Naterra - Das Buch von Terr - André Pfeifer - E-Book

Naterra - Das Buch von Terr E-Book

André Pfeifer

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Beschreibung

Enola und ihr Vater begegnen während einer Bergtour einer jungen Frau. Sie kennt ein Geheimnis des Buches von Terr. Aber sie weiß nicht alles. Denn das Buch von Terr ist ein Zauberbuch aus der Traumwelt Naterra und seine unvorstellbare Macht kann unsere Welt ins Verderben stürzen... Vor der faszinierenden Kulisse der Alpen entfaltet sich ein Bergabenteuer mit ungewissem Ausgang. Der Versuch, die Macht des Buches zu brechen, verursacht eine ganze Kette von Katastrophen und fordert folgenschwere Entscheidungen... Eine Stadt aus Licht. Ein Buch, um zu herrschen. Ein Drache, um das Buch zu schützen. Ein Mädchen, das dem Drachen gegenübertritt...

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Seitenzahl: 215

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Andre Pfeifer wurde 1968 in Weimar geboren und wohnt in Thüringen. Aber sein wahres Leben findet nicht daheim statt, denn auf zahlreichen Reisen von Alaska bis Australien entdeckte er seine Liebe zu Natur und Abenteuer, die nun in seine Romane einfließt.

Für meine Tochter Nicole,

die nun erwachsen ist,

mit den Worten von Jack London:

Hast Du einmal reine Erhabenheit erblickt

neben der nichts bestehen kann,

Bilderbuchkulissen in Hülle und Fülle,

große, den Himmel berührende Berge

im Glanz der untergehenden Sonne,

schwarze Schluchten,

in denen Stromschnellen tosen?

Hast Du einmal das Tal der Träume durchwandert,

durch das sich der grüne Strom zieht, die Weiten nach etwas verlorenem durchstreift?

Hast Du einmal Deine Seele ans Schweigen

geknüpft?

Dann geh um Himmels willen hin und tue es.

Höre auf die Herausforderung,

lerne die Lektion,

zahle den Preis.

Liebe Leser!

Ich bin seit jeher von den Bergen fasziniert, von der Einsamkeit dort oben und der Möglichkeit jederzeit ein Abenteuer zu erleben. Und so ist die Geschichte in diesem Buch eine Achterbahnfahrt durch die Bergwelt. Sie beginnt langsam, aber wichtig ist, dass sie immer schneller wird, bis zum großen Finale. Wer möchte, kann bei Lisanns Geheimnis auf Seite 33 einsteigen, denn auch ich habe mit dem Schreiben dort angefangen, da ich das Ende nicht erwarten konnte.

Die Geschichte spielt zu großen Teilen an Originalschauplätzen in den deutschen und französischen Alpen. Andere Teile spielen in einer Traumwelt, die ich Naterra nenne. Denn wo sind wir, wenn wir träumen?

In anderen Welten, von denen es unendlich viele gibt.

Naterra ist eine dieser Welten. Sie hat ihren eigenen Zeitfluss, manchmal schneller, manchmal langsamer als unsere Welt. Und Magie und geheimnisvolle Kräfte durchdringen zauberhafte Landschaften, die von Wesen bewohnt werden, von denen wir eben nur träumen können.

Andre Pfeifer

März 2022

Inhalt

Erster Teil: Deutsche Alpen

In die Berge

Alpenglühen

Über den Gletscher

Lisanns Geheimnis

Sturm

Die Lichter von Terr

DasBuch

Gewitter

Im Höllental

Zweiter Teil: Französische Alpen

Autos

Eistraum

Die Wasser der Arve

Seilbahnfahrt

Ewiges Eis

Naterra

Verschollen

Bildnachweis

Schlusswort

In die Berge

„Nein!“ Anja-Enola-Sarah erwacht mit einem Schrei.

Schnell atmend richtet sie sich auf. Schweißgebadet schaut sie sich um. Sie ist zu Hause. Da sind ihre Kuscheltiere, dort ist ihr Malzeug auf dem Schreibtisch, daneben liegt ihre Flöte. Ihr Blick schweift über die Bücher auf dem Regal zum Bild einer Wespe über ihrem Bett. Vor dem Fenster neigen sich Bäume im Wind. Regen peitscht gegen das Glas. Enola denkt an ihren Traum.

Ein Klopfen reißt sie aus ihren Gedanken. Sie blickt zur Tür. „Ja.“

Ihr Vater schaut herein. „Guten Morgen, Enola. Wir müssen bald los.“ Er will wieder gehen, aber etwas scheint nicht zu stimmen. „Alles klar? Enola?“ Langsam tritt er an ihr Bett heran. Geduldig sinkt er auf die Knie. Er hat gelernt, ruhig zu bleiben, seit er mit den Kindern allein lebt. Sie erzählen von selbst, was sie bedrückt.

„Ich hatte einen Traum.“ Enola sieht ihren Vater unruhig an. „Aber er war Wirklichkeit. Mir ist, als hätte ich all das erlebt. Ich war in einer Zauberwelt …“

Und sie erzählt von einer Wespe, die sie zu einem See führte. Enola konnte auf dem Wasser des Sees laufen.

In einem Wasserfall, der in den See stürzte, schwebte ein Zauberschwert. Ihr gelang es, das Schwert zu holen. Mit diesem magischen Schwert konnte sie ganz allein eine Armee dunkler Krieger besiegen. Aber mit dem Dämon, der die Armee geschickte hatte, wollte sie nicht mehr kämpfen. Sie hatte einen besseren Weg gefunden, um ihn zu besiegen …

Polternd kommt ihr Bruder ins Zimmer. „Müsst ihr nicht los? Oder geht ihr nicht, bei dem Regen?“

Enola sieht den Störenfried vielsagend an.

Ihr Vater steht auf. „Finn hat recht, erzähl mir das Ende während der Fahrt. Einverstanden?“

„Ist gut.“ Enola springt aus dem Bett und geht zu dem Hocker, auf dem ihre Sachen liegen.

„Und du willst deine Schwester auf ihrer Geburtstagstour wirklich nicht begleiten?“

„Gib dir keine Mühe, Papa, ich steige auf keinen Berg, auf den Seilbahnen hinauffahren, selbst wenn es Deutschlands höchster ist. Zu viele Menschen da oben.“

Enola deutet mit dem Kopf zum Fenster. „Bei dem Wetter fährt da niemand hoch.“

Aber Finn und ihr Vater haben das Zimmer bereits verlassen. Enola hört sie etwas von „sturmfrei“ reden und von „Oma und Opa“. Betrübt sieht sie aus dem Fenster. Der Regen wird ihnen doch nicht ihre Tour vermasseln?

*

Es regnet die ganze Fahrt über ein wenig. Enola erzählt ihren Traum zu Ende. Dann unterhalten sie sich über die nächsten Gipfel, die sie besteigen könnten.

Dreimal hören sie den Wetterbericht, dreimal ist von schönem Herbstwetter die Rede. Einzig in den Bergen solle es einige Wolken geben. Aber dass diese Wolken Regen bringen ist nicht gerecht.

In Garmisch–Partenkirchen biegt Enolas Vater in eine Tankstelle ein. „Wir tanken gleich wieder voll. Wenn wir zurückfahren ist Wochenende. Jetzt ist der Sprit noch günstig.“ Geld ist immer knapp, aber irgendwie vermag es Enolas Vater für ihre Touren genügend davon zusammenzukratzen.

Als sie wieder in den Regen hinausfahren, sieht Enola ihren Vater hoffnungsvoll an. „Wir gehen trotzdem, ja?“

„Klar, soweit uns das Wetter kommen lässt. Im unteren Teil ist es nicht gefährlich. Da können wir jederzeit umkehren. Und das werden wir, falls es übel wird. Einverstanden?“ Er schaut kurz zu Enola hinüber.

„Einverstanden.“ Hoffnungsvoll blickt sie durch die nasse Scheibe zum Himmel. Den Hauch der fremden Magie, die sich in diesem Moment entfaltet, kann sie nicht spüren. Es kommt Enola wie ein glücklicher Zufall vor, dass der Regen in dem Moment aufhört, als ihr Vater ihren alten Daihatsu Feroza in Hammersbach auf dem großen Parkplatz am Rande des Wettersteingebirges stoppt. Enola schnürt ihre Wanderschuhe und beobachtet, wie ihr Vater seinen Eispickel und ein Bergseil am Rucksack befestigt. Er schaut auf seine Uhr, greift nach Kompass, Karte und Handy und verschließt die Autotüren. Dann wirft er schwungvoll seinen Rucksack auf den Rücken, hilft Enola ihren aufzusetzen und bald folgen sie dem Hammersbach stromaufwärts.

Das Wetter scheint zu halten, was der Wetterbericht verspricht. Enola kann durch das dichte Blätterdach des Waldes ab und zu blauen Himmel entdecken. Dann sieht sie eine schroffe Felswand, die sich bis zum Himmel erstreckt. Aus einem schmalen Einschnitt schießen die Wasser des Hammersbach heraus und prasseln über mächtige Felsen zu Tale. Hinter dem Einschnitt beginnt die Klamm, das Höllental.

Ein breites Felsband führt rechts an der Felswand entlang zum Eingang. Nachdem sie das Kassenhäuschen passiert haben, tauchen Enola und ihr Vater in die Felsenwelt der Höllentalklamm ein.

Enolas Augen folgen einem abenteuerlichen dunklen Weg, der teilweise vom Fels überragt wird. Ein Wasserfall stürzt aus großer Höhe in die Schlucht, die der tosende Wildbach in Tausenden Jahren in das Gestein gegraben hat. Fasziniert bleibt Enola stehen. Seit sie sieben Jahre alt ist, wünscht sie sich zum Geburtstag keine Geschenke, sondern eine Tour. In den ersten Jahren waren es Fahrradtouren, doch dann führten ihre Wünsche in die Berge auf die Gipfel der Alpen. Sie dreht sich zu ihrem Vater um. „Wirklich ein Höllental.“

„Der Name kommt nicht von Hölle, sondern von aushöhlen. Dieser Weg wurde vor über hundert Jahren vom Alpenverein Garmisch–Partenkirchen gebaut. Ihr damaliger Vorsitzender war Bauingenieur und entwarf die Brücken und Tunnel, die wir gleich passieren werden. Und weißt du, was das Bemerkenswerteste ist? In fast vier Jahren Bauzeit gab es keinen einzigen Unfall, obwohl auch gesprengt werden musste.“

Enola hört kaum noch zu. Auf ihrem Gesicht spürt sie den feinen Niesel, den ein leichter Windzug aus dem Wasserfall reißt. Treppenstufen führen unter dem Wasserfall hindurch zu einem Tunnel. Dahinter erblickt sie eine Brücke, die auf die andere Seite der Schlucht führt, über die brodelnden Wasser des ungestümen Baches hinweg. Nach einer weiteren Brücke folgen mehrere dunkle Tunnel.

Ihr Vater erzählt nebenbei aus der Zeit seiner Jugend.

„Die Geländer und die Holzplanken der Brücken werden im Spätherbst abgebaut, damit sie von Lawinen und dem Frühjahrshochwasser nicht beschädigt werden. Im April musste ich damals hangelnd und kletternd über die Eisengestelle der Brücken meinen Weg suchen …“

In der Mitte der Klamm zeigt Enolas Vater nach oben. „Das ist der Stangensteig. Man kann auch auf diesem Weg ins Gebiet der Zugspitze gelangen, falls die Klamm unpassierbar ist oder man sie umgehen möchte.“

Überrascht entdeckt Enola eine Brücke, die weit oben die Schlucht überquert. „Gehen wir dort auf dem Rückweg lang?“

„Ich hoffe nicht.“ Enolas Vater schmunzelt. „Du wirst sehen, dass der Aufstieg auf die Zugspitze von hier aus schwierig ist. Wir nehmen bergab den leichten Weg über das Reintal.“

Während ihr Vater voran geht, schaut Enola noch einmal in die Höhe. Sie entdeckt eine Gestalt, die auf der Brücke steht und herabsieht. Die Brücke ist zu weit oben, als dass Enola Einzelheiten erkennen könnte, aber sie hat mit einem Mal ein eigenartiges Gefühl. Sie fühlt sich beobachtet. Sie fühlt sich verfolgt. „Papa?“

Aber ihr Vater ist zu weit voraus, um ihre Stimme neben dem Tosen des Baches zu hören.

Enola blickt wieder hinauf und sieht, wie sich die Figur nach links entfernt. Sie holt ihren Vater ein.

„Wenn man auf der Brücke nach links geht, ist das der Weg nach oben oder nach unten?“

Ihr Vater muss nicht überlegen. Zu oft ist er früher hier unterwegs gewesen. „Nach oben. Wieso?“

„Da war eine Gestalt. Sie ging nach links. Können wir sie einholen?“

„Möglicherweise. Am Ausgang der Klamm treffen sich die beiden Wege. Aber weshalb?“

„Ich möchte mal fragen, wie der Weg da oben ist.“ Schon läuft Enola voraus.

Ihr Vater spürt, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Er hat plötzlich ein seltsames Gefühl. Seit seiner Jugend ist er in den Bergen unterwegs. Er hat sie stets unbeschadet verlassen, weil er seiner inneren Stimme vertraute. Manchmal hat er aus dem Gefühl heraus eine Tour abgebrochen und stellte dann fest, dass das Wetter sich nicht verschlechtert hatte. Schlechtes Wetter ist der größte Feind des Bergsteigers, aber nicht der einzige. Aufmerksam blickt er sich um.

Als sie die Kreuzung erreichen, an der der Stangen-steig auf ihren Weg trifft, ist niemand zu sehen. Bis zur Höllentalangerhütte sind sie allein unterwegs. Sie lassen die Hütte zu ihrer Linken und überqueren den Hammersbach auf schmalen Holzsteigen.

Enola kann sich nicht vorstellen, dass dieses Bächlein unten im Höllental zu einer reißenden Urgewalt wird, die Landschaften verändert. Sie folgt dem Bachlauf mit den Augen und betrachtet dann die schöne Berghütte. Sie hätte gern dort übernachtet, aber sie hatten nie genügend Geld dafür. Andererseits freut sie sich auf ihr Biwak, eine Übernachtung unter freiem Himmel, weiter hinten im Tal.

Alpenglühen

Das schönste an einem Biwak ist, dass man im warmen Schlafsack liegenbleiben und den Morgen erleben kann, ohne aufstehen zu müssen.

Enola hört Vogelgezwitscher. Sie sieht, wie die letzten Sterne am Himmel verblassen. Die schroffen Umrisse der Berge, die das Höllental formen, heben sich vor den rötlichen Wolken im Osten ab. Dann bricht die Sonne durch die Wolkendecke und die Felsen über Enolas Kopf beginnen rot zu leuchten. Das Alpenglühen! Enola richtet sich auf und schaut sich um. Der gesamte Talkessel spiegelt das Sonnenfeuer wider. Das Rot wird kräftiger und den Felsen gelingt es für eine Weile, diese Farbe zu halten. Aber die Sonne steigt schnell höher. Die Farben verblassen, der Zauber ist vorbei. Einzig Enolas Gesicht strahlt noch immer. Das Glück, so etwas zu sehen, hatte sie noch nie. Was für ein Start in den Tag! Ihr Bruder wird staunen, wenn sie es ihm erzählt.

Ihr Blick fällt auf den Schlafsack ihres Vaters. Er ist leer. Enola sucht die nahe Umgebung ab. Nichts. Vielleicht ist er auf Toilette. Aber die kleine Schaufel, um für diese Zwecke ein Loch zu graben, ist noch an seinem Rucksack befestigt. Enola steigt aus dem Schlafsack in ihre kalten Schuhe. Immer wieder sieht sie sich um und lauscht. Sie kramt ihre Jacke aus dem Rucksack, zieht sie an und entdeckt unverhofft ihren Vater. Er kommt durch kniehohes Gestrüpp auf ihr Lager zu und hat in jeder Hand eine Wasserflasche.

„Hast du es gesehen, Enola?“

„Ja! Es war wunderschön. Wo warst du so lange?“

Ihr Vater hebt die beiden Wasserflaschen auf Brusthöhe und schmunzelt. „Der Bach ist weit unten.“

„Wieso hast du mich nicht geweckt? Ich hätte das Alpenglühen verpassen können.“

„Tief in unserem Herzen besitzen wir ein Gefühl für unsere Umgebung. Wir sind hier draußen, damit du dieses Gefühl in dir entdeckst. Wenn du rechtzeitig aufgewacht bist, ist das ein gutes Zeichen.“ Er umarmt seine Tochter, hebt sie hoch und wirbelt sie ein wenig hin und her. „Alles Gute zum Geburtstag!“ Ihr Vater lässt Enola wieder auf den Boden gleiten. „Und hier ist dein Geschenk!“ Er beschreibt mit seinem Arm einen weiten Bogen. „Diese Berge gehören heute dir.“

Schweigend betrachten sie das Alpenpanorama für eine ganze Weile.

Dann wendet sich Enolas Vater ihrem Lager zu. „Wir gehen erst ein Stück und machen dann richtig Frühstück, einverstanden?“

„Ja, ist gut. Und … danke!“

Ein Biwak ist schnell zusammengeräumt. Schlafsack verpacken, Isomatte zusammenrollen, alles im und am Rucksack verstauen, fertig. Essen und Zähne putzen kann man später, wenn es wärmer geworden ist. Jetzt hilft Bewegung, die Morgenkälte aus dem Körper zu treiben. Enola folgt ihrem Vater auf einem schmalen Pfad zu einer senkrechten Felswand. Während sie gehen, versucht sie den Weg zu erkennen, der hinaufführen wird. Aber weder rechts noch links ist es weniger steil. Auch ist die Wand nicht so zerklüftet, dass sie hinaufklettern könnten. Erst als sie fast am Fels angelangt sind, erblickt Enola die großen Eisenkrampen, die gleich den Sprossen einer Leiter in das Gestein getrieben wurden. Senkrecht führt die Eisenleiter nach oben und verliert sich in der Höhe.

„Kein Problem. Du kannst dich jederzeit prima sichern.“ Ihr Vater hält Enola ihren Klettergurt hin.

Sie nimmt ihren Rucksack ab und steigt in die Beinschlaufen des Hüftgurtes. Geschickt schiebt sie ihn hoch und zieht die Riemen straff. Vor ihrem Bauch ist am Hüftgurt eine feste Schlaufe. Dorthinein knotet sie ihr Klettersteigset, das aus zwei kurzen Seilen mit Karabinerhaken an den Enden besteht. Die Knoten hat sie schon hundert Mal gemacht, so dass alles schnell und fließend geht.

Ihr Vater ist bereits fertig und beobachtet, wie Enola ehrfurchtsvoll mit den Augen dem Klettersteig nach oben folgt. Er lässt ihr Zeit diese Steilwand zu erfassen, die Eisenstufen zu betrachten und das Vertrauen in sie zu entwickeln. Diese Eisen werden ihr einziger Halt in der Wand sein. Nach einer Weile sieht Enola zu ihm herüber. Er nickt ihr zu. „Es ist steiler und schwieriger als alles, was wir bisher irgendwo in den Alpen geklettert sind. Aber es ist der schönste Weg auf Deutschlands höchsten Berg. Zieh Handschuhe an.

Du steigst vor, wenn du soweit bist.“

Enola zögert nicht lange. „Kann losgehen.“

Ihr Vater hält ihr seine verschränkten Hände als Baumleiter hin, da die erste Stufe weit oben ist. „Ich bin gleich hinter dir.“

Während Enola nach oben klettert, betrachtet ihr Vater den Himmel. Die wenigen Wolken sehen freundlich aus. Das Wetter scheint zu halten. Dann folgt er Enola mit einem gekonnten Schwung die Eisenleiter hinauf.

Aus dem Klettergarten kennt Enola den Umgang mit der Seilsicherung. Sie streckt ihren Arm nach oben und klinkt ihren Karabinerhaken in eine der Eisen-krampen. Dann klettert sie die Leiter soweit hinauf, dass sie den Karabiner, der sich jetzt an ihrem Knie befindet, noch erreichen kann. Aber bevor sie ihn löst, klinkt sie den anderen weit oben ein. So ist sie jederzeit an mindestens einem der beiden Seile gesichert.

Oben einklinken, unten lösen, klettern, die ganze Wand hinauf. Weiter, immer weiter, nur nicht an die Höhe denken, die mit jedem Schritt größer wird.

Als Enola oben ankommt, ist der Steig nicht zu Ende. Nach links ist die gesamte Wand auf in den Fels geschlagenen Eisenstangen zu queren. Sie sehen aus wie die Sprossen einer waagerecht liegenden Leiter. In Kopfhöhe beginnt ein dickes Stahlseil, das den Eisenstangen folgt. Enola klinkt sich in dieses Seil ein und atmet tief durch. Sie fühlt ihren Rucksack schwerer werden, aber eine Pause wird es erst dort drüben geben, am Ende des Eisensteiges. Enola fürchtet den Blick hinab in die schwindelerregende Tiefe. Aber sie muss nach unten schauen, damit sie die Eisenstangen nicht verfehlt. Enola umklammert das Stahlseil. Zur Ablenkung betrachtet sie die Gipfel zu ihrer Linken. Die Sonne scheint ihr ins Gesicht. Das Wetter meint es gut.

Beruhigt lässt sie den Blick ins Tal schweifen. In der Ferne erblickt sie die Berghütte und sucht den Pfad, der von dort bis hierher führt. Plötzlich entdeckt sie einen kleinen Punkt, der sich von der Hütte aus auf dem Pfad in ihre Richtung bewegt. Enolas Herz schlägt schneller. Sie weiß, dass es die Gestalt von gestern ist und spürt, dass es etwas bedeutet. Die Gestalt bewegt sich schnell und sicher, irgendwie elegant. Schwer atmend starrt Enola in die Ferne.

„Enola, alles in Ordnung?“ Ihr Vater ist endlich angekommen. Sein schwerer Rucksack macht ihn langsam, wenn es steil nach oben geht. Er atmet tief aus und ein. „Noch dieser Quergang, Enola, dann kommt eine ganze Weile nichts. Versuche, nur die Eisenstangen zu sehen. Schau nicht an ihnen vorbei in die Tiefe. Dann schaffst du es. Es ist nicht schwer, einfach von einer zur nächsten. Du bist doch gesichert.“

Die Gestalt in der Ferne verschwindet hinter einem Hügel. Enola dreht sich zur Wand und setzt einen Fuß auf die erste Eisenstange. Nichts wackelt, nichts rutscht. Behände hangelt sie sich an dem Sicherungsseil hinüber, ihre Füße Schritt für Schritt auf den Eisenstangen nachsetzend. Sie sieht nur die Ebene am Ende dieses Steiges, die Blumen, die dort blühen, das weiche Gras. Ein plötzlicher Ruck reißt sie aus ihren Gedanken. Ihr rechter Fuß rutscht ab und baumelt über dem Abgrund. Enola klammert sich mit beiden Händen am Seil fest und sucht mit dem Fuß wieder Halt auf einer Eisenstange. Ihre Seilsicherung ist hängengeblieben.

Das dicke Sicherungsseil ist an einigen Stellen im Fels verankert. An diesen Stellen rutscht ihr Sicherungskarabiner nicht weiter und hat, mit ihrem Gurt verbunden, den Ruck verursacht. Enola schüttelt den Kopf und ärgert sich. Sie setzt ihren freien Karabiner-haken hinter die Verankerung und löst den anderen davor. Noch einmal passiert ihr das nicht. Fehlerfrei steigt sie den restlichen Weg durch die Wand. Dann sitzen sie auf der kleinen Felswiese und frühstücken.

„Ist das die Gestalt von gestern?“ Enolas Vater zeigt ins Tal.

Enola kaut ihr Müsli hinunter und nickt. „Ja.“

„Es ist eine Frau, so fließend, wie sie sich bewegt. Wenn sie auch auf die Zugspitze geht, wird sie uns einholen. Dann können wir das Rätsel lösen.“

Während Enola ihre Zähne putzt, beobachtet ihr Vater die Frau, die ihnen folgt. Er hat ein seltsames Gefühl. Nachdenklich sucht er am Himmel nach Zeichen für einen Wetterumschwung. Er kann keine finden. Aber woher kommt dann das komische Gefühl?

Über den Gletscher

Nun passieren sie leicht ansteigende, endlos scheinende Geröllfelder. Weit vor ihnen liegt ein kleiner Gletscher, zerfurcht und schmutzig grau.

Enolas Vater bleibt stehen. „Das ist alles, was vom Höllentalferner übrig ist. In wenigen Jahren wird er verschwunden sein, abgetaut im Klimawandel.“ Traurig erzählt er aus der Zeit seiner Jugend, als dieser Eispanzer schneeweiß war und sich bis zu der Stelle erstreckte, an der sie jetzt stehen. „Alle Gletscher der Alpen werden in 200 Jahren verschwunden sein.“

„Können wir nichts dagegen tun?“

„Fahrradfahren, Energie sparen, genügsam leben und nur das kaufen, was man wirklich braucht. Aber auch wir fahren mit dem Auto hierher. Die technischen Möglichkeiten das Klimachaos zu bremsen sind vorhanden, aber das Geld regiert unsere Welt, nicht die Vernunft.“ Er deutet nach vorn. „Siehst du die Stangen am Gletscherrand? Messgeräte, um den ganzen Gletscher herum. Das ist die Wissenschaft. Anstatt die Ursachen zu bekämpfen, wollen die erstmal wissen wie schnell der Gletscher taut. Sie wollen herausfinden, wie lange wir weitermachen können mit dem Geldverdienen auf Kosten der Umwelt?“ Nachdenklich verstummt Enolas Vater.

Dann zeigt er über den Gletscher. „Rechts an der Felswand ist wieder so eine Eisenleiter wie vorhin. Wir steigen den Gletscher aber erst in seiner Mitte hinauf.“

Enola hat viele Fragen und sie gehen nebeneinander über das Geröll auf den Gletscher zu.

Dort nimmt Enolas Vater seinen Rucksack ab und befestigt ein langes Bergseil mit einem Achterknoten an Enolas Klettergurt. Er knotet drei weite Schlingen in die Mitte und das Ende an seinen Gurt. „Ich gehe vor. Wichtig ist, dass das Seil zwischen uns immer straff ist. Hier wird zwar nichts passieren. Alle Spalten sind gut zu erkennen und sie sind nicht mehr so tief wie früher. Aber wir wollen ja später auf andere Gletscher, also ist ein wenig Übung nicht verkehrt.“

Der Gletscher ist nicht steil. Die Spur unzähliger Bergsteiger ist gut zu erkennen. Enola hat keine Mühe ihrem Vater durch den krümeligen Schnee zu folgen. Nach einer Weile sieht sie, wie er stehen bleibt und nach links schaut. Enola nimmt das Seil, das sie verbindet, Schlinge für Schlinge in die Hand und geht auf ihn zu.

Ihr Vater betrachtet die Berge, die den Gletscher einkesseln, dann den Himmel, dann seine Tochter.

„Enola, warte! Das Seil zwischen uns hilft nur etwas, wenn es straff ist.“

„Schon klar. Ist irgendetwas dort drüben?“

„Keine Ahnung. Lass uns mal hinübergehen, zu den großen Spalten am Gletscherrand.“

„Aber wir müssen nach rechts!“

Doch ihr Vater geht schon los. Enola gibt das Bergseil Schlinge für Schlinge wieder frei und folgt seinen frischen Spuren. Ein eigenartiges Gefühl steigt in ihr auf. Sie kann es nicht deuten, aber sie fühlt sich unbehaglich, je näher sie der größten Gletscherspalte kommen. Der Rand der Spalte ist abgerundet. Schmutziggraues blankes Eis. Ihr Vater steht an der Kante und winkt sie heran. Dann starrt er wieder in die Tiefe.

Was soll dort unten sein? Zögernd tritt Enola an den Abgrund heran. Sie erkennt bizarre Eisformationen und riesige Bruchstücke, die von der Spaltenwand abgebrochen sind und sich in der Tiefe übereinander stapeln. Darunter liegt dunkles Geröll. Ist das der Grund des Gletschers? Ist das Eis nicht dicker? Es ist nicht einmal die halbe Länge ihres Sicherungsseils. Und Enola weiß, dass ihr Seil nur dreißig Meter lang ist.

Ihr Vater scheint ihre Gedanken zu erraten. „Er ist nicht mehr sehr dick, dieser Höllentalferner.“ Er wendet sich von der Spalte ab und schaut über den Gletscher zur gegenüberliegenden Felswand. „Kehren wir zu unserem Weg zurück.“

Enola entdeckt unten am Gletscherrand die Frau wieder. Sie kommt nicht den Schneepfad in der Mitte herauf, sondern geht schnurgerade vom Geröllhang auf die Felswand zu. Enola sieht, wie sie die großen Spalten, die sich auch am rechten Rand des Gletschers gebildet haben, einfach überspringt. Sie wird in Kürze am Einstieg sein. Es scheint Enola, die Frau wolle sie und ihren Vater einholen. Tatsächlich kommt sie zur selben Zeit am Fels an wie Enolas Vater. Die beiden reden miteinander.

Enola beeilt sich, näherzukommen. Die Frau ist jung.

Sie hat ihre dunklen Haare wie Enola zu einem Zopf geflochten. Allerdings sieht der nicht so struppig aus wie ihr eigener. Auf der Berghütte scheint es große Spiegel zu geben. Enola holt eine Mütze aus ihrer Jackentasche und bleibt schlagartig stehen, als die junge Frau sie anspricht.

„Du brauchst dein Haar nicht zu verstecken. Wir sind doch in der Wildnis.“ Dabei sieht sie Enola freundlich an und streckt ihr die Hand entgegen. „Ich bin Lisann.“

Verdutzt schiebt Enola die Mütze in die Tasche zurück, geht auf die Frau zu und ergreift ihre Hand. Ihr Vater meint immer, ein Händedruck verrät einiges über den Menschen, dem man begegnet. Enola spürt einen festen Händedruck, aber sie ist völlig durcheinander und starrt zu Boden. War das bloß Zufall mit dem Gedanken an ihr Haar. Dann spürt sie den Blick ihres Vaters auf sich. „Ich bin Enola. Eigentlich Anja-Enola-Sarah. Ich habe mich für den Namen in der Mitte entschieden.“ Der Spaß mit ihren drei Namen lässt sie wieder locker werden. Sie blickt Lisann an und lächelt.

„Ich heiße Hans.“ Auch Enolas Vater schüttelt Lisann nun die Hand.

Ihr Blick wandert fröhlich von Hans zu Enola zurück. „Ihr kommt gut voran. Wollt ihr zum Gipfel?“

„Klar.“ Enola nickt zuversichtlich und schaut dann zum Himmel, als ob sie sich vergewissern möchte, dass das Wetter auch mitspielt. „Sie auch?“

„Nein, aber sag ‚du‘ zu mir, da komme ich mir nicht so alt vor.“

„Wie alt sind … äh, bist du denn?“

„Sechsundzwanzig. Und du bist vierzehn?“

„Dreizehn. Ab heute.“

Lisann wirkt überrascht und erfreut zugleich. Sie schaut kurz zu Hans, der das Bergseil zusammenlegt und im Rucksack verstaut, dann wieder zu dem Mädchen. „Und ihr feiert hier deinen Geburtstag?“ Dabei folgt sie mit den Augen der Eisenleiter am Fels nach oben. „Na dann, alles Gute!“ Sie schüttelt erneut Enolas Hand.

„Kommst du mit hinauf?“

Enolas Vater sieht seine Tochter überrascht an. Sie ist doch sonst nicht so offen, Fremden gegenüber. Aber war Lisann nicht auch ihm sofort vertraut, als würde er sie kennen? Könnte sie die Frau sein, die mit ihm und seinen zwei Kindern klarkäme? Der Rest ihrer Antwort reißt ihn aus seinen Gedanken.

„… ich muss im Eis etwas untersuchen.“

„Bist du so eine Art Wissenschaftlerin?“

Lisann zögert. Dann umgeht sie Enolas Frage. „Ihr seid auf dem Gletscher vom Weg abgewichen und zu der großen Spalte dort drüben gegangen. Wieso?“ Während der Frage wendet sie sich an Hans und sieht ihm in die Augen.

Er weicht ihrem Blick aus. „Ich weiß es nicht. Es war so ein Gefühl. Als ob dort etwas wäre, aber … wir müssen jetzt weiter. Einen schönen Tag noch!“ Er sieht sie nicht noch einmal an und klettert durch den Berg-schrund vom Eis hinüber zum Fels. „Enola komm, du steigst wieder vor.“

Lisann scheint es, als laufe er vor ihr weg.

Enola sieht die Enttäuschung und unzählige Fragen in Lisanns Gesicht. „Meine Mutter ist nach Australien gegangen. Sie ist Geologin. Mein Vater kann Wissenschaftler nicht leiden.“

„Enola!“ Ihr Vater klingt ungehalten.

„Also, ich muss jetzt los, tschüs!“