd bin.«

»Das geht nicht«, sagt der Mann ohne Gesicht.

»Wer sagt das?«

»Mein Vorgesetzter.«

»Fragen Sie ihn. Fragen Sie ihn, ob er wirklich will, dass ich immer wieder an diesem Tor scheitere. Das muss doch für Sie auch ermüdend sein. Jedes Mal dieser Papierkram. Ich will nur meine Erinnerungen. Wenigstens die, die ich hier drin habe«, sage ich mit fester Stimme.

Die helfen mir zwar nicht wirklich weiter, aber dann vergesse ich wenigstens nicht, dass ich eine Aufgabe in meinem Leben habe. Sonst verdaddle ich sie wieder. Und wieder. Und wieder und … Gott, ich hasse das. Wie ein Computerspiel, wo man ohne Equipment jedes Mal zum nächsten Speicherpunkt zurückgeschickt wird, wenn man stirbt. Nur habe ich den Hard-Mode erwischt, ich spiele auch noch ohne Erinnerungen. Also auch ohne Lerneffekt.

»Ich kann mich auch einfach weigern und hier weiter herumlungern. Dann werden Sie mich nicht mehr los«, wage ich mich nun vor.

»Irgendwann gehen Sie eben zurück durch das Tor der Lebenden. Wie immer«, erwidert der Mann ohne Gesicht.

»Dann bringe ich mich jedes Mal, wenn ich da unten ankomme, um und stehe wieder bei Ihnen vor dem Tisch. Wollen Sie es darauf ankommen lassen?«

»Sie werden sich nicht erinnern.«

»Vielleicht ja doch.«

Der Mann ohne Gesicht ordnet ein paar Papiere und räuspert sich. Habe ich ihn verunsichert? Hoffentlich.

Er schiebt die Papiere hin und her, zückt seine Feder, stockt dann und seufzt schließlich, bevor er zu dem schwarzen, altmodischen Telefon mit Wählscheibe greift.

Habe ich es geschafft?

Der Mann ohne Gesicht spricht mit jemandem. Leise. Murmelnd. In einer Sprache, die ich nicht verstehe. Ich weiß nicht einmal, welche ich derzeit nutze, aber es ist nicht dieselbe.

Es scheint eine Ewigkeit zu dauern und ich warte, während ich sehnsuchtsvoll auf die Torflügel starre. Ich will doch nur meine Ruhe. Wenn man die dahinter nicht hat, weiß ich auch nicht. Keine Wiedergeburten mehr. Die Buddhisten haben ganz recht, wenn sie sagen, dass das Nirvana die Erlösung ist und die Wiedergeburt die Strafe, weil man nicht gut genug war. Immer und immer wieder hier stehen zu müssen ist sehr mühselig.

Ich starre auf die Tischplatte mit den Formularen. Alles ordentlich verstaut. Dokumente von Menschen, die vor mir hier vorbeikamen. Rechts und links vom Tor stapeln sich die Akten in meterhohen Regalen. Das warme Licht des Kronleuchters streift sie kaum, sodass ich nicht erahnen kann, wie hoch der Raum ist.

Der Mann ohne Gesicht legt auf und schaut mich dann an. Ich glaube zumindest, dass er es tut. Ist nicht so einfach zu sagen, wenn jemand keinen Körper, nur eine Kapuze hat.

Er streicht ein paar Dokumente glatt und legt dann seine behandschuhte Hand auf den Tisch. Haut ist nirgends sichtbar.

»Miss Cervantes, ich gebe Ihnen einen Startvorsprung.«

»Und das heißt?«

»Sie dürfen mit Ihren Erinnerungen nach unten. Und in einem fortgeschrittenen Alter. Dafür bekommen Sie ein Zeitlimit.«

»Schön, meinetwegen.« Wie schlimm kann es schon werden?

»Nach Ablauf des Limits erhalten Sie einen neuen Versuch. Ich setze Sie dafür in eine Zeitschleife. Und ich werde Sie bewachen, für den Fall, dass Sie auf die Idee kommen, Ihr vorheriges Wissen zu missbrauchen.«

»Ja. Schön. Nehme ich in Kauf.« Ich verschränke die Arme vor der Brust.

»Sie haben vierundzwanzig Stunden.«

»Und wenn ich das wieder nicht schaffe?«

»Dann bleiben Sie in der Zeitschleife. Das ist deutlich unangenehmer, als wenn Sie jedes Mal ein neues Leben anfangen. Ich an Ihrer Stelle würde mir das gut überlegen.«

»Meine Erinnerungen bleiben aber? Das heißt, ich kann per Ausschlussverfahren etwas herausfinden?«

Der Mann ohne Gesicht nickt.

»Das ist zumindest deutlich einfacher als alles, was ich bisher tun konnte. Es ist wie ein Detektivspiel.«

»Wenn Sie das sagen, Miss Cervantes.«

Der Mann ohne Gesicht öffnet eine Schublade seines Schreibtischs und zieht ein Formular hervor. »Bitte hier unterschreiben. Denken Sie daran – es gibt keine Ausstiegsklausel.«

»Klar. Schön. Was passiert, wenn ich da unten sterbe?«

»Dasselbe wie immer. Wir sehen uns wieder. Und ich schicke Sie erneut hin. Sie bleiben dort. Bis Sie Ihren Schwur erfüllen oder auflösen. Ich würde mir das an Ihrer Stelle wahrlich überlegen.«

»Nein«, antworte ich. »Das ist die einzige gute Chance, die ich habe.«

»Die einen sagen so, die anderen so. Offen gestanden sind die Mächte sehr verärgert darüber, dass Sie sich nicht fügen wollen.«

»Will ich doch. Aber es ist so schwer«, antworte ich.

Ist ja nicht so, als würde ich es nicht versuchen. Das Leben lenkt nun mal einfach fürchterlich ab, wenn man einen Auftrag hat, den man gar nicht kennt.

»Wie Sie wollen«, meint der Mann ohne Gesicht. »Dann unterschreiben Sie bitte hier.« Er dreht das Dokument um und schiebt es mir rüber. »Ich bekomme eine Unterschrift hier und hier. Und die Initialen bitte dort.«

»Kein Problem.« Ich greife nach der Feder, die auf der Tischplatte liegt, und setze meine Signatur in die davor vorgesehenen Kästchen ein.

Er seufzt abermals. »Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß mit Ihrem neuen Leben, Miss Cervantes. Ich bin mir sicher, dass Sie es nach einiger Zeit genauso hassen wie den vorherigen Zustand. Und lassen Sie mich sagen: Ich hätte es nicht gewählt. Immerhin waren Sie vorher frei zu tun, was Ihnen beliebt.«

»Ich bereue nur, dass ich noch nicht viel früher um eine Möglichkeit gebeten habe, diesem Kreislauf zu entkommen«, sage ich entschlossen.

Der Mann ohne Gesicht lacht rau. »Wie Sie meinen. Viel Spaß dort unten.«

Und es wird schwarz.

Tag 1.0

Ich schlage die Augen auf und sehe eine Zimmerdecke. Mein Blick wandert. Eine hässliche Tapete mit Blümchenmuster. Habe ich das ausgesucht? Muss wohl. Das hier ist ein Teil meines Lebens. Neugierig setze ich mich auf. Meine Decke fällt herunter. Ich trage ein schlabberiges T-Shirt und Shorts. An der Wand gegenüber hängt ein Spiegel und ich kann mich zum ersten Mal ansehen. Ich bin jung. Vielleicht siebzehn? Meine Haare sind lang und lockig. Meine Haut irgendwo zwischen Karamell und exotisch. Vielleicht Latina. Ich sehe eigentlich ganz gut aus. Auch wenn ich nicht davon angetan bin, so jung zu sein. Das erschwert einiges. Reisen, Autofahren, und so weiter.

Heiße ich immer noch Xenia? Hoffentlich. Ich springe auf und durchsuche mein typisches Mädchenzimmer, mit Teddybären, Postern, Postkarten, Fotos und Schminkutensilien nach einer Handtasche. Irgendwo muss doch ein Portmonee sein. Triumphierend greife ich neben den Schreibtisch und ziehe ein feines Gucci-Täschchen in die Höhe. Offenbar sind meine Eltern in diesem Leben ganz gut betucht.

Hektisch krame ich nach einem Portmonee und werde fündig. Zumindest habe ich einen Schülerausweis. Ich gehe auf die Lake City-Creek High School und heiße Xenia Cervantes. Yes! Wenn man alles weiß, was man so in den letzten Jahrhunderten getrieben hat, ist es schwer, sich an einen neuen Namen zu gewöhnen. Mein Foto sieht allerdings furchtbar aus. Ich trage einen Dutt und zeige ziemlich viel Busen. Und ganz schlimme Ohrringe, die aussehen, als gehörten sie eigentlich an den Weihnachtsbaum.

Davon scheine ich noch viel mehr zu haben. Ein Blick auf die Fensterbank zum Ohrringständer bestätigt das. Ich wusste bis gerade nicht einmal, dass es Ohrringständer gibt. Was für ein Unsinn.

Habe ich ein Handy? Bestimmt. Ich durchsuche die Handtasche, finde aber nichts, bis ich meinen Blick schweifen lasse und es in einer kitschigen Schale entdecke. Mein Gesicht lässt die Sperre verschwinden und mich blinken mehrere Nachrichten an. Eine von einer Nina. Eine andere von einem Steve. Ich lese beide und kann damit null anfangen.

Nina schreibt: »Denk dran, morgen Charleen, ja?« Die Nachricht ist von gestern Abend. Also ist heute Charleen. Was auch immer das heißt.

Und Steve schreibt. »Kannst du morgen noch mal vorbeikommen?«

Wohin? Oh, Mann … Ich werde allein schon Tage brauchen, um mich in mein eigenes Privatleben einzuarbeiten, bevor ich mich auch nur auf die Suche nach meinem Seelenpartner machen kann. Ansonsten finden mich wahrscheinlich alle total komisch und werden sich sicher nicht normal mir gegenüber verhalten. Das inkludiert auch eventuelle Schwurpartner. Ein Blick auf die Uhr: 05:44. Noch ziemlich früh für Schule, sodass ich ein bisschen Zeit habe, mich an mein Aussehen und mein Zimmer zu gewöhnen.

Ich entdecke eine Narbe an meinem Fußgelenk und kann mir auch schnell denken, woher die stammt, als ich das Skateboard in der Ecke sehe. Das lasse ich mal lieber. Ich habe drei linke Hände und sieben linke Beine, wenn es um sportliche Aktivitäten geht. Und zwar seit Hunderten, ja Tausenden von Jahren. Ich bin schon vom Mont Blanc gefallen, von einem Pferd getreten worden, beim Schwimmen im Rhein ertrunken, bei der Jagd von einem Tiger erwischt worden, und beim Segeln vom Schiff gefallen. Das sind meine sportlichen Tode. Die anderen sind teilweise harmloser – teilweise absurder. Ich bin auch schon mal an Lepra gestorben. Und an einer Sepsis, durch dreckiges Operationsbesteck beim Amputieren. Das war eklig. Ich war wirklich froh, als ich wieder vor dem Mann ohne Gesicht saß. Solche Sachen passieren in der heutigen Zeit aber nicht mehr und das ist ganz gut so. Jedenfalls wenn man in einem halbwegs zivilisierten Land aufwächst. Ich habe auch schon ein Leben in der russischen Provinz verbracht, bis ich von einem Laster überfahren wurde. Sonderlich zivilisiert war es da nicht.

Ich schleiche in meinem Zimmer umher und sehe mich um. Offensichtlich lese ich nicht viel, denn es gibt nur ein paar Schulbücher auf einem Regal. Schade. Ich mochte Lesen immer. Diese Xenia hier tut es wohl nicht. Dann habe ich noch Filme. Ich war dabei, als das Kino erfunden wurde und ich liebe es. Meinen neuen Filmgeschmack liebe ich allerdings nicht. Das sind ja nur Romanzen. Ich finde lediglich den Klassiker Vom Winde verweht, aber ansonsten nur so Dinge wie: Wenn ich dich finde, Lebe und denke nicht an morgen, Romanzen erwünscht oder Tatsächlich Liebe. Ärghs. Na, ja, vielleicht eine passende Blu Ray Auswahl für jemanden, der genau das finden soll: Liebe.

Dann gibt es da noch mein Macbook, das im Schlummermodus auf meinem Schreibtisch wartet. Aber ich traue mich noch nicht dran. Zu viel Input. Mit Facebook und Co. ist das nicht so einfach. Mein letztes Leben war nicht lang, aber ich kenne mittlerweile Computer und alles, was dazu gehört. Bis ich dann dummerweise an einer Salmonellenvergiftung draufging. Dabei stirbt man daran normalerweise nicht. Ich schon. Weil ich nicht zum Arzt gegangen bin. War eklig. In diesem Leben werde ich Fisch meiden, so viel ist sicher.

Ich mache mit einer schwungvollen Bewegung meinen Kleiderschrank auf. Teurer Schrott. Hat mein Ich so wenig Geschmack? Ich sehe scheußliches Senfgelb und Bordeauxrot.

Kurz überlege ich, wie das überhaupt funktioniert, dass ich plötzlich einfach … ich bin. Aber nur für einen Tag jeweils. Doch ich habe mir vorgenommen, so was nicht mehr zu hinterfragen. Ich habe es jedes Mal, wenn ich an der Pforte stand, versucht. Bin noch nie zu einem vernünftigen Ergebnis gekommen, deswegen lasse ich es auch jetzt.

Ich höre es draußen rumoren. Jemand ist auf dem Flur. Wie viel Familie ich wohl habe? Ich höre das leise Trappeln von Kinderfüßen, dann öffnet sich meine Tür.

Ein süßer kleiner Fratz steht davor. Vielleicht fünf? Es ist ein Junge mit lockigen Haaren und braun gebrannter Haut.

»Xeni, darf ich deine Switch haben?«

»Oh … ähm … klar«, antworte ich.

Switch?

Der Junge scheint aber zu wissen, wo diese ominöse Switch ist, er geht hinüber zu meinem Fernseher und holt etwas hervor.

»Danke, Xeni«, sagt er mit zuckersüßem Lächeln und wackelt davon, ohne meine Tür zu schließen.

In diesem Leben habe ich also einen Bruder. Auch spannend. Ich überlege kurz. Wie oft hatte ich einen Bruder? Einmal in Schweden. Oh, und einmal in Goguryeo, das war ein bisschen eklig (im Nachhinein betrachtet), weil ich da mit ihm verheiratet wurde. An sich hatte ich nichts zu meckern, damals. Heutzutage würde ich das nicht mehr machen. Ich bin ja auch moderner geworden. Früher war man als Frau schon ganz froh, wenn der Mann einen nicht behandelte wie einen Einrichtungsgegenstand. Natürlich nicht überall – ich trauere immer noch dem guten alten Rom nach.

Irgendwann um 1900 herum habe ich aber gelernt, mir nicht alles gefallen zu lassen. Und das, obwohl ich gar keinen Lerneffekt erzielen konnte, denn man behält ja nichts aus seinem vorherigen Leben. Darauf bin ich schon ein bisschen stolz. Andersherum macht das vielleicht auch einfach das Umfeld, in das man hineingeboren wird, und eventuell klopfe ich mir für etwas auf die Schulter, das ich mir selbst nicht anrechnen kann.

Ich nutze die Gunst der Stunde und trete durch die offene Tür. Das hier wird sicherlich noch ein paar Zyklen mein Zuhause sein und es wäre super, wenn ich nicht wie ein Alien wirke, das seinen Sommerurlaub auf der Erde verbringt.

Ich gehe also durch den dunklen Flur bis ich die erste Tür erreiche. Der Teppich unter meinen Füßen ist weich und plüschig. Der Name Luca steht an der Tür. Offenbar mein Bruder. Oder habe ich mehr als einen? Ich will nicht öffnen, also gehe ich weiter, bis ich ein Badezimmer erreiche, dessen Tür nur angelehnt ist. Sehr modern. Sehr schick, sehr aufgeräumt.

Ich mache auf dem Absatz kehrt und laufe zurück bis zur Treppe. Ich bin im ersten Stock. Unten sehe ich bereits ein gemütliches Wohnzimmer mit großen Bücherregalen. Ein bisschen mehr nach meinem Geschmack.

Ein pervers großer Fernseher ziert die andere Wand. Und - ist das da draußen, hinter den Fenstern und der Terrasse, ein Pool? Wow. Meine aktuellen Eltern sind wohl Lottogewinner.

Ich gehe um die Ecke. Ein stiller Flur, dahinter wieder eine offene Badezimmertür. Ein weiteres Zimmer – vermutlich das Schlafzimmer meiner Eltern. Ich gehe zurück und schaue mir die Küche an, die sich links vom Wohnzimmer befindet. Offen natürlich. Das macht man jetzt so. Hat mich in meinem letzten Leben schon genervt. Sobald mal ein Glas auf der Spüle steht, sieht nicht nur die Küche rumpelig aus, sondern das Wohnzimmer gleich mit. Echt, wer findet offene Küchen toll? Der hat sie ja nicht mehr alle. Oder eine Putzfrau.

Anschließend drücke ich mir die Nase am Terrassenfenster platt. Ein Pool! In manch anderem Leben hätte ich für einen Pool gemordet. Okay, ich sollte mich nicht an den Luxus gewöhnen, ich bin in 24 Stunden sowieso durch – wie oft ich von neuem anfangen muss, weiß ich natürlich nicht.

Ich bin trotzdem hin und weg. Schade, dass ich ausgerechnet als Minderjährige auftauchen musste – das alles hier wäre mir allein lieber gewesen. Damit ich es, ganz für mich, auskosten kann.

Ich gehe von der Terrasse hinüber zur Haustür. Mal gucken, wo ich jetzt wohne. Meine Füße machen ein tapsendes Geräusch auf den Fliesen. Neugierig öffne ich die Haustür und sehe eine Wohnsiedlung friedlich daliegen. In manchen der Reihenhäuser brennt Licht, andere sind noch ganz still. Ich höre ein Auto in der Ferne vorbeifahren. Die Vögel zwitschern schon im ersten Morgengrauen. Cool. So richtig bilderbuchmäßig. Wenigstens hat der Mann ohne Gesicht sich für mein letztes Leben mal was richtig Einfaches ausgesucht. Wo man nicht um Leben, Geld und Nahrung kämpfen muss. Ich kann mich voll auf mich konzentrieren. Ich hätte schließlich auch bei einem Nomadenstamm rauskommen können. Obwohl es natürlich den Kreis der Personen sehr gut beschränken würde. Hier? Hier gibt es sicher Tausende von Leuten. Und ich muss irgendwie schauen, dass ich diesen verdammten Seelenpartner finde.

Ich laufe die Einfahrt runter und stehe prompt auf der Straße. Gegenüber gibt es einen hübschen Vorgarten und ich komme mir ein bisschen wie eine Bäuerin vor, die zum ersten Mal in der Stadt ist. Ich gaffe. Gegenüber steht ein dicker Lamborghini und am Haus daneben ein Porsche. Als ich mich umdrehe, stelle ich fest, dass ein schicker Alfa Romeo in der … nein, in unserer Einfahrt, steht.

Die Straßenlaternen schalten sich aus. Jetzt wirkt es ein wenig dunkler, aber in ein paar Minuten steht die Sonne vermutlich schon so hoch, dass sie in unsere Fenster scheint. Es ist ein lauwarmer Tag.

Und plötzlich habe ich das Gefühl, dass meine Schulter zerbricht, mir meine Beine fortgerissen werden und mein Kopf explodiert. Dazu ein lautes: BANG!

Moment! Wieso zum Teufel stehe ich denn schon wieder vor dem Tor der Unendlichkeit? Ich gucke an mir herunter. Immer noch derselbe Körper wie zuvor. Aber kein Zweifel. Ich bin schon wieder da. Verdammt, wieso?

Der Mann ohne Gesicht ist auch wieder da. Er schüttelt die leere Kapuze, die wie von Geisterhand an ihrem Platz gehalten wird.

»Sagen Sie mal«, schnauft er. »Haben Sie noch nie was von Elektroautos gehört? Wie kann man sich denn an seinem ersten Tag von der Straßenreinigung überfahren lassen?«

»Ähm«, mache ich etwas verständnislos. »Ich wurde überfahren?«

»Ja, wurden Sie«, antwortet der Mann ohne Gesicht und verschränkt die Arme vor der Brust. »Aber sowas von. Die konnten Sie nicht mal wiederbeleben. Haben es auch gar nicht versucht. Sie sind so offensichtlich tot gewesen – das muss man auch erst Mal schaffen. Ihr armer Bruder.« Missbilligend schnalzt er mit der Zunge.

»Das hab ich ja nicht absichtlich gemacht. Ich wollte nur gucken.«

»Dann stellen Sie sich dabei nächstes Mal nicht auf die Straße. Wer bleibt denn mitten auf einer Hauptstraße stehen, um zu gucken? So was Dämliches habe ich noch nie gehört.«

»Pfff«, mache ich. »Schicken Sie mich bitte wieder zurück?«

»Kommt sofort.«

Tag 1.1

Okay. Blöd gelaufen. Natürlich kenne ich Elektroautos, ich bin zwar von vorvorvorgestern, aber hey! Ich verschließe mich nicht der Technik. Ich war nur so überwältigt. Und was hat der blöde Fahrer überhaupt getrieben? Ich war doch der einzige Mensch weit und breit. Bestimmt auf sein Handy geschaut.

Da bin ich also wieder. In dem Zimmer mit der hässlichen Blümchentapete. Zweiter Versuch. Gut merken: Nicht wie ein vollkommener Volltrottel auf die Straße rennen. Ob ich Buch führen sollte? Aber vermutlich ist es dann beim nächsten Versuch nicht mehr da. Sinnlos. Ich schiebe die Decke von mir und hole das Handy aus der Schale.

Dann beschäftige ich mich eben mit Nina und Steven. Wer sind die und was wollen die von mir? Nina scheint eine Freundin zu sein, ich schreibe wohl viel mit ihr. Das sehe ich, als ich in meinen WhatsApp-Nachrichten nach oben scrolle.

Steven hingegen schreibt nicht so häufig. Mehr schulisch. »Ich hatte eine drei im Vokabeltest.« Nach ein paar Nachrichten komme ich auch dahinter. Ich gebe Nachhilfe. In Spanisch. Und Steven scheint, seinem Profilbild nach zu urteilen, zwölf oder dreizehn zu sein. Also kein ominöser Freund, um den ich mich kümmern muss.

Habe ich irgendwen als »Schatzi« im Handy gespeichert? Nein. Baby? Darling? Was sagen die Kids heutzutage? Weiß ich nicht. Egal, da ist niemand. Und offensichtlich auch nicht in meinen WhatsApp-Nachrichten. Obwohl da ein Lee Girardi ist, dem ich Oben-ohne-Bilder geschickt habe. Was zum …? Seit wann mache ich denn so was? Ist auch nicht lange her – letzte Woche. Ich chatte nur scheinbar verdammt viel, weswegen seine Nachricht so weit unten stand. Toll. Mein neues Ich ist eine Idiotin. Ich will gar nicht so genau wissen, wer außer diesem Lee die Bilder jetzt gesehen hat. Merkwürdigerweise hat Lee darauf auch gar nicht geantwortet. Ist ja wohl nicht gut für mich gelaufen. Das ist wie ungefragte Pimmmelbilder. Auch wenn sich vermutlich jeder Kerl über Möpse freut – aber nicht jede Frau über einen spontanen Penis.

Ich höre Schritte auf dem Flur. Wieder mein Bruder? Und richtig, er steckt den Kopf durch die Tür: »Xeni, darf ich deine Switch haben?«

»Ja, klar.«

»Danke, Xeni.«

Und weg ist er wieder. Ich öffne meinen Instagram-Account. Den ich offensichtlich häufig benutze, in den letzten zwei Wochen allerdings gar nicht. Komisch. Facebook? Keine neuen Nachrichten, aber ein paar Likes, für ein Bild, das mich am Strand zeigt. Allerdings auch schon von vor zwei Wochen. Habe ich gerade eine Krise? Gut, dass ich darüber nichts weiß, auf Drama habe ich gar keine Lust. Na ja, ich werd’s schon rausfinden.

Wann muss ich eigentlich in der Schule sein? Und was ist überhaupt für ein Tag? Donnerstag. Gut. Dann komme ich wenigstens unter Leute. Und das ist ja das Wichtigste – ich muss unter Leute, um meinen Schwurpartner zu finden. Seelenpartner. Was auch immer.

Ich gehe schließlich ins Bad und unter die Dusche. Hey, ich bin gerade erst gestorben, da kann man sich doch was gönnen. Meine Eltern haben verdammt teure Luxusmarken im Badezimmer stehen. Gaultier Duschgel und so einen Krempel. Und ich benutze einfach alles, rieche nachher allerdings wie eine schlecht sortierte Parfümerie.

Es klopft an der Tür. Eine Männerstimme. »Xenia, brauchst du noch lange? Ich muss aufs Klo.«

»Komme gleich«, rufe ich.

Vielleicht mein Vater? Ich habe keinen Hinweis auf weitere Geschwister gefunden.

Ich steige gut aufgeweicht aus der Dusche, kämme die Haare und trete dann im Bademantel nach draußen. Wo ein Typ steht, der ungefähr mein Alter hat. Was zum …?

»Danke«, nuschelt der nur und schiebt sich an mir vorbei, ohne mir in die Augen zu sehen.

Wer ist das? Das kann nicht mein Vater sein. Mein Freund?

Während ich geduscht habe, scheint es lauter im Haus geworden zu sein. Unten rumort es. Vielleicht meine Mutter? Und Lucas Tür steht auch auf, vermutlich ist er im Erdgeschoss. Ich schlüpfe zurück in mein Zimmer und ziehe mich schnell an. Irgendwas, das dem Wetter angemessen ist, es soll (laut meinem Handy) warm werden.

Als ich unten ankomme, sitzt Luca vor einem gedeckten Frühstückstisch. Er schaufelt Müsli in sich rein und starrt auf das Display der Switch.

Eine ältere, füllige Frau steht in der Küchenzeile. Mit rosa Bademantel. Bereits geschminkt und frisiert. »Du bist ja schon wach.«

»Ja?«

Die Frau, die ich für meine Mutter halte, rollt die Augen und verschwindet hinter der Anrichte. Offenbar wühlt sie in einem der Schränke unten.

»Ist Alejandro oben im Bad?«, fragt sie, als ich sie wieder sehen kann.

»Ja.«

»Kannst du auch mal was anderes sagen?«, fährt sie mich an.

Oookay, kompliziertes Verhältnis. Vermutlich bin ich pubertär. Na, ja, ist wohl normal. In meinem aktuellen Alter.

Meine Mutter rauscht vorbei und tischt Pancakes auf. Cool. Ich mag Pancakes. Aber sie stellt sie vor Luca auf den Tisch, der sie jedoch ignoriert. Als ich danach greife, runzelt sie die Stirn.

»Ich dachte, du lebst jetzt vegan?«

»Ach«, mache ich. »Nein, ich mag jetzt gerade Pancakes haben.« Vegan schön und gut – aber darauf habe ich gerade gar keine Lust. Was hat sich denn mein aktuelles Ich dabei gedacht?

»Immer diese Phasen«, meint meine Mutter und rollt nochmal mit den Augen. Sag mal, was hab ich dir getan, Frau?

Ich höre Schritte auf der Treppe, dann steht der ominöse Alejandro unten. Nur in Shorts bekleidet.

»Hey, Honey«, sagt er, geht zu meiner Mutter und küsst sie total übertrieben.

Uärgh. Ein Toyboy? Luca, gegenüber, deutet mit dem Finger in Richtung Mund und macht ein paar Würgegeräusche, die meine Mutter und ihr Loverboy aber großzügig ignorieren, weil sie sich schlabbernd abknutschen.

Ich nicke meinem Bruder zu. Der Kleine hat mehr Verstand als die beiden. Ob Alejandro etwas damit zu tun hat, dass ich in letzter Zeit nichts mehr gepostet habe? Ist er vielleicht frisch eingezogen? Jedenfalls finde ich ihn jetzt schon ätzend und kann schon mal ausschließen, dass er das andere Ende meines Schwurs ist. Einen Seelenpartner findet man garantiert nicht auf den ersten Blick zum Kotzen.

Ich garniere meine Pancakes mit Ahornsirup und schiebe sie wortlos in den Mund, während ich versuche, irgendwie einen Überblick zu bekommen. Unterdessen unterhält sich meine Mutter gedämpft mit Alejandro. Dass sie traurig ist, dass er gleich arbeiten muss und wie viel lieber sie mit ihm noch ein paar Stündchen im Bett verbringen würde und all solche Dinge, die so gar nicht für die Ohren der eigenen Kinder bestimmt sind. Kein Wunder, dass Luca lieber spielt.

»Wo willst du hin?«, fragt mich meine Mutter harsch, als ich aufstehe. Dabei hat sie aber immer noch Alejandro umklammert, als würde er sonst weglaufen.

»Schule?«, frage ich.

»Xenia, wir hatten abgemacht, dass du den Tisch abdeckst. Jeden Morgen. Warum müssen wir darüber dauernd diskutieren?«

»Habt ihr denn schon gefrühstückt?«, will ich wissen. »Ich warte doch jetzt nicht, bis ihr fertig seid.«

»Ich frühstücke nie«, gibt meine Mutter giftig zurück. »Da sieht man mal, wie egal ich dir bin. Und Alejandro muss jetzt zur Arbeit.«

Wow. Ich kann sie jetzt schon nicht leiden. Mein armes Ich. Hexe. Früher hätte man die verbrannt. Für Zickigkeit. Ich war bei der Hexenverbrennung in Freiburg dabei. Super Sache. Alle unliebsamen Nachbarinnen (und auch ein paar Nachbarn) waren danach weg. Ich dummerweise auch. Aber erst zum Schluss. Ich habe aber munter mitdenunziert. Gutes altes Mittelalter. Da waren die Dinge so einfach.

Ich staple das Geschirr aufeinander und trage es in die Küchenzeile. Allerdings ignoriere ich die Spülmaschine, die wir garantiert haben. Warum nicht auch ein bisschen pubertär sein?

Danach schleppe ich die restlichen Lebensmittel rüber und staple sie im Kühlschrank. Einmal lustlos mit dem Lappen über den Tisch (und an Luca vorbei) und das war’s. Meine Mutter guckt eh nicht mehr hin, weil sie schon wieder mit Alejandro herumschmust.

Ich laufe nach oben, ziehe mir rasch eine Jacke an und greife nach meiner Handtasche. Hoffentlich habe ich alle Bücher und Hefte in der Schule liegen. Hier gibt es nämlich nicht viel. Ich schlüpfe in ein paar Turnschuhe und haue ab. Dieses Mal allerdings nicht, ohne vorher zu nachzusehen, ob die Straße frei ist. Dann allerdings stehe ich blöd auf dem Gehweg gegenüber und muss erstmal das Handy rausholen und gucken, wie weit meine Schule entfernt ist.

Holt mich jemand morgens ab? Wie komme ich normalerweise hin? Verdammt, ich habe noch eine Menge zu lernen. Nur, um nicht von den komisch guckenden Nachbarn weiter angeglotzt zu werden, setze ich mich in Bewegung, mein Navi zeigt nach Süden, auf eine größere Kreuzung. Immerhin ist die Lake City-Creek High School auf Maps eingezeichnet. Trotzdem sind es drei Kilometer bis dahin. Vielleicht fahre ich sonst mit dem Fahrrad. Kann ich mir bei meinem aktuellen Ich allerdings nicht vorstellen, so tussig, wie ich wirke.

Ich laufe gerade an einem Einfamilienhaus mit zartrosa Anstrich vorbei, als mein Handy klingelt.

Auf dem Display steht Donnie. Mädchen? Junge? Keine Ahnung.

»Ja?«, melde ich mich.

»Wo bist du, Xeni?«, prallt es schrill an mein Ohr. Mädchen. Sehr unangenehme Stimme.

»Auf dem Weg zur Schule.«

»Warum wartest du nicht? Ist das immer noch wegen Lee? Hör mal, du musst wirklich langsam …«

Oh, toll. Lee. Der mit den Nacktbildern.

»Ich bin noch da. Fahr die Straße einfach weiter entlang«, antworte ich hastig und höre dann auch bald einen Motor jaulen. Offenbar fährt Donnie die älteste Karre der Stadt.

Hinter mir taucht ein roter Mercedes auf. Sieht aus wie aus den Achtzigern. Eckig und laut. Er hat ein paar Kratzer und die Stoßstange fehlt.

Als die Person darin hupt, bleibe ich stehen. Muss wohl Donnie sein. Der Wagen hält und ich öffne die Tür.

»Wo sind denn deine Ohrringe?«, fragt Donnie zur Begrüßung, sodass ich mir unwillkürlich ans Ohrläppchen fasse.

»Hab ich vergessen.«

Donnie wirft ihre Handtasche nach hinten und fordert mich auf einzusteigen. Sie hat rotes Haar und weiße Haut mit Sommersprossen. An ihrem Schlüsselbund erkenne ich einen Anhänger, auf dem Donna Maria steht. Vielleicht irische Auswanderer. Ich bin ja wohl ganz offensichtlich in Amerika. Nicht eben mein liebstes Land, aber ich kann wohl derzeit nicht meckern.

»Du musst das mit Lee wirklich vergessen.«

»Hm«, mache ich.

Was war denn jetzt mit Lee? Also außer, dass ich ihm Nacktbilder geschickt habe.

»Ich weiß, dass Margie das nicht hätte tun sollen.«

Who the fuck is Margie? Mann, warum hat mein aktuelles Ich denn so viel um die Ohren? Eine nervige Mutter mit Toyboy, eine Margie, die irgendwas getan hat. Vermutlich bekämpft sie auch noch nachts das Verbrechen wie Batman! Damit ich auch wirklich gar keine Zeit habe, meinen Schwur zu lösen.

»Keiner spricht mehr mit ihr, dafür habe ich gesorgt«, fährt Donnie fort.

»Danke«, sage ich.

»Nicht dafür. Nina hat sie außerdem aus dem Cheerleader-Team geworfen. Gestern. Das hättest du sehen sollen. Sie hat sich auf der Toilette verkrochen und geheult, bis Mrs. Clark ihr irgendwann gedroht hat, dass sie die Tür gleich aufbricht.«

Scheiße, ist das viel Input. Also gut – Margie ist sauer auf mich. Donnie holt mich morgens vor der Schule ab. Nina ist die Chefin vom Cheerleader-Team und auch auf meiner Seite. Alejandro ist der Toyboy meiner Mutter – deren Namen ich nicht kenne. Und dann ist da noch Lee, dem ich Nacktbilder geschickt habe?

»Ich meine, wie kann man so asozial sein? Richtig mit Vorsatz. Nach dem Handy bitten, um zu fragen, ob man telefonieren kann und dann so was?«

Offensichtlich hat Margie mein Nacktbild an Lee geschickt? Warum hab ich so was auch auf dem Smartphone? Ich will nicht sagen, dass ich selbst schuld daran bin, aber clever war ich jetzt auch nicht gerade.

Donnie merkt jedenfalls nicht, dass irgendetwas mit mir nicht stimmen könnte. Sie plappert weiter und weiter. Von ihrem Friseur, der ihre Balayage verpfuscht hat (»Guck mal, das sind voll die Blöcke!«) und von Mathe, weil Mr. Albert ja so ein Arschloch ist.

Ich glaube, die Trips mit Donnie klemme ich mir in den nächsten Tagen. Das ist ja ultraanstrengend. Außerdem fährt sie schlimmer als jeder Wagenlenker im Kolosseum von Rom. Ständig die Hände vom Lenkrad, Handy in den Fingern, Lippenstift rausdrehen, Lippenstift reindrehen, Spiegel aufklappen, Spiegel zuklappen, Hupen, Leute beschimpfen. Wow. Donnie ist echt multitaskingfähig. Ich lasse sie reden und versuche mir etwas von der Kleinstadt einzuprägen, in die es mich verschlagen hat. Wir sind mittlerweile auf einer Art Hauptstraße angekommen, wo es ein paar Läden, Restaurants und Bars gibt.

»Du kommst doch heute, oder?« Donnie muss gerade eingefallen sein, dass Gespräche ja auch immer zwei Personen erfordern. Oder eine mit mehreren Persönlichkeiten.

»Wohin?«

»Hallo?«, ruft sie und wedelt mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum. »Zu Charleen? Party?«

»Da muss ich erstmal meine Mom fragen«, behaupte ich.

»Seit wann schert es dich, was deine Mom sagt?«

»Ähm.« Okay, dann nicht. »Ach, sie war nur so anstrengend die letzten Tage.«

»Umso wichtiger, dass du auf die Party gehst. Wohnt der eklige Alejandro immer noch bei euch?«

Ich nicke. Das sind doch schon mal Infos.

»Igitt«, macht Donnie. »Wie widerlich. Ich würde mich auch schämen.«

Ich nicke noch mal. Bekräftigender. Ja? Jetzt erzähl doch mal was, du Quasselstrippe. Ich probiere was Unverfängliches: »Heute Morgen wollte er ausgerechnet in mein Badezimmer.«

»Wie ekelhaft. Wenn der nur ein krummes Ding versucht, hol ich die Polizei! Der soll eure Familie in Ruhe lassen. Seit dein Dad weg ist, wanzt er sich die ganze Zeit ein.«

»Und er ist so schmierig«, schauspielere ich.

Mehr! Ich brauche mehr Input. Damit ich mich natürlicher verhalten und suchen kann. Hoffentlich hat das Schicksal, dieses miese ironische Ding, Alejandro nicht zu meinem Seelenpartner gemacht. Würde zu meinem Glück passen.

»Arbeitet der überhaupt?«, fragt Donnie und biegt mit quietschenden Reifen in eine Seitenstraße ein.

In der Ferne kann ich ein typisches Schulgebäude erkennen. Klotzig, mit vielen Parkplätzen. Mit einem schicken Tor am Hauptgebäude.

»Angeblich ist er heute zur Arbeit gefahren.«

»Der will doch nur die Kohle deiner Mutter.«

»Mhm«, mache ich.

Donnie hupt diverse Fußgänger an und rollt dann auf einen Parkplatz, wo bereits viele Autos stehen. Die Handbremse macht ein knarrendes Geräusch, dann reißt meine Freundin die Tür auf.

»Auf geht’s. Und denk dran, wir ignorieren Margie.«

»Ja.« Kunststück, ich weiß ja nicht mal, wie die aussieht.

Ich schultere meine Handtasche und laufe hinter Donnie her. Ein Glück, dass mich jemand abgeholt hat. Das hier sieht groß aus. Und ich verfluche den Mann ohne Gesicht. Wieso muss er mich ausgerechnet auf die High School schicken? Das sind Hunderte von Leuten. Und wenn ich Pech habe, ist es nicht mal jemand von hier, sondern irgendwer außerhalb, dem ich begegnen muss. Wird derjenige überhaupt wissen, dass ich die Richtige bin? Oder ist er ohne Erinnerung? Immerhin habe ich ja einen Deal vorgeschlagen. Wenn er es nicht getan hat – dann gute Nacht.

Wir kommen an ein paar Blumenbeeten und der amerikanischen Flagge vorbei, die jemand gehisst hat. Dutzende von Schülern stehen noch draußen. Ich sehe die üblichen Stereotypen: Rocker, Sportler, Tussis, Sonderlinge, Gothics, Nerds und Streber. Jeder identifiziert sich über seine Kleidung, sein Auftreten. Nichts Neues, seitdem Kinder in dem Alter noch zur Schule gehen dürfen. Manche geben sich erwachsen, andere kindisch. Eben eine stinknormale Vorstadtschule. Ich versuche, sie alle genauer anzusehen. Irgendetwas zu spüren. Aber da ist nichts. Eigentlich fühle ich mich nur ruhig. Neugierig. Ich meine, das ist man doch wohl automatisch, wenn man in ein bereits vorgefertigtes Leben stolpert.

»Hast du den Aufsatz für Geschichte geschrieben?«, fragt Donnie mich, als wir die Glastür am Eingang erreichen, über der das Schild Lake City-Creek High School prangt.

»Nein, ich glaube ich hab’s vergessen.«

»Du hast? Oder du glaubst?«

»Ich hab’s vergessen.« Sind wir hier beim Verhör?

»Mist, ich habe gehofft, ich könnte bei dir abschreiben. Mrs. Alyson hat gesagt, wir dürfen zusammenarbeiten. Dann wäre es nicht aufgefallen, wenn ich genau dasselbe hätte.«

»Sorry«, sage ich.

Himmel, wieso muss ich auch noch Hausaufgaben machen? Das war nicht so abgesprochen!

Donnie führt mich auf einen Gang, der in die obligatorischen Klassenzimmer führt. Grüne Spinde stehen davor und ich hoffe einfach, dass meine Kombination irgendwo in meinem Handy steht.

Donnie bleibt vor einem von ihnen stehen. Scheiße, gibt es hier keine Namen? Sie öffnet mit ihrer Zahlenkombination, während ich dumm vor den Schränken stehe.

»Schon wieder deine Zahl vergessen? Mann, Xenia, du musst aufhören, sie dauernd zu ändern.«

Zu meinem Erstaunen geht sie drei Schränke weiter und tritt dann gegen den Spind. Die Tür springt auf. »Voilà«, sagt sie und zwinkert mir zu.

Ich bedanke mich hastig und stecke dann meinen Kopf hinein. Da gibt es ein paar Fotos an der Wand. Eins ist in der Mitte durchgerissen. Ob das was mit Margie und der Lee-Sache zu tun hat?

Ich finde diverse Bücher, ein paar Sportschuhe und eine Bildermappe für den Kunstunterricht. Ich bin offensichtlich ziemlich minderbegabt. Als ich sie aufschlage, sieht es mehr wie das Gekritzel einer Zehnjährigen aus. Hab ich nicht so was Altmodisches wie einen Stundenplan? Das würde mir jetzt helfen. Aber nö. Nichts.

Ich schaue also verstohlen in Donnies Richtung, die mit großem Hallo plötzlich ein anderes Mädchen begrüßt.

»Ich dachte, du kommst erst nächste Woche«, kreischt Donnie und küsst die andere.

Sie hat blonde Haare und so viel Busen, dass ich ihn fast schon für Fake halte. Aber sie hat auch Sommersprossen und ein nettes Lächeln, sodass ich hin und hergerissen werde mit meinem ersten Eindruck.

»Hey, Xenia«, kreischt die Blonde und drückt mich an sich.

»Hey«, wiederhole ich. »Schön, dass du wieder da bist.«

»Oh Mann, ich muss unbedingt Nina Bescheid sagen, dass ich wieder zum Cheerleader-Training kann«, ruft sie und lässt sich dann von ein paar anderen Schülern begrüßen.

»Flittchen«, säuselt Donnie hinter vorgehaltener Hand, während die anderen die neue Alte begrüßen. Ich kann aus ein paar Gesprächsfetzen auch den Namen von Miss-Turbo-Tits heraushören: Elle. Holy Shit, ich brauche ein Organigramm für diese Schule.

Plötzlich bemerke ich, dass mich jemand anstarrt. Als ich mich umdrehe, steht da ein gutaussehender Kerl mit halblangen braunen Haaren, Dreitagebart und blauen Augen. Ich muss nicht fragen, wer das ist. Das ist Lee. Und seinem Blick nach zu urteilen, der so ungläubig ist, könnte er der Richtige sein.

Es dauert eine ganze Weile, bis ich Lee wiedersehe, denn ich habe Englisch, Geschichte und anschließend Mathe, bis es endlich Zeit fürs Mittagessen ist. Außerdem bin ich völlig überfordert. So viele Mitschüler, so viele Informationen. Scheiße, mein neues Leben ist echt kompliziert.

Aber ich kann auch nicht aufhören, an den Blick zu denken, den Lee mir zugeworfen hat. Ungläubig. Aber auch wissend. Ist das ein Zufall? Oder ist er der Richtige? Falls ja – super. Muss ich ihn nur noch überzeugen, mich aus meinem Schwur zu entlassen.

Also halte ich auf den Gängen Ausschau nach ihm, während Donnie mir auf Schritt und Tritt folgt und mich vollquatscht. Offenbar stört es sie nicht, dass ich heute einsilbig bin und kaum etwas zum Gespräch beisteuern kann.

Als wir in die Mensa kommen, finde ich Lee an einem der Tische am Fenster. Allein. Und er starrt mich wieder an, sodass ich zu Donnie sage: »Entschuldigst du mich kurz mal?«

Verwirrt schaut sie, wohin ich schaue, und hält mich am Arm fest: »Oh, nein, Xenia, nein, nein.« Aber ich reiße mich los und gehe zu Lee.

Ich bemerke, dass einige mir hinterhersehen. Die Sache mit dem Nacktbild ist wohl kein Geheimnis? Oder ist es so seltsam, dass ich ausgerechnet zu Lee gehe?

»Hey«, sage ich.

Sein Blick verfinstert sich mit einem Mal. »Was willst du?«

Wow. Seit wann sind denn Männer so zickig, wenn sie Möpsebilder bekommen?

»Mit dir sprechen?«, versuche ich es.

»Warum? Machst du das absichtlich? Kannst du es nicht akzeptieren?«

»Hä?«

Was zum Teufel ist hier los? Lee seufzt künstlich und steht auf. »Spiel doch nicht die Dumme.«

»Entschuldigung, aber ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Das kannst du deinen lustigen Freundinnen erzählen. Aber nicht mir.«

»Hör mal, Lee, ich weiß nicht, was ich dir getan habe. Können wir nicht darüber sprechen?«

»Kein Interesse.«

Damit geht er einfach davon. Und lässt mich total blöd stehen. Während die anderen noch glotzen. Ich räuspere mich und gehe zurück zu Donnie.

»Das hat ja wohl nicht gut geklappt«, raunt sie mir zu.

»Nein«, gebe ich zu. »Warum zum Teufel ist er so sauer?«

»Keine Ahnung. Hey, die halbe Schule würde so ziemlich alles für ein Nacktbild von dir geben. Und wenn Lee kein Interesse hat oder einen auf Klosterschwester macht, weil er eins bekommen hat, dann ist er selbst schuld.«

Okay? Wenn Donnie es auch nicht weiß, muss ich es wohl so rausfinden. Denn Lee könnte immer noch der Richtige sein. Da ist etwas, das ich nicht deuten kann. Und es geht von ihm aus. Irgendwie muss ich das wieder hinbiegen.

Ich reihe mich schweigend neben Donnie in die Essensausgabe ein und warte. Versuche irgendwas zu ergründen, zu ertasten. Vielleicht ist Lee auch gar nicht der Richtige und ich laufe nur irgendeinem Hirngespinst nach. Es könnte auch Donnie sein. Oder der missmutige Mensamitarbeiter, der mir irgendeinen Nudelpamps auf meinen Teller häufelt. Sieht verdächtig nach Kotze aus. Ich grabsche mir einen Pudding und einen Apfel, bevor ich mit Donnie an einen Tisch gehe, der ein wenig abseits von den anderen ist.

»Warum haben die mich alle so angeguckt?«, frage ich meine temporär beste Freundin.

Sie zuckt mit den Schultern.

»Nach der Party bei Sam seid ihr am nächsten Morgen zusammen zur Schule gekommen. Und danach habt ihr nicht mehr miteinander geredet. Das hat jeder mitbekommen. Und jetzt latschst du einfach rüber und quatschst ihn an. Kein Wunder, dass die gucken. Würde mich nicht wundern, wenn’s jemand gefilmt hat. Xenia, die Eisprinzessin, heult Lee nach. So würde ich das Video nennen. Also, wenn ich ein Arschloch wäre. Was ich nicht bin.«

»Ich kann mich an den Abend gar nicht erinnern«, behaupte ich.

Donnie lacht in ihren Nudelpamps. »Kein Wunder. Du warst total zu. So besoffen habe ich dich noch nie erlebt.«

»Oh.«

»Willst du das wirklich essen?«, fragt Donnie.

»Wieso?«

»Da ist Schinken drin.«

»Ich glaube, ich mag nicht mehr vegan leben«, sage ich. Derzeit habe ich echt Wichtigeres zu tun, als mein Essen zu sezieren, um zu gucken, ob was Tierisches drin ist.

Ein großes, durchtrainiertes, schwarzes Mädchen rauscht heran. Ihre Haare sind wuschelig, wilde Locken stehen ab und sie trägt pinken Lippenstift, den sie mit einem sonnengelben Hoodie kombiniert. Nicht elegant, aber auffällig.

»Hey, Süße«, flötet sie und küsst meine Wange. »Wo sind deine Ohrringe?«

»Hatte heute keinen Bock.«

Sie tauscht einen Blick mit Donnie. »Immer noch?«

Donnie nickt, als wäre ich gar nicht da. »Heute noch schlimmer. Sie hat versucht, mit Lee zu sprechen, aber er ist abgehauen.«

»Was ist denn mit dem verkehrt?«

Die Fremde knallt ihr Tablett auf den Tisch neben mir und setzt sich. »Süße, ich hab Margie schon aus der Cheerleader-Mannschaft geworfen. Die hat nichts mehr zu lachen. Und wenn Lee dich nicht will, dann ist er selbst schuld. Alle anderen Kerle würden sich die Finger danach lecken, wenn sie ein solches Angebot bekämen.« Ah! Das muss Nina sein.

»Ich hab ja keins gemacht.«

»Aber es hätte was draus werden können.« Nina zwinkert mir zu und beginnt dann zu essen. Während ich sie beobachte, bekomme ich eine Gänsehaut. Irgendwas ist an Nina, das mich unruhig werden lässt. Seltsam. Das habe ich noch nie verspürt. Ist Nina diejenige? Oder …

»Ist was?«, fragt sie verwundert und schaut mich an.

»Nein«, antworte ich schnell und beuge mich über meinen Pudding. Der schmeckt wenigstens.

Ich kann nicht sagen, wer Nina ist. Aber irgendwas hat sie an sich, das mich erschreckt. Ist sie meine Bewacherin? Der Mann ohne Gesicht hat gesagt, ich würde unter Bewachung stehen. Aber ich kann es mir nicht vorstellen. Nicht bei Nina. Da ist irgendwas anderes.

»Du bist heute auch dabei, oder?«, fragt sie mich.

»Ja, sicher«, antworte ich mit vollem Mund.

»Wird auch Zeit«, schnaubt Donnie. »Seit der Sache mit Lee und Margie hast du dich die ganze Zeit verkrochen.«

»Ich hab auch noch den blöden Toyboy zuhause.« Den muss ich doch mal in die Runde schmeißen, damit nicht jeder denkt, dass ich mich wegen Lee gräme.

»Igitt, ja. Der muss weg«, meint Donnie und weiht dann Nina schnell ein, damit ich es nicht tun muss.

Sie schmückt es ein bisschen aus und lässt Alejandro wie einen Perversen erscheinen, der gegen meine Badezimmertür schlägt, um reinzukommen. Ist das normal in dem Alter? Na, ja, ich kann wohl derzeit nicht über Geschichten meckern. Davon gibt es eine Menge und ich bin ständig involviert und muss irgendwie herausfinden, wie genau. Ist ein bisschen wie ein interaktiver Krimi, nur ohne Leiche. Und dass ich eine völlig andere Aufgabe habe.

»Ekelhaft«, sagt Nina dazu und schiebt den leeren Teller von sich weg.

»Was jetzt? Alejandro oder die Nudeln?«

Sie lacht. »Beides. Wenn du willst, übernachten Donnie und ich am Wochenende bei dir. Damit du nicht mit dem Freak allein bist.«

»Ja, gerne«, sage ich. Wohlwissend, dass ich dieses Wochenende nicht erleben werde. Mein Leben hat schließlich nur 24 Stunden. Wenn ich das nächste Mal beim Mann ohne Gesicht ankomme, werde ich darum bitten, dass ich mir ein Notizbuch anlegen kann. Ich mag es vielleicht in dieser Welt nicht benutzen können, aber in seiner. Dort verändert sich kaum etwas. Ja, als wäre dort die Zeit stehengeblieben. Oder als liefe sie sehr langsam.

»Was kann ich denn tun, damit Lee mit mir spricht?«, frage ich Donnie und Nina.

»Süße, du musst aufhören, von Lee zu reden. Du hast doch gesehen, wohin das führt«, antwortet Donnie.

»Knutsch am besten mit wem anders auf Charleens Party, dann wird Lee vielleicht eifersüchtig. Manche Kerle sind so. Erst die kalte Schulter zeigen und wenn das Mädchen sich dann mit wem anders trifft, fällt ihnen plötzlich ein, dass sie ja doch eigentlich ganz verliebt sind.«

»Bestechende Logik«, sage ich sarkastisch, was sowohl Nina als auch Donnie ein Stirnrunzeln entlockt.

Verdammt, ich darf nicht vergessen: Für sie hier ist das ernst. Und diese bescheuerte Teenagerlogik ist für sie auch völlig nachvollziehbar. Sie können ja nichts dafür, dass sie nicht drölfhundert Jahre alt sind und über meine Lebenserfahrung verfügen. Auch wenn diese Lebenserfahrung sagt: Wow, wie bitchy.

Nina leert ihren Pudding und schiebt das Tablett von sich. »Schnapp dir auf jeden Fall den besten Typen, bevor Elle es tut. Ihre Implantate ziehen verdammt viele Kerle an.«

Also doch Fake-Möpse. Diese Information hilft mir zwar nicht weiter in Bezug auf meinen Schwur, aber wer weiß, ob ich mir Elle mal verbal vom Hals halten muss. Sie der Tittenfälscherei zu beschuldigen mag zwar nicht sonderlich geistreich sein, ist aber bestimmt funktionell.

Der Nachmittag rauscht nur so an mir vorbei. So viele Namen, so viele Gesichter. Mir raucht der Kopf und als Donnie mich mit nach Hause nehmen will, lehne ich beinahe ab, weil ich den ganzen Input verarbeiten möchte. Aber ich bin noch nicht fertig, die verdammte Party bei Charleen steht noch an und ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich das überleben soll. Und dann noch mit Saufen. Alkohol und ich werden in keinem meiner Leben noch mal Freunde. Besagte Hexenverbrennungen habe ich auch besoffen angezettelt. Außerdem bin ich schon ein paar Mal rotzevoll gestorben. Das ist nicht unbedingt mein Steckenpferd. Ich mache dann waghalsige, gefährliche Sachen und pöble gerne. Hey, ich bin verdammt alt, ich hätte in einem anderen Leben Jesus’ Oma gewesen sein können.

Nun denn, Party bei Charleen. An einem Donnerstag. Scheint wohl alles nicht so ernst zu sein mit Schule. Charleen habe ich übrigens in der Schule nicht kennengelernt, sodass ich keine Ahnung habe, wie meine Gastgeberin aussieht.

»Ich hol dich ab«, hat Donnie gesagt und ist dann davongebraust.

Wie zieht man sich den für so eine Vorstadtparty an? Ich checke also Instagram und Facebook, finde ein paar Partyfotos und versuchte es anschließend nachzubauen. Mit dem Ergebnis, dass ich aussehe wie ein Teenager aus irgendeinem Slasher-Movie. Wandelndes Klischee.

Als Donnie mich abholt, runzelt sie die Stirn. Obwohl ich Ohrringe trage, daran habe ich dieses Mal extra gedacht. Hinter Donnie im Auto sitzen noch mehr Leute. Nina, natürlich. Und ein anderes Mädchen mit braunen Haaren und Tank-Top.

»Yeah, Xenia, cool, dass du wieder dabei bist«, ruft sie und prostet mir mit einem Kurzen zu.

Ich bekomme auch einen scheußlichen Schnaps in die Hand gedrückt und lasse mich auf den Vordersitz fallen. Uff. Das kann ja noch heiter werden.

»Wo schläfst du heute?«, frage ich Donnie. Sie wird doch sicher nicht abstinent bleiben. Ihr Facebookprofil zeigt definitiv eine Menge Partyfotos.

»Im Auto, wie immer«, kichert sie. »Nächster Halt: Charleen.« Röhrend gibt sie Gas und ihre uralte Karre scheppert davon. Donnie macht es wie am Morgen: Labern, schminken, Handy – alles in einem. Während sie zudem noch zu jedem Gespräch ein paar Kommentare zusteuert. Die Frau ist echt permanent auf hundertachtzig.

Wir rasen viel zu schnell durch die Straßen, rote Ampeln sind auch nicht so Donnies Ding, wenn niemand guckt. Aber die Mädels hinter mir lachen, kreischen und feiern jetzt schon.

»Mach mal lauter«, brüllt Nina hinter mir und kleckert irgendwas Klares über Donnies Handbremse.

»Das desinfiziert«, sage ich und das fremde Mädchen fängt an zu lachen.

Donnie dreht das Radio auf. Get the Party started von Pink.

Wow – das ist nicht sonderlich aktuell. Das kenne ja sogar ich. Aus meinem letzten Leben.

Donnie durchquert mit Hundert die Innenstadt und biegt dann in ein Wohnviertel ein, das mich an die Elm Street erinnert. So richtig kitschig amerikanische Mittelschicht. Als wäre die Zeit stehengeblieben. Ach, was soll’s. Ich trinke den ekligen Schnaps, werfe die kleine Flasche aus dem Fenster und lasse mir eine neue geben. Dann trink ich halt.

Donnie beschleunigt abermals, sodass wir jetzt immer noch mit neunzig Sachen durch die Gegend rasen, dann wird sie plötzlich langsamer und ich kann schon ahnen, wo die Party stattfindet. Da, wo gefühlt hundert Leute im Vorgarten stehen. Scheiße, wie viele Leute hat Charleen bitte eingeladen? Wie soll ich da meinen Seelenpartner finden? Wehe, der ist nicht auf der Party. Dann beschwere ich mich. Bei wem? Weiß ich doch nicht!

»Wir sind da«, trällert Donnie unnötigerweise und parkt den Wagen schwungvoll auf dem Bordstein.

Es ist halb neun und ich höre, als ich aussteige, schon den Bass der Anlage. Bin mal gespannt, ob jemand die Cops ruft, wenn hier eine Horde Minderjährige trinkt und feiert.

Das fremde Mädchen hakt sich bei mir ein und es ist mir sehr unangenehm, ihren Namen nicht zu kennen. Aber gut – dann trink ich halt was.