Naterra - Der Stein von Samah - Andre Pfeifer - E-Book

Naterra - Der Stein von Samah E-Book

André Pfeifer

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Beschreibung

Ein Junge begegnet im Traum einer Hexe. Er erwacht und ihm wird bewusst, dass er sie kennt. Ein Mädchen und sein Großvater suchen vor der australischen Küste das legendäre Mahagonischiff. Zwei Geschwister verlieren sich in der Felsenstadt Petra in Jordanien. Eine Wissenschaftlerin am CERN in Genf versucht ein Portal in eine fremde Welt zu öffnen. Keiner von ihnen ahnt etwas vom Stein von Samah. Von seiner fremden Magie und unvorstellbaren Macht. Und davon, dass ihrer aller Schicksale längst miteinander verwoben sind. Und niemand kann sich dem Zauber dieses Buches entziehen. Versprochen!

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Andre Pfeifer wurde 1968 in Weimar geboren und wohnt in Thüringen. Aber sein wahres Leben findet nicht daheim statt, denn auf zahlreichen Reisen von Alaska bis Australien entdeckte er seine Liebe zu Natur und Abenteuer, die nun in seine Romane einfließt.

Naterra – Die Schwerter der vier Elemente (2009) Naterra – Das Buch von Terr (2011) Naterra – Die Schwerter von Terr (2015) Naterra – Der Stein von Samah (2022)

Es ist nicht unbedingt nötig die Bücher in der Reihenfolge ihres Erscheinens zu lesen.

Stein von Samah – Himmelsstein sama' – Arabisch Himmel

Mein Buch „Die Schwerter der vier Elemente“ hat vier Kapitel: Wasser, Feuer, Luft und Erde.

Am Ende eines jeden Kapitels erwacht ein Kind aus einem Traum.

Das vorliegende Buch ist allen gewidmet, die fragten: „Was ist mit den Kindern, wenn sie aufwachen?“

Liebe Leser,

Naterra ist eine fremde magische Welt, die wir in unseren Träumen besuchen können und in der viele meiner Geschichten spielen.

Mein Buch „Die Schwerter der vier Elemente“ hat vier Kapitel. Jedes Kapitel erzählt eine eigene Geschichte, in der ein träumendes Kind und ein Zauberschwert im Mittelpunkt stehen. Obwohl die einzelnen Geschichten miteinander verwoben sind, erwachen die Kinder am Ende eines jeden Kapitels unabhängig voneinander.

Enola, die in ihren Träumen das Wasser beherrscht, erwacht in Deutschland und erlebt nach dem Aufwachen zwei eigene Abenteuer in „Das Buch von Terr“ und in „Die Schwerter von Terr“. Geschichten der anderen aufgewachten Kinder waren nicht geplant. Als nächstes hatte ich vor, Enola noch ein drittes Mal in „Der Fluch von Terr“ auf eine Traumreise zu schicken.

Aber es kam anders. Zu Lesungen an Schulen fragten meine jungen Zuhörer immer wieder nach den aufgewachten Kindern. Ich antwortete, dass Enola zwei Fortsetzungen bekommen hatte. Doch das genügte nicht.

„Was ist mit den anderen Kindern?“

„Sind sie auch aus Deutschland?“

„Wo wohnen sie denn?“

„Wo ist denn das Mädchen gerade, das in dem Zelt aufwacht?“

„Und was hatte das Mädchen am Schluss für einen Unfall?“

Es waren viele Fragen, und ich entschloss mich im vorliegenden Buch all diese Fragen zu beantworten.

Da Enola ja in ihren eigenen Geschichten unterwegs ist, schicke ich ihren Bruder Finn von Deutschland aus in dieses Abenteuer. Ken erwacht in Australien, Miriamel in einem Zelt in Jordanien und Cassandra nach einem Unfall in einer Klinik in Genf.

Obwohl jedes Kind in einem anderen Land zuhause ist, sind ihre Schicksale miteinander verbunden, denn sie werden von den Abenteuern in ihren Träumen eingeholt und kehren nach Naterra zurück.

Die vorliegende Geschichte läuft teilweise parallel zu „Die Schwerter der vier Elemente“, kann aber natürlich auch gelesen werden, ohne das andere Buch zu kennen. Sie erzählt von fernen Ländern und spielt an Originalschauplätzen in Australien, Jordanien und der Schweiz. Ich habe all diese Orte auf meinen Reisen besucht. Aber letzten Endes entspringt das ganze Buch meiner Fantasie und wird sich vor euch, so hoffe ich, in den wunderbaren Bildern entfalten, die eure Fantasie zeichnet.

AndrePfeifer

Im Januar 2022

Inhalt

Vorwort

Enola und Finn

Ken und Tess

Miriamel und Patrick

Cassandra und Finn

Freunde

Nachwort

Vorwort

Vor zweieinhalbtausend Jahren gehörte die Stadt Akragas auf Sizilien zu Griechenland. Damals lebte dort ein Gelehrter namens Empedokles, der die Lehre der vier Elemente vertrat. Wasser, Feuer, Luft und Erde.

Alles habe mit diesen vier Elementen zu tun und alles stehe miteinander in Zusammenhang. Aber erst durch die Wirkung von Liebe oder Hass auf die vier Elemente beginne eine Welt zu leben.

Natürlich ist unsere Welt nicht die einzige im Universum. Es gibt unzählige Welten nebeneinander und doch sind sie getrennt durch Raum und Zeit. Viele Welten sind erfüllt von Magie und geheimnisvollen Kräften. So auch Naterra. In Naterra wurden die Schwerter der vier Elemente geschmiedet, aber auch ein Schwert des Hasses und ein Schwert der Liebe.

In unseren Träumen können wir diese Welt besuchen und haben oft eine besondere Verbindung mit einem der vier Elemente. Aber wenn wir erwachen, bleibt nur die Erinnerung an den Traum. Und manchmal hoffen wir zurückzukehren, durch irgendein Tor oder magisches Portal.

Diese Hoffnung ist so alt wie unsere Welt und wurde doch nie erfüllt.

Bis jetzt.

Enola und Finn

Anja-Enola-Sarah erwacht mit einem Schrei. Schnell atmend richtet sie sich auf. Erschrocken sieht sie sich um. Sie ist zu Hause. Da sind ihre Kuscheltiere, dort ihr Malzeug auf dem Schreibtisch, daneben ihre Flöte, ihre Bücher auf dem Regal, das Bild einer Wespe über ihrem Bett. Vor ihrem Fenster neigen sich Bäume im Morgenwind. Regen peitscht gegen das Glas. Enola denkt an ihren Traum.

Ein Klopfen reißt sie aus ihren Gedanken. Ihr Vater schaut herein. „Guten Morgen, Enola. Wir müssen bald los.“

„Papa, ich hatte einen seltsamen Traum. Aber er war Wirklichkeit. Ich war in einer Zauberwelt …“

Während ihr Vater an ihrem Bett kniet, erzählt Enola von einer Wespe, die sie zu einem See führte. Sie konnte auf dem Wasser laufen und es gelang ihr ein Schwert aus einem Wasserfall zu holen. Mit diesem Schwert konnte sie auf magische Weise eine Armee dunkler Krieger besiegen. Aber mit dem Dämon, der die Armee geschickte hatte, wollte sie nicht mehr kämpfen. Sie fand einen besseren Weg, um ihn zu besiegen …

Polternd kommt ihr Bruder ins Zimmer. „Müsst ihr nicht los? Oder geht ihr nicht bei dem Regen?“

Ihr Vater steht auf. „Finn hat recht, erzähl mir das Ende während der Fahrt. Einverstanden?“

„Ja, gut.“ Enola springt aus dem Bett und zieht sich an.

„Finn, du willst deine Schwester auf ihrer Geburtstagstour wirklich nicht begleiten?“

„Gib dir keine Mühe, Papa, ich steige auf keinen Berg, auf den Seilbahnen hinauffahren, selbst wenn es Deutschlands höchster ist. Zu viele Menschen da oben.“

Enola deutet mit dem Kopf nach draußen. „Bei dem Wetter fährt da niemand hoch.“

Aber Finn und ihr Vater sind bereits im Flur. Enola hört Worte wie „sturmfrei“, „vernünftig“ und „Oma“ und „Opa“.

Betrübt sieht sie aus dem Fenster. Der Regen wird ihnen doch nicht ihre Bergtour verderben?

Regen.

Enola verharrt. Ihr Blick gleitet in die Ferne. Sie denkt an den Jungen, der sich hinter dem Dämon verbarg, dort in dieser … dieser Traumwelt. Aber es war kein Traum, es war die Wirklichkeit. Enola ist sich ganz sicher. Sie weiß, dass Regen diesen Jungen erlöst hat. Aber wer war dieser Junge? Er war wie sie nicht aus jener Welt gewesen. Sie hatte es gespürt, ganz kurz nur, aber deutlich. Doch er war schon länger dort gewesen und würde noch länger dort bleiben. Wie kann man so lange träumen?

Enola weiß nichts von dem seltsamen Zeitfluss in Träumen, dass Träume oft nur Minuten dauern, aber ganze Tage beinhalten können. Für sie schläft dieser Junge schon viel zu lange, als wäre er bewusstlos, nach einem Unfall oder so. Enola denkt nach.

Koma. Ja, so nennt man diesen Zustand. Man lebt noch, aber nicht mehr in dieser Welt, sondern … Enola springt zu ihrem Schreibtisch und beschreibt einen kleinen Zettel.

Diesen Zettel drückt sie ihrem älteren Bruder in die Hand, als ihr Vater beschäftigt ist draußen das Auto zu beladen.

„Hier ist das Passwort zu Papas Computer.“

Finn starrt sie an. „Woher …?“

Aber Enola spricht schon weiter. „Du musst etwas herausfinden, solange wir unterwegs sind. Ich erzähle das auch Papa, aber er würde nie im Internet suchen.“ Sie sieht ihren Bruder fest an. „Finn, ich weiß, dass du das kannst. Finde einen Jungen, der im Koma liegt, vielleicht schon seit Tagen oder Wochen, nach irgendeinem Unfall oder so. Beobachte, ob er in den nächsten Tagen aufwacht. Wir sind in vier Tagen zurück, dann erzähle ich dir mehr.“

Plötzlich steht ihr Vater neben ihnen. Er umarmt Finn zum Abschied und gibt sich Mühe, den Zettel nicht zu bemerken. Er lebt allein mit den Kindern und lässt ihnen gern ihre kleinen Geheimnisse.

Finn winkt den beiden nach, als sie im Regen davonfahren. Dann starrt er auf den Zettel.

Abgrund

Das ist das Passwort für Papas Computer, für den Zugang zum Internet? Finn muss grinsen. Ja, genauso denkt Papa über das Internet. Er ist große Klasse, wenn es darum geht, wild zu zelten, im Wald und auf Bergen Lagerfeuer zu entzünden. Oder Finn, als er noch vierzehn war, ein Moped zu kaufen und zuzuschauen, wie er damit auf Feldwegen fuhr, lange bevor er den Führerschein hatte. Aber das Internet ist wie das Fernsehen ein rotes Tuch für Papa.

Finn flieht vor dem Regen, der wieder stärker wird, ins Haus. Was soll man bei so einem Wetter schon machen? Begeistert startet Finn Papas Computer.

Wikipedia. Koma. Da steht es.

Der Begriff Koma ist aus der altgriechischen Sprache abgeleitet und bedeutet „tiefer Schlaf“. Es ist eine für längere Zeit andauernde Bewusstlosigkeit, meistens nach einem Unfall. Ohne medizinische Versorgung kann es lebensgefährlich sein …

Finn findet alles mögliche im Internet, aber keinen Jungen, der im Koma liegt. Stattdessen ein Mädchen, das einen Unfall hatte. Es liegt schon eine Woche bewusstlos in einem Krankenhaus in Genf, in der Schweiz.

Abgrund …

Natürlich lässt Finn sich ablenken und kommt von einer Internetseite auf die nächste. Er klickt alle möglichen Berichte über dieses Mädchen an. Die meisten sind auf Französisch – ach ja, die Schweiz ist zwar größtenteils deutschsprachig, hat aber neben einem italienischen Teil auch einen französischen. Und so versteht Finn nicht allzuviel, aber die Bilder sind hochinteressant. Sie zeigen das CERN, eine Forschungseinrichtung der Zukunft. In einem Gebäude scheint es gebrannt zu haben. Und es gibt jede Menge Fotos von dem Mädchen. Cassandra Devineux. Die deutschsprachigen Berichte sind recht kurz, aber Cassandra war mit ihrer Schulklasse zu Besuch im CERN. Cassandra hatte sich anscheinend verlaufen. Dann gab es eine Explosion …

Finn ist begeistert. Von der Geschichte, aber noch mehr von dem Mädchen. Er betrachtet die Bilder von Cassandra länger, als es nötig wäre. Am meisten fasziniert ihn, dass Cassandra Schuld an der Explosion sein könnte. Eine Untersuchungskommision warte nur darauf, dass sie aufwache.

Finn ist hin und weg. Er druckt drei verschiedene Bilder von Cassandra aus und gibt sich den abenteuerlichsten Träumereien hin.

Sie ist Schuld an der Explosion. Wenn sie erwacht, wird sie sofort verhaftet und verhört. Und niemand wird ihr helfen. Finn sieht sich erneut die Bilder ihrer Klassenkameraden an. Alles Stadtkinder in prima Klamotten, aber weder die gut gekleideten Jungs noch die toll gestylten Mädchen machen den Eindruck, als könnten sie Cassandra helfen.

Aber Finn kann ihr helfen! Er hat die abenteuerlichsten Bücher gelesen und sogar einige Filme gesehen, in denen Kinder noch ganz andere Sachen gemacht haben, als Mädchen aus Krankenhäusern herauszuschmuggeln.

Er sieht sich an Cassandras Bett sitzen und mit ihr reden, weil man das mit Koma-Patienten so machen soll. Vermutlich wird sie ihn nicht verstehen, da sie nur Französisch spricht, aber das stört Finn natürlich nicht. Er malt sich aus, wie sie erwacht und er ihr hilft aus dem Krankenhaus zu fliehen. Er und sie auf seinem Moped. Sie fahren der Polizei davon …

Schon ruft Finn einen Routenplaner auf und erkennt, dass er nicht mit seinem Moped zu ihr fahren kann. 786 km bis nach Genf. Alles über Landstraßen. Unmöglich. So viel Zeit hat er nicht. Er ist zwar allein zuhause, aber Oma und Opa wohnen nur zwanzig Kilometer entfernt. Er muss sie wenigstens einmal besuchen, mit seinem Moped, jetzt, da er den Führerschein hat.

Opa ist zwar cool, aber eine Reise nach Genf würde er nicht gutheißen. Finn muss das allein hinbekommen. Er ist schon einmal mit dem Zug bis an die Ostsee gefahren, kein Problem. Er ruft die Internetseite der Bahn auf und schon geht sein Traum weiter.

Cassandra.

Das Internet ist großartig. Finn sieht alles vor sich. Bahnfahrt, Haltestellen, die Straßenbahn in Genf, Abfahrtszeiten, das Krankenhaus, Lageplan, Zugänge, Stationen, Fluchtwege und so weiter. Das Schulfranzösisch ist doch zu etwas gut. Wer hätte das gedacht?

Am Nachmittag, wenn der Regen hoffentlich nachlässt, zu den Großeltern fahren, dort heimlich die Sparbüchse plündern, auf dem Rückweg schon die Fahrkarte kaufen und am nächsten Tag so früh wie möglich zu Cassandra.

*

Der Bahnhof wirkt verlassen, als Finn in der Morgendämmerung sein Moped abstellt.

Elf Stunden später steht er vor der Klinik, in der Cassandra Devineux träumt. Finn hat sich auf der Bahnfahrt vieles überlegt. Wie kommt er, ohne anständig Französisch zu sprechen, zu Cassandra? Natürlich kann er zur Anmeldung gehen und auf Englisch nach Cassandra fragen. Aber am besten wäre es Freunden zu folgen, die sie gerade besuchen wollen.

Finn wartet ungeduldig auf diese Gelegenheit. Es ist schon spät am Nachmittag, zu spät für Klassenkameraden, um das Mädchen zu besuchen. Allerdings verlässt eine Gruppe Jugendliche die Klinik.

Finn geht auf die Jungen und Mädchen zu. Er zeigt Cassandras Bild. Sein Französisch ist fürchterlich. Endlich erbarmt sich ein Junge und redet Englisch mit ihm. Er führt Finn an der Anmeldung vorbei, zwei Treppen nach oben, einen Flur entlang, um mehrere Ecken herum zu einer Station, deren Doppeltüren sich automatisch öffnen. Der Junge wechselt ein paar Worte mit einer Krankenschwester im Stationszimmer und deutet dann nach hinten. Das vorletzte Zimmer auf der linken Seite. Ein Einzelzimmer.

Strahlend dankt Finn dem Jungen und eilt den Flur entlang. Leise öffnet er die Tür und sein Strahlen erlischt.

Zögernd geht Finn auf Cassandras Bett zu, während sich hinter ihm die Tür automatisch schließt. Das Mädchen im Bett hat keine Ähnlichkeit mit dem Mädchen auf Finns Bildern, die er noch immer in den Händen hält. Cassandra trägt einen Verband um den Kopf und an beiden Armen. Ihre Augen sind geschlossen. Die linke Seite ihres Gesichts schimmert grün und blau. Finn bleibt stehen. Er ist wie gelähmt. Lange starrt er sie an. Dann folgt er mit den Augen Schläuchen und Kabeln, die von dem Mädchen zu Beuteln mit Flüssigkeiten und piependen Geräten an der Wand führen. Das eintönige Piepen fesselt Finn auf eine seltsame Art. Traurigkeit befällt ihn und ein tiefes Mitgefühl für dieses Mädchen.

Finn tritt an ihr Bett heran. „Arme Cassandra. Was ist dir passiert?“ Er faltet ihre Bilder zusammen und steckt sie gedankenverloren in seine Hosentasche. Vorsichtig setzt er sich zu Cassandra aufs Bett und springt gleich wieder auf.

Eine Krankenschwester kommt herein. Sie bemüht sich Finn auf Englisch zu erklären, dass die Besuchszeit vorüber sei. Sie könne leider keine Ausnahmen machen. Der Zustand des Mädchens sei immer noch kritisch. Am frühen Morgen erst hatte Cassandras Herz für einen kurzen Moment aufgehört zu schlagen.

Tief bewegt und traurig wendet sich Finn zur Tür und geht. Gut, dass er schon während der Zugfahrt alles geplant hat. Denn der Gedanke, dem er nun folgt, wäre ihm jetzt, in seiner aufgewühlten Verfassung, nicht gekommen. Eine der Türen im Flur hat keinen Glas einsatz. Finn öffnet sie und schlüpft hinein.

Die Besenkammer. Jede Menge Eimer, Schrubber, Putzlappen und Reinigungsmittel, die erst am nächsten Morgen wieder gebraucht werden. Kein Platz für Gemütlichkeit, aber Finn holt sein Abendessen aus dem Rucksack und wartet, bis die letzten Schritte auf dem Gang verhallt sind.

Stille. Im Flur ist nur noch die Notbeleuchtung an. Finn schleicht zurück in Cassandras Zimmer. Diesmal setzt er sich auf die türabgewandte Seite ihres Bettes und beginnt erneut mit ihr zu reden. Er hatte gelesen, dass man mit Koma-Patienten reden solle, damit sie den Weg zurück in unsere Welt fänden. Und so erzählt Finn von seinem Zuhause. Er erzählt Geschichten, die er nie jemandem erzählen würde, aber Cassandra wacht nicht auf. Im Gegenteil. Finn wird müde und legt sich irgendwann neben Cassandras Bett auf den Fußboden. Er versucht sich vorzustellen, in welch anderer Welt sie lebt, während sie hier schläft. Er ahnt nicht, dass ihn diese Gedanken geradewegs zu ihr führen. Finn schläft ein.

*

Nebel. Die Gedanken verblassen. Es gibt keine Vergangenheit mehr, keine Erinnerung. Finn weiß nicht, wer er ist, wo er ist oder woher er kommt. Er steht auf einer ebenen Fläche aus Sandstein. Verwundert betrachtet er die Wände aus Sand, die einen ziemlich großen Raum um ihn herum bilden. Er dreht sich um sich selbst und erschrickt. Es gibt keine Türen und keine Fenster. Einige große flache Schiefertafeln sind wahllos im Raum verteilt. Sie scheinen in der Luft zu schweben, aber Finn erkennt, dass sie in Wirklichkeit auf Säulen aus demselben Sand liegen, der die Wände bildet. Die Schiefertafeln könnten Tische sein oder Bänke. Aber sie sind leer. Der Raum ist leblos.

Ein beklemmendes Gefühl beschleicht Finn. Schwer atmend schaut er nach oben. Die Sandwände streben dem Himmel zu, doch sie erreichen ihn nicht. Steine liegen weit oben auf dem Sand. Die Steine scheinen zu verhindern, dass der Sand in die blaue Unendlichkeit hinaufrieselt.

Finn geht zwischen den Schiefertafeln hindurch auf eine Sandwand zu. Zögernd führt er seine Hand näher heran. Behutsam berührt er die Wand. Der Sand ist nicht fest. Finn streicht vorsichtig mit den Fingern an der Wand entlang. Mitunter tauchen seine Fingerspitzen in den Sand ein. Verwirrt zieht er seine Hand zurück. Dann schiebt er sie geradewegs in die Wand hinein und seine Hand verschwindet. Finn fühlt losen Sand. Unmöglich, dass sich die Wände aus Sand noch meterhoch nach oben erstrecken. Unmöglich, dass dort oben Steine auf dem Sand liegen. Und doch ist es so.

Finn muss lächeln, sieht die Sandwand noch eine Weile fasziniert an und taucht dann seinen ganzen Arm hinein. Und tatsächlich fühlt er, wie seine Hand auf der anderen Seite aus dem Sand herauskommt. Wagemutig hält er die Luft an und durchschreitet die Wand.

Der Sand bleibt hinter ihm zurück, als er die andere Seite erreicht. Verwundert dreht Finn sich um. Er hat keinen Sand im Haar oder an seiner Kleidung. Und auch seine Füße stehen auf sauberem felsigen Grund. Doch dann fesselt der Raum seine Aufmerksamkeit. Er ist voller Kleidung. Viele der großen Schiefersteine stehen senkrecht, und auf ihnen hängen die schönsten Kleider, aber auch Jacken und Mäntel. Es ist nicht nur Frauenkleidung. Auf waagerechten Schieferplatten stapeln sich Hosen und Hemden. Es gibt Schuhe und Stiefel, verzierte Gürtel und Taschen, selbst einige Hüte.

Finn sieht sich eine Weile um, dann ruht sein Blick auf einer Stelle der Sandwand, vor der keine Steine mit Kleidung stehen. Es muss noch mehr Räume geben. Finn durchschreitet die Wand und erstarrt. In der Mitte des neuen Raums, auf einem Schieferblock, liegt ein Schwert. Ehrfurchtsvoll bewegt sich Finn auf das Schwert zu. Es schimmert golden. Ihm scheint, im Inneren der Klinge schwebten kleine Sonnen. Der Griff leuchtet in einem Orange, das Finn an Sonnenuntergänge erinnert.

Ohne nachzudenken streckt er seinen Arm aus und ergreift das Schwert. Der Griff fühlt sich angenehm warm an. Finn hebt das Schwert in die Höhe und die kleinen Sonnen im Inneren verschmelzen zu goldigem Strahlen. Zu einem Strahlen, das die Sandmauern durchdringt und verändert. Mit einem Mal kann Finn durch den Sand hindurch in die Ferne blicken. Er sieht eine endlose Wüste. Malerische Sanddünen mit vom Wind geformten Graten und sanften goldgelben Tälern. Die seltsamen, nun durchsichtigen Sandräume liegen auf einem Berg. Finns Blick schweift nach rechts. Die sandigen Hügel werden steinig, dann schroff und braun und noch weiter rechts sieht Finn dunkle, mächtige Felsen mit scharfen Graten und tiefen Einschnitten.

Dann erhellt sich sein Blick. Hinter den schwarzen Felsen fließt ein tiefblauer Fluss und auf der anderen Seite des Flusses entdeckt Finn das lebendige Grün unendlicher Wälder. Sein Lächeln erstirbt, als er eine dunkle Gestalt wahrnimmt, die über Geröll und Sand den Berg heraufstürmt. Sie kommt direkt auf ihn zu. Eine Frau in schwarzen Kleidern, mit schneeweißem, langem Haar.

Finn bekommt Angst. Er sollte nicht hier sein. Es ist ihr Schwert. Es sind ihre Kleider. Es sind ihre Räume. Und Finn wird mit einem Mal bewusst, dass es ihre Magie ist, die den Sand formt. Er lässt das Schwert sinken. Sein Atem geht schwer. Er dreht sich seitlich von der Frau weg, hält das Schwert hinter seinem Körper mit der Spitze zum Boden zeigend, als wolle er es verbergen. Dann streckt er seinen linken Arm aus, der Frau entgegen, die durch die Sandwände hindurcheilt, als wären sie nicht vorhanden.

Und schon steht sie vor ihm, rechts neben dem Schieferblock. Finn erstarrt. Es ist keine Frau. Es ist ein Mädchen. Aber des Mädchens Augen sind das blanke Gegenteil der flimmernden Hitze, die über dem Land liegt. Die Augen des Mädchens sind eiskalt. Genau wie seine Stimme.

„Leg es zurück!“

„Was?“ Finns Stimme zittert. Er starrt in eisblaue Augen und kann keinen klaren Gedanken fassen.

„Das Schwert! Leg es zurück.“

Aber Finn kann sich nicht rühren. Er ist gefesselt vom Anblick des Mädchens. „Wer bist du?“

„Das musst du nicht wissen.“

„Wer bin ich? Wie komme ich hierher? Was ist das für ein Schwert?“

„Du bist in einem Traum und das Schwert gehört dir nicht. Es gehört mir.“ Das Mädchen neigt den Kopf nach unten, den Körper gespannt, die Hände zu Fäusten geballt. Und dann sieht es dem Jungen in die Augen. „Leg das Schwert zurück. Sofort!“

Eisige Kälte trifft Finn. Die Welt um ihn herum scheint in Dunkelheit zu versinken. Er ist wie gebannt. Finn bringt seinen Arm mit dem Schwert nach vorn, aber er legt es noch nicht ab. Zu nah käme er dem Mädchen, dessen schwarze Kleidung und lange weiße Haare einen seltsamen Kontrast bilden. Er schiebt seine Füße vorsichtig nach links, so dass der Schieferblock zwischen ihm und dem Mädchen liegt.

Dann bemerkt er das Strahlen des Schwertes. Es leuchtet immer heller und seine fremde Magie sucht Einlass in Finns Herz und auch in das des Mädchens.

Das Mädchen hat gelernt, dem zu widerstehen, aber Finn blüht auf in der Wärme des goldenen Lichts. Die Angst fällt von ihm ab. Der eisige Blick des Mädchens hält ihn nicht länger gefangen. Er fasst das Schwert fester und blickt hinter die Kälte in des Mädchens Augen. Finn scheint das Mädchen zu kennen.

Plötzlich erlischt das Strahlen des Schwertes. Das Mädchen wendet sich hastig um und starrt zum Fluss.

Finns Blick folgt dem des Mädchens. Eine Fähre löst sich aus dem Grün der gegenüberliegenden Uferböschung und bewegt sich auf diese Seite des Flusses zu. Finn kann eine kleine Gestalt ausmachen, die die Fähre steuert. Gleichzeitig entdeckt er ein Boot, das mit der Strömung den Fluss herabkommt. Auch das Boot wird nur von einer einzigen Gestalt gesteuert. Es fährt direkt auf die Fähre zu.

„Fiona! Verdammt!“ Das Mädchen flucht vor sich hin. Dann fährt es wieder herum. Die weißen Haare wehen ihm ins Gesicht, das bedrohlich und entschlossen wirkt. Es richtet seinen Blick auf den Boden unter Finns Füßen. Des Mädchens Arme zeigen in dieselbe Richtung. Die Hände scheinen den Fels packen zu wollen. Einen Augenblick herrscht Totenstille und höchste Konzentration entfesselt uralte Magie.

Krachend löst sich der Fels, auf dem Finn steht, aus dem Fußboden. Das Mädchen bewegt seine Arme nach oben, als hebe es eine schwere Last. Sandwirbel fegen durch den Raum und schieben den Fels in die Höhe.

Finn wankt hin und her. Er versucht die Balance zu halten, während der Felsblock mit ihm in Richtung Himmel jagt. In dünner Luft verharrt der Fels auf einer Säule aus losem Sand. Finn starrt in die Tiefe. Er blickt von oben in die magischen Räume hinein. Die Steine, die die Sandwände in der Höhe begrenzen, liegen unter ihm wie die Grundmauern einer antiken verfallenen Stadt. Er kann die Augen des Mädchens nicht erkennen, als es nach oben schaut, aber er vernimmt des Mädchens Stimme.

„Du bleibst dort oben! Wir sind noch nicht fertig.“ Hastig wendet sich das Mädchen ab, holt aus einem Raum, der voller Waffen ist, ein Schwert und stürmt den Hang hinab zum Fluss. Der ankommenden Fähre und dem rätselhaften Boot entgegen.

Finn blickt dem Mädchen nach. Dann starrt er auf das Schwert in seiner Hand. Es verleiht ihm eine Art Unbeschwertheit. Mit diesem Schwert hat er keine Angst vor der schwindelerregenden Höhe, in der er sich befindet, oder vor der Magie, die das Mädchen in seinen Augen zu einer Hexe macht.

Doch als er darüber nachdenken will, wie er sein luftiges Gefängnis verlassen kann, fesseln die Ereignisse am Fluss seine Aufmerksamkeit. Finn ist zu weit entfernt, als dass er Einzelheiten erkennen könnte. Auch die Hexe hat er schon aus dem Blick verloren. Aber er beobachtet, wie das Boot in die Seite der Fähre kracht. Die beiden Gestalten sind ein Junge und ein Mädchen. Sie bekämpfen sich mit Schwertern, waten dann aber nebeneinander her an Land. Dort trennen sie sich. Der Junge verweilt am Ufer, das Mädchen geht ein Stück in die Wüste hinein, lässt ihr Schwert zurück und legt etwas ab.

Dann stockt Finn der Atem. Er sieht, wie sich die Hexe plötzlich aus dem Sand erhebt und dem Mädchen nachsetzt. Sie hebt ihr Schwert und sticht zu. Das Mädchen bricht zusammen und sinkt in die Arme des Jungen, während die Hexe sich holt, was das Mädchen zuvor abgelegt hatte.

„Nein! Du verdammte Hexe!“ Finn ist außer sich. Er schreit, er tobt. Er weiß nicht genau, was am Fluss geschieht, aber er will diese Hexe zur Rede stellen. Er muss von diesem Fels herunter! Auf Knien rutscht er zum Rand des Steins, auf dem er gefangen ist, blickt über die Kante und mustert die Sandsäule, die den Fels trägt. Könnte er an ihr hinabklettern?

Da entdeckt er eine Ameise, die vor ihm auf den Stein krabbelt. Er richtet sich auf und holt aus, um die Ameise mit der Hand in die Tiefe zu wischen. Es ist nicht so, dass er ihr etwas zuleide tun will, er hat wohl eher Angst, sie aus Versehen zu erdrücken oder zu zertreten.

„Nein, Finn, nicht! Wir brauchen das Schwert.“ Die Ameise hebt den Kopf, als ob sie ihn anschaue.

Und Finn hört zwar ihre leise Stimme, aber er kann nicht mehr innehalten und wischt die Ameise vom Fels. Verwundert sieht er, wie sie in die Tiefe schwebt. Bald hat er sie aus den Augen verloren.

Sie hat gesprochen. Eine Ameise hat zu ihm gesprochen. Er ist sich ganz sicher und bereut augenblicklich, was er getan hat. Sie hätte ihm vielleicht sagen können, was hier vor sich geht, und wozu Ameisen ein Schwert brauchen.

Ken und Tess

Ken erwacht aus einem Traum. Verschwitzt und atemlos sitzt er auf seinem Hochbett. Es ist bereits heller Morgen. Er hört die Vögel zwitschern. Durch das geöffnete Fenster dringt auch das Rauschen der Bäume herein. Sein Atem wird ruhiger. Er legt seinen Kopf zurück auf das weiche Kissen und betrachtet die Muster im Holz an seiner Zimmerdecke. Er denkt an seinen Traum. Er hatte ein riesiges Feuer entfacht, um einen Drachen zu befreien. Ein Feuer, das ihn selbst verschlungen hatte. Ein Feuer, dessen Rauch er immer noch riechen kann.

Ken fährt hoch. Es ist kein Traum mehr! Er kann tatsächlich Rauch riechen. Ken stürzt zum Fenster. Oh nein. Der Wald brennt! Er rennt in den Flur, ins Schlafzimmer seiner Eltern, ins Arbeitszimmer seines Vaters. Der gesamte Wald um das Haus herum steht in Flammen.

Buschfeuer sind ganz natürlich in Australien. Jedes Kind weiß, wie es sich zu verhalten hat. Ken ist kein Kind mehr. Er ist vierzehn. Aber er ist allein. Und das Haus seiner Familie liegt mitten im Wald. Zurück in seinem Zimmer zieht er Hose und T-Shirt an. Er steckt sein Smartphone in die Tasche. Seine Hände zittern, als er die Schuhe bindet, die Luft brennt in seiner Kehle, als er die Treppe hinabrennt und Hitze schlägt ihm ins Gesicht, als er die Verandatür öffnet. Heißer Wind raubt ihm den Atem. Das ist kein gutes Zeichen. Der Wind facht das Feuer an. Und er kommt aus der falschen Richtung, aus Norden, aus dem trockenen Zentrum Australiens.

Ken rennt ein Stück auf die Wiese unterhalb des Hauses. Er sieht sich um. Hinter der Wiese brennt der Wald noch nicht. Dort geht ein Pfad hinunter zum Meer. Dort wäre er sicher, wenn der Wind wie gewöhnlich aus Süden käme, vom Meer her. Aber der Nordwind treibt das Feuer zur Küste hinunter. Die Flammen und den Rauch. Der Rauch ist das Schlimmste bei einem Buschfeuer. Die meisten Menschen, die einem Feuer zum Opfer fallen, sterben an einer Rauchvergiftung. Deshalb sollte Ken nicht im Haus bleiben. Das Haus hat zwar genügend Abstand zu den Bäumen und wird vermutlich nicht abbrennen, aber der Rauch kann es stundenlang verhüllen.