Nelumbiya (2). Im Zeichen des Weltenbaums - Margit Ruile - E-Book

Nelumbiya (2). Im Zeichen des Weltenbaums E-Book

Margit Ruile

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Beschreibung

Ein Muss für alle Fantasy-Fans ab 10. Eine Geschichte voller Magie, großer Gefahren und Abenteuer, in der Pflanzen die wahren Helden sind! Ein Hilferuf erreicht die jungen Pflanzenmagier Tara, Semur und Helena: Das grimmige Volk der Nordländer marschiert auf Nelumbiya zu, um den Weltenbaum zu fällen. Unter dessen Wurzeln hoffen sie, den legendären Pilz Armillarion zu finden, der sie unsterblich und unbesiegbar machen soll. Sofort brechen Tara und ihre Freunde nach Nelumbiya auf. Auch der gleichaltrige Phillipus bietet seine Hilfe an, obwohl er kein Pflanzenzeichen hat und somit keine Verbindung mit einer magischen Pflanze eingehen kann. Aber auf der Reise durch verwunschene Sümpfe und über die Fernen Berge ist jede Unterstützung willkommen. Um die Feinde aufzuhalten, müssen Tara, Helena und Semur all ihre Kräfte aufwenden und die magischen Pflanzen mobilisieren. Doch nach und nach erkennt Tara, dass Phillipus ein dunkles Geheimnis hütet und sie damit in große Gefahr bringt. Können die ungleichen Gefährten dennoch zusammenfinden und den Weltenbaum retten? Episch, magisch und voller Ideen erzählt "Nelumbiya" über Naturverbundenheit und die Macht der Freundschaft. Mit farbig gestaltetem Vor- und Nachsatzpapier sowie ganzseitigen Illustrationen von Helge Vogt. Bereits erschienen: Nelumbiya (1). Im Land der magischen Pflanzen

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Seitenzahl: 378

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Ebenfalls im Arena Verlag erschienen:

Nelumbiya (1). Im Land der magischen Pflanzen

Margit Ruile

wurde 1967 in Augsburg geboren und studierte an der Hochschule für Fernsehen und Film in München, wo sie nach ihrem Abschluss auch unterrichtete. Zudem arbeitete sie als Regieassistentin, Drehbuchlektorin und Autorin fürs Fernsehen. 2012 wurde ihr erster Roman veröffentlicht, seitdem widmet sie sich ganz dem Schreiben. Margit Ruile lebt mit ihrer Familie in München. Sie liebt Bäume und geht gerne wandern, am liebsten entlang von Flüssen.

Helge Vogt,

Jahrgang 1976, arbeitet als Illustrator und Comiczeichner (»Alisik«) für zahlreiche Verlage. Er lebt in Berlin und ist Fan von magischen Figuren – vor allem in Buch und Film.

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. Auflage 2024

© 2024 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Der Verlag behält sich eine Nutzung des Werkes für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Dieses Werk wurde durch die Literatur Agentur Hanauer vermittelt.

Lizenzgeber »Nelumbiya«: new!move films & buzzin bus media

Cover und Innenillustrationen: Helge Vogt

Umschlaggestaltung: Juliane Lindemann

Lektorat: Lisa-Marie Reuter

E-Book-ISBN 978-3-401-81089-8

Besuche uns auf:

www.arena-verlag.de

@arena_verlag

@arena_verlag_kids

Für Christoph

Inhalt

Teil 1: Eine dunkle Wolke

1. KapitelDer Gehilfe

2. KapitelDas Versteck

3. KapitelZwei Fremde am Südtor

4. KapitelVor dem Sturm

5. KapitelDer bronzene Spiegel

6. KapitelChiaras Geständnis

7. KapitelEin Schatten in der Dunkelheit

8. KapitelErtappt!

9. KapitelEntscheidung am Osttor

Teil 2: Alles geht mit dem Wasser

10. KapitelTreibgut

11. KapitelDer Bericht des Bootsmanns

12. KapitelMondauge

13. KapitelAuf dem Schattenbach

14. KapitelIm Herzen der Sümpfe

15. KapitelDie verborgenen Quellen

16. KapitelRote Punkte

17. KapitelSchlangenauge

18. KapitelSeetang

19. KapitelDie Papierrolle

Teil 3: Das Vermächtnis des Dädalus Akanthus

20. KapitelDie Geheimschrift

21. KapitelDreierpasch

22. KapitelBei den Türmen

23. KapitelEin Bett in der Kastanie

24. KapitelBegegnung am Ringwald

25. KapitelArbor

26. KapitelBei den Wurzeln

Teil 4: Im Zeichen des Weltenbaums

27. KapitelAm Weiher

28. KapitelDas gebrochene Herz

29. KapitelSonnenaufgang

30. KapitelMorgenstern

31. KapitelDie zweite Sonne

32. KapitelLichtbringer

33. KapitelStamm, Wurzel, Blatt und Kreis

34. KapitelAqua Nelumbis

35. KapitelDie fantastischen Abenteuer des Chiron Lautenschläger

Teil 1

Eine dunkle Wolke

1. Kapitel

DER GEHILFE

Als Tara heute erwachte, spürte sie, dass dieser Tag nicht wie die anderen werden würde. Vielleicht lag es an dem ungewöhnlich warmen Wind, der ihr entgegenblies, als sie das Fenster ihres Palastzimmers öffnete. Wie jeden Morgen blickte sie zuerst nach unten, wo ihr die Stadt zu Füßen lag. Und wie jeden Morgen schlug ihr Herz schneller, als sie sah, wie Ornata sich verändert hatte.

Die kahle Felsenstadt war grün geworden. Zwischen den Feldern, die sich früher wie makellose einfarbige Teppiche bis zum Horizont erstreckt hatten, blühten bunte Farbtupfer: der rote Mohn, die blauen Kornblumen, die weiße Schafgarbe und die silbern schimmernden Gräser. Die Stadtmauer, die immer einen bläulichen Schimmer gehabt hatte, war wieder ganz aus rotem Stein und von üppigen Schlingpflanzen überzogen. Zwischen den hohen Häusern wuchsen Bäume, die die Dächer meist schon überragten. Es war nun schattig und kühl in den Gassen und die Blätter der Bäume schillerten im Sonnenlicht.

Bäume! Etwas, das man in Ornata vorher nie gesehen hatte! Eichen, Buchen, Eschen, krumme Ulmen: Sie alle waren in nur einem einzigen Jahr so schnell gewachsen wie sonst in zwanzig. Viele der Häuser waren unter einem dichten grünen Blätterdach verschwunden. Schlanke Pappeln und Erlen, die noch nicht hoch waren, aber ihre künftige Höhe schon erahnen ließen, säumten die geraden Straßen, die aus der Stadt herausführten und die Felder sternförmig durchschnitten. Sie wisperten geschwätzig in dem Wind, der ihre großen Blätter bewegte.

Tara sah von den Bäumen hoch und blinzelte, als sie in den Himmel blickte. Ja, der Tag würde besonders werden. Der Wind war nicht nur seltsam feucht und warm. Er brachte auch etwas mit. Etwas sehr Eigenartiges. Weit im Osten, hinter den Feldern, dort wo sich die Ebene von Pau bis zum Schwarzwasserfluss hinzog, konnte sie eine große Wolke ausmachen. Sie war zwar noch weit weg, aber so dunkel und unheimlich, wie Tara noch nie eine gesehen hatte, und sie verfärbte den Himmel wie ausgeschüttete Tinte.

Tara spürte, wie sich etwas auf ihrer Schulter bewegte. Dandelions runder gelber Blütenkopf reckte sich im aufkommenden Wind.

»Es wird einen Sturm geben«, sagte der Löwenzahn mit heller Stimme.

Tara nickte. »Das spüre ich auch!« Seit sie sich mit Dandelion verbunden hatte, konnte sie den Wind und den Regen lesen. Sie wusste, ohne dass sie darüber nachdenken musste, wie das Wetter werden würde. Der Wind roch regenschwer und trieb ein Gewitter auf Ornata zu. Und obwohl der Himmel über dem Palast klar war, konnte Tara in der Ferne sehen, wie es abregnete. Einzelne Schlieren hatten sich von der blaugrauen Wolke gelöst und fuhren wie Finger über das flache Land. Tara hatte das unbehagliche Gefühl, dass dieses Wetter auch noch anderes Unheil ankündigte, und sie merkte, dass es Dandelion auf ihrer Schulter ähnlich erging. Schnell zog sie ihr Kleid über. Sie wollte sich mit Helena und Semur treffen und war spät dran. Sie eilte durch den Palast und überlegte, ob sie ihren Freunden von ihren Beobachtungen erzählen sollte. Aber wie sollte sie ihnen diesen seltsamen Wind beschreiben?

Als sie auf den Burghof trat, winkten ihr ein paar spielende Kinder zaghaft zu und liefen dann tuschelnd weiter. Tara winkte zurück. Die Kinder verschwanden kichernd hinter der Stadtmauer.

»Sie bewundern dich!«, bemerkte Dandelion auf ihrer Schulter.

Tara seufzte. Der Löwenzahn hatte recht. Sie war mittlerweile berühmt. Und obwohl jeder dachte, dass das etwas ganz Fabelhaftes wäre, war Tara gar nicht glücklich damit. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn die Kinder mit ihr statt über sie geredet hätten oder, noch besser, wenn sie erst gar nicht erkannt würde. Aber mittlerweile wusste in Ornata fast jeder, wer sie war. Schließlich hatte sie zusammen mit Semur und Helena den finsteren Herrscher Askiel und sein Heer der Blaumäntel besiegt. Und sie hatten die magischen Pflanzen nach Ornata gebracht. Chiron, der Barde der Stadt, hatte ihre Abenteuer vertont und eine Ballade daraus gemacht. Anfangs hatten sich weder Tara noch ihre Freunde etwas dabei gedacht, doch dann merkten sie, dass sie durch Chirons Lied berühmt wurden und dass die Menschen in Ornata sie deswegen mieden oder bewunderten. Ach, alles wäre anders geworden, wenn Chiron dieses Lied nicht geschrieben hätte! Seit mindestens einem halben Jahr gab er es jeden Samstag auf dem Marktplatz zum Besten. Es war in der Stadt als Das Große Lied bekannt, aber der volle Name lautete:

Die Geschichte der heldenhaften Tara,des außergewöhnlichen Semur und der schönen Helena

Es war eine lange Ballade voller Kampfszenen, Magie und Heldenmut. Jeden Samstag kamen mehr Menschen zu dem Spektakel und jeden Samstag dichtete Chiron etwas Neues hinzu und schlug mit dramatischen Gesten die Laute, die mit ihren hellen Tönen alle gefangen nahm. Chirons Assistent, ein pausbäckiger Junge, hielt dazu Zeichnungen hoch, die Semur, Helena und Tara zeigen sollten. Manchmal auch, mit einem furchtbaren Gesichtsausdruck, Askiel, den dunklen Magier, vor dem dann alle erschrocken zurückwichen. Jedes Mal, wenn Chiron zu der Stelle kam, an der Quercus, der Eichenbaum, gefällt wurde, liefen den Leuten die Tränen über die Wangen. Wenn Chiron berichtete, wie Semur angeblich nur mit dem Schnipsen seines Fingers die ganze Armee von Askiels Blaumänteln vernichtet hatte, klatschten alle begeistert. Dazu wurde immer das Bild eines kräftigen Helden in Rüstung und mit triumphierendem Gesicht gezeigt, der wohl Semur darstellen sollte, mit ihm aber nur seine verstrubbelten Haare gemein hatte.

Immer wenn Tara hörte, wie Chiron auf dem Marktplatz seine Ballade vortrug, lief sie schnell vorbei und versteckte ihre roten Haare unter der Kapuze ihres Mantels. Auf keinen Fall wollte sie erkannt werden. Vor allem, wenn ihre jüngere Freundin Merle dabei war und dann voller Bewunderung zu Tara aufsah, kam sie sich vor wie eine elende Schwindlerin. Nein, sie, Helena und Semur hatten nicht mühelos die Armee der Blaumäntel besiegt, sie hatten keine Zauberschwerter, sie konnten keine Dämonen beschwören und ihnen gehorchte auch keine entfesselte Baumarmee. Vor allem – und das war das eigentlich Schlimme – hatte sie gar nichts mit dieser heldenmütigen Tara gemein, über die Chiron sang. Die, die keine Angst kannte und furchtlos allen entgegentrat. Oh, sie hatte Angst gehabt. Und wie!

Auch Helena und Semur konnten es kaum ertragen, Chirons Lied zu hören. Helena war über und über rot geworden, als Chiron es ihr zum ersten Mal vorgespielt hatte, und Semur hatte sich drei Tage lang nicht mehr aus seiner Backstube herausgetraut, so peinlich war ihm das Ganze.

Nur Chiron schien vollkommen zufrieden mit seiner Ballade. Er zählte jeden Samstag glücklich die Kupfermünzen, die ihm am Ende der Vorstellung in seine Kappe geworfen wurden. Seine Kleidung wurde von Woche zu Woche bunter und prächtiger und man munkelte, dass er beschlossen hatte, den Turm, in dem er wohnte, von außen mit Gold zu überziehen.

Der Turm des Barden. Tara konnte ihn von hier aus sogar sehen. Seine Spitze ragte zwischen zwei Buchen hervor und sah aus wie eine abgebrannte Kerze.

An all diese Dinge dachte Tara, als sie den Palast verließ und sich zu der Eiche in der Mitte des Hofs begab. Sie setzte sich unter die weit ausgestreckten Äste und sah sich um. Außer ihr war noch niemand da. Sie hatte sich ganz umsonst beeilt! Aber nein, nicht umsonst. So konnte sie noch ein bisschen Zeit unter dem jungen Eichenbaum verbringen. Sie lehnte sich an den Stamm des Baumes und sah hoch zu den ausgebuchteten Blättern, die sich raschelnd im Wind bewegten. Die Eiche stammte von Quercus ab, dem ersten Baum, den Tara je gesehen hatte. Doch diese Blätter sprachen nicht zu ihr, wie sie das bei Quercus getan hatten. Das war nur in Nelumbiya möglich. Tara strich über Dandelion, der sich auf ihrer Schulter befand, und sie spürte, dass auch er an das magische Pflanzenland dachte, da er leise seufzte. Tara wusste, dass der Löwenzahn immer noch Heimweh hatte. Und wenn sie tief in sich hineinhorchte, dann sehnte auch sie sich nach Nelumbiya.

In diesem Moment fiel ein Schatten über sie. »Oh! Wen haben wir denn da? Was für ein Zufall!«

Überrascht sah Tara hoch. Vor ihr stand ein Mann mit einem breiten Gesicht. Er trug einen dunklen Bart, durch den sich weiße Haare zogen, und hatte dafür aber nur wenige Haare auf dem Kopf, die zu einem Seitenscheitel gekämmt waren. Seine Kleidung war grau und unauffällig und seine Augen wasserblau. Sie huschten unruhig hin und her, als er Tara musterte. Nach und nach erinnerte sie sich, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte. Es war im Palast, wo er seit Neuestem als erster Berater des Fürsten Hadrian angestellt war. Jetzt erinnerte sie sich auch an seinen Namen: Kajetan, Helena hatte ihn Kajetan genannt.

Er hatte einen schmalen dunkelhaarigen Jungen im Schlepptau, von dem Tara schätzte, dass er genauso alt war wie sie. Der Junge hatte ein fein geschnittenes Gesicht und kluge dunkle Augen. Er warf Tara einen Blick zu, hinter dem Neugier, aber seltsamerweise auch Schmerz aufblitzte, bevor er wieder auf seine bloßen Füße starrte.

»Die berühmteTara!«, sagte Kajetan. Tara bemerkte den ironischen Unterton und schämte sich. Wieder kam sie sich vor, als wäre sie nichts weiter als eine Schwindlerin. Dabei hatte sie selbst doch gar nicht mit ihren Taten angegeben! Der Junge blickte kurz hoch. Die Neugier war jetzt aus seinem Blick verschwunden. Er sah sie mit einem Anflug von Geringschätzung an, der sie verunsicherte.

»Ich wollte gerade den Vater deiner Freundin Helena aufsuchen«, erklärte Kajetan gewichtig.

»Aha«, sagte Tara.

»Ich bin zum ersten Berater des Fürsten ernannt worden«, erklärte er weiter und machte nach den Worten eine bedeutungsvolle Pause.

»Aha«, sagte Tara noch einmal und fragte sich, warum Kajetan nun enttäuscht aussah. Was wollte er nur von ihr?

Kajetan seufzte und sah zwischen ihr und dem fremden Jungen hin und her.

»Phillipus, du könntest hier auf mich warten. Leiste doch Tara Gesellschaft, während ich beim Fürsten bin.«

Der Junge murmelte etwas Unverständliches, aber es klang nicht sonderlich begeistert. Tara rutschte unruhig hin und her. Kajetan schien ihr Unbehagen zu bemerken und verbeugte sich vor ihr. »Entschuldige, ich habe ihn dir gar nicht vorgestellt: Das ist Phillipus, mein Gehilfe.«

Der Junge – Phillipus – zuckte bei dem Wort Gehilfe zusammen. Er starrte Kajetan wütend an und sah dann wieder zu Boden. Kajetan schien nichts von seinem Ärger zu bemerken und nickte ihm nur fröhlich zu. »Ich lasse euch dann mal allein«, erklärte er und drehte sich um, ohne dass noch jemand protestieren konnte.

Tara sah Kajetan nach, wie er mit schweren Schritten über den Burghof zum Palast eilte. Sein langer grauer Mantel bauschte sich im Wind. Sie hatte mit einem Mal den Verdacht, dass dieses Treffen nicht so zufällig war, wie es zunächst ausgesehen hatte. Auch Phillipus starrte ihm nach und vergrößerte verärgert mit seinen Zehen ein Loch in dem Mosaikpflaster.

Tara kratzte sich an der Stirn. »Möchtest du dich vielleicht mit unter den Baum setzen?«, fragte sie vorsichtig. Doch Phillipus blieb einfach auf dem Fleck stehen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Nach einer langen Weile schien er es sich anders überlegt zu haben und setzte sich mit großem Abstand zu ihr unter die Eiche. Er starrte für einen verstohlenen Moment neugierig auf ihren Arm, bemerkte dann, dass sie seinen Blick gesehen hatte, und wurde rot.

»Es muss toll sein, ein Pflanzenmagier zu sein«, entfuhr es ihm.

Tara strich über das Zeichen auf ihrem Arm. Früher war es ein Pfeil gewesen. Jetzt sah es aus wie ein Löwenzahnschirmchen. »Es ist anders«, sagte sie. »Also anders, als man es sich vielleicht vorstellt.«

Sie schwiegen eine Weile. Der Wind fuhr durch die Blätter der Eiche.

»Ich habe kein Zeichen«, sagte Phillipus plötzlich unvermittelt. »Und ich würde mir auch keines wünschen.« Er zog seine Augenbrauen wieder zusammen, was ihm einen finsteren Ausdruck verlieh. »Ich bin ehrlich gesagt auch sehr froh, nichts mit Magie zu tun zu haben.«

»Und womit hast du stattdessen etwas zu tun?«

»Mit Metallgießerei«, sagte er schnell.

Tara hatte davon noch nie gehört, beschloss aber zu nicken, um sich keine Blöße zu geben.

»Ich stelle Dinge aus Metallen her«, erklärte Phillipus und Tara bemerkte, dass Stolz in seiner Stimme mitschwang.

»Metalle?«

Phillipus nickte. »Ich schmelze Metalle. Mache Bronze aus Kupfer und Zinn. Du kannst damit Figuren erschaffen, Trinkgefäße oder Schwerter. Was auch immer du brauchst.«

Er sah nach oben, wo sich die Blätter der Eiche in einem Luftzug bewegten. Ein paar davon wehten herunter. Eines landete in Phillipus’ Haaren. Er zog es heraus und betrachtete es lange auf seiner Handfläche. »Ich könnte zum Beispiel so ein Blatt erschaffen.«

»Und wozu soll das gut sein?«

Phillipus zuckte mit den Achseln. »Das echte Blatt hier wird einmal zu Staub zerfallen, aber das, was ich gießen würde, gäbe es ewig. Es würde nie sterben.«

»Weil es nicht lebendig ist«, gab Tara zu bedenken.

»Na und?« Phillipus zuckte mit den Schultern. »Warum muss denn immer alles lebendig sein?«

Tara bemerkte den Ärger in seiner Stimme und musterte ihn von der Seite. Ein Ausdruck von Schmerz huschte über sein Gesicht.

Dandelion hatte sich auf ihrer Schulter zusammengerollt und rührte sich nicht. Und doch spürte Tara, dass er leicht vibrierte, so als würde er sich vor dem Jungen fürchten. Sie selbst fürchtete ihn nicht. Sie hatte seltsamerweise sogar das Gefühl, ihn verstehen zu können.

In diesem Moment eilte Helena vorbei. Sie trug einen goldbestickten Umhang, ihre dunkelblonden Haare waren hochgesteckt und eine Efeuranke wand sich wie eine Krone um ihren Kopf. Neben ihr trabte Semur, der deutlich weniger selbstsicher aussah. Im Gegensatz zu Helena und auch Tara, die beide in dem Palast lebten, war er immer noch eingeschüchtert von der herrschaftlichen Pracht, die sich hier auf dem Burghof zeigte. Seine Haare waren seit ihrem Abenteuer sehr hell geworden, manche fast weiß, und sie sahen aus wie das Silbergras, mit dem er sich verbunden hatte. Phillipus starrte beide an, als wären sie Erscheinungen. Tara kannte den Blick. So sahen viele aus, wenn sie die Helden aus Chirons Lied persönlich kennenlernten. Oh, dieses schreckliche Lied!

»Verzeih mir! Semur wollte mich abholen und hat sich im Palast verirrt«, wandte sich Helena an Tara. »Wir sind spät dran. Hast du die Wolke gesehen? Nachmittags wird es ein Gewitter geben.« Jetzt erst bemerkte sie Phillipus, der die ganze Zeit im Schatten des Baumes gesessen hatte, und sah Tara fragend an.

»Das ist Phillipus«, erklärte Tara. »Ein … ein … Gehilfe von Kajetan.« Mist! Jetzt hatte sie genau Kajetans Worte wiederholt! Phillipus, der aufgestanden war, warf ihr einen wütenden Blick zu. »Er … er hat auch mit Gießerei zu tun«, sagte sie schnell. »Also … also … mit Metallen!«

»Ein Gehilfe von Kajetan?!« Helenas Lächeln erstarb augenblickblich. Sie musterte Phillipus und nickte ihm kurz angebunden zu. »Sehr erfreut«, sagte sie kühl.

Tara wechselte einen Blick mit Semur. Sie war immer wieder überrascht, wie schnell sich Helena von ihrer Freundin in eine hochnäsige Prinzessin verwandeln konnte.

Phillipus spürte die Zurückweisung sofort und das Blut schoss ihm in die Wangen. Er trat einen Schritt nach hinten und überkreuzte die Arme.

Semur räusperte sich. »Das mit diesen Metallen klingt wirklich interessant!«, sagte er schnell und lächelte Phillipus aufmunternd zu. »Ich wünschte, ich könnte das auch. Ich meine, ich kann nur Brot backen.«

»Brot! Wie interessant!«, sagte Phillipus ironisch.

»Brotbacken ist sicher wichtiger als alles, was mit diesen Metallen zu tun hat«, wies ihn Helena zurecht. Sie mochte es ganz und gar nicht, wenn jemand Semur geringschätzig behandelte. Semur dagegen schien Phillipus’ Ironie gar nichts auszumachen. Er sah Phillipus immer noch mit einem freundlichen und offenen Blick an.

»Ich denke, wir gehen jetzt«, sagte Helena und streifte ungeduldig ihren Mantel zurück. »Schließlich haben wir gleich eine wichtige Beratung. Eine Beratung zu dritt!«, fügte sie mit einem Blick auf Phillipus hinzu.

»Verstehe!«, murmelte Phillipus mit Bitterkeit in der Stimme. »Dann wünsche ich euch viel Spaß!«

Er drehte sich um und verließ mit schnellen Schritten den Burghof.

»Was für eine Beratung?«, fragte Semur verwirrt, nachdem Phillipus’ schmale Gestalt hinter dem Torbogen verschwunden war. »Ich dachte, wir wollten zu deinem Versteck gehen.«

»Das tun wir auch«, sagte Helena. »Ich wollte nur sichergehen, dass er nicht auf die Idee kommt, uns zu begleiten.«

»Was hast du denn gegen ihn?«

Helena seufzte. »Ich habe nichts gegen ihn. Ich habe nur etwas gegen Kajetan.«

2. Kapitel

DAS VERSTECK

Wenig später befanden sie sich in den geheimen Gängen, die unterhalb des Palasts verliefen. Tara staunte, dass es hier genau wie oben ein breit angelegtes System an Straßen, Wegen und Toren gab. Es war fast so, als wäre die oberirdische Stadt in der unterirdischen nachgebaut. Wie ein Baum, der im Tageslicht Äste und Zweige hatte, deren Wuchs den Wurzeln in der Erde glich. Helena kannte sich in den Gängen seit ihrer Kindheit bestens aus und führte Tara und Semur die dunklen Steintreppen hinauf und hinab. Immer wieder war ein Fenster oder eine Öffnung in den Felsen gehauen, durch die etwas Helligkeit drang. Trotzdem war es meist dunkel und sie konnten kaum die Umrisse von Helena vor sich erkennen. Die Prinzessin ging mit sicheren Schritten voran. Tara lief in der Mitte. Dandelion hatte sich auf Taras Schulter zusammengerollt. Wie die meisten Pflanzen mochte er keine Höhlen. Genau wie Semur, der als Letzter ging und ab und zu vor sich hin fluchte. Tara musste ein Lächeln unterdrücken. Semur hasste nichts so sehr, wie sich unter der Erde zu befinden.

Schließlich ging es eine gute Weile die Treppen hoch und Tara konnte den feuchten Wind, der ihr heute Morgen entgegengeweht war, wieder auf ihrem Gesicht spüren. Vor ihnen befand sich eine kreisrunde Öffnung, durch die sie grell das Sonnenlicht blendete. Helena führte die Freunde auf einen Platz, der weit oben in den Felsen gehauen war und der vor neugierigen Blicken durch ein Viereck aus eingestürzten Mauern geschützt war. Erst nach und nach begriff Tara, dass die eingefallenen Mauern einmal zu einem großen und sicher prächtigen Haus gehört haben mussten. Man konnte noch die Fensterlöcher sehen und ein hoch aufragendes Portal, über dem sich eine Sonne aus verwittertem Stein befand. Kletterte man darauf, so wie sie und Semur das jetzt taten, hatte man einen wunderbaren Blick über das Land und die Felder.

Helena stellte sich zwischen zwei Mauern, die früher sicher einmal die Begrenzungen eines Zimmers gewesen waren, und streckte ihren Arm aus.

Die Efeuranke ringelte sich um Helenas Kopf und wand sich dann ihren Arm hinunter. Helenas magische Pflanze war äußerst schwierig und nicht leicht zu beherrschen. Sie nannte sich Hedera, hatte immer einen spitzen, manchmal sogar gekränkten Tonfall und sprach stets in Reimen, auf die Helena antworten musste. So versuchte sie es auch jetzt. »Eine Decke auf die Mauer …«

Die Efeuranke rührte sich nicht. »Ohne Reim bin ich nicht dein!«, zischte sie.

Helena biss sich auf die Unterlippe. »Eine Decke auf die Mauer … nur für jetzt und nicht von Dauer.«

Alle starrten die Efeuranke erwartungsvoll an. Tara war im Stillen froh, dass sie mit Dandelion nicht in Reimen sprechen musste. Überhaupt war Dandelion viel weniger kompliziert als Hedera, mit der sich Helena auch manchmal stritt.

Da! Das Efeuzeichen, das Helena auf ihrem Hals trug, leuchtete grün auf. Die Efeuranke ringelte sich um Helenas Arm, wand sich hinunter zu ihrer Hand, die Helena nun hob. Der Efeu schoss hinauf in den Himmel und kam in einem hohen Bogen wieder herab, um auf die andere Mauer zu fallen. Dies geschah mehrere Male, bis die Mauern ein Dach aus verschlungenen Efeuranken hatten. »Lob und Dank! Schlicht und Rank!«, murmelte Helena eilig.

»Macht und Glück kommt zurück!«, rief die Ranke.

Eine Amsel hüpfte neugierig näher. So schnell wachsende Pflanzen hatte sie wohl noch nie gesehen.

Semur streckte sich auf dem Boden aus und blickte durch die Mauersteine auf das Land unter sich. »Ein toller Platz!«, sagte er anerkennend zu Helena.

Helena lächelte. »Ich bin außerordentlich froh, dass es euch gefällt. Als kleines Kind habe ich öfter hier gespielt. Leider habe ich das Haus nie gesehen, als es noch stand.« Ein Schatten zog sich über ihr Gesicht. »Es war das Haus meiner Großeltern. Den Eltern meiner Mutter.«

»Das Haus deiner Großeltern?« Tara blickte Helena überrascht an. »Aber warum steht hier nur noch eine Ruine?«

Helena sah plötzlich bekümmert aus. »Askiel hat eines Tages herausgefunden, dass meine Großmutter ein Pflanzenmensch war. Er wollte sie verhaften lassen, doch sie ist mit meinem Großvater geflohen. Danach hat Askiel das Haus niederbrennen lassen.«

»Was ist aus deinen Großeltern geworden?«, fragte Tara erschrocken.

»Meine Mutter hat sie in unserem Palast versteckt, aber dort sind sie vor Kummer gestorben. Askiel hatte nicht nur ihr Haus niedergebrannt, sondern auch ihren geliebten geheimen Garten.« Helena hielt die Hand vor ihr Gesicht und sah auf Hedera, die sich nun um ihr schmales Handgelenk ringelte. »Das war unser Familiengeheimnis. Meine Großmutter hatte das Efeuzeichen. Genau wie meine Mutter. Ich habe es von den beiden geerbt.«

Tara lehnte sich gegen die Mauer. Dandelion war wieder auf ihrer Schulter erschienen und reckte sich der Sonne entgegen, die zwischen den verschränkten Efeuranken hervorblitzte. »So viele Pflanzenmenschen haben ihr Zeichen verbergen müssen!«

»Das ist zum Glück jetzt vorbei«, erklärte Semur und fuhr sich über das Ährenzeichen an seinem Arm. »Manchmal kommen Kinder zu mir, die mir nun ganz stolz ihre Zeichen zeigen. Das hätten sie sich vorher nie getraut!«

Helena nickte. »Deshalb habe ich euch zu diesem Platz geführt. Es soll nicht nur der geheime Treffpunkt für uns werden. Wir müssen auch die anderen Pflanzenkinder hierherholen und ihnen helfen, eines Tages Pflanzenmagier zu werden. Gut, dass wir Tamerans Buch haben. Damit können wir jedem Zeichen eine Pflanze zuordnen.«

Tameran war der erste Pflanzenmensch gewesen, dem Tara, Helena und Semur begegnet waren. Sein Wissen über die magischen Pflanzen war unermesslich gewesen und er hatte vieles davon in seinem Buch festgehalten. Gemeinsam mit seinem uralten Eichenbaum Quercus hatte er an der Grenze zu Nelumbiya gelebt – bis Askiels Leute vor einem Jahr Quercus gefällt und damit auch Tamerans langes Leben beendet hatten. Die Erinnerung daran schmerzte Tara noch immer.

Semur sah zu den anderen. »Wo ist das Buch eigentlich?«

»Bei Merle«, erklärte Tara. »Sie gibt es nicht mehr her und liest jeden Tag darin. Sie legt es sogar unter ihr Kopfkissen!«

»Unter ihr Kopfkissen?« Helena lächelte.

»Die Kinder kommen mittlerweile zu ihr und lassen sich zeigen, welche Pflanze zu ihrem Zeichen gehört.«

»Stimmt es, dass sie auch ein Zeichen hat?«, fragte Semur.

Tara nickte. »Das Papyruszeichen an ihrem Handgelenk. Es ist mir vorher nie aufgefallen!«

»Vielleicht hat sie deswegen so schnell lesen gelernt.«

»Das kann gut sein.« Tara seufzte. Lesen und schreiben fiel ihr immer noch schwer. Es erging ihr da genau wie Semur. Und sie wusste, dass er alle bewunderte, die es konnten.

»Glaubst du, dass sich die Kinder in Ornata einmal mit ihrer Pflanze verbinden können?«, fragte Semur nachdenklich.

Dandelion, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte, regte sich. »Verbinden können sie sich nur in Nelumbiya. Nur jenseits des Schwarzwasserflusses. Bis dahin reicht die Magie von Fagus, dem Weltenbaum«, sagte er und ließ dann seinen gelben Blütenkopf hängen. Tara sah ihn an. Wie wehmütig er den Namen des Weltenbaums ausgesprochen hatte! »Dann müssen wir alle Zeichenträger eines Tages nach Nelumbiya bringen, damit auch sie Pflanzenmagier werden können«, schlug sie vor.

»Ja, das werden wir eines Tages tun müssen!«, stimmte Helena ihr zu.

Semur strich sich über seine hellen Haare. »Vielleicht wollen ja auch Kinder mit, die kein Zeichen besitzen. Es gibt viele, die die neuen Pflanzen genauso lieben wie wir.«

Helena schüttelte den Kopf. »Wir können nicht alle mitnehmen. Außerdem kann ein Zeichenloser nie ein Pflanzenmagier werden. Es wäre also völlig sinnlos, wenn sie mit uns kämen.«

»Mhmm.« Semur starrte vor sich hin. »Das ist fast ein bisschen schade, oder?«

»Wir können daran nichts ändern!«, erklärte Helena und zuckte mit den Achseln.

Sie saßen in dem weichen Gras und hingen ihren Gedanken nach. Ohne dass die anderen beiden es erwähnten, wusste Tara, dass auch sie an Nelumbiya dachten.

Nach einer langen Weile stand Helena auf und blickte nach Osten, wo das Pflanzenland lag. Sie beschirmte ihre Augen. »Diese Wolke macht mir Sorgen«, murmelte sie und deutete auf das große unförmige Wolkengebilde, das sich langsam auf sie zubewegte. Seit den Morgenstunden war es größer geworden und hing nun wie ein dunkler Schatten über den Feldern.

Tara atmete auf. »So ging es mir heute Morgen auch. Diese Wolke bringt ein Gewitter und …« Tara schluckte. Sie wusste nicht, wie sie ihr vages Gefühl in Worte fassen sollte, ohne dass die anderen sie für seltsam hielten. »Da ist noch etwas anderes. Wie eine Bedrohung. Ich spüre das mit dem Wind, der von Osten zu uns weht. Ich habe das Gefühl, dass sich nicht nur die Wolken auf den Weg zu uns machen, sondern noch etwas. Ich kann euch aber nicht sagen, was es ist.«

Doch die anderen beiden lachten sie nicht aus, sondern blickten sie ernst an. Semur stand schließlich auf. »Der Wind weht in unsere Richtung. Vielleicht kann ich etwas hören …« Er ging zu der verfallenen Mauer, suchte mit seinen Augen den Horizont ab. Dann berührte er die Mauer mit der rechten Hand und schloss die Augen.

Tara beobachtete ihn gespannt. Wenn Semur sich konzentrierte, konnte er Geräusche hören, die weit weg waren.

»Und?«, fragte sie nach einer Weile.

Semur schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Nichts Besonderes. Nur die Feldarbeiter. Ich höre Messer pfeifen … ein paar Kinder jagen sich über die Felder … mhmm … die Vögel sind ziemlich unruhig.« Er fuhr sich über die weißen Haare. »Vielleicht sollte ich mal die Nephori ausschicken.«

»Gute Idee!« Tara nickte. Die Nephori oder Silbergräser waren ein Teil des großen Silbergraswesens, mit dem sich Semur in Nelumbiya verbunden hatte. Einige der Gräser waren mit ihm mitgegangen und sie wuchsen, wo und wann immer Semur das wollte. Allerdings nicht immer genau so, wieSemur das wollte …

Jetzt jedenfalls berührte er mit beiden Handflächen die Mauer und schloss die Augen. Sein Zeichen, die Ähre, leuchtete silbern. Gräser wuchsen aus seinen Fingern hervor und verbreiteten sich rasch. Das alles ging so schnell, dass es aussah wie silbergrünes Wasser, das über die Steine rann. Es floss über die Burgzinnen, über die Stadtmauer und verband sich mit dem Gras, das rings um die großen Felder wuchs. Dann sah Tara, wie der Wind durch die Gräser fuhr, die sich leicht unter dem Hauch bogen. Semur beugte sich nach vorne und die Grashalme bewegten sich mit ihm mit, so als wäre er selbst der Wind. Dann lehnte er sich zurück und die Grashalme bewegten sich in die andere Richtung, gerade so als hätte der Wind sich schnell gedreht. Die Grashalme flüsterten und wisperten. »Semur Silbergras! Wir nehmen dich mit!« Semur sah mit entsetztem Blick zu Tara und Helena, dann war er plötzlich verschwunden.

»Semur?!« Tara konnte nur noch den Wind sehen, der eine Schneise in die Grashalme blies. Doch von Semur keine Spur. Die Sekunden verstrichen, dann hörten sie von unterhalb der Mauer einen Hilferuf. Tara und Helena rannten zu der Mauer, wo Semur sich an einen Felsvorsprung klammerte. »Könnt … könnt ihr mir wieder hochhelfen?«

Tara streckte ihm ihre Hand entgegen. Gemeinsam zogen sie ihn wieder nach oben.

»Alles in Ordnung?«, fragte Tara.

Semur nickte grimmig. »Ich will nicht mitgenommen werden«, rief er den Gräsern ärgerlich zu. »Ich will nur hören, versteht ihr?« Die Nephori raschelten und gaben etwas von sich, was wie ein Seufzen klang.

Jetzt streckte Semur wieder die Hände aus. Auch diesmal leuchtete das Ährenzeichen auf seinem Arm und das Gras bewegte sich unter seinen Fingern. »Nur hören«, flüsterte er. Und tatsächlich: Diesmal verschwand er nicht. Sondern blieb stehen und schloss seine Augen. Eine Sekunde verrann, eine halbe Minute, dann eine ganze.

»Was ist?«, fragte Tara. »Hörst du was?«

»Da ist die Stimme einer Frau … Sie reitet auf einem Pferd …«

»Was für eine Frau?«

»Ich weiß nicht …« Semur stutzte. »Die Stimme kommt mir aber irgendwie bekannt vor.«

»Du kennst sie?«, fragte Helena.

»Ja!« Über Semurs Gesicht zog sich plötzlich ein breites Lächeln. »Sie klingt wie Chiara!«

Chiara? Tara horchte auf. Könnte es sein, dass Chiara, die Chefin der Bootsleute, sie besuchen kommen würde? »Verstehst du, was sie sagt?«, fragte sie atemlos.

Semur schüttelte den Kopf »Nein, im Moment kann ich nur ihre Stimme hören. Ich würde sie immer wieder unter allen anderen erkennen.«

»Ich auch«, seufzte Helena. Sie war letzten Sommer von Chiara und den Bootsleuten gefangen genommen worden und hatte eine Nacht in einer finsteren Zelle unter Deck verbringen müssen. Am Ende hatte Chiara sie alle freigelassen, um sie vor Askiels Männern zu beschützen, aber Helena schien die Nacht im Gefängnis nicht vergessen zu haben.

»Sie hat noch jemanden dabei … jemand, der auf einem kleineren Pferd reitet, und mit ihm spricht sie jetzt. Beide Pferde müssten auf der Sternstraße sein und kommen näher«, murmelte Semur.

»Du hörst also noch jemanden?«

»Nein, ich höre keine zweite Stimme, nur das Hufgetrappel eines Ponys.«

»Vielleicht hat sie Cassian dabei. Das würde erklären, warum ihr niemand antwortet«, mutmaßte Helena.

Tara nickte. Das leuchtete ihr ein. Cassian war Chiaras kleiner Sohn. Er konnte zwar alles verstehen, sprach aber selbst kein Wort.

»Wo genau sind sie jetzt?«, fragte sie.

»Am Ende der Felder, dort, wo die südliche Pappelallee beginnt.«

»Dann müssten sie in einer Stunde am Großen Südtor sein«, überlegte Helena laut.

»Kannst du herausfinden, was sie hierherbringt?«, fragte Tara aufgeregt. Ihr Herz machte einen Sprung. Würde sie bald Chiara und Cassian wiedersehen? Aus irgendeinem Grund war es, wie wenn ihre Familie sie besuchen würde.

Semur schloss die Augen. Tara sah, wie der Wind durch die Grashalme fuhr und wie Semur sich konzentrierte. »Der Wind wird stärker … Jetzt kann ich auch hören, was sie sagt … ah … Sie muss den Fürsten sprechen! Irgendetwas ist geschehen …«

»Meinen Vater?«, fragte Helena überrascht.

»Scheint so! Moment … Sie sagt auch etwas über Chiron!«, Semur schüttelte verwirrt den Kopf. »Sie sagt, dass Chiron ihnen sicher helfen wird.«

»Chiron, wieso ausgerechnet Chiron?«, fragte Tara. »Was hat sie denn mit Chiron zu tun?«

»Keine Ahnung«, murmelte Semur. »Aber sie scheint in Schwierigkeiten zu sein. Sie klingt so besorgt.« Er horchte noch eine Weile, dann schüttelte er den Kopf. »Jetzt habe ich sie verloren.«

Tara steckte die Nase in die Luft. »Ja, der Wind hat sich gedreht«, bemerkte sie.

Semur zog seine Hand von der Mauer zurück und mit ihr verschwanden die Gräser. Das Rauschen und Rascheln erstarb. Semur öffnete die Augen und schüttelte den Kopf. »Was für ein seltsamer Vormittag. Erst sehen wir diese komische Wolke und dann erfahren wir, dass Chiara und Cassian auf dem Weg in die Stadt sind. Ich frage mich, ob diese beiden Dinge miteinander zu tun haben.«

Helena stand auf. »Lasst uns den beiden vor dem Südtor entgegengehen. Ich kann ihnen helfen, an den Wachen am Tor vorbei in die Stadt zu kommen.«

»Und wie willst du das machen?«, fragte Semur skeptisch.

Helena nahm den Mantel und warf ihn sich mit Schwung wieder um die Schultern. Die Goldfäden darauf schillerten in der stechenden Sonne. »Ganz einfach: Die Wachen werden mir gehorchen, weil ich die Prinzessin bin.«

»Wir sollten auch unbedingt Chiron Bescheid sagen!«, gab Tara zu bedenken.

»Äh … Ich gehe lieber mit Helena zum Südtor«, rief Semur schnell und sah dann mit einem Anflug von schlechtem Gewissen zu Tara.

»Alles klar!« Tara seufzte. »Dann werde ich eben Chiron allein besuchen.«

»Danke!«, sagte Semur und sah zu Boden. »Ich glaube, du … du verstehst dich viel besser mit ihm als ich. Ich meine … äh … ihr habt euch sicher viel mehr zu sagen.«

Tara sah ihn an und verdrehte die Augen. »Das wage ich zu bezweifeln.«

3. Kapitel

ZWEI FREMDE AM SÜDTOR

Während sich ihre Freunde zum Südtor begaben, lief Tara durch die verwinkelten Gassen zum Westteil der Stadt. Schon von Weitem sah sie Chirons Turm, der alle anderen Gebäude weit überragte. Er war zwar noch nicht mit Gold verkleidet, dafür bemerkte Tara aber, als sie schließlich vor dem Eingang stand, dass die Notenzeichen auf der großen runden Tür vergoldet waren. Sie sahen so aus, als ob sie ganz neu angebracht und dann stundenlang auf Hochglanz poliert worden waren. Neben den drei Noten war ein Schild, in das verschnörkelte Buchstaben eingraviert waren:

Chiron Lautenschläger

Erster Höfischer Barde

Auch dieses Türschild sah nigelnagelneu aus.

Tara klopfte vorsichtig dreimal an die Tür. Das erste Mal, als sie hier gestanden hatte, hatte sie noch nicht lesen können. Kurz zuvor hatte Askiel versucht, Dandelion zu vernichten, und ihn zu Asche verbrannt. Zum Glück war eines seiner Schirmchen unversehrt geblieben. Tara hatte damals noch nichts über die Zeichen gewusst. Erst nach und nach hatte sie herausgefunden, was das Pfeilzeichen bedeutete, das sie seit ihrer Geburt auf dem Arm getragen hatte. Genau wie Askiel, der einer ihrer Vorfahren war, hätte sie sich mit dem mächtigen Pilz Armillarion verbinden und unsterblich werden können. Doch dank des alten Pflanzenmagiers Tameran hatte sie ein neues Zeichen bekommen: Dandelions Schirmchen! Jetzt war sie Pflanzenmagierin, hatte sich mit dem Löwenzahn verbunden und damit Askiel besiegt. So viel war seitdem geschehen!

Sie wartete, doch als sich nach einer Weile immer noch nichts rührte, legte sie den Kopf an die Tür. Innen spielte jemand die Laute. Die Töne waren silbern, geheimnisvoll und wunderschön, was vermutlich daran lag, dass Chirons Laute aus dem Holz des Weltenbaums gemacht war. Jeder wurde durch diese Musik bezaubert. Kein Wunder, dass die Leute Chiron so gerne zuhörten. Tara war ganz in das Netz der Klänge gesponnen. Doch dann gelang es ihr, sich fortzureißen, und sie klopfte noch einmal, diesmal fester und deutlicher.

Die Töne verstummten.

»Wer stört?« Chirons Stimme klang dumpf durch die Tür.

»Ich bin es. Tara!«

Die Tür ging auf und dahinter erschien ein Mann mit dichten schwarzen Locken. Er trug ein schlichtes Hausgewand, eine Hose und eine Tunika und hatte sich eine Feder hinter sein linkes Ohr geklemmt. »Oh! Was … was für eine Überraschung!« Chiron musterte Tara. »Es ist ja eine Ewigkeit her, seit du das letzte Mal hier warst.«

»Ja, das stimmt«, murmelte Tara.

»Willst du reinkommen? Ich habe ausgezeichnete gebratene Maiskolben und zudem könnte ich dir einige meiner neuen Verse zeigen. Sie haben ein ungewöhnliches Reimschema. Ich habe mir sowieso schon gedacht, dich zu fragen, wie …«

»Eigentlich wollte ich nur eine Botschaft überbringen«, unterbrach ihn Tara und merkte selbst, wie kühl ihre Stimme klang.

Chiron seufzte und fuhr sich durch seine schwarzen Haare. »Verstehe! Ich dachte nur, du könntest dir ja trotzdem mal anhören, woran ich arbeite. Es geht unter anderem um dich!«

»Lieber nicht.« Tara spürte, wie ihr plötzlich ein geballter Klumpen Wut aus dem Magen hochstieg. »Ich will nämlich nicht noch mehr Lügen hören.«

Chiron zuckte zusammen und fasste dann unwillkürlich an die Schreibfeder hinter seinem Ohr. »Lügen! Oh! Was für ein schreckliches Wort.« Er sah sie betreten an. »Tara! Ich wusste nicht, dass das so bei dir ankommt. So ist es auch gar nicht gemeint. Sieh das, was ich mache, lieber als … als … verdichtete Wahrheit!«

»Verdichtete Wahrheit?«, fragte Tara entgeistert.

Chiron nickte eifrig. »Genau! Eben eine … andere … Wahrheit. Weißt du, meistens kommt es nicht so sehr auf die Tatsachen an als vielmehr, was die Leute dabei empfinden, wenn die Tatsachen vorgetragen werden.«

»Was soll das bedeuten?« Tara verschränkte die Arme.

Chiron seufzte. »Bei dem Großen Lied habe ich nur ein bisschen zu dem, was in Wirklichkeit passiert ist, hinzugefügt und dann an anderer Stelle ein bisschen weggenommen. Einfach um es interessanter zu machen! Die Menschen sollten wissen, dass ihr Askiel besiegt habt und dass die Pflanzen, die ihr mitgebracht habt, nicht böse sind. Die Details spielen dabei keine so große Rolle.«

Tara stemmte die Hände in die Hüften. »Aber nun glauben die Leute, dass wir gefährliche Hexenmeister sind!«

Chiron schüttelte den Kopf. »Oh nein! Sie bewundern euch, weil sie von eurer Zauberkraft gehört haben.«

»Ja, aber es ist alles falsch!«, rief Tara verzweifelt. »Wir sind keine Dämonenbändiger, keine Armeebefehlshaber oder was weiß ich, was du noch alles erfunden hast.«

»Du musst dich daran gewöhnen, dass du in den Köpfen der Menschen jemand anderes bist als die, für die du dich selbst hältst. Das ist übrigens fast immer so. Sogar wenn du nicht berühmt bist.«

»Aber …« Tara wollte noch etwas sagen, doch Chirons Worte waren mal wieder so geschickt gewählt, dass ihr nichts mehr einfiel. »Ich bin sowieso aus einem ganz anderen Grund hier«, sagte sie schließlich.

»Der da wäre?«, fragte Chiron lächelnd.

»Kennst du die Anführerin der Bootsleute? Chiara?«

Chirons Lächeln erstarb auf der Stelle. Er starrte sie mit großen Augen an, was Tara als ein Ja deutete.

»Sie ist auf dem Weg hierher und in einer Stunde am Großen Südtor.«

»Chiara!? Auf dem Weg hierher?« Chiron sah sich nach links und rechts um, zog dann Tara in sein Haus und schloss die Tür. Hier roch es tatsächlich nach gut gewürztem gebratenem Mais. Er befand sich in einer kleinen Pfanne auf dem Herd zwischen Bücherstapeln und Musikinstrumenten.

»Warum, um Himmels willen, will Chiara denn hierherkommen?! Ist sie völlig verrückt geworden?«, flüsterte Chiron.

»Das weiß ich nicht. Aber Semur hat gehört, dass sie unbedingt zum Fürsten will.«

Chiron lehnte sich gegen die Wand. Der Dudelsack hinter ihm stieß ein Pfeifgeräusch aus.

»Sie will zu Hadrian? Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist!«

»Warum denn das?«, fragte Tara.

Chiron schnappte nach Luft. »Sie hat über viele Jahre die Bewohner Ornatas gefangen genommen, um Lösegeld zu erpressen – unter anderem Helena! Und jetzt glaubt sie, dass sie von Hadrian empfangen wird. Einfach so! Ohne dass sie etwas zu befürchten hat?«

»Aber es scheint dringend zu sein!«

»Hör zu! Ich weiß, dass Hadrians Soldaten schon lange nach den Bootsleuten suchen.«

Tara schluckte. Daran hatte sie gar nicht gedacht.

»Das ist einfach typisch«, brummte Chiron. »Chiara begibt sich in die Höhle des Löwen. Und weißt du, was das Schlimmste ist: Sie bringt nicht nur sich selbst in Gefahr, sondern auch mich!«

»Also willst du ihr nicht helfen?«

Chiron seufzte und schnappte sich einen verzierten Hut und einen Umhang, der neben dem Dudelsack hing. »Natürlich werde ich ihr wieder aus der Patsche helfen. Eigentlich mache ich das schon mein ganzes Leben.«

Tara blickte ihn neugierig an. »Dann kennst du Chiara schon lange?«

Chiron seufzte. »Kann man wohl sagen. Sie ist meine große Schwester.«

»Deine … Schwester?«

Chiron brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Wir waren schon immer sehr … unterschiedlich, wenn du verstehst, was ich meine.«

Wenig später befanden sich Tara und Chiron auf der breiten gepflasterten Straße, die zum Großen Südtor führte. Die Sonne brannte auf sie herab und auf der Straße unter ihnen lagen spitze Steine. Tara ging wie immer barfuß. Sie bemerkte Chirons Schnallenschuhe mit Erstaunen und fragte sich, wie man darin laufen konnte.

»Himmel! Da sind sie!«, rief Chiron plötzlich aus und zeigte auf die beiden Reiter, die ihnen entgegenkamen.

Tara staunte. Auf dem Schiff war Chiara schon beeindruckend gewesen, aber hier in der Stadt sah sie noch ehrfurchtgebietender aus. Ihre lange dunkle Mähne bauschte sich im Wind und der mit Silber überzogene Zahn an ihrer Halskette blitzte in der Sonne. Sie trug leuchtend blaue Hosen und eine Tunika in derselben Farbe, die mit funkelnden Stickereien durchwirkt war.

Cassian trug ebenfalls Fischzähne um den Hals und hatte ein weites hellblaues Hemd an. Ihm schien Ornata zu gefallen und er winkte fröhlich den Leuten auf dem Marktplatz zu, die ihn wie eine Erscheinung anstarrten. Jetzt sah Tara auch Semur und Helena, die rechts und links neben den beiden herliefen. Ausnahmsweise waren sie nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern die beiden Fremden.

Tara klopfte das Herz. Wie lange hatte sie Chiara und Cassian schon nicht mehr gesehen! Als sie sah, wie Chiara sie aus der Ferne erkannte und Cassian ihr dann fröhlich winkte, gab es für sie kein Halten mehr. Sie begann zu rennen. Es war so, als hätten sich ihre Beine selbstständig gemacht. Chiara stoppte ihr Pferd und stieg ab. Dann öffnete sie ihre Arme und Tara fiel hinein und wurde herumgewirbelt. »Tara! Was bin ich froh, dich zu sehen!« Chiaras Stimme war dunkel und angenehm und Tara fühlte sich in ihren Armen plötzlich wie zu Hause. Chiara ließ sie los, dann trabte Cassians Pony heran und Cassian stieg mit Schwung ab und lief auf sie zu. Er war in dem einen Jahr beachtlich gewachsen und sah sie mit ernsten Augen an, in die sich nun ein Lächeln mischte. Er legte die Hand an sein Herz und verneigte sich, woraufhin sie sich auch verneigte. Cassian entdeckte Chiron. Der Junge strahlte und lief auf den Barden zu und vergrub sein Gesicht in seinen Armen. Als sie sich kurz daraufhin anlächelten, erkannte Tara, wie ähnlich sie sich sahen. Sie hatten beide die gleichen dunklen Locken und hellen blauen Augen.

»Chiron!« Auch Chiara nahm Chiron in die Arme. »Du siehst gut aus«, fügte sie mit einem spöttischen Lächeln hinzu.

Chiron sah sich unbehaglich um. »Was zum Teufel machst du hier?«, flüsterte er. »Und wenn du schon kommst, warum dann nicht weniger … auffällig?!«

Chiara lachte einmal kurz auf und betrachtete seinen bunten, mit aufwendigen Stickereien verzierten Mantel. »Erzähl du mir nichts von auffällig! Ich habe gehört, dass du jeden Samstag hier auf dem Marktplatz Balladen zum Besten gibst!«

»Ja, das ist wahr. Mein Publikum verdoppelt sich von Woche zu Woche«, bemerkte Chiron geschmeichelt. Mit einer schnellen Bewegung nahm er Cassian auf seine Schultern, der hoch oben fröhlich mit den Beinen baumelte. Dann senkte er die Stimme. »Und bei dir? Was macht die Schifffahrt? Oder soll ich besser sagen: das Piratenleben?«

»Ich glaube kaum, dass wir das hier besprechen müssen, oder?«, flüsterte Chiara zurück. »Außerdem haben wir ganz andere Sorgen.«

»Was für Sorgen?«, schaltete sich Helena ein.

»Ich muss sofort zu Fürst Hadrian gebracht werden! Es ist dringend! Sehr dringend! Wir gehen unruhigen Zeiten entgegen.«

Die Kinder und Chiron sahen sich an. »Was ist passiert?«, fragte Tara.

Chiara blickte sich um. Die Marktleute standen in einigem Abstand und tuschelten miteinander. »Nicht hier! Bringt mich zum Fürsten! Am besten beruft gleich eine Versammlung ein. Dann könnt ihr auch hören, was geschehen ist.«

»Heute Nachmittag ist tatsächlich eine Versammlung. Aber … Ich glaube kaum, dass wir dabei sein dürfen«, sagte Helena vorsichtig.

Chiara schüttelte ihre langen Locken und sah von Chiron zu den Kindern. »Ihr seid Pflanzenmagier und werdet nicht zu den Versammlungen eingeladen? Was soll das bedeuten?!«

»Nun«, Helena wurde rot. »Wir sind noch Kinder. Und Kinder sind dort nicht zugelassen.«

»Wer sagt das?«, fragte Chiara.

»Mein Vater.«

»Was für ein haarsträubender Unsinn. Ich werde mit deinem Vater sprechen«, erklärte Chiara. »Und jetzt bringt mich zu ihm!«

»Das wird nicht so einfach sein«, schaltete sich Chiron ein. »Die Audienzen während der großen Versammlungen werden von Kajetan, dem neuen Berater, geleitet. Man muss sich monatelang vorher anmelden.«

»Audienzen?« Chiara sah Helena