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Beschreibung

Wenn es um die Frage geht, wie Gewalthandlungen motiviert sind und wie unterschiedlich sie historisch legitimiert wurden, kommt man ohne die Analyse narrativer Formen nicht aus. Dieser Band versammelt profunde Beiträge aus Soziologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft und Archäologie, die von Autorinnen und Autoren aus jeweils anderen Disziplinen kommentiert werden. Sie machen deutlich, wie gewinnbringend die Beschäftigung mit Gewaltnarrativen ist und wie sie wirkungsvoll mit anderen Ansätzen verknüpft werden kann.

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Ferdinand Sutterlüty, Matthias Jung, Andy Reymann (Hg.)

Narrative der Gewalt

Interdisziplinäre Analysen

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Wenn es um die Frage geht, wie Gewalthandlungen motiviert sind und wie unterschiedlich sie historisch legitimiert wurden, kommt man ohne narrative Formen nicht aus. Dieser Band versammelt Beiträge aus Soziologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft und Archäologie, die von Autorinnen und Autoren aus jeweils anderen Disziplinen kommentiert werden. Sie machen deutlich, welch großen Gewinn das Konzept des Gewaltnarrativs für die Forschung bedeutet und wie es mit anderen Ansätzen verknüpft werden kann.

Mit Beiträgen u.a. von Christian Feest, Jürg Helbling, Wolfgang Knöbl, Francisca Loetz, Teresa Koloma Beck und Axel Paul.

Vita

Ferdinand Sutterlüty ist Professor für Soziologie an der Universität Frankfurt am Main. Matthias Jung, PD Dr. phil., und Andy Reymann, Dr. phil., sind dort wissenschaftliche Mitarbeiter im LOEWE-Schwerpunkt »Prähistorische Konfliktforschung«.

Inhalt

Matthias Jung, Andy Reymann und Ferdinand Sutterlüty: Narrative der Gewalt: Eine Einleitung

Konstitutionsbedingungen von Narrativen

Phänomenologische Verwendung des Narrativbegriffs: Narrative der sozialen Praxis

Konstruktive Verwendung des Narrativbegriffs: wissenschaftliche Narrative

Performative Effekte von Narrativen

Abschließende Bemerkungen

Wolfgang Knöbl: Jenseits des situationistischen Paradigmas der Gewaltforschung

I. Einleitung

II. Die situationistische Interpretation von Gewalt in der Neuen Gewaltsoziologie

III. Das Nicht-Situationistische an und in der Situation

IV. Von der Situation zur Kultur, von der Situation zur historischen Epoche?

V. Der institutionentheoretische Ausweg (nicht: der Königsweg!)

Reinhard Bernbeck: Gewalt, Skalarität und Perspektive: Kommentar zum Beitrag von Wolfgang Knöbl

Axel T. Paul: »Kriege sind die Lokomotiven der Geschichte« – Über Formwandel und historische Dynamik organisierter Gewalt

1. Kriege in segmentären, stratifizierten und funktional differenzierten Gesellschaften

2. Kriege als Katalysatoren sozialstruktureller Umbrüche

3. Neue Kriege, neue Imperien

Ingo Schrakamp: Militärgeschichte ist immer Wirtschafts- und Sozialgeschichte: Kommentar eines Altorientalisten zum Beitrag von Axel T. Paul

Francisca Loetz: Gewalt in der Geschichte der Menschheit: Probleme, Grenzen und Chancen historischer Gewaltforschung

Gewalt und Zivilisation: Daten und keine Menschheitsgeschichte

Interpersonale Gewalt im frühmodernen Europa: Für eine erweiterte Geschichte menschlicher Gesellschaften

Gewalt und ethische Maßstäbe: Grenzen und Potentiale historischer Gewaltforschung

Ferdinand Sutterlüty: Epochenvergleich statt Metanarrative der Gewalt: Kommentar zum Beitrag von Francisca Loetz

Zur Kritik an Metanarrativen der Gewalt

Überlegungen zu einer historisch vergleichenden Gewalt- als Ethikforschung

Probleme einer Historisierung und Erweiterung des Gewaltbegriffs

Christian Feest: Ethnologische Anmerkungen zur materiellen Kultur des Krieges

Anhang

Jan-Heinrich Bunnefeld: Ethnologische Anmerkungen zur materiellen Kultur des Krieges: Kommentar zu Christian Feest

Die Entwicklung der Waffen und der Konflikte in Mitteleuropa bis zur Bronzezeit – eine Skizze

Das Narrativ des professionellen Kriegers in der Archäologie

Eine Kritik des Kriegernarrativs

Ausblick

Jürg Helbling: Kriege und Allianzen zwischen Dörfern

1. Dörfer

2. Formen des Krieges

3. Ziele und Folgen des Krieges

4. Ursachen des tribalen Krieges

5. Gruppengröße und Allianzen

5.1 Aufrüstung

5.2 Formierung von Allianzen

5.3 Sicherheitsdilemma

6. Konkrete Kriegsgründe

6.1 Territoriale Nachbarschaft

6.2 Kräfteverhältnisse zwischen Lokalgruppen

6.3 Gruppeninterne Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse

7. Dynamik und Transformation

7.1 Regionale Transformationen

7.2 Soziale Transformationen: Häuptlingstümer

Fazit

Literatur

Matthias Jung: Tribale Kriege und archäologische Befundinterpretation: Kommentar zu Jürg Helbling

Stefan Burmeister: Post battle processes: Gewaltphänomene als psychologische Stressbewältigung und Befriedungsritual

Kriegerische Gewalt im archäologischen Befund

Gewaltexzesse nach der Schlacht

Die Traumatisierung des Kriegers

Die Lust an der Gewalt

Psychologische Bewältigungsstrategien

Daniel Föller: Büßen als Bewältigungsstrategie für Kombattanten im karolingischen Europa: Kommentar zu Stefan Burmeister

Stefanie Rüther: Ordnungen der Gewalt? Narrative und Praktiken des Krieges im europäischen Mittelalter

I. Von siegreichen Königen, ritterlichen Fehden und friedliebenden Städten

II. Von geraubtem Vieh, verbrannten Dörfern und getöteten Rittern

III. Zusammenfassung

Swantje Bartschat: Zur Rekonstruktionsschwierigkeit anhand arabischer Quellen: Ein islamwissenschaftlicher Kommentar zum Beitrag von Stefanie Rüther

Teresa Koloma Beck: Festung als Lebensform: Eine andere Erzählung des Gewaltraums

1. Krieg als Lebenswelt

Konzeptioneller Zugriff: Räumlichkeit als Teil von Alltagsstrukturen

Methodischer Zugang: immersive ethnografische Forschung

2. Sicherheit als topologische Ordnung

Gewöhnung an Gefahr – Ausrichtung auf Sicherheit

»Sicherere Orte« und die Archipelisierung der Lebenswelt

3. »Making safe places«: Zur sozialen Produktion sicherer Orte

Bunkerization: Sicherheitsproduktion durch bauliche Strukturen

»We cannot send an Afghan colleague – he wouldn’t get in«: Sicherheitsproduktion durch Zugangsregeln

»You can take off your headscarf – It’s safe here!«: Sicherheitsproduktion durch Zugehörigkeit suggerierende Alltagsvollzüge

4. Narrativ und Methode

Andy Reymann: Gewalträume der Bronzezeit: Ein archäologischer Kommentar zum Beitrag von Teresa Koloma Beck

1. Alltäglichkeit

2. Bunkerisation

3. Versicherheitlichung

4. Fazit

Anhang

Autorinnen und Autoren

Narrative der Gewalt: Eine Einleitung

Matthias Jung, Andy Reymann und Ferdinand Sutterlüty

Gewalt besitzt, wie alle sozialen Phänomene, eine zeitliche Struktur. Sie hat eine Vorgeschichte, einen Ablauf und später auftretende Folgen nicht nur für die Opfer und Täter, sondern auch für ganze Gruppen und Gesellschaften. Gewaltereignisse müssen erzählt werden, um ins individuelle und kollektive Gedächtnis treten und tradiert werden zu können. Häufig werden sie als besonders einschneidende Zäsuren wahrgenommen, die das gesellschaftliche Leben in ein Davor und ein Danach teilen. Das ist der Grund, weshalb Narrativität in allen Wissenschaften, die sich mit Gewaltphänomenen beschäftigen, von zentraler Bedeutung ist. Für die Soziologie und Ethnologie gilt das ebenso wie für die Archäologie und Geschichtswissenschaft, wenn auch mit verschiedenen Akzentuierungen und spezifischen Fragestellungen. Vielversprechend erscheint daher das Unterfangen des vorliegenden Bandes, die Diskurse, die in den genannten Disziplinen über Narrativität geführt werden, miteinander ins Gespräch zu bringen.1

Unterschiede in den disziplinären Theoriebezügen und Darstellungsusancen, aber auch die Spezifika der jeweils verfügbaren Datentypen und Quellenlagen lenken den Blick auf die Bedeutung von Narrativen für die Gewaltforschung. Die Beiträge zu diesem Band führen dies einmal mehr vor Augen. Aus unterschiedlichen Perspektiven richten sie die Aufmerksamkeit auf die Konstruktionsprinzipien von Gewaltnarrativen. Wie wird aus Daten, Berichten und materiellen Spuren von Gewalt eine zusammenhängende Geschichte? Welche Erzählprinzipien, Interpretationsmuster, Theorieannahmen und Modelle liegen Gewaltnarrativen zugrunde? Derartige Fragen und die vor allem mit langfristigen historischen Narrativen verknüpften Schlichen und Fallen, Vorannahmen, Suggestivwirkungen und Diskurseffekte werden von den Beiträgen reflektiert und teilweise dekonstruiert. Einige der Beiträge stellen wiederum ihrerseits Exempel von Gewaltnarrativen unterschiedlicher Reichweite dar. Eine Publikation wie diese, in der sich Aufsätze zu verschiedenen historischen Epochen, Gesellschaften und Formen der Gewalt gemeinsam zwischen denselben zwei Buchdeckeln wiederfinden, bedarf gewiss einiger einleitender Worte.

Das Phänomen der Narrativität wurde zwar in vielerlei Hinsichten bereits untersucht, kaum jedoch der Umstand, dass Gewaltnarrative teilweise eigenen Konstruktionsregeln folgen und soziale Funktionen annehmen können, die ihnen eine besondere Form verleihen. Dieses Desiderats wollen wir uns im Folgenden annehmen. Zunächst gehen wir etwas allgemeiner auf einige narratologische Konstruktionsprinzipien ein, um dann die unterschiedlichen Verwendungsweisen von Gewaltnarrativen in den historischen Wissenschaften und in den Sozialwissenschaften näher zu beleuchten.

Konstitutionsbedingungen von Narrativen

Narrativität ist allgegenwärtig. Mit Ludwig Wittgenstein könnte man sagen, dass es sich dabei um eines jener Phänomene handelt, »die dem Bemerktwerden nur entgehen, weil sie ständig vor unseren Augen sind«.2 Narrativität ist eine universelle, das menschliche Kommunizieren und Realitätserleben beeinflussende Wahrnehmungsebene, nicht nur ein »Register, welches bisweilen ein- und ausgeschaltet wird, sondern ein Filter, durch den wir alle Ereignisse und alles Verhalten wahrnehmen«.3 Die Prädisposition, Wahrnehmung und Erfahrung narrativ zu organisieren, sollte allerdings nicht als eine Art Denkkorsett missverstanden werden, dessen man sich nicht entledigen kann. Es ist vielmehr möglich, sie durch Reflexion zu distanzieren und in ihren Struktureigenschaften zu erkennen. Theorien, die eine unhintergehbare Immanenz narrativer Strukturen behaupten, sind selbstwidersprüchlich, weil sie in Anspruch nehmen müssen, diese Immanenz bereits durchbrochen zu haben.

Freilich ist die Varianz von wissenschaftlich bedeutsamen Narrativen hinsichtlich ihrer Gegenstände, Konstruktionsprinzipien und Reichweiten enorm. Zwischen der Erzählung einer Szene häuslicher Gewalt in einem Interview, das dann in der Forschung analysiert wird, und einer zivilisationsgeschichtlichen Analyse, die selbst ein Narrativ über die Rolle der Gewalt in der Menschheitsgeschichte fabriziert, liegen Welten. Die basalste Ebene von Narrativen ist indessen bereits in sprachlichen Strukturen verankert. Schon die Subjekt-Prädikat-Objekt-Struktur von Sätzen in den indoeuropäischen Sprachen nämlich ist narrativ angelegt. Sätze lassen sich gar nicht formulieren, ohne eine Handlungsinstanz sowie eine Handlung oder einen Zustand zu benennen, die sodann in Relation zu anderen Entitäten gesetzt werden, durch welche oder mit welchen etwas geschieht. Bei aller Mannigfaltigkeit muss sich jede Darstellung der Realität diesem Grundschema fügen.4 Am anderen Ende der nach mikro- und makrologischen Erzählstrukturen gegliederten Skala stehen weit ausgreifende und elaborierte Metanarrative. Diese integrieren geschichtliche Epochen und betten Narrative geringerer Reichweiten in ihre Darstellung ein; diesen fügen sie durch die weitere Kontextuierung mitunter gänzlich neue Bedeutungsdimensionen hinzu. Konrad Jarausch bestimmt die Besonderheiten solcher Metanarrative in einer Weise, die uns noch beschäftigen wird: »Sie behandeln langfristige Entwicklungsprozesse, vereinfachen komplexe Zusammenhänge zu einem Grundmuster, integrieren unterschiedliche Geschichten in einer großen Erzählung, bieten ideologische Anweisungen für politisches Handeln und projizieren kulturelle Identitätsvorstellungen.«5

Über die Organisation der Wahrnehmung und Erfahrung hinaus stiften Narrative die Kohärenz individueller Lebensgeschichten, auf welche sich etwa das Erkenntnisinteresse der sozialwissenschaftlichen Methode des autobiografisch-narrativen Interviews richtet.6 Narrative sind konstitutiv für das Selbstverständnis von Kollektiven und Staaten, deren Handlungsentscheidungen sie nachhaltig beeinflussen. Dabei können Narrative die Sozialgruppen, in denen sie entstanden sind, um Jahrhunderte und Jahrtausende überdauern, ohne ihre Motivationskraft einzubüßen. Ein Paradebeispiel dafür ist die kanonische Exodus-Erzählung, die im Laufe der Geschichte innerhalb der jüdisch-christlichen Kultursphäre zahlreichen Befreiungskämpfen das imaginative Repertoire geliefert hat.7

Narrative fungieren einerseits als in der Zeit entfaltete Vergewisserung und auch Verstetigung von Identitäten und historisch gewachsener Praxen. Andererseits bilden sie aber auch eine Darstellungsform theoretischer, von den Zumutungen der Praxis entlasteter Erkenntnis. Es lassen sich demnach zwei Typen von Narrativen unterscheiden: die eher naturwüchsigen, alltagspraktischen Narrative, deren Konstruktionsregeln meist implizit bleiben, und wissenschaftliche Narrative, die ihre regulatorischen Prinzipien im Idealfall vollständig explizieren. Beide Arten von Narrativen haben performative Effekte: Sie bewirken etwas. Was erzählt wird und wie es erzählt wird, hat Folgen für die soziale Praxis. Diese Folgewirkungen, die ein nicht intendierter Effekt des Narrativs oder auch das Ergebnis einer instrumentellen Absicht sein können, werden wiederum ihrerseits zum Gegenstand von wissenschaftlichen Analysen, Fortsetzungs- und Gegennarrativen.

Angesichts der hier nur kursorisch angedeuteten Vielgestaltigkeit überrascht es, dass die konstitutiven Grundelemente, aus denen sich Narrative zusammensetzen, doch recht überschaubar sind. Ausgehend von der Poetik des Aristoteles,8 lassen sich drei notwendige Voraussetzungen von Narrativen unterscheiden.

Erstens ist eine identifizierbare Handlungsinstanz in Gestalt eines individuellen oder kollektiven Akteurs erforderlich, dem Zustände und Vorgänge zugeschrieben werden können. Daraus resultiert eine im Kern handlungstheoretische Perspektive, die allerdings leicht dazu verführen kann, sich mit der Wiedergabe von geschichtlichen Verläufen zu begnügen und explikative Ansprüche auf die bloße Abfolge von Ereignissen und Zuständen zu reduzieren. In diesem Sinne hat William Sewell vor der »narrative overconfidence«9 einer Geschichtswissenschaft gewarnt, die konzeptionelle Fragen über zeitliche Dynamiken und historische Kausalitäten einfach in einer Anhäufung weiterer narrativer Details untergehen lässt. Der handlungstheoretische Impetus von Erzählungen kann geschichtliche Verläufe zudem einseitig als das Produkt intentionalen Handelns von Akteuren erscheinen lassen, was strukturalistische Ansätze an historiografischen Narrativen häufig vehement kritisiert haben.10 Eine aufschlussreiche Analogie dürfte sich in diesem Zusammenhang aus einer Beobachtung ergeben, die der Psychologe Jerome Bruner in einem Experiment mit Vorschulkindern gemacht hat. Ihnen wurden Geschichten erzählt, in welchen ein ungewöhnliches Verhalten von Akteuren vorkam, das in diesen Geschichten selbst nicht erklärt wurde. Bei deren Wiedererzählung präsentierten die Kinder »eine ganze Fülle narrativer Erfindungen«,11 mit denen sie wie selbstverständlich das erratisch wirkende Verhalten durch die Interpolation von Motiven nachvollziehbar machten. Von hier aus lässt sich ein Bogen schlagen zum Forschungsprogramm des Mediävisten Johannes Fried, das die Faktoren der Verformung von Erinnerungen untersucht. Die narrative Disposition ist ein solcher Faktor, denn erinnert werden einzelne Szenen, und erst nachträglich erfolgt eine Rekonstruktion zu komplexen Verlaufsprozessen.12 Ferner können Handlungsinstanzen überhaupt erst narrativimmanent konstruiert oder in ungeprüfter Weise um des Narrativs willen unterstellt werden. Auf die damit verbundenen Probleme hat Pierre Bourdieu am Beispiel kollektiver Akteure hingewiesen: »Jede Aussage, in der ein Kollektiv Subjekt des Satzes ist – Volk, Klasse, Universität, Schule, Staat –, unterstellt die Frage der Existenz dieses Kollektivsubjekts als bereits gelöst.«13

Zweitens bedarf ein Narrativ sinnfälliger Anfangs- und Endpunkte. Es setzt »Interdependenzunterbrecher« voraus, wie es in der Systemtheorie heißt.14 Die erzählstrukturierende Funktion von Interdependenzunterbrechern besteht darin, Zäsuren im kontinuierlichen Strom der Ereignisse zu setzen und in der einen oder anderen Weise nahezulegen, dass die Ereignisse innerhalb dieser Zäsuren zusammengehören. Je nachdem, ob der Anfang oder das Ende betont wird, ergeben sich unterschiedliche Modulationen des Narrativs. Einer Betonung des Anfangs entspricht eine Ursprungserzählung, bei der aus einem Gründungsereignis alles Weitere hervorgeht und sich erklärt. Der Betonung des Endes dagegen entspricht eine Teleologie, die auf einem Woraufhin der Erzählung beruht und eine zielgerichtete Entwicklung beschreibt.15

Drittens kann ein Narrativ nicht eines »roten Fadens«, eines inneren Zusammenhangs entraten. Dieser muss dem Germanisten Matías Martínez zufolge drei Aspekte miteinander verbinden, nämlich die Referenz auf singuläre Gegenstände, Sachverhalte oder Ereignisse (Konkretheit), die Darstellung einer chronologischen Abfolge (Temporalität) und schließlich eine Bezugnahme der dargestellten Ereignisse aufeinander, die ein bloß zeitliches Nacheinander oder ein räumliches Nebeneinander transzendiert und damit narrative Kohärenz konstruiert oder rekonstruiert (Kontiguität).16 Das wichtigste Prinzip ist hierbei die Unterstellung von Kausalität, das heißt die Neigung, eine zeitliche Abfolge als Kausalbeziehung zu interpretieren. Roland Barthes vermutet sogar, »daß die treibende Kraft der narrativen Aktivität die Verwechslung von zeitlicher Folge und logischer Folgerung ist, das Nachfolgende in der Erzählung als verursacht von gelesen wird; die Erzählung wäre in diesem Fall die systematische Anwendung des in der Scholastik unter der Formel post hoc, ergo propter hoc angeprangerten logischen Irrtums«.17 Dies kann umso leichter geschehen, als die narrativ verfasste Wahrnehmungsverarbeitung auch das in der Filmtheorie als »Induktionseffekt«18 bekannte Phänomen kennt. Es bewirkt, dass zwei durch einen Schnitt getrennte Szenen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, vom Publikum als sinnvoll miteinander verbunden oder im Modus einer Kausalkette interpretiert werden.19

Allen drei Voraussetzungen narrativer Formen gemeinsam ist ihre Selektivität: Die Bevorzugung bestimmter Handlungsinstanzen gegenüber anderen, die mitunter einer gewissen Willkür geschuldete Auswahl eines Anfangs und eines Endes sowie die Hervorhebung einiger als relevant erachteten Zusammenhänge unter Ausblendung anderer. Hier lässt sich eine Parallele zwischen historischen Narrativen und therapeutischem Erzählen herstellen. In einer aufschlussreichen Bemerkung deutet Sigmund Freud die Hermetik der von den Patienten präsentierten Narrative als Abwehrmechanismus: »Es gibt Patienten, die sich von den ersten Stunden an sorgfältig auf ihre Erzählung vorbereiten, angeblich um so die bessere Ausnützung der Behandlungszeit zu sichern. Was sich so als Eifer drapiert, ist Widerstand. Man widerrate solche Vorbereitung, die nur zum Schutze gegen das Auftauchen unerwünschter Einfälle geübt wird.«20 Verallgemeinerungsfähig ist an dieser Beobachtung, dass sich die Bedeutung von Narrativen erst vor dem Hintergrund dessen vollends konfiguriert, was von ihnen ausgeschlossen wird. Gerade dort, wo das Ausgeschlossene für die Analyse und Bewertung von Narrativen entscheidend ist, müssen die tieferliegenden Interessen aufgedeckt werden, in deren Dienst sie das Gepräge eines beredten Verbergens und Verschweigens angenommen haben.

Nachdem nun die allgemeinen Grundzüge narrativer Konstrukte und einige ihrer Tücken erläutert wurden, wollen wir im Folgenden drei Verwendungsweisen des Narrativbegriffs in den Geistes-, Sozial- und Geschichtswissenschaften unterscheiden. Einige bereits dargestellte Überlegungen aufgreifend, differenzieren wir zwischen einem phänomenologischen, einem konstruktiven und einem performativen Gebrauch von Narrativen in diesen Wissenschaften.

Phänomenologische Verwendung des Narrativbegriffs: Narrative der sozialen Praxis

Zunächst einmal liegen die für die Forschung relevanten Narrative auf der Ebene der untersuchten Phänomene. Die entsprechenden Geschichten und Erzählungen sind nicht Produkte der Forschung, sondern deren Gegenstand. Es handelt sich um Narrative der sozialen Praxis. Eine ihrer wichtigsten Funktionen besteht darin, individuelle und kollektive Selbstverständnisse hervorzubringen und zu stützen. Über die Rekonstruktion ihrer identitätsstiftenden Funktion hinaus lässt sich dann untersuchen, wie Narrative dazu genutzt werden, Handlungen zu motivieren, zu legitimieren oder zu delegitimieren. Narrative in diesem phänomenologischen Sinn stellen wichtige Materialien für die Geschichtswissenschaft und die Sozialwissenschaften dar.21 In der sozialen Praxis gebrauchte Narrative sind der Prähistorischen Archäologie hingegen unzugänglich, weil sie nur über materielle, nicht aber versprachlichte Zeugnisse verfügt.

Die soziologische Biografieforschung beruht gänzlich auf Erzählungen von Lebensgeschichten, deren Strukturmerkmale sie untersucht und fragt, wie sie mit Handlungsgewohnheiten, Deutungsmustern und Entscheidungen von Akteuren zusammenhängen.22 So konnte etwa gezeigt werden, wie »Gewaltkarrieren« jugendlicher Wiederholungstäter auf das Engste mit den Repräsentationen ihrer Lebensgeschichten verwoben sind; diese gleichen nämlich typischerweise Konversionserzählungen, insofern die Jugendlichen einen Umschlag familiärer Opfererfahrungen in die Täterrolle schildern, dem sie die bleibende Bedeutung einer epiphanischen Erfahrung zuschreiben.23 Auf einem ganz anderen Feld hat der Historiker Bernd Greiner auf die Motivationskraft von Narrativen hingewiesen. Er spricht von einem Kriegsnarrativ, von dem die US-Soldaten in der Anfangsphase des Vietnamkriegs durchdrungen waren: Sie betrachteten ihren Einsatz als »John Wayne-thing« und damit im Rahmen eines Narrativs, das gewaltbereite, von Härte, Mut und Loyalität geprägte Männlichkeit betont und kriegerische Gewalt als Abenteuer und Spaß perzipiert. Teil dieses Narrativs war auch die von den beiden Weltkriegen herrührende Gewissheit: »Amerikaner sind zum Gewinnen geboren«.24

Wie wirkmächtig historische Narrative sein können, zeigt die Dolchstoßlegende, die nach dem Ersten Weltkrieg von der Obersten Heeresleitung lanciert wurde, um von ihrer Rolle bei der »Schmach« der Versailler Friedensverträge abzulenken. Sie besagte, dass das im Feld unbesiegte deutsche Heer durch vaterlandslose Zivilisten aus der eigenen Bevölkerung gewissermaßen hinterrücks erdolcht worden sei. Das Verschwörungsnarrativ wurde von der antidemokratischen Rechten bereitwillig aufgegriffen und später im Nationalsozialismus dazu benutzt, das gewaltsame Vorgehen gegen Sozialdemokraten und Juden zu legitimieren.25 Narrative dieser Art können auch dazu dienen, die Bedeutung des eigenen Tuns über unmittelbare Konfliktlinien hinaus bis ins Unermessliche zu steigern. In diesem Sinne hat Mark Juergensmeyer etwa auf die Rolle der Idee eines »kosmischen Krieges« hingewiesen, die im Lauf der Geschichte für viele terroristische Bewegungen prägend war und sich bei heutigen Dschihadisten wiederfindet.26

Konstruktive Verwendung des Narrativbegriffs: wissenschaftliche Narrative

Narrative aus der Feder von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verbinden Daten und Quellen, Ereignisse und Beobachtungen, um daraus eine zusammenhängende, epochenspezifische oder epochenübergreifende Darstellung zu generieren: Sie entwerfen historische Verlaufsgestalten. Der Streit um die Angemessenheit derartiger narrativer Konstruktionen entbrannte zuerst in den Geschichtswissenschaften. Die Selbstverständlichkeit historiografischer Erzählungen als genuiner geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisform wurde insbesondere von den Protagonisten einer Struktur- und Sozialgeschichte in Frage gestellt, die eine explizite Theorieanwendung forderten. Ihnen erschienen Narrative als eine defizitäre und vorwissenschaftliche Art der Beschäftigung mit geschichtlichen Verläufen. Strukturveränderungen würden durch eine narrative Darstellung auf punktuelle und symptomatische Ereignisse verkürzt und geschichtlich relevante Handlungsimpulse auf einzelne Akteure reduziert – ganz im Sinne des berüchtigten Diktums Heinrich von Treitschkes: »Männer machen Geschichte«.27

Als Beispiele für überindividuelle Strukturen, die Voraussetzungen des Handelns sind und sich nur langfristig, wenn auch zuweilen schubartig verändern, nennt Reinhart Koselleck Verfassungen, Herrschaftsweisen, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Freund-Feind-Konstellationen, geografisch-räumliche Vorgegebenheiten in Beziehung zu ihrer technischen Verfügbarkeit sowie unbewusste, Institutionen prägende Verhaltensformen und Rechtssysteme.28 Das Erzählen galt den neuen Theoretikern, wie es bei Golo Mann heißt, »als altmodisch, als reaktionär, elitär, erfolgsverherrlichend, beschönigend, oberflächlich« sowie »als blind gegenüber dem Hintergrund wirtschaftlicher, sozialer Bedingungen, welche allein den Gang der Ereignisse verstehen lassen«.29 Die Strukturgeschichte sah sich ihrerseits dem Vorwurf ausgesetzt, die Geschichtsschreibung durch eine technokratische Verwissenschaftlichung versteinern zu lassen. Die akademische Forschung habe der Historie »das Erzählen ausgetrieben« oder dieses »in die Mikrohistorie und Alltagsgeschichte verbannt«. »Sie hat«, so Johannes Süßmann weiter, »das Interesse am Einzelnen, seinen politischen Optionen und moralischen Dilemmata in der Geschichte unter Ideologie-Verdacht gestellt. Sie hat einen Kult getrieben um anonyme Strukturen und Großtheorien, dessen Begriffsabrakadabra abschreckend wirkt.«30 Die Vertreterinnen und Vertreter strukturgeschichtlicher Ansätze seien weder willens noch in der Lage, die in historische Narrative eingegangenen theoretischen Anteile zu erkennen.

Um eine Synthese von Theorie und Narrativ bemüht, hat Jörn Rüsen den Begriff des »narrativen Theoriegebrauchs« geprägt: »Theorien sind Konstruktionen, nach denen erzählt werden kann, sie sind sozusagen Erzählgerüste, Baupläne von Geschichten.«31 Erzählen ist in diesem Verständnis keine naive Vorform von Theorie, sondern diese ist im Gegenteil Bedingung der Möglichkeit einer Erzählung. Zwar verlören Erzählungen, die auf der Inkorporation von Theorie fußen, an »Anschaulichkeit und Plastizität«, doch läge zugleich ein Gewinn an »Trennschärfe und Präzision« vor. Zudem sei der Geltungsanspruch dieser Narrative von sich aus begründbar, während Narrative ohne theoretische Basis auf externe Beglaubigungen angewiesen blieben.32

Für Johann Gustav Droysen war die Erzählung nur ein geschichtswissenschaftlicher Darstellungsmodus unter anderen. Dieser sei angemessen, wenn erstens das Geschehen »nach seinen wesentlichen Momenten« rekonstruiert worden sei und zweitens »als gewollte und bewußte Handlung«33 von identifizierbaren Akteuren gelten könne. Die Erzählung sei als Darstellungsform indessen verfehlt, »wo ein sozusagen stilles Geschehen die Dinge werden läßt, wo also die Wandlungen unmerklich vor sich gehen, die bedingenden und bestimmenden Einflüsse gleichsam latent wirken«. Resümierend fügt Droysen hinzu: »Ich wüßte nicht, wie man die Geschichte einer Rechtsinstitution (oder) z.E. der Dreifelderwirtschaft erzählen sollte; das richtige Gefühl wird dafür andere als die erzählende Form finden.«34 Demgegenüber würde Hayden White darauf beharren, dass Narrativität gerade kein Code der Darstellung unter anderen ist, sondern als menschliche Universalie eine Art Metacode, der nicht nur diejenigen Geschichtsdarstellungen durchdringt, die sich explizit als Erzählungen verstehen.35 Darin artikuliert sich das Problem der Skalierung von Narrativität, denn offensichtlich bezieht sich die Annahme einer narrativen Metacodierung auf eine andere Ebene als die eines narrativen Theoriegebrauchs im Sinne Rüsens. White zufolge sind Fakten nicht die Grundlage dafür, dass den in ihnen repräsentierten Ereignissen Bedeutungen zugeschrieben werden können, sondern vielmehr eine Funktion der Bedeutungen, welche die Ereignisse in einem narrativen Plot erhalten, wie er dies in seiner umfangreichen Studie zur Historiografie des 19. Jahrhunderts untersucht hat.36 An dieser Studie erweist sich allerdings auch, wie wenig ergiebig tropologische Analysen historiografischer Werke für sich genommen sind, denn häufig erwecken sie den Eindruck von Nachrationalisierungen anderweitig, vor allem auf dem Wege ideengeschichtlicher Rekonstruktionen gewonnener Erkenntnisse.37

Wie eng oder weit gefasst man auch immer die Geltungsreichweite von Narrativen einschätzen mag, besteht doch kein Zweifel daran, dass eine die Einzelbefunde sinnhaft verknüpfende Funktion von Narrativen nicht nur literarischen oder populärwissenschaftlichen Genres vorbehalten ist. Nach Droysen stellen Narrative eine Methode wissenschaftlicher Ergebnispräsentation dar. Wie der Ur- und Frühgeschichtler Ulrich Veit am Beispiel von Gewaltnarrativen festhält, besitzt die Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse wie auch ihre museale Inszenierung stets »erzählerische Qualitäten«.38 Allerdings beruht die Geschichtsschreibung auf Evidenzen, die methodisch kontrolliert ermittelt werden müssen. Es handelt sich bei historischen Narrativen um »referentielle Erzählungen«, die einen überprüfbaren Wirklichkeitsbezug besitzen. Das unterscheidet sie von fiktiven Erzählungen, die einen solchen Wirklichkeitsbezug gerade durchkreuzen.39

Wie oben bereits mit William Sewell festgestellt wurde, verschwinden konzeptionelle Fragen zu zeitlichen Dynamiken und zur Natur kausaler Verbindungen zwischen Ereignissen häufig im Dickicht narrativer Details. Das Großnarrativ von Steven Pinker, das in der Geschichte der Menschheit einen fortschreitenden Rückgang gewalttätiger Neigungen entdeckt, ist ein Exempel für eine Darstellung, deren Schlussfolgerungen in einer Überfülle heterogener Details und fragwürdiger Quantifizierungen unüberprüfbar werden.40 Die allseits bekannte, am Beispiel Frankreichs entwickelte Zivilisationstheorie von Norbert Elias beschreibt ebenfalls in historisch langfristiger Perspektive einen Prozess der Pazifizierung des sozialen Lebens. Für den Rückgang der innergesellschaftlichen Gewaltanwendung seit der frühen Neuzeit macht Elias vor allem zwei parallele Entwicklungen verantwortlich: institutionell die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols und psychohistorisch die Verinnerlichung von Fremdzwängen, die zur Selbstkontrolle aggressiver Impulse geführt habe.41 Freilich ist auch dieses Entwicklungsnarrativ nicht unwidersprochen geblieben, aber Elias ist zugute zu halten, dass er im Unterschied zu Pinkler angibt, durch welchen Typ von Gegenevidenzen seine Theorie widerlegt werden kann.

Eine ganz andere, hier nur kurz angerissene Frage ist, wie Narrative der Praxis in wissenschaftliche Narrative überführt werden und welche Übersetzungsleitungen dabei erbracht werden müssen. Anders formuliert: Wie können Narrative erster Ordnung in Narrative zweiter Ordnung integriert werden? In der Ethnografie gilt bereits die Dokumentation von Beobachtungen und der Bericht von Erzählungen der beforschten Personen als eine mitunter prekäre Angelegenheit. Darauf verweist etwa der Begriff der »Gedächtnisethnografie«.42 Tanja Hupfeld beschreibt das Problem folgenderweise: »Die Wahrnehmung einer fremden Realität und deren spätere mündliche oder schriftliche Darstellung unterscheiden sich grundsätzlich voneinander, da die Darstellung der Fremdkultur allenfalls als ›Repräsentation‹ der fremdartigen Realität anzusehen ist.«43 Zu den vielfältigen Schwierigkeiten des Zugangs zu fremden Kulturen und ihrer angemessenen Repräsentation kommt noch das Problem, dass deren Realitäten manchmal schlicht nicht direkt erfassbar sind. Ein Buchtitel von Ralf Ingo Reimann, Der Schamane sieht eine Hexe – der Ethnologe sieht nichts, bezeugt dieses Dilemma auf eindrucksvolle Weise.44

Performative Effekte von Narrativen

Narrative haben Effekte: Wie performative Sprechakte45 bewirken sie etwas, dadurch dass oder indem sie erzählt werden. Dies kann deswegen kaum anders sein, weil Narrative für die Selbstverständigung und -verortung von Gruppen und Kollektiven von eminenter Bedeutung sind. Daher eignen sie sich in besonderer Weise für die politische Indienstnahme. Diese Aussage, die für sozial verankerte und wissenschaftliche Narrative gleichermaßen gilt, ist zunächst eine deskriptive Feststellung, keine normative Wertung und schon gar nicht ein per se in kritischer Absicht gemeintes Aperçu. Die Bewertung von Narrativen dürfte wohl weitgehend von ihrem spezifischen Gehalt und den politisch-ideologischen Zwecken abhängen, für die sie eingesetzt werden. Die Geschichte menschlicher Gesellschaften ist voll von Gründungsmythen und »vorgestellten Gemeinschaften«,46 aus denen nationale Selbstverständnisse, Nationalstaaten, Grenzen und Institutionen hervorgegangen sind. Die performativen Effekte von Narrativen liegen also keineswegs nur im geistig-ideologischen Bereich. Das ließe sich etwa an der oben genannten Dolchstoßlegende beispielhaft demonstrieren.

Eines der wohl bekanntesten Narrative, mit denen sich die historische und ethnologische Forschung befasst und an denen sie auch mitgeschrieben hat, kreist um das Motiv des bon savage, des »edlen Wilden«. Dieser schon auf antike Idealisierungen zurückzuführende Topos etablierte sich in europäischen Reiseberichten erst im Laufe des 16. Jahrhunderts. Hupfeld verweist darauf, dass sich dort bereits früh eine Differenzierung zwischen dem »guten« und dem »edlen« Wilden beobachten lässt.47 Nachdem schon Kolumbus, wie Hupfeld vorführt, ein prinzipiell positives Bild des naturverbundenen und friedlichen Einheimischen gezeichnet hatte, führten Autoren des späten 16. und des 17. Jahrhunderts, vor allen Michel de Montaigne und Jean-Baptiste Du Tertre, das Motiv des gütigen, unschuldigen und doch zugleich tapferen und treuen »Wilden« fort.48

Am Beispiel von Claude Lévi-Strauss lässt sich zeigen, dass das bei ihm ohnehin vielfach gebrochene Narrativ vom edlen Wilden kein Selbstzweck ist. Lévi-Strauss, der etwa den im brasilianischen Mato Grosso lebenden Bororo ein mit »Gute Wilde« überschriebenes Kapitel gewidmet hat,49 geht es ganz zentral darum, einen Blick aus der Fremde auf die eigene Gesellschaft zu werfen. Die Gewinnung einer Distanz zum Eigenen und die Konfrontation mit anderen Lösungswegen für die Aufgabe, »eine Gesellschaft zu schaffen, in der es sich leben läßt«, ist der performative Zweck seiner Feldforschung: »Wenn es uns aber gelingt, diese fremden Gesellschaften besser kennenzulernen, verschaffen wir uns eine Möglichkeit, uns von der unsrigen zu lösen, nicht weil sie absolut schlecht oder als einzige schlecht wäre, sondern weil sie die einzige ist, von der wir uns emanzipieren müssen.« Indem Lévi-Strauss hinzufügt, wir könnten »einzig die Gesellschaft, der wir angehören, verändern, ohne Gefahr zu laufen, sie zu zerstören«,50 verweist er auf eine weitere Performanz der ethnologischen Beschäftigung mit radikal anderen, aber mit der unsrigen vergleichbaren gesellschaftlichen Lebensformen: Das minutiöse Erzählen von diesen auf ganz eigenen Denkmustern und Naturverhältnissen basierenden Lebensformen soll deren intrinsischen Wert aufscheinen lassen und ihre Erhaltungswürdigkeit auch für westliche Gesellschaften zu erkennen geben. Die deskriptive Analyse wird zugleich zur performativen Anrufung.

Während Lévi-Strauss strengstens darauf achtete, die normative Grundierung der ethnologischen Arbeit von der Beschreibung seiner Gegenstände zu trennen,51 gibt es auch Narrative, deren performative Zielrichtung bereits das erzählte Material – sei es auch für noch so gute Absichten – verzerrt. Dies lässt sich beispielhaft an der politischen Vereinnahmung archäologischer Narrative für das europäische Projekt veranschaulichen. Das Bemühen um die Konstruktion gemeinsamer europäischer Traditionen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs lässt sich bereits an den Titeln archäologischer Großausstellungen ablesen.52 Allgemein wird das Fehlen eines starken, integrierenden Europanarrativs beklagt; »weder die juridisch-administrative noch die Marktintegration« sind, wie Albrecht Koschorke konstatiert, »besonders geeignete Erzählstoffe«,53 während nationalstaatliche Narrative effektvoll auf kriegerische Ereignisse und Abgrenzung rekurrieren können. Erstaunlich unbefangen werden dem gegenüber historisch und archäologisch bezeugte Völkerschaften und Kulturen aus unterschiedlichen Epochen und Regionen als Zeugen für ein europäisches Selbstverständnis in Anspruch genommen, das man schlagwortartig als »Zusammengehörigkeit trotz Diversität« zusammenfassen könnte.

Für den Versuch, Europa »mit einer kultur-, ethno- oder politikgeschichtlichen Einheitsphantasie aufzuladen«,54 wurde immer wieder die Bronzezeit in Anspruch genommen. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Mitte der 1990er Jahre vom Europarat initiierte Kampagne The Bronze Age: The First Golden Age of Europe. Das führende Metanarrativ über die Bronzezeit ist eines des Fortschritts und der Zusammengehörigkeit, das mehrere Topoi miteinander verbindet.55 Erstens den Topos einer paneuropäischen bronzezeitlichen Ökumene, eines Systems ökonomischer, politischer und kultureller Verflechtungen. Eine solche Betrachtungsweise erlaubt es, Differenzen zwischen der ägäischen und vorderasiatischen Bronzezeit auf der einen Seite und der mittel- und nordeuropäischen Bronzezeit auf der anderen als bloß graduelle zu verstehen. Vorschnell sieht man sich in diesem ökumenischen Narrativ dazu berechtigt, Formen der Sozial- und Herrschaftsorganisation, wie sie für die östlichen Hochkulturen dokumentiert sind, auch in abgeschwächter Form für Mittel- und Nordeuropa anzunehmen.56 Der zweite Topos ist der eines Verständnisses der Bronzezeit als einer für den weiteren Verlauf der Vorgeschichte und darüber hinaus formativen Epoche, deren Errungenschaften erst in späteren Zeiten zur Vollendung kamen. Das begünstigt die Neigung, bronzezeitliche Phänomene retrospektiv erklären zu wollen. Die Annahme eines ausgeprägt kriegerischen Gepräges der Bronzezeit, ablesbar unter anderem am Waffenzuwachs im archäologischen Fundgut, bildet den dritten Topos. Diesen drei Topoi ist ein Narrativ über die Bronzezeit gemäß, das linear und über sich hinausweisend, also eine Fortschrittserzählung ist. Im Rahmen eines solchen Narrativs, das eine fortschreitende Integration differenter Regionen umfasst, lässt sich die europäische Bronzezeit als eine Art prähistorische Europäische Union präsentieren.57 In diesem Sinne heißt es im Vorwort des Generalsekretärs des Europarates zum Katalog der Ausstellung Götter und Helden der Bronzezeit. Europa im Zeitalter des Odysseus: »Denn es war zu jener Zeit am Beginn der europäischen Geschichte, noch bevor die Menschen in unserem Teil der Welt begannen, ihre Mythen und Legenden, ihre Geschichten und Reiseberichte niederzuschreiben, daß Europa zum ersten Mal als Einheit erkennbar wurde.«58 Was den gewalttätig-kriegerischen Charakter der Bronzezeit angeht, bedarf es allerdings des Kunstgriffes, ihn zum Heldischen zu läutern und zum Agens des Fortschritts umzudeuten.

Während die beschriebene Vereinnahmung der Bronzezeit immer noch im Kontext des Versuchs steht, einer europäischen Friedensordnung eine genealogische Tiefenstruktur zu verleihen, sind andere Narrative nicht nur historisch zweifelhaft, sondern auch in ihren performativen Effekten fragwürdig, zumal sie leicht für die Legitimation einer kriegerischen Politik in Anspruch genommen werden können. Ein Beispiel dafür ist das Narrativ eines »Clash of Civilizations« von Samuel Huntington, der eine neue Phase der Weltpolitik proklamiert hat, in welcher die Grenzen zwischen den globalen Kulturkreisen im Modus »the West against the rest« die entscheidenden Konfliktlinien der Zukunft prägen.59 Noch allgemeinere, aus der jüngeren Geschichte oder gleich aus der Menschheitsgeschichte herausdestillierte Narrative beschreiben den Krieg als den Vater wenn nicht aller, so doch vieler guter Dinge. Einmal gilt der Krieg als der große »Lehrmeister« westlicher Gesellschaften, die sonst zur Trägheit neigten und vergäßen, sich auf ihre vorgebliche kulturelle Überlegenheit zu besinnen.60 Ein andermal wird der Krieg zum »Gleichmacher« ersten Ranges stilisiert, der viel stärkere Egalisierungseffekte erzeuge als friedliche, auf Kooperation und Sozialpolitik setzende Ausgleichsmechanismen.61 Um das performative Potential solcher Narrative zu ermessen, braucht man sich nur eine Politik vorzustellen, die auf dieser Grundlage agiert.

Gewiss sind Narrative korrekturbedürftig, die dazu verleiten, den »Traum von der gewaltfreien Moderne«62 mit der Realgeschichte moderner Gesellschaften zu verwechseln. Allzu leicht kann eine solche Metaerzählung ein kriegsvergessenes Bewusstsein, eine pazifistische Selbsttäuschung sowie ein Überlegenheitsgefühl gegenüber nicht-westlichen Gesellschaften und früheren Epochen nähren. Zu analysieren sind hier die Erinnerungslücken sowie die Ursachen und Folgen einer Verdrängung moderner Gewaltpotentiale. Es ist zweifellos richtig, dass Gewalt und Krieg immer noch merkwürdig wenig in den Kernbereich der allgemeinen Sozialtheorie vorgedrungen sind. In der spezialisierten Gewaltforschung zeichnen sich seit einiger Zeit aber auch Tendenzen ab, Gewalt als das universelle Zentralproblem jeder Vergesellschaftung oder als das unvergängliche Signum unserer Spezies darzustellen.63 Schwarze Anthropologien, die uns den Spiegel unserer Bestialität vorhalten und von der Brüchigkeit unserer dünnen Zivilisationsschicht überzeugen wollen, können zur self-fulfilling prophecy64 werden. Abgesehen von ihrer sachlichen Fragwürdigkeit ist daher vor der Performativität von Überall-Krieg-Geschichten, Hinter-allem-lauert-Gewalt-Szenarien und Wir-sind-alle-unheilbare-Täter-Nachrichten zu warnen.

Abschließende Bemerkungen

In einigen Disziplinen wurden in den vergangenen Jahrzenten unterdessen die Bemühungen verstärkt, sich nicht mehr so stark von weitreichenden Metanarrativen lenken zu lassen, sondern den Blick auf die Befunde und das darin sich zeigende Gewalthandeln zu lenken. In der Archäologie führte dies zu einer Abkehr von dem lange vorherrschenden Narrativ einer pacified past,65 in der Soziologie zu einer Reihe von Studien, die nicht mehr nur strukturelle Gewaltursachen, sondern auch das Gewalthandeln selbst und dessen interne Dynamiken untersucht haben.66

Was nun den methodischen Zugang zu Phänomenen der Gewalt angeht, könnte sich der Eindruck aufdrängen, dass eine fundamentale Differenz besteht zwischen der Quellensituation der Archäologie auf der einen Seite und der von Ethnologie und Soziologie auf der anderen. Sind die Quellen der Archäologie im Normalfall auf sporadische materielle Reste beschränkt, die den Kontingenzen der Erhaltung und Überlieferung unterliegen, so verfügen Ethnologie und Soziologie gerade in jüngerer Zeit vermehrt über technische Aufzeichnungen von Gewalthandlungen. Diese sollen ermöglichen, was insbesondere in der deutschsprachigen Soziologie der 1990er Jahre programmatisch gefordert wurde: eine »dichte Beschreibung«67 gewalttätigen Handelns. Vor allem filmische Protokollierungen von Gewalttaten versprachen eine mimetische Annäherung an Situationen der Gewalt.68

Tatsächlich aber ist verblüffend, wie wenig sich den Rezipienten eines solchen Protokolls bei aller Reichhaltigkeit des Dokumentierten über die Gewalthandlung selbst erschließt. Fraglich bleibt: Was ist tatsächlich das gewaltauslösende Moment, wie kontrolliert oder unkontrolliert vollzieht sich der Gewaltakt, was daran ist durch geltende Normen im Sinne generalisierter Verhaltenserwartungen gedeckt und was verstößt gegen sie? Gleiches gilt für ethnografische Filme über Kämpfe und Kriege in Stammesgesellschaften. Auch wenn sie ungeschnitten den Verlauf der realen Ereignisse mit großem Detailreichtum zeigen, bleibt aus der beobachtenden Kameraperspektive, die stets nur einen Ausschnitt des Geschehens repräsentiert, vieles unsichtbar. So ist zum Beispiel nicht zu entscheiden, ob die hektisch wirkenden Positionsverlagerungen der Kombattanten in dem Film Dead Birds (1963) über die Kriegführung der Dugum Dani (Neuguinea) Ausdruck eines geregelten taktischen Vorgehens sind oder ob sie angstinduzierte Übersprungshandlungen darstellen. Die Rekonstruktion eines Musters von alternierend angstvollem und aggressivem Verhalten, wie Randall Collins es aus diesen Filmen herausliest,69 bedarf jedenfalls weitreichender Vorannahmen über die Handlungsabsichten und innerpsychischen Zustände der Akteure. Derartige Dokumentationen von Gewalthandlungen zeigen, wie sehr die aufgezeichneten Ereignisse ganz analog zu archäologischen Befunden einer kohärenzstiftenden und erklärenden Narrativierung bedürfen. Sie machen aber auch deutlich, dass eine ethnologische und soziologische Gewaltforschung, die glaubt, auf die Konsultation von narrativ organisierten Deutungen der an Gewalthandlungen Beteiligten verzichten zu können, sich selbst wesentliche Quellen zu einem Verständnis gewaltsamer Ereignisse vorenthält.

Nicht an der Frage, ob Narrativität für die Gewaltforschung eine zentrale Rolle zukommt, sondern in welcher Weise sie auf Erzählungen rekurriert und selbst zur Narrativierung der menschlichen Gewaltgeschichte beiträgt, muss sich die einschlägige Forschung demnach orientieren. Die Hauptbeiträge dieses Bandes geben Antworten auf diese zentrale zweite Frage und werden jeweils wiederum von Autorinnen und Autoren aus anderen Disziplinen kritisch kommentiert.

Jenseits des situationistischen Paradigmas der Gewaltforschung

Wolfgang Knöbl

I. Einleitung

Am 3. März 1916 hielt Georg Simmel in der Berliner Abteilung der Kantgesellschaft einen Vortrag mit dem Titel Das Problem der historischen Zeit. Der Text hat mit Gewaltforschung auf den ersten Blick wenig zu tun und wurde von dieser auch kaum je rezipiert. Dennoch finden sich darin – zufälligerweise sogar unter tatsächlicher Bezugnahme auf Gewaltbeispiele – Argumente, die für die Frage der Analyse, insbesondere aber auch für die Frage der Darstellbarkeit von Gewalt zentral sind. Anders formuliert: Wenn man über Narrative der Gewalt nachdenkt, wird man sich an einem bestimmten Punkt auch mit der Position von Simmel auseinandersetzen müssen.

Simmels Hauptstoßrichtung ist – wie ja der Aufsatztitel schon besagt – eine sehr allgemeine, es geht um die Darstellbarkeit und Theoretisierbarkeit von historischer Zeit, also von Geschichte. Er kommt dabei sehr schnell auf folgende, für jede Philosophie der Zeit zentrale Frage zu sprechen: Wie ist eigentlich das Verhältnis von Kontinuität und Ereignis zu denken? Simmels zunächst wenig überraschende Antwort ist, dass Kontinuitäten allein durch den rückblickenden Betrachter (also den Historiker oder die Soziologin) hergestellt werden können, weil sich aus nachvollziehbaren Überlegungen aus Ereignissen allein noch keine Ganz- und Gesamtheiten, also Kontinuitäten, ergeben. Simmel macht dies am Beispiel des Siebenjährigen Krieges deutlich, der von 1756 bis 1763 dauerte. Historikerinnen konstruieren ihn als Kontinuum, wohl wissend, dass die zusammengefassten sieben Jahre eigentlich kein Kontinuum waren, sondern eine unregelmäßige Abfolge von Schlachten, Ruheperioden, Märschen, Verhandlungen etc. Dies klingt zunächst – wie gesagt – unspektakulär, hat aber doch, wie Simmel herausarbeitet, eine paradoxe Konsequenz. Den Lesern und Leserinnen von Abhandlungen über den Siebenjährigen Krieg, die an einem einzelnen Ereignis, etwa der Erlebnisdimension der Akteure, ihrer Wahrnehmung und Erfahrung von Gewalt, interessiert sind, hilft die verallgemeinernde und großflächige Beschreibung dieses Krieges nicht: Das Kontinuum (»Siebenjähriger Krieg«) ist für sie unerheblich. Was sie vielmehr wollen, ist gewissermaßen ein Heranzoomen an Einzelereignisse in diesem langen Krieg, beispielsweise an die Schlacht bei Kunersdorf von 1759, welche die Preußen gegen die Österreicher und Russen verloren. Aber auch die Schlacht an sich ist schon ein Kontinuum, bestehend aus unendlich vielen Teilhandlungen, so dass man aus Interesse am genauen Blick ein weiteres Heranzoomen fordern kann; etwa auf das konkrete Handgemenge zwischen einem preußischen und einem österreichischen Grenadier in einer bestimmten Stunde oder gar Minute an diesem 12. August 1759. Genau dann, bei einem solchen Handgemenge, sind wir bei einem bestimmten Ereignis und einer individuellen Erfahrung und Gewalthandlung angelangt. Aber eben nur scheinbar, wie Simmel zu Protokoll gibt:

»Gelangen wir nun aber abwärts zu einem einzelnen Handgemenge zwischen einem preußischen und österreichischen Grenadier bei Kunersdorf, so ist dies kein historisches Gebilde mehr, weil es genau ebenso bei Leuthen oder bei Liegnitz hätte stattfinden können. Und kennte man jede körperliche und seelische Bewegungsnuance, die unter den Russen, Österreichern und Preußen am 12. August 1759 vorging, sodaß von den Begriffen, die die Reihenfolge der Tatsachen bezeichnen, keiner mehr einen meßbaren Zeitraum des Geschehens zusammenfaßte – so wäre damit die Absicht der Historik dennoch nicht erreicht.«70

Simmel weiter: »Es scheint ein allgemeines Prinzip zu bestehen, daß das Zerfallen einer Erscheinung in Elemente, als deren Summe sie dann wieder begriffen werden soll, bei einer bestimmten Stufe der Zerkleinerung die Individualität der Erscheinung aufhebt.«71 Das Bemühen um die Exaktheit der Erfassung der Realität, dasjenige um die Herausarbeitung wahrhaft individueller Einzelereignisse führe im Prozess des immer weiteren Heranzoomens an die Realität und an die Einzelereignisse paradoxerweise gerade zum Verlust dieser Realität und dieser Ereignisse. Simmel zufolge muss »das historische Element […] so groß bleiben, daß sein Inhalt Individualität behält und durch sie die Hinweisung auf ein völlig bestimmtes Früher oder Später allen andern gegenüber.«72

Er schließt daraus, dass das zentrale Problem der Historik die Antwort auf die Frage ist, wie aus Geschehen (und Ereignissen) inhalts- und kontextgesättigte Geschichtsschreibung wird. Das ist selbstverständlich ein Problem, dem sich alle Sozial- und Geisteswissenschaften zu stellen haben, gleichgültig welchen Gegenstand diese ins Zentrum ihrer Analyse rücken. Gerade wegen seiner Allgemeinheit ist dieses Problem nur sehr schwer zu fassen oder gar zu lösen. Für die Zwecke der Gewaltforschung lässt es sich freilich recht einfach in folgende Frage umformulieren: Wie wird aus der Betrachtung von sehr spezifischen Gewaltsituationen und -ereignissen eine Soziologie oder Anthropologie bzw. eine Geschichte der Gewalt? Diese Frage ist natürlich deshalb so aktuell, weil in den letzten Jahrzehnten insbesondere situationistische Deutungen der Gewalt mit einer mikroskopischen Perspektive immer mehr an Boden gewonnen haben, sich also ein erheblicher Teil der Forschung zunehmend auf die mikrosituationelle Analyse von Gewaltereignissen konzentriert hat. Dieser Forschungsrichtung will ich mich im nächsten Abschnitt kurz widmen (II.) und mich dann mit ihren Problemen (III.) auseinandersetzen. Schließlich werde ich zu epochen- und kulturspezifischen Gewaltdeutungen übergehen (IV.), die nicht selten Lösungen für Schwierigkeiten versprechen, die in situationistischen Ansätzen der Gewaltforschung kaum zu vermeiden sind. Danach wird ein eigener Lösungsvorschlag unterbreitet (V.).

Zuvor scheint aber noch eine relativierende Bemerkung angebracht. Simmels hier referiertes Argument basiert auf der (neu-)kantianischen Vorstellung, dass es allein die Betrachter und Betrachterinnen sind, die die historische Wirklichkeit ordnen und mithin eben jene Kontinuitäten und auch Ereignisse erst herstellen. Diese Position muss man nicht unbedingt teilen,73 weil man ja vermuten könnte, dass auch die historischen Akteure selbst Vorstellungen von der Dauer und der Prozesshaftigkeit des Geschehens haben bzw. entwickeln, und beispielsweise Prozesse allein deshalb herstellen, weil sie sich, als Beteiligte, der Verkettung von Handlungen immer schon bewusst sind: Die Grenadiere bei Kunersdorf etwa dürften selbst auch Ideen davon gehabt haben, wann die Schlacht begonnen hat und wann sie zu Ende ging. Auch die beteiligten Feldherren und Befehlshaber dürften aller Wahrscheinlichkeit nach über den Beginn des Krieges reflektiert und sein mögliches Ende antizipiert haben, selbst wenn deren Kontinuitätskonstruktionen von nachgeborenen Historikerinnen und Historikern möglicherweise in Frage gestellt werden. Kurz, Simmels Überlegungen, an die im Folgenden angeknüpft werden soll, schatten gerade Überlegungen über eine Ontologie des Sozialen im Allgemeinen und über die Ontologie des Gewaltgeschehens im Besonderen ab. Ungeachtet dessen sind sie aber wichtig, weil in diesem Text wie auch in den anderen Beiträgen dieses Bandes Narrative der Gewalt im Mittelpunkt stehen und somit die Frage nach der angemessenen Darstellung von Gewalt.

II. Die situationistische Interpretation von Gewalt in der Neuen Gewaltsoziologie

Ende der 1980er Jahre geriet die herkömmliche sozialwissenschaftliche Gewaltforschung, die in der Regel nach den sozialen, ideologischen oder ökonomischen Ursachen von Gewalt suchte, unter erheblichen Rechtfertigungsdruck. Wie Kritiker argumentierten, hätten ihre Ansätze Gewalt immer als eine Black Box behandelt, deswegen die situationellen und dynamischen Aspekte des Gewaltgeschehens ignoriert und somit das eigentlich Interessante am Gewaltthema verfehlt. Deutsche Autoren wie Heinrich Popitz, Birgitta Nedelmann, Trutz von Trotha und Jan Philipp Reemtsma,74 aber auch US-Amerikaner wie Jack Katz und Randall Collins75 waren sich in ihrem Ziel einig, den vorwiegend ätiologischen Fokus der Forschung hinter sich zu lassen, um sich auf das Phänomen als solches konzentrieren zu können. Die durch einen solchen Zugriff erzielten Ergebnisse waren natürlich vielfältig und können hier im Einzelnen nicht referiert werden. In theoretischer Hinsicht waren jedoch zwei Aspekte für den hier verfolgten Diskussionszusammenhang besonders relevant und sollen deshalb kurz angesprochen werden.76

1. Ein scharfer Fokus auf Gewalt zeigt, dass es oft sinnlos ist, die Gewaltanwendung unter der Prämisse zweckrationalen und zielorientierten Handelns zu fassen. Zwar ist es richtig, dass es Gewalthandlungen gibt, die in hochgradig rationalen Begriffen gut beschrieben werden können, insofern bei manchen Täterinnen und Tätern klar umrissene Ziele vorliegen. Dies ist dann der Fall, wenn es sich um kaltblütigen Mord oder um industrielles Töten handelt. Solche Fälle repräsentieren jedoch sicherlich nicht die Mehrheit gewalttätiger Handlungen, die zumeist einer völlig anderen Logik folgen als derjenigen, die etwa Autorinnen und Autoren im Umkreis des Rational Choice-Paradigmas unterstellen. Wie schon in den frühen 1990ern etwa von Jack Katz mit Blick auf Gang-Gewalt angeführt wurde, sind hier oft starke Emotionen zu beobachten und dies nicht zuletzt deshalb, weil gefährliche bzw. gewaltsame Situationen nicht selten von den Tätern aktiv gesucht werden. Gefahr und Gewalt bergen etwas in sich, das Katz mit der Formulierung »fascination with tempting fate«77 beschreibt. Ein Verbrechen oder eine potentielle Gewalttat werden begangen und gesucht, weil sie »powerful attractions of sneaky thrills« versprechen; Gewalttaten sind oft Teil eines »seductive play«,78 das für mögliche Gewalttäter deshalb attraktiv ist. Katz erinnerte die Soziologie daran, dass eine hochgradig rationale Herangehensweise an Gewalt in die Irre führt und nur die Vorurteile gutmeinender Sozialreformer widerspiegelt, die ernsthaft glauben, dass Gewalt immer eine irgendwie rationale und in diesem Sinne auch verstehbare Antwort auf schlechte oder problematische soziale Bedingungen sei. Katz zufolge sind aber Begriffe wie »thrill« oder »kick« oft sehr viel angemessener, um Gewaltsituationen zu beschreiben, als jene sattsam bekannten Verweise auf vermeintlich rationale Handlungsmotive. Das bedeutet, dass Gewalt als ein Phänomen verstanden werden muss, das sein Ziel in sich selbst tragen kann. Das ist der Grund, warum Autoren wie Reemtsma Typologien einführen,79 die beispielsweise sorgfältig zwischen »raptiver Gewalt«, die den Körper des Opfer benutzt, um dem Täter eine Befriedigung zu verschaffen (etwa sexueller Natur), und »autotelischer Gewalt« unterscheiden, die sich vor allem darauf beschränkt, den Körper des Opfers um der bloßen Zerstörung willen zu verletzen. In diesem Sinne hat autotelische Gewalt kein darüber hinausgehendes weiteres Motiv. Wenn dies so ist, dann sind theoretische Ansätze, die stets eine wie auch immer geartete Rationalität des Gewalthandelns unterstellen, von vornherein wenig hilfreich, um Form und Dynamik von Gewalt zu verstehen.

2. In seinem höchst einflussreichen Forschungsansatz, der sich teilweise auf Einsichten von Katz, aber auch auf Erkenntnisse aus der Psychologie und der militärischen Forschung80 bezieht, hat Randall Collins81 überzeugend gezeigt, dass Gewaltanwendung in der Tat eine schwierige Angelegenheit ist. Gewalttätiges Handeln ist also nichts, auf das man wie selbstverständlich zurückgreifen kann, weil die meisten Menschen erhebliche Scheu davor haben. In fast allen Kulturen meiden Menschen Gewaltsituationen; sie halten sich in der Regel von ihnen fern, und wenn Gewalt tatsächlich auftritt, geschieht dies meist nur momentartig, so dass diese ebenso schnell endet wie sie begonnen hat. Wenn dem so ist, dann hilft es nichts, ausführlich die spezifischen Motive der Täter oder ihren kulturellen Hintergrund analysieren zu wollen. Wie Collins argumentiert, tragen wir alle viele gewalttätige Motive und Fantasien in uns, setzen aber diese nur sehr selten um. Dies macht es notwendig, sich weniger auf Motive zu konzentrieren, als auf tatsächliche Interaktionen und situierte Mikroprozesse der Gewalt. Collins war in der Lage, dies anhand vieler Beispiele zu zeigen, etwa wenn er mit einem außerordentlich geschulten Blick für Details, Formen des Massakers im Sinne von Vorwärtspaniken deutete: Seiner Meinung nach sind derartige Gewaltexplosionen allenfalls als plötzlich eintretende Spannungsreduktionen zu werten, weil vor dem Töten ein irgendwie vorhandenes Gewaltmotiv gar nicht zu entdecken war.

»Bei der Vorwärtspanik sieht dieser [kausale Pfad] so aus: In einer spezifischen, örtlich begrenzten Situation gewinnen Gefühle rapide an Wucht. Die anfängliche Anspannung des Kampfes verwandelt sich in einer Atmosphäre hysterischer Verstrickung in den plötzlichen Rausch eines rasenden Overkills – als gerieten die Täter in einen veränderten Bewusstseinszustand, aus dem sie oft erst am Ende wiederauftauchen, als kehrten sie tatsächlich aus einem fremden Selbst zurück.«82

Collins zufolge erklären Motive und kulturelle Normen also selten wirklich die entstehende Gewalt; es sei vielmehr die situierte Interaktion, die den Auslöser darstellt, so dass jede teleologische Erklärung gewaltsamer Handlungen ins Leere laufen müsse. Die (wie auch immer zu bestimmenden) Gewaltmotive hätten durch das Nadelöhr der Gewaltsituation zu gehen; dies bedeute, dass es die Situation ist, welche zuerst analysiert werden muss.

Betrachtet man diese zwei für unseren Diskussionszusammenhang zentralen theoretischen Einsichten der situationistisch verfahrenden Gewaltforschung, lässt sich gut nachvollziehen, warum dieser Ansatz oft so begeistert rezipiert wurde. Weil er den in der Regel intentionalistischen Grundannahmen der sozialwissenschaftlichen Analyse sozialen Handelns widersprach, betraten die mit diesem neuen »Paradigma« arbeitenden Forscherinnen und Forscher gewissermaßen immer schon Neuland; es schien kein Zweifel daran zu bestehen, dass hiermit außerordentlich fruchtbare Forschungsdesigns entwickelt werden konnten. In der Tat brachte die situationistisch verfahrende Gewaltforschung bei der Analyse höchst unterschiedlicher Gewaltphänomene von Anfang an nicht wenige neue und alles andere als selbstverständliche Einsichten hervor. Allerdings tauchten gerade in jüngster Zeit vor allem zwei kritische Fragen auf: 1) Welche neuen Erkenntnisse sind nach nunmehr fast 30 Jahren situationistischer Gewaltforschung eigentlich noch durch weitere Detailstudien über Kriege, koloniale oder ethnische Gewalt, Pogrome, Straßenkämpfe etc. zu erhalten? Hintergrund einer solchen Frage ist natürlich der Verdacht, dass das ehemals so aufregende neue Paradigma mittlerweile kaum noch wirklich Neues produziert, so dass man – unter Berufung auf Imre Lakatos83 – vielleicht von einem sich allmählich erschöpfenden Forschungsprogramm sprechen könnte. 2) Die aber vielleicht noch wichtigere und mit der obigen Erkenntnis Simmels verknüpfte Frage muss jedoch lauten: Wird mit dem immer stärkeren Heranzoomen an die Gewaltsituation in der Hoffnung, die Gewalterfahrung sowohl des Opfers als auch des Täters in den Blick zu bekommen, nicht das Gewaltereignis selbst enthistorisiert und dekontextualisiert? So wie Simmel monierte, dass der Blick auf das kleinteilige Handgemenge letztlich dazu führe, die Unterschiede zwischen den Schlachten in Kunersdorf, Leuthen oder Liegnitz zu verwischen, so ebnet der immer detailreichere Blick auf das Gewaltereignis und die -situation deren Unterschiede allmählich ein. Die Balance – so hätte Simmel gesagt – geht verloren, weil ab einer bestimmten Nahperspektive jede Gewalttat unweigerlich ziemlich ähnlich aussieht und zum Beispiel ein Raubmord vom Mord in einem antisemitischen Pogrom nicht mehr zu unterscheiden ist. Ist das noch Gewaltforschung? Vermutlich irgendwie ja! Aber auch noch Gewaltgeschichte oder Gewaltsoziologie? Simmel hätte hier – vielleicht nicht ohne Grund – seine Zweifel gehabt. Anders formuliert: Die situationistische Gewaltforschung scheint sich hier auf eine Art Positivismusfalle zuzubewegen, die sich durch jene berühmte soziologische Frage aus den 1930er Jahren vielleicht am besten greifen lässt: »Knowledge for What?«84 Warum sollen wir eigentlich alle diese immer kleinteiliger werdenden Daten zu Gewalt sammeln und dann auch noch analysieren? Warum nach den Erinnerungen von Opfern, soweit man sie überhaupt noch findet, fahnden, wenn man dadurch keine echten, und das heißt, keine neuen Einsichten mehr zu gewinnen vermag?85 Wenn Gewaltforschung nicht von starken Erkenntnisinteressen geleitet wird (wie dies freilich bei Collins immerhin noch der Fall ist, aber nicht notwendig bei all seinen Anhängern), was soll dann die weitere Anhäufung von immer mehr Detailstudien?

Diese Fallen und Gefahren sind auch von einigen Autorinnen und Autoren natürlich schon bemerkt worden, die sich der neueren situationistischen Gewaltforschung zuordnen. Sie haben erkannt, dass ihr bisheriger Fokus auf Gewalt Makrofragen in den Hintergrund gedrängt und damit die größeren sozialen und politischen Kontexte ausgeblendet hat. Kriege und Massaker sehen aus der Mikroperspektive alle ziemlich gleich aus, was dann nicht selten zu problematischen Annahmen und Kurzschlüssen führt, nach dem Motto: Gewalt sei ohnehin eine anthropologische Konstante, die sich – wie die Forschung ja gezeigt habe – in allen kulturellen Kontexten ereigne. Aber kommt man aus diesem situationistischen Fahrwasser überhaupt je wieder heraus – und zwar auf eine Weise, welche die durchaus wichtigen Einsichten dieser Forschungsrichtung bewahrt?

III. Das Nicht-Situationistische an und in der Situation

Jede situationistische Gewaltdeutung hat ein zentrales Problem: Was ist eigentlich die Gewaltsituation? Randall Collins etwa scheint das Problem durch technische Vorgaben »gelöst« zu haben: Der Beginn der Videoaufnahme – und hier ist zu vermerken, dass Collins in seinem Buch Dynamik der Gewalt sehr intensiv mit Bildmaterial gearbeitet hat – definiert den Anfang der Situation und das Ende der Aufnahme auch dasjenige der Situation. Wenn man am Bildschirm keine Konfrontation mehr sieht, ist die Gewaltsituation eben vorbei. Aber dies ist natürlich problematisch, weil die Definition einer Situation – und damit ihr Anfang und ihr Ende – von den Akteuren bestimmt wird, die diese Definition vornehmen. Aber wie kommt man an diese Definitionen heran? Ein problematisierendes Beispiel sei hier genannt: Selbst zu definieren, was eine hochritualisierte Situation wie beispielsweise eine Beerdigung ist, dürfte extrem schwierig sein. Beginnt eine Beerdigungssituation mit dem Trauergottesdienst und endet sie mit dem Herabsenken des Sarges in die Gruft, den Tränen der Freunde und Verwandten und dem Gang weg vom Grab? Vielleicht! Aber in Süddeutschland gehören zum Begräbnis auch der anschließende Besuch im Wirtshaus, das Bier und das Lachen der Begräbnisgesellschaft dazu. Hier wäre theoretisch also erst einmal zu erörtern, warum der vermutete Anfang des Begräbnisses der Anfang ist und ob das vermutete Ende des Begräbnisses dieses auch wirklich beschließt. Ähnliches gilt auch für jede Gewaltsituation, die theoretisch zu definieren ist. Aber dieses theoretische Definieren der Situation lässt sich ohne Hinzuziehung von Kontext(faktoren) gar nicht durchführen, weshalb solche Phänomene wie Kultur, Motive, Geschichte etc. doch nicht ganz ausgeblendet werden können.

Reflektiert vorgehenden situationistischen Gewaltforschern und -forscherinnen ist dies durchaus bewusst. Der schon erwähnte Jack Katz verweist immer wieder darauf, dass Interaktionssituationen in einem bestimmten kulturellen Setting stattfinden. Die Attraktivität von Gewalt, das Verführerische von Gewalt, ist mit bestimmten kulturellen Bildern verwoben und mit symbolischen Rahmungen von Herrschaft und Macht. Katz beschrieb, wiederum mit Blick auf US-amerikanische Straßengangs, deren »mass appeal of the fascistic spirit«.86 Das Gefühl, eine Straße oder Nachbarschaft allein durch physische Stärke und Brutalität bzw. durch die Überlegenheit von Waffen etc. dominieren zu können, kann enorm attraktiv sein, wobei die damit verbundenen Emotionen durch bestimmte kulturelle Bilder und Narrative gerahmt sind. Man kann hier an die Nähe von Gewalt zu Souveränität (im politischen Sinne) denken, an unrestringierte Freiheit und die Vorstellung gottgleicher Überlegenheit über andere. Dies legt einerseits den Zusammenhang zwischen Emotionen und Gewalt nahe, andererseits weist es aber auch auf die kulturelle und historische Prägung dieser Emotionen und der damit verbundenen Gewalt hin87 – also auf Kontextfaktoren jenseits der unmittelbaren Situation.

Was bezogen auf das kriminelle Milieu in US-amerikanischen Großstädten schon vermerkt wurde, gilt auch in Bezug auf das Massentöten im Krieg. Selbst wenn bei entsprechenden Analysen die Argumente situationistischer Gewaltforschung mit einbezogen werden, so geschieht dies in der Regel nicht ohne Abstriche. Sönke Neitzel und Harald Welzer etwa weisen in ihrem Buch Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben intentionalistische Gewalterklärungen zwar zurück und kritisieren wiederholt Erklärungen, die die Bereitschaft der deutschen Wehrmachtssoldaten im Zweiten Weltkrieg auf deren vermeintliche ideologische Prägungen zurückführen.88 Die Autoren gehen aber doch nicht so weit, nur und ausschließlich die Situation heranzuziehen. Sie sprechen vielmehr von der »gruppenspezifische[n] Gewaltpraxis«,89 welche die Taten der Soldaten erklärt, was dann jedoch wiederum darauf verweist, dass die Situation in ihrer Isoliertheit für eine angemessene Gewaltanalyse allein nicht ausreichen dürfte.

Wenn man diese in unterschiedlichen Feldern der Gewaltforschung geführten Debatten Revue passieren lässt, wird man nicht umhinkommen, ganz generell nach der Problematik situationistischer Analysemuster zu fragen. Abram de Swaan hat jüngst argumentiert, dass situationistische Ansätze der Gewaltforschung in merkwürdiger Weise die Verantwortlichkeit der Akteure für ihre Taten negieren würden, weil an die Stelle eines Determinismus der Makroparameter wie beispielsweise Armut, Ungleichheit etc. nun der Determinismus der Situation getreten sei.90 Wenn man dieses Argument ernst nimmt, drängt sich die Frage auf, wie eine (doch lange Zeit höchst erfolgreich betriebene) situationistische Gewaltforschung wieder in Forschungstraditionen einzubetten ist, die situationsübergreifende Konstellationen sehr viel stärker betonen.

IV. Von der Situation zur Kultur, von der Situation zur historischen Epoche?

Nun sollte es auf den ersten Blick nicht so schwierig sein, von der situationistischen Deutung wegzukommen oder sie zumindest zu relativieren – und zwar unter Rekurs auf Konzepte, die gewissermaßen schon per definitionem die Situation übergreifen und somit auf umfassendere Zusammenhänge verweisen. Hier scheint natürlich sofort die Verwendung des Kulturbegriffs nahezuliegen, was bei all den Autorinnen und Autoren tatsächlich auch der Fall ist, die etwa – in welcher Form auch immer – die Existenz einer sogenannten Gewaltkultur unterstellen, welche in Relativierung ausschließlich situationistischer Deutungen spezifische Gewaltvorkommnisse und ihre Häufigkeit erklären soll. Dabei ist freilich zu beachten, dass der Verweis auf bestimmte kulturelle Aspekte in der Gewaltsituation, wie dies oben anhand des Straßengang-Beispiels von Jack Katz kurz referiert wurde, etwas anderes ist, als die sehr allgemeine Rede von »Kulturen der Gewalt«. Das gilt es zu bedenken, bevor man sich der trügerischen Hoffnung hingibt, Gewalt etwa im Sinne einer kulturalistischen Makrodetermination erklären zu können. Um das Argument vorwegzunehmen: Wie sich zumeist sehr schnell zeigt, hilft der Verweis auf allzu abstrakte kulturelle Muster recht wenig, um die Gewaltverhältnisse in einer Gesellschaft auszuleuchten. Dies ist schlicht deshalb so, weil es – und hier kann man sich auf ein Argument des Simmel-Schülers Siegfried Kracauer beziehen – kaum je gelingen wird, Mikrosituationen auf Makrostrukturen bruchlos zu übertragen, was auch heißt, dass es wiederum aussichtslos ist, aus Makrokontexten Mikrosituationen deduzieren zu wollen. Wie Kracauer überzeugend gezeigt hat, geht bei der Übersetzung von der Mikro- auf die Makroebene stets etwas verloren, was dann die Gesellschaftsanalytikerin dazu zwingt, darüber zu reflektieren, ab wann das von ihr konstruierte Verhältnis von Mikroereignissen und Makrostrukturen problematisch zu werden beginnt; konkret: Ab wann ist der Rückgriff auf Makrostrukturen zur Erklärung von Mikroereignissen nicht mehr plausibel?91

Für unseren Zusammenhang folgt daraus fast unmittelbar, dass ein allzu umfassender und generalisierter Kulturbegriff kaum etwas zur Erklärung von Gewalt beitragen dürfte. Derartige Versuche sind in der Vergangenheit zumindest in der Soziologie auch nie besonders erfolgreich gewesen, war doch der Erklärungsgehalt des Konzepts einer so verstandenen »Kultur der Gewalt« eher bescheiden. Beispielhaft könnte man auf die in den 1960er und 1970er Jahren in den US-amerikanischen Sozialwissenschaften geführte Debatte um die sogenannte Gewaltkultur des Südens hinweisen, die deshalb aufkam, weil in den Südstaaten das Gewaltniveau (etwa gemessen an Mordraten) tatsächlich beträchtlich höher war als in den Staaten des Nordens. In dieser Debatte wurde argumentiert, dass der Süden historisch durch die lange und schreckliche Geschichte der Sklaverei belastet sei, weil – und hier wurde es dann etwas konkreter – die aristokratische Tradition der Sklavenbesitzer insbesondere auf Ehrvorstellungen beruhte und diese Ehre sehr viel gewaltsamer verteidigt wurde als in dem weniger aristokratischen Neu-England. Umgekehrt blieb den Sklaven zur Durchsetzung ihrer Interessen aufgrund ihrer Rechtlosigkeit oft gar kein anderer Ausweg als der Rückgriff auf Gewalt, was in der Folge die Kultur und Gesellschaft auch noch prägen sollte, als die Sklaverei im Süden längst abgeschafft war.92 So plausibel solche auf einem hohen Generalisierungsniveau argumentierenden explanatorischen Konstruktionen auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, so heftig und überzeugend wurden sie doch kritisiert. Wie gezeigt wurde, verschwindet nämlich der explanatorische Effekt jener vermeintlich so verbreiteten und durchdringenden südstaatlichen Gewaltkultur, sobald man die unterschiedlichen Armuts- und Ungleichheitsraten zwischen dem Norden und dem Süden der USA mit einberechnet. Es ist in der Tat so, dass Armut und Ungleichheit, also derartige strukturelle Faktoren, ein wesentlich stärkeres explanatorisches Gewicht zeitigen als etwa kulturelle Faktoren und somit die vermeintlichen kulturellen Besonderheiten der Südstaaten.93

Diese Anekdote aus der Geschichte der Sozialwissenschaften ist natürlich kein zwingendes Argument gegen jeglichen Versuch, Gewalt über kulturelle Faktoren erklären zu wollen. Es soll hier auch nicht behauptet werden, dass das Konzept einer »Kultur der Gewalt« per se sinnlos ist. Aber die Gefahr problematischer Argumentationsweisen ist doch nie allzu weit entfernt, nach dem Motto: Wenn man ein spezifisches Gewaltniveau in einer Gesellschaft nicht erklären kann, dann muss