Navigieren in Zeiten des Umbruchs - Fredmund Malik - E-Book

Navigieren in Zeiten des Umbruchs E-Book

Fredmund Malik

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Beschreibung

Navigieren in Zeiten des Umbruchs In wenigen Jahren wird fast alles anders sein: was wir tun, wie wir es tun und warum wir es tun; wie wir produzieren und konsumieren, wie wir arbeiten, wie wir lernen und forschen - und wie wir leben. Wie gehen wir in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft damit um? Umbrüche öffnen Möglichkeiten, indem sie Altes verdrängen und Neues schaffen. Management, wie Malik es versteht, ist die gesellschaftliche Funktion, diese Möglichkeiten zu nutzen. Die Neue Welt, von der in diesem Buch die Rede ist, ist in vielen Dimensionen noch unbekannt. Sie entsteht durch die Große Transformation21, wie der Autor seit 1997 den historisch wahrscheinlich größten gesellschaftlichen Umwandlungsprozess nennt. Diese Transformation befreit die Gesellschaft von ihren verknöcherten Organisationen und öffnet Wege zu einem neuen Denken und zu einem besseren Funktionieren. Ein Buch für klare Sicht und persönlichen Mut. Ein Orientierungsraster für das Navigieren in offenen Horizonten.

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Fredmund Malik

Navigieren in Zeiten des Umbruchs

Die Welt neu denken und gestalten

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Unsere Gesellschaft durchläuft den größten Veränderungsprozess, den es je gegeben hat. Ähnlich wie nach dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft wird in wenigen Jahren alles anders sein:

- was wir tun, wie wir es tun und warum wir es tun,

- wie wir produzieren und konsumieren,

- wie wir erziehen und forschen,

- wie wir arbeiten - und wie wir leben.

So wird künftig etwa Wissen wichtiger sein als Geld, das Finanzsystem wird untergehen und wir müssen die Demokratie neu erfinden. Bestsellerautor und Management Vordenker Fredmund Malik zeigt in seinem neuen Buch, welche Chancen solch fundamentale Umbrüche bieten.

Und Malik belässt es nicht allein bei der scharfsinnigen Analyse. Der Bestsellerautor von »Führen Leisten Leben“ beschreibt Lösungen und macht konkrete Vorschläge, wie Gesellschaft, Politik, Unternehmen und letztlich wir alle den Umbruch in eine neue Welt meistern können.

Dank Fredmund Malik wissen wir schon heute, wie die komplexe Gesellschaft von morgen gemanagt werden muss.

Vita

Prof. Dr. Fredmund Malik (geb. 1944, Lustenau/Österreich) gehört zu den renommiertesten Managementvordenkern. Er ist bekannt für seine scharfsinnigen Analysen und seine klare Sprache. Sein über Jahrzehnte konsequent vom Zeitgeist losgelöstes Verständnis von Management hat Generationen von Führungskräften beeinflusst. Malik ist an der Schweizer Universität St. Gallen habilitierter Professor für Unternehmensführung, Gründer und Inhaber der führenden Institution für das Management komplexer Systeme mit Niederlassungen in St. Gallen, Zürich, Wien, Berlin, London, Toronto, Peking und Shanghai. Darüber hinaus ist er als Mitglied und Vorsitzender in Aufsichts-, Verwaltungs- und Stiftungsräten fundierter Kenner der Praxis von Corporate Governance. Malik lebt in St. Gallen/Schweiz, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Das Thema Bergsteigen und Management beschäftigt den passionierten Alpinisten seit Jahren.

Fredmund Malik ist ein vielfach ausgezeichneter Autor von Bestsellern, darunter der Klassiker »Führen Leisten Leben«, der zu den 100 besten Managementbüchern aller Zeiten gehört. Zu seinen Auszeichnungen zählen das Ehrenkreuz der Republik Österreich für Wissenschaft und Kunst (2009) und der Heinz-von-Foerster-Preis für Organisationskybernetik der Deutschen Gesellschaft für Kybernetik (2010).

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1Warum neu denken?

Thesen

Kapitel 2Die Große Transformation21

Ein Zeichen unserer Zeit?

Von der Alten Welt zu einer Neuen Welt

Ein besonderer Wandel

Die Welt von 1997

»Klassisches Management«: ein Auslaufmodell

Fast alles wird sich ändern

Geburtswehen einer Neuen Welt

Ökonomie genügt nicht

Krise des Navigierens und Funktionierens

Die REvolution der Organisationen

Kapitel 3Das Grundgesetz des Wandels

Eine Karte für Einblick, Durchblick, Überblick

Navigieren ins Unbekannte

Falsche Signale

Nicht nur eine, sondern drei Strategien sind nötig

Substitution und Kreative Zerstörung

Fundamentale Transformationen

Dem Wandel voraus sein

Kapitel 4Die Treiber der Transformation

Demografie

Von Migration und Kompetenzfestungen

Polarität von Inklusionismus und Exklusionismus

Mehrere Gesellschaftstypen gleichzeitig

Die Komplexitätsgesellschaft ist die Herausforderung

Ökologie

Grenzen des Wachstums

Wirtschaftsführer engagieren sich persönlich

Im Spannungsfeld von WAS und WIE

Wissenschaft und Technologie

Vor großen Durchbrüchen zu einem neuen Weltbild

Systemische Vernetzung fördert den Fortschritt

Frei von Raum und Zeit

Wissen managen

Ökonomie und Verschuldung

Lehman und die Brandbeschleuniger der Krise

Falsch programmierte Navigationssysteme der US-Unternehmen als Ursache

Wie man die Dinge in eine neue Ordnung bringen kann

Haupttreiber Komplexität

Kapitel 5Komplexität ist der Rohstoff der neuen Welt

Grenzen der alten Denkweisen

Was ist Komplexität? Was ist Varietät?

Unverstehbar, aber dennoch manageable

Einfache und komplexe Systeme

Kompliziert oder komplex?

Kapitel 6Systems Out of Control?

New Governance by Cybernetics: Communication and Control

Kybernetik für Selbstfähigkeiten

Wirtschaften ist zu wenig

Kapitel 7Komplexität für das Funktionieren von Organisationen

Zwei Ebenen des Funktionierens

Sachaufgaben und Managementaufgaben

Die Konstanten im Wandel: Master Controls

Wie Master Controls funktionieren

Die Systempolitik

Modes of Organisation

Organisational Issues

Navigationsassistenten für die Transition

Real Time Control

Hub-Prinzip und One Person Responsibility

Die Steuerungszentrale: Operations Room

Nervensysteme für Organisationen: Viable System Model

Sensitivität der Regelkreise von Organisationen modellieren

Sozialtechnologien für Plattformen des Wandels: Syntegration

Kapitel 8Heuristiken: Navigationsprinzipien für Neuland

Prinzipien für die Lagebeurteilung im Ungewissen

Grundsätze für die Lenkungskapazität und Beziehungsgestaltung

Heuristiken für die Informationslage

Prinzipien für die Überzeugungsfähigkeit

Kapitel 9Vom Umbruch zum Aufbruch

Zum Umgang mit Grenzen

Leadership in eigener Sache

Ständige Verbesserung der persönlichen Effektivität

Wenn etwas neu ist: Führen mit Instruktionen

Nicht nur Kommunikation, auch Metakommunikation

Chefs und Kollegen managen

Management als Leidenschaft für das Mögliche

Epilog

Literatur

Ausgewählte Literatur von Fredmund Malik

Register

Vorwort

Navigieren ist die Kunst des Steuermanns. Navigieren heißt, den Standort feststellen, das Ziel festlegen und den Weg dorthin steuern.

Die höhere Form des Navigierens ist die Fähigkeit, sich im Unbekannten zurechtzufinden – dann, wenn die Standorte ungewiss, die Ziele beweglich und die Wege vielfältig sind.

In diesem Buch beschreibe ich die neuen Methoden des Navigierens in einer Neuen Welt, darunter auch Denkprinzipien und Regeln des Handelns bei Ungewissheit und hoher Komplexität.

Die Neue Welt, von der hier die Rede sein wird, ist zwar in vielen Dimensionen noch unbekannt. Was kann man aber dennoch schon wissen? Vielleicht wissen wir bereits viel mehr als wir heute meinen.

So wissen wir etwa, dass das Neue komplex sein wird. Das wird die größte Herausforderung für Führungskräfte sein. Das gilt auch für Organisationen aller Art – für Wirtschaftsunternehmen ebenso wie Krankenhäuser, für Verwaltungsorganisationen genauso wie für Schulen, für Städte und für Staaten. Wir wissen, dass all diese Organisationen trotz wachsender Komplexität funktionieren müssen, aber und gerade mit Komplexität immer besser und neu funktionieren können. Wir kennen Methoden und Instrumente für den richtigen Umgang mit Komplexität, und für das Meistern von Komplexität haben wir systemkybernetisches Management.

Also können wir – trotz aller Ungewissheiten und Unsicherheiten – durch die Zeit des Umbruchs navigieren. Dabei werden wir mit jedem unserer Schritte mehr erfahren, denn so sind komplexitätsgerechte Methoden und Modelle mit ihren Feedbacks angelegt.

Die Neue Welt entsteht durch die Große Transformation21, wie ich 1997 den fundamentalen Umwandlungsprozess nannte. Sie befreit die Alte Welt von organisatorischen und manageriellen Beschränkungen, um besser zu funktionieren, um Neues zu denken und zu gestalten.

Ich danke dem Team des Campus Verlags, vor allem Frau Dr. Judith Wilke-Primavesi und Frau Selina Hartmann. Mein besonderer Dank gilt Frau Mag. Tamara Bechter für die gute Zusammenarbeit. Ohne sie würde es dieses Buch so nicht geben.

Fredmund Malik

St. Gallen, im Juni 2015

Kapitel 1Warum neu denken?

Wo stehen wir? Was geht »da draußen« vor? Wie kann ich mich zurechtfinden? Was soll ich tun? Vielen fehlt die nötige Orientierung, um sich in der Komplexitätsgesellschaft zurechtzufinden. Zuverlässig Orientierung zu bekommen, ist für Führungskräfte aller Organisationen der Gesellschaft zur großen Herausforderung geworden. Aber nicht nur für diese, sondern für die meisten Menschen überhaupt.

Thesen

Wenn sich, wie derzeit, die Nein-Sager häufen, die einem erklären, was nicht geht und was nicht möglich ist, so ist das ein Indiz für Zeiten des Umbruchs. Was einmal richtig war, ist plötzlich falsch. Viele erkennen im Neuen nur das Alte und richten ihr Handeln daher exakt falsch aus. In einem Umbruch ist das ein dominantes Muster.

Wirtschaft und Gesellschaft stehen global in einer der geschichtlich größten Transformation von der Alten Welt, wie wir sie kennen, in eine Neue Welt, die wir noch nicht kennen. Durch diese Transformation wird sich fast alles ändern: Was wir tun, wie wir es tun und warum wir es tun – und auch wer wir sind.

Die größte Herausforderung der Neuen Welt ist ihre immense Komplexität. Komplexität ist der Hauptgrund für die wachsende Zahl von lokalen und globalen Krisen.

Deren Ursprung liegt in veralteten Organisationen und ihrer wachsenden Unfähigkeit, Komplexität zu meistern. Immer mehr Organisationen sind überfordert, langsam, ineffizient und gelähmt.

Diese Unfähigkeit resultiert aus falsch programmierten Navigationssystemen, aus Strukturen des vorigen Jahrhunderts, aus einem veralteten Managementverständnis sowie überholten Methoden und Instrumenten des Steuern, Lenkens und Gestaltens.

Aus dieser Unfähigkeit heraus reagieren immer mehr Organisationen mit der falschen Strategie: Sie wollen Komplexität reduzieren, um weiterhin an ihrem veralteten Funktionieren festhalten zu können. Sie sehen Komplexität ausschließlich negativ. Damit verhindern sie Lösungen und tragen zur Verschärfung von Krisen bei.

Die richtige Strategie ist das Nutzen von Komplexität. Nur daraus entstehen Lösungen. Denn Komplexität ist der Rohstoff für Intelligenz, Innovation und Evolution, für Selbstregulierung und Selbstorganisation, und für alle höheren Leistungen. Komplexität ist der Baustoff für die Neue Welt und ihre neuen Organisationen. Das Gelingen der Großen Transformation21 hängt somit wesentlich davon ab, dasorganisatorische »Gewebe« der Gesellschaftund dessen Managementgrundlegend zu reformieren.

Das Wissen über Komplexität und wie man sie meistert, ist die wichtigste Ressource für funktionierende Organisationen. Es ist ein systemkybernetisches Wissen, das wichtiger ist als Zeit und Energie. Information über Kybernetik wird wichtiger als Geld, Selbstorganisation wird wichtiger als Macht.

Dies betrifft auch die Gesellschaft als Ganzes. Ihre bisherigen politischen Ordnungskategorien der polaren Gegensätze von Kapitalismus und Sozialismus sind überholt, weil sie in der Komplexitätsgesellschaft weder Orientierung geben noch Probleme lösen. An ihrer Stelle brauchen wir eine neue Systemintegration – den humanen Funktionismus – als Orientierungsraster für das Navigieren durch die Umbruchzeiten.

Kapitel 2Die Große Transformation21

»Gerade unser Verständnis der Welt beeinflusst die Bedingungen der sich wandelnden Welt.«

Karl Popper

Ein Zeichen unserer Zeit?

Mehr als je zuvor treffe ich auf allen – selbst den obersten Führungsebenen – auf Menschen, die mir erklären, was nicht geht, auch unter jenen, die so etwas früher nie gemacht haben.

Mittlerweise scheint es mir fast ein Zeichen der Zeit zu sein, dass die Zahl der notorischen Nein-Sager stetig steigt, und wenn ich die Zögerer und Zauderer noch hinzuzähle, dann ist es schon die Mehrheit. Aus dem früheren »Alles ist möglich« ist beinahe ein »Nichts mehr ist möglich« geworden.

Die heutigen Nein-Sager sind aber anders als die früheren. Denn sie sind meistens nicht einfach »nur so dagegen«, sondern sie haben gute Gründe für ihre ablehnende Haltung. Viele haben sogar Recht, denn tatsächlich geht vieles nicht oder nicht mehr.

Ich nehme das als ein Indiz dafür, dass der zwar schon lange, aber doch noch gebremst vor sich gehende Wandel nun in die Phase der Beschleunigung und Intensivierung kommt. Die Menschen spüren, dass sich in immer mehr Bereichen der Gesellschaft Grundlegendes ändert, und dass es irreversibel sein wird. Aber die meisten können sich keinen Reim darauf machen. Sie erleben auch immer stärker und bewusster, dass ihnen Orientierung fehlt.

In der Alten Welt geht vieles nicht mehr, weil sie ihrem Ende zugeht. In der Neuen Welt geht vieles noch nicht, weil es noch nicht richtig da oder noch nicht reif genug ist. Gerade deshalb ist es in allen Organisationen eine der Kernaufgaben der Führung, nach Wegen zu suchen, auf denen es dennoch geht. Es geht um das Navigieren in turbulenten Zeiten des Umbruchs. Wir betreten Neuland und wissen noch nicht, wie wir damit umgehen werden.

Von der Alten Welt zu einer Neuen Welt

Wirtschaft und Gesellschaft aller Länder gehen durch eine der größten Transformationen, die es in der Geschichte je gab. Wir sind Zeitzeugen einer umwälzenden Transformation der Alten Welt, wie wir sie kennen, in eine Neue Welt des noch Unbekannten. Es ist die Entstehung einer grundlegend neuen Ordnung und eines neuen gesellschaftlichen Funktionierens – eine gesellschaftliche REvolution einer neuen Art.

Was an der Oberfläche wie eine Finanz-, Wirtschafts- oder Schuldenkrise aussieht, kann man eine Dimension größer besser verstehen als die Geburtswehen einer Neuen Welt, in der fast alles anders sein wird als bisher. Selbst wenn der Wandel später rückblickend weniger gravierend sein sollte, so hätte man strategisch keinen Fehler gemacht. Herausforderungen zu überschätzen, ist weniger gefährlich als das Gegenteil.

Ein besonderer Wandel

Wie unterscheidet man eine Transformation von Innovationen und üblichem Wandel, die es in einer offenen Wirtschaft und globalen Gesellschaft immer gibt?

Ein Teil ist Wissen, über mehrere Gebiete und ihre Zusammenhänge, auch über Geschichte. Ein anderer Teil ist Beobachten. Selbst hinschauen und nicht nur Medien konsumieren. Noch ein Teil ist Fragen. Nicht nur nach der Bottom Line, sondern auch mal nach der Top Line. Die Welt mal auf den Kopf stellen. Aber immer wieder derselben heuristischen Frage nachgehen: Stimmt denn das wirklich? Der vierte Teil ist Systemdenken: die Fähigkeit, ganzheitlich zu sehen und zu denken, Verknüpfungen nicht auszublenden, Vernetzungen herzustellen und auf die sich darin zeigenden Muster zu achten. Und dann braucht man auch die richtigen Methoden, um alles »auf die Reihe« zu bringen.

Oder viel mehr gerade nicht »auf die Reihe«, denn das wäre linear gedacht – sondern in den Zusammenhang bringen. Hans Ulrich, der Begründer der St. Galler Systemorientierten Managementlehre, hat es klar gesagt: »Ganzheitliches Denken ist kreativ, weil es bisher unverbunden Gedachtes verbindet und so erst Muster schafft, in die wir das Einzelne einordnen und damit verstehen können.«

Wesentlich ist, die Puzzleteile zu einem System zu vernetzen, zu einem kohärenten Ganzen. In der Zusammenschau treten plötzlich Dinge auf, die man bei getrennter Betrachtung nicht erkennen kann – weil es sie dort nicht gibt. Für dies braucht man Modelle, die als »Knowledge Organizer« Navigationshilfen für das Unbekannte sind.

Die Aufgabe ist weniger, ständig nach neuen Daten zu suchen, wie es in der empirischen Sozialforschung üblich, ja zur hirnlosen Manie geworden ist. Früher musste man das anders sehen, denn Daten waren ein fast unüberwindbarer Engpass. Heute haben wir aber mehr Daten, als wir zumeist brauchen und als wir sinnvoll verarbeiten können. Es ist ein Märchen, dass mehr Wissen aus mehr Daten folgt und dass aus mehr Wissen mehr Erkenntnis resultiert.

Weit wichtiger ist die Aufgabe, nach der Bedeutung der vorhandenen Daten zu fragen. Die Bedeutung erschließt sich über Beziehungen, die im Datenmaterial verborgen sind oder – oft wichtiger – zwischen den Daten hergestellt werden können.

Kopernikus, der die Transformation vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild herbeiführte, tat dies nicht durch das Sammeln von mehr Daten. Er hatte dieselben Daten, Beobachtungen und Sinneseindrücke wie jeder seiner Zeitgenossen. Seine besondere Leistung sehe ich darin, dass er anders nach der Bedeutung der Daten fragte. Dabei erkannte er, dass aus den exakt gleichen Daten nicht zwingend nur das geozentrische Weltbild folgte, sondern auch dessen Gegenteil: das heliozentrische Weltbild.

Ein Navigieren im Umbruch verlangt von Führungskräften der Gesellschaft überwiegend diese kopernikanische Fähigkeit. Dafür muss niemand ein Genie sein. Auf weite Strecken genügt ein bestimmtes Handwerk. Aber welches?

Etwa 1 400 Jahre lang hatte so gut wie niemand das geozentrische Weltbild infrage gestellt. Kopernikus war derjenige, der das Umdenken nachhaltig in einer Zeit einleitete, in der die Gesellschaft sich im Wandel befand, und althergebrachte Vorstellungen angezweifelt, manchmal sogar über Bord geworfen wurden. Nur ungefähr 100 Jahre zuvor wurde der Buchdruck erfunden und damit der Zugang zu Wissen erleichtert. Es war die Zeit der Reformation, der Kirchenspaltung, religiöser Unruhen, der Bauernaufstände. Das bestehende soziale System war ins Wanken geraten.

Zu Kopernikus’ Lebzeiten blühte die Seefahrt auf, Seefahrer benötigten dringend genaue astronomische Daten, um sich auf den Weltmeeren nicht zu verfahren. Die Regeln des Navigierens, wie sie die Seefahrer kannten, waren nicht außer Kraft gesetzt. Die Sterne, die Sonne und die Erde mit ihren physikalischen Gesetzen waren dieselben wie zuvor. Neu aber wurden die Beziehungen dazwischen gesehen. Es dauerte, bis das alles zusammenkam, aber dann hatten sich die Grenzen der bekannten Welt grundlegend verschoben.

Das Beispiel zum Verlauf der Kopernikanischen Wende ist deshalb wichtig, weil sich fundamentale Transformationen so langsam und in so langen Zeiträumen abspielen, dass man ihre Bewegungen nicht in einem üblichen Wortsinne sehen kann. Man braucht ein geschultes Auge und spezielle Instrumente, um Große Transformationen zu beobachten und überhaupt zu entdecken. Gerade das ist für das Navigieren typisch. Aus Medien und Internet erfahren wir heute zwar beliebige Mengen von topaktuellen Einzelereignissen, von Daten und Fakten. Was sie aber für uns bedeuten, die Kohärenz zwischen ihnen – »the patterns which connect« – müssen wir fast immer selbst (er)finden.

Als ich 1997 an meinem Buch über Corporate Governance und meiner scharfen Kritik am amerikanischen Shareholder Approach arbeitete, schrieb ich auch ein Kapitel mit der Überschrift »Die Große Transformation«. Darin analysierte ich den sozio-politischen und wirtschaftlichen Wandel, der bereits im Gange war. Wichtige Quellen dafür waren mir unter anderem Karl Polanyi und Peter F. Drucker, die auf ihre je verschiede Weise solche Prozesse beschrieben hatten. Beide kannten sich gut. Während Polanyi an seinem bekannten Standardwerk zur Großen Transformation unter dem ersten Titel The Origins of Our Time arbeitete, schrieb Drucker The Future of Industrial Man. Der gegenseitige Einfluss macht sich bemerkbar, auch wenn beide völlig andere Auslegungen vorlegten. Beide Autoren sind jedoch auf ihre Art und Weise noch heute aktueller als vieles, was neueren Datums zu lesen ist.

Den Begriff »Transformation« verwendet Peter F. Drucker auch als Überschrift der Einführung zu seinem 1993 publizierten Buch Post Capitalist Society. Dort skizziert er unter anderem die großen Entwicklungslinien vom Kapitalismus zur Wissensgesellschaft und vom Nationalstaat zum transnationalen Megastaat.