Nerd Girl Magic - Simoné Goldschmidt-Lechner - E-Book
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Nerd Girl Magic E-Book

Simoné Goldschmidt-Lechner

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Beschreibung

Ausgehend von persönlichen Erfahrungen seit der Kindheit widmet sich Simoné Goldschmidt-Lechner in »Nerd Girl Magic« der Nerd und Geek Culture aus nicht-weißer, nicht-männlicher Perspektive. Diskutiert wird das nerdy Coming-of-Age als Potential für gesellschaftlichen Widerstand und Wandel anhand verschiedener Beispiele. Diese reichen vom Magical Girl-Genre und seiner (scheinbar) inhärenten Queerness über Gaming Culture, Videospiele und den Kampf gegen den Ausschluss von Personen, die nicht weiß, männlich und cis sind, um Pen & Paper und alternative Realitäten, Fantasy und Sci-Fi bis hin zu Pro-Wrestling und der »großen Welle« aus Korea in den letzten Jahren mit K-Pop und K-Drama. Es geht um einen Zugang zu Nerd Culture für diejenigen, die Nerdiness nach wie vor abwerten, aber auch darum, dass Fandom schon immer von antiautoritären, widerständigen, female and non-white Strömungen durchzogen ist, dass Nerd Culture ein utopischer Rückzugsort sein kann für FLINTA, queere Menschen, BIPoC, neurodivergente Menschen und Arbeiter*innen. Dies alles wird eingebettet in eine detaillierte, intersektionale, erkenntnisreiche wie amüsante Analyse von Filmen, Serien, Spielen, Comics, Anime, Manga und Genreliteratur wie Sailor Moon, Buffy, Star Trek und auch Dark Acade­mia. Es ist an der Zeit, das Bild des Nerds neu zu denken!

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Seitenzahl: 218

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Simoné Goldschmidt-Lechner widmet sich in »Nerd Girl Magic« der Nerd und Geek Culture aus nicht-weißer, nicht-männlicher Perspektive. Diskutiert wird das nerdy Coming-of-Age als Potential für gesellschaftlichen Widerstand und Wandel anhand verschiedener Beispiele. Diese reichen vom Magical Girl-Genre und seiner (scheinbar) inhärenten Queerness über Gaming Culture, Videospiele und den Kampf gegen den Ausschluss von Personen, die nicht weiß, männlich und cis sind, um Pen & Paper und alternative Realitäten, Fantasy und Sci-Fi bis hin zu Pro-Wrestling sowie K-Pop und K-Drama. Es geht darum, dass Fandom schon immer von antiautoritären, widerständigen, female and non-white Strömungen durchzogen war und ist, dass Nerd Culture ein utopischer Rückzugsort für FLINTA, queere Menschen, BIPoC, neurodivergente Menschen und Arbeiter*innen sein kann. Dies alles wird eingebettet in eine intersektionale, erkenntnisreiche wie amüsante Analyse von Filmen, Serien, Spielen, Comics, Anime, Manga und Genreliteratur wie Sailor Moon, Buffy, Star Trek oder Dark Academia. Es ist an der Zeit, das Bild des Nerds neu zu denken!

Simoné Goldschmidt-Lechner schreibt, übersetzt, interessiert sich für (queere) Fandoms online, Horror aus postmigrantischer Perspektive, Sprache in Videospielen und sprachlich Experimentelles. Seit 2022 Teil verschiedener Theater-, Performance- sowie Filmprojekte. Gibt das Literaturmagazin process*in mit heraus.2022erschien der Debütroman »Messer, Zungen«, 2024 das zweisprachige Buch »Ich kann dich noch sehen (an diesen Tagen)«, das mit dem Preis für das Buch des Jahres der Hamburger Literaturpreise ausgezeichnet wurde. Übersetzungen u. a. von »Against White Feminism« von Rafia Zakaria (2022), »Exponiert« von Olivia Sudjic (2023) und »Good Talk« von Mira Jacob (2022).

Simoné Goldschmidt-Lechner

NERD GIRL MAGIC

Fandom aus marginalisierter Perspektive

Erste Auflage

Verbrecher Verlag

Gneisenaustr.2a, 10961 Berlin

[email protected]

www.verbrecherei.de

© Verbrecher Verlag GmbH 2025

Coverillustration: Marie Minkov

Gestaltung und Satz: Christian Walter

Druck: CPI Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-95732-611-9

eISBN 978-3-95732-621-8

Printed in Germany

Der Verlag dankt Antonia Frenz, Zita Perko und Annalisa Strien.

Sag das Zauberwort, und du hast die Macht.

Super Moonies,

Deutsches Sailor Moon Intro

INHALT

PROLOG

1. DIE MACHT DES MONDES

2. GEGENSPIELER*INNEN UND FEMINIST KILLJOYS

3. DIE ELFEN, JAMES A. SULLIVAN, SAŠA STANIŠIĆ UND ANDERE DSA-GESCHICHTEN

4. YOU SHALL NOT PASS

5. ZUKUNFTSUTOPIEN

6. FANDOMS, FANFICTION UND QUEER AWAKENINGS

7. ANIME, HIP HOP UND BLACK POWER

8. HEROES OF COLOR

9. SUGAR & SPICE: DISNEY PRINZESSINNEN UND ANIME UND MANGA FÜR MÄDCHEN

10. DIE GROSSE WELLE: K - POP UND K-DRAMA ALS POLITISCHER WIDERSTAND

11. BABYFACES, HEELS UND KAYFABE

12. SUNKEN PLACES

13. DARK ACADEMIA: STIL, SUBSTANZ UND [REAKTIONÄRER] WIDERSTAND

14. GUTE HELD*INNEN, SCHLECHTE HELD*INNEN: DER KAMPF UM PROGRESSIVES GAMING

EPILOG. NRRD GRRRLS FOREVER

EDITORISCHE NOTIZ

DANK

REGISTER

PROLOG

An diesem Tag steht anon, 27, m, für seine Verhältnisse vielleicht früh auf, vor 12 Uhr mittags. Vielleicht hat er vergessen, die Jalousien zuzuziehen. Vielleicht gibt es auch keine, dort, wo er lebt. Die Boards 4chan oder 8chan, diese Boards sind noch nicht einmal erfunden (oder vielleicht doch), geschweige denn dazu in der Lage, den Nährboden für rechte Ideologien zu bieten und gesamtgesellschaftliche Diskurse zu verschieben. Also wählt sich anon im World Wide Web ein, um sich die Zeit in Counter Strike-Foren zu vertreiben. Wir werden uns erst ein paar Stunden später begegnen.

Wie ich aussehe, wird anon dann wissen wollen, und wir werden uns gegenseitig in diesem Spiel umkreisen.

Ich werde nicht wissen, wie weit ich dieses Spiel noch treiben will oder warum ich es überhaupt begonnen habe.

Für den Link zu einem Torrent-Download bin ich jedenfalls noch nicht bereit. Das Internet ist frei, denke ich und weiß damals noch nichts davon, wie Big Tech in nur einem Jahrzehnt meine Freiheit dazu nutzen wird, aus meinen Surfgewohnheiten einen Algorithmus zu bauen, um mein Verhalten und meine intimsten Wünsche – Wünsche, die ich selbst noch nicht kenne – vorherzusagen.1

Ich war auf der Suche nach einer Übersetzung eines obskuren japanischen Fancomics, einem sogenannten Dōjinshi (in diesem Fall, wie in einer Vielzahl von Dōjinshis, gay porn). Und anon hat nach einem jungen, männlichen Körper gesucht. Hier treffen und scheiden wir uns also wieder, mein Afab-Körper2 und sein implizierter Male Gaze.

ICQ zeigt mir an, dass wieder getippt wird. anon wiederholt: send pics. Ich schicke ihm keine.

Zu diesem Zeitpunkt bin ich zwölf oder 13 Jahre alt. Wir haben noch nicht lange Internet zu Hause, das Modem spielt bei jedem Einwählen eine digitale Kakophonie. Der lange Schlusston ist befriedigend, er löst einen Druck, er durchdringt eine Barriere. We are online, baby, Teil der Matrix. Beim Surfen habe ich so viel Weitsicht, mich oft als männlich auszugeben und niemals mein echtes Alter zu verraten. Manchmal spiele ich mit meinem Andro-Alter-Ego, stelle mir vor, wie es wäre, ein Mann zu sein, ob queer oder straight – ein Wink in die Zukunft, in der ich mich nicht notwendigerweise nur als weiblich begreifen werde. Auf Foren ist das möglich. Dann gebe ich mich zum Beispiel als Elyas, 19, aus. Normalerweise bleiben die Gespräche, die ich online führe, oberflächlich. Wegen des Dōjinshi´ habe ich aber meine ICQ-Nummer herausgegeben, weil mir anon versprochen hatte, den entsprechenden Link herauszurücken.

R u real?, möchte anon jetzt wissen. Wir wissen beide, dass er die Antwort schon kennt.

Of course. Give me the link & I’ll get a camera, lol.

Okay :P.

Ich bekomme den Link, sende keine Bilder und mache ICQ sofort aus.

Im Netz lebe ich, im Gegensatz zum Rest meines Lebens, risikoreich. Ich setze mich Dingen aus, für die ich gesellschaftlich gesehen zu jung bin, die meine demisexuelle Natur jedoch nicht in erster Linie auf erotischer, sondern auf intellektueller Ebene faszinierend findet.

Ich sehe mich also dort sitzen; mich, damals, vor dem Computer. Das Verbotene ist verlockend, fasziniert mich, macht mich an. Und sicherlich kann ich das Meiste nicht richtig einschätzen, weil die Neuronen in meinem Hirn noch nicht genügend gefestigt, die Synapsen noch nicht richtig geschaltet sind.

Trotzdem.

Mein Denken ist damals vor allem den Dingen gewidmet, die ich interessant finde. Nerdy is the new sexy ist damals noch gefühlte Äonen entfernt, und so bin ich zum Beginn meiner Pubertät vor allem eins: uncool.

Meine Interessen verberge ich daher, so gut es geht. Das gelingt mir während meiner Teenie-Jahre vor allem deshalb, weil sie teilweise kompatibel mit denen des akademischen Mainstreams sind. Zum Beispiel interessiere ich mich für Shakespeare, insbesondere für Othello. Wahrscheinlich zieht mich ein möglicher Diskurs über Race und Closeted Queerness in Bezug auf die Figur des Iago an. Oder das Potenzial von Paralleluniversen. Auch das ist eine Form von Nerdiness. Wenn wir allerdings über Nerddom und Geekdom sprechen, müssen wir zwischen Mainstream-Nerddom einerseits und den übrigen Nerds und Geeks andererseits unterscheiden. Diese Linie verläuft entlang der Grenze zwischen jenen, die aus kapitalistischer Sicht als produktiv bewertet werden, d. h. etwa IT-Spezialist*innen, Physiker*innen, Mathematiker*innen und – wenn auch to a lesser degree – andere Akademiker*innen, und denen, die bestimmte Dinge, Themen und Menschen interessant finden, also Fans, die gelegentlich Teil eines Fandoms sind, und der Verwertungslogik nach als unproduktiv gelten. In der vorliegenden Auseinandersetzung geht es um Letzteres, also den unproduktiven Daseinszustand von Personen, die der Welt absichtlich abhandenkommen wollen.

Auch innerhalb der geekigen Bubble gibt es Hierarchien. Es gibt Gatekeeper,3 die zwischen denen unterscheiden, die beispielsweise echte, also ursprüngliche Anime-Fans seien, und denen, die viel später auf den Zug mitaufgesprungen sind. Casual Nerds, also Gelegenheitsnerds, könne es laut den Gatekeepern nicht geben. Nerds sind ja auch per Definition obsessiv.4 Dass die Obsession allerdings darauf ausgeweitet wird, anderen die Obsessionen abzusprechen, lässt innehalten, lässt stutzig werden. Da wir in rassistischen, patriarchalen Gesellschaften sozialisiert sind, ist auch die Welt der Nerds und Geeks betroffen: Denn Gatekeeper sind hauptsächlich jung, männlich und weiß und versuchen, den Zugang zu ihrer Welt zu kontrollieren.

Was aber, wenn man weder männlich noch weiß noch cis ist und deswegen dem stereotypen Bild eines Nerds nicht entspricht? Welche Plätze lassen sich für diese Nerds finden im digitalen Raum, im gezeichneten Raum, zwischen Panels und Sci-Fi-Serien und Fantasy-Welten?

Die Zahl an Personen, die nicht der Vorstellung des sozial unangepassten jungen Mannes entsprechen, steigt. Trotzdem sind sie vor allem eins: Störkörper, rebellische Akte, progressiv in einem Umfeld, dessen Obsession mit dem Ist-Zustand der Dinge bedeutet, dass es in einem konservativen Korsett verharrt.

In diesem Buch soll es um Nerdiness aus marginalisierter Perspektive gehen, um Widerstand gegen veraltete Ideen dessen, was Nerds dürfen und was nicht, und vor allem darüber, wer sie sein können.

Ich lade ein auf eine persönliche Reise rund um das Verhältnis von mir und anderen Menschen aus marginalisierter Position zu Themen wie Anime, Fantasy, Science-Fiction, Horror, Pen & Paper und Gaming von der Jahrtausendwende bis in die Jetztzeit. Auf eine Reise durch die verschiedensten Bereiche der nerdy und geeky Erfahrung, durch ein Coming-of-Age, das geprägt ist von Pixeln und Zeichentrick und der Suche nach Repräsentation und Empowerment für marginalisierte Menschen in diesen Medien. Es geht darum, was es bedeutet, aus marginalisierter Position nerdy und geeky zu sein sowie um die Entwicklungsgeschichte einer Subkultur innerhalb einer Subkultur. Denn Nerdy Girls wie mich, weder weiß noch männlich noch angepasst, gab es schon immer. Um uns dem Thema anzunähern, tun wir das, was Nerd Girls noch besser können als klassische Nerds: alles von Grund auf auseinandernehmen.

Wie ich aussehe, möchte anon wissen.

I am your revolution, baby. I’m a nerd girl.

  1Zuboff, Shoshana, The Age of Surveillance Capitalism, London 2019.

  2Afab: assigned female at birth: Bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugeschrieben bekommen.

  3Perez, Yali, »You Shall Not Pass: Fandom & The Gatekeeping of Femme Fans«, in: Fandom Spotlite, 01.02.2021. Online abrufbar unter: https://www.fandomspotlite.com/you-shall-not-pass-fandom-the-gatekeeping-of-femme-fans [letzter Zugriff: 29.11.2021].

  4Schofield, Kerry, »Not all nerds are the same«, in: Wired, 2014. Online abrufbar unter: https://www.wired.com/insights/2014/07/nerds-made/ [letzter Zugriff: 29.11.2021].

1. DIE MACHT DES MONDES

Hannah Gadsby, großartige*r australische*r Comedian, machte mit dem Special Nanette 2018 das Nach-unten-Treten männlicher Comedians endgültig salonunfähig, hat Kunstgeschichte studiert und in diesem Fachbereich auch promoviert. In Nanette sowie im Folge-Special Douglas spricht Gadsby von der Obsession cis-männlicher, weißer Künstler, nackte Frauen zu malen, und sie so zu einem für sie formbaren Objekt ohne eigene Handlungsmacht zu degradieren. Von diesen Körpern geht für diese Künstler eine gewisse Anziehungskraft, eine Magie aus. Doch für die Magie des Weiblichen braucht es natürlich keinen männlichen Blick. Die Objekte werden zu Subjekten. Sie werden zu magical women oder, wie es in der japanischen Popkultur heißt, maho shōjo – magical girls.

Das Magical-Girl-Genre ist Ende der 90er und zu Beginn der Zweitausender einer der wichtigsten Pfeiler der japanischen Zeichentrickindustrie, also der Anime-Industrie – Anime ist die japanische Abkürzung des aus dem Englischen kommenden Begriffs Animation. Animes in Japan gibt es in etwa so lange wie Disney in den USA. Das Magical-Girl-Genre gibt es in seinen Grundzügen bereits seit den 70ern. Im globalen Norden ist Sailor Moon (1992) wohl das bekannteste Beispiel. Die Zeichnerin des dem Anime zugrundliegenden Manga heißt Naoko Takeuchi. Takeuchi wurde mit Sicherheit von Serien wie Cutie Honey aus den 70ern beeinflusst, in dem sich ein brünettes katholisches Schulmädchen in die sexy blonde Dämonenkämpferin Cutie Honey verwandelt, die mit ihren neuen Kräften den Tod ihres Vaters rächen will. Ein weiterer für das Magical-Girl-Genre bedeutender Eintrag ist Magical Princess Minky Momo (1982). Da bei den Menschen auf der Erde die Märchen in Vergessenheit geraten, droht der Planet der Märchen Fenarinarsa, das »Land der Träume im Himmel«, immer weiter von der Erde abzudriften. Daher kommt Princess Minky Momo in Gestalt eines jungen Teenagers auf die Erde, um die Menschen an Magie zu erinnern und ihre Träume zu erfüllen, wofür sie sich in eine junge Erwachsene verwandelt.

Sailor Moon wurde in unzählige Sprachen übersetzt und in den 1990ern in vielen Ländern ausgestrahlt. Es geht um das Schulmädchen Usagi Tsukino. Zu Deutsch bedeutet der Name so viel wie »HaseaufdemMond«, weshalb dieser in der deutschen Synchronfassung – eigentlich recht clever – mit »Bunny« übersetzt wurde. Usagi, bzw. Bunny, verfügt über magische Kräfte und kann sich in Sailor Moon, die hübsche Kriegerin für Liebe und Gerechtigkeit, verwandeln. Über fünf Staffeln hinweg begegnet sie Mitstreiter*innen und über Vergangenheit und Zukunft hinweg ihrem Love Interest Mamoru Chiba aka Tuxedo Mask. Mamoru bedeutet wortwörtlich »Ich beschütze dich«; bei Sailor Moon und einigen anderen Animes für ein jüngeres Publikum sind die Namen immer sprechend.

Als ich Ende der 90er nach Deutschland komme, ist die Sailor-Moon-Manie gerade noch spürbar. Meine Lieblingskriegerin ist, wie die vieler BIPoC-Kids, Sailor Mars. Die schwarzen Haare erlauben eine besondere Art der Identifikation für Schwarzköpfe wie mich. Trotz des Serienerfolgs gilt es in der Schule nicht als cool, Sailor Moon gut zu finden, im Gegenteil. Zu wenig ironisch, zu wenig edgy für eine Zeit, in der Skaten und Ironie und Zynismus hochgehalten werden, und wer glaubt denn an Liebe oder Gerechtigkeit? Ich offiziell auch nicht. Ich schaue die Serie also heimlich, es wird mein dirty little secret, und sehe den Anime-Mädchen dabei zu, wie sie sich verwandeln und doch gleichbleiben, da in Sailor Moon, im Gegensatz zu anderen Serien, so getan wird, als könne man die Held*innen nicht erkennen, wenn sie etwas andere Kleidung, Schmuck und Make-up tragen. Jetzt, Jahrzehnte später, gehört Sailor Moon zu mögen zum guten Ton all derer, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, die Serie ist queere Ikone und Coming-of-Age-Stoff für postmigrantische Perspektiven.5 Beim Fandom geht es vor allem um Mode und Ästhetik, eine gewisse Farbpallette und Campiness, um die Transformation der Figuren und ihr Potenzial einer transidentitären Haltung.

It’s an open secret. In Sailor Moon gibt es, obwohl ich es damals noch nicht einordnen kann, erstaunlich viel Queerness. Das offensichtlichste Beispiel sind dabei Sailor Uranus und Sailor Neptun, das lesbische Paar, in ihren nicht-verwandelten Formen Haruka Tenoh und Michiru Kaioh. Haruka ist burschikos, stört sich nicht daran, mit männlichen Pronomen angeredet zu werden, könnte also als nicht-binär gelesen werden, agiert aber eher in der Tradition von Frauen als Männern, wie etwa auch Lady Oscar im gleichnamigen Manga, in dem es um eine kampferprobte Frau geht, die die Leibwächterin Marie Antoinettes zu Zeiten der französischen Revolution wird (im Japanischen Die Rose von Versailles).6 An den Figuren Haruka und Michiru ist interessant, wie ihre Queerness in Japan und im Rest der Welt verhandelt wurde. Das lesbische Paar ist im Anime-Kosmos der 90er Jahre besonders, da es positiv dargestellt wird, und obwohl es in der Manga-Vorlage seitens Haruka einen nicht-konsensuellen Kuss mit Sailor Moon gibt, sind die beiden weder übergriffig oder anders negativ belegt noch letzten Endes tragisch.7 Sie überleben nicht nur alle aufkommenden Katastrophen, ihre Liebe zueinander gilt als zusätzliche Kraft und setzt sie somit von den übrigen Sailor-Krieger*innen ab.

Was moderne queere Repräsentation angeht, so gibt es außerdem die Sailor Star Lights, die eine Verwandlung von Männern zu Frauen vollziehen, um in den Kampf zu ziehen. Als Männer sind sie Künstler, Sänger, als Frauen sind sie Krieger*innen. Der*die Anführer*in der Star Lights, Seiya, ist übrigens in Sailor Moon verliebt.

Überhaupt sind sämtliche Charaktere auf irgendeine Art und Weise queer, selbst Tuxedo Mask aka Mamoru Chiba, Sailor Moons Love Interest, hatte, wie sich später in einem der Filme herausstellte, einmal etwas mit einem cuten Alien-Boy. Diese fiktionale Queerness lässt sich allerdings nicht aus tatsächlicher gesellschaftlicher Akzeptanz von Queerness folgern. Ganz im Gegenteil: Japan ist, nicht anders als die meisten Staaten, eher reaktionär-konservativ eingestellt, was LGBTQI-Rechte betrifft. Zu Zeiten der Shōgune und Samurai waren Liebschaften zwischen Männern zwar nicht ungewöhnlich, wenn auch nicht die Norm, ebenso sind langjährige Liebesbeziehungen in Briefen überliefert, doch nach der zwangsweisen »Öffnung« für den internationalen Handel durch den US-amerikanischen Seeoffizier Matthew Perry wurden während der Meiji-Ära preußische, repressive Werte eingeführt. Der Anziehungskraft gleichgeschlechtlicher Liebe aus heterosexueller Perspektive, d. h. aus Perspektive heterosexueller Frauen, hat dies allerdings keinen Abbruch getan.8

Innerhalb des Shōjo-Genres, das heißt Anime für junge Frauen, also Mädchen und weibliche Jugendliche, gibt es seit 1970 mit Sunroom Nite von Keiko Takemiya das Phänomen Shōnen Ai (in Japan schon seit den 90ern als Boys Love bezeichnet) und seinen expliziteren Zwilling, der im globalen Norden Yaoi heißt. Es handelt sich hierbei um Liebesgeschichten zwischen (jungen) Männern, deren Leser*innenschaft mehrheitlich (cis-)weiblich ist. Dieses Phänomen spiegelt sich auch in Fanfiction wider, dazu später mehr. Außerdem gibt es das im Westen als Yuri betitelte Äquivalent, in dem es um Liebesbeziehungen zwischen Frauen geht. Dieser explizite Fokus auf queere Liebesbeziehungen ist der fiktionalen Sphäre vorbehalten und folgt einer gewissen Heteronormativität; die Mangaka, die Shōnen Ai und Yaoi verfassen, sind meist selbst cis-weiblich. Es geht nicht darum, gesellschaftliche Kritik zu üben, der Aspekt des Verbotenen,9 bzw. eher des gesellschaftlich Geächteten, ist lediglich ein einfacher Plot für ein Drama. Dabei geht es nicht um Identität, sondern darum, dass solche Liebesbeziehungen gesellschaftlich nicht existieren sollen, und es gibt eine klare Unterteilung in einen aktiven, »männlichen« Part und einen passiven, »weiblichen« Part, dem Verführer und demjenigen, der verführt wird. Wenn im Magical-Girl-Genre doch mal komplexe queere Beziehungen auftauchen, dann oft als Teil des Magischen, Unrealistischen, in dem andere Regeln gelten, wie etwa bei Revolutionary Girl Utena.

Andererseits gibt es seit 1998 unterschiedliche Serienadaptionen des Mangas Card Captor Sakura, wobei hier die gesamte Show mit einer zuckersüßen Wholesomeness, einer pastellfarbenen, schönen, heilen Welt einhergeht, einer utopischen Vorstellung vom Leben und der Liebe. Interessant ist, dass auch in Card Captor Sakura alle Figuren queer sind oder zumindest queere Crushes haben (mit der Ausnahme von Sakuras Vater Fujitaka Kinomoto). Diese Crushes gehen mit einer unkommentierten Selbstverständlichkeit einher. Man könnte daher schlussfolgern, dass die allgegenwärtige Queerness in Kombination mit der pinken Utopie eine politische Aussage darstellten, doch dies wäre zu einfach gedacht. Wenn man sich andere Werke des fünfköpfigen Künstlerinnen-Kollektivs CLAMP ansieht, entdeckt man unabhängig von Genre immer jede Menge Queerness. Das hängt damit zusammen, dass die Künstlerinnen in ihrer Jugend in der Dōjinshi-Szene aktiv waren. Dōjinshi sind, wie bereits angemerkt, Fan-Mangas oft expliziter Natur, von denen eine größere Anzahl dem Yaoi-Genre zugeordnet werden kann. Konkret werden Figuren aus Serien, die in diesen nicht queer, sondern oftmals sogar besonders männlich sind, von Fans in queeren Beziehungen imaginiert. Diese Tradition ist inner- als auch außerhalb Japans lang und reichhaltig und manifestiert sich in Fanfiction und Fanzines. Und obwohl das Queere an sich bereits spannend ist, ist das entscheidende hier der Aspekt verbotener Liebe (wenn wir uns später Zetsuai und Bronze ansehen, ist dieses Konzept bereits im Titel zu erkennen), eine künstlerische Exploration des Themas, das mit Lebensrealitäten wenig zu tun hat und im japanischen Kontext ganz anders wahr- und aufgenommen wird beziehungsweise wurde. Trotzdem ist unbestreitbar, dass sich die Kunst auch im Leben widerspiegelt, life imitates art.

In meinem damaligen Life jedenfalls ist der Sailor Moon-Konsum so schambehaftet, dass ich ihn auf der Geburtstagsfeier einer etwas jüngeren Handballspielerin (so dringend wollte ich mich zugehörig fühlen, dass ich in Deutschland das Handballspielen begann, but that’s a different story), als diese aufgeregt und mit riesigen Augen eine Sailor Moon-Uhr auspackt und sich direkt umlegt, so etwas sage wie: »So was würde ich nie tragen.« Ich weiß, dass nicht nur Sailor Moon zu diesem Zeitpunkt Ende der 90er Abwertung erfährt, sondern alles, was ab einem bestimmten Alter, sagen wir 13, als zu girly wahrgenommen wird. Feministische Solidarität gibt es damals zwischen uns Teenagern nicht.

Die Themen Feminismus, Female Empowerment oder Girl Power behandeln Magical-Girl-Serien, mit der Ausnahme von Revolutionary Girl Utena, die aber nur beinahe-und-eigentlich-nicht in dieses Genre passt und deswegen in diesem Buch später noch einmal ausführlicher behandelt wird, ähnlich wie der 2023 erschienene Barbie-Film der Firma Mattel, eher oberflächlich. Die Sailor-Krieger*innen sind vor allem schön (Bishōjo, »schönes Mädchen«, heißt es im japanischen Titel), und die meisten Senshi (Krieger*innen) sind, auch wenn es Ausnahmen wie Sailor Uranus oder die Star Lights gibt, bestimmten weiblichen Stereotypen zuzuordnen (die stille Sailor Merkur, die gut in der Schule ist; die laute, streitsüchtige, leidenschaftliche Sailor Mars; die schöne, aber naive Sailor Venus; die starke, aber mütterlich-zärtliche Sailor Jupiter), die nicht gerade das Patriarchat infrage stellen. Sailor Moon kämpft zwar mit der Macht des Mondes, aus westlicher Perspektive einem Sinnbild für das Weibliche, aber eigentlich wird auch sie letzten Endes von dieser Macht regiert.

Insofern bleiben die meisten Magical Girls vor allem eine Idee, nach der die beobachtenden jungen Mädchen streben sollten: schön, graziös und allzeit bereit, für das Richtige zu kämpfen, und zwar den Erhalt der Welt, wie sie ist, gegen das Böse von außen, für den Erhalt des Status Quo.

Dennoch: Das, was den Magical-Girl-Status ausmacht, ist ihre Wandelbarkeit, ob für das Publikum erkennbar oder nicht. Während sich in Cutie Honey Haarfarbe und Outfit der Protagonistin komplett verwandeln, ist das in den meisten anderen Magical-Girl-Serien nicht so. Manchmal, wie bei Card Captor Sakura, findet innerhalb der erzählten Welt keine Verwandlung statt (hier näht Sakuras Cousine zweiten Grades und eine Person, die einen Girlcrush auf sie hat, Tomoko, der Protagonistin Sakura ihre Kostüme), bei Sailor Moon und Beispielen wie Wedding Peach kommen eigentlich nur Makeup und etwas andere Kleidung hinzu (im Falle von Wedding Peach westliche Hochzeitsästhetik), aber eigentlich verwandeln sich die Charaktere, zumindest für das extradiegetische Publikum, wie bereits angemerkt, nicht. Im Kontext des Sailor Moon-Universums ist Moon Prism Power Make Up, so der Verwandlungsslogan im japanischen Original (und auch in der englischen Synchronfassung), eine wirkliche Verwandlung. Wenn sie Sailors sind, erkennt niemand in ihnen die Schulmädchen wieder.

Ihre Werte und das, wofür sie kämpfen, bleiben dieselben, wenn sie in Montur aka Rüstung sind. Ihre Rüstung ist das Hyperfeminine: Make-up, High Heels, kurze Röcke. Was wie Hypersexualisierung wirken kann, kann gleichsam als Empowerment gelesen werden, weil feminine Ästhetik gern abgewertet wird bzw. einen Gegensatz zur männlichen Kampf- bzw. Machtästhetik darstellt. Wir könnten das Magical-Girl-Genre auch Drag-haft lesen, als eine Geschichte von Bio- und Nicht-Bio-Queens,10 die sich dem Kampf gegen das Böse stellen. Über Sinn und Unsinn der Kampfestracht lässt sich sicherlich streiten, aber wenn Frauen (und femme Personen) die Bösewichte im Namen des Mondes (und auch der jeweiligen anderen Planeten, aber normalerweise bringt Sailor Moon den Spruch) bestrafen, dann ist das letzten Endes wirkliche Girl Power. Und diese Power bedingt sich durch Werte, die ebenfalls feminin markiert sind. Sailor Moon ist eine »Heulsuse«, so heißt es in der deutschen Synchro, also nah am Wasser gebaut, und kann keine Ungerechtigkeit ertragen – sie möchte, dass es allen gut geht, dass es zu Frieden durch Wertschätzung aller Positionen kommt. Bei Sailor Moon ist das Böse im Endeffekt nicht böse, sondern ungeliebt und missverstanden.11 Zum Ende jeder Staffel stirbt mindestens eine der Sailor-Krieger*innen, um wiedergeboren zu werden. Die Welt wird neu und schön durch ihren Kampf für ein besseres Leben für alle.

Magical Girls verweigern sich jeder Objektifizierung, und wenn sie nach dem Willen ihrer zumeist weiblichen Erschaffer*innen geformt werden, dann mit der Zielsetzung der Erlangung einer eigenen Agency, eines Empowerments für sich selbst und für andere junge FLINTA. Die Magical Girls lassen sich nämlich nicht in einfache Kategorien zwängen, Weiblichkeit ist ihre größte Stärke und Mitgefühl ihre größte Waffe: Radikale Empathie auch unter widrigen Umständen. Nach der letzten großen Schlacht der 90er-Jahre-Serie ist Sailor Moon nackt, mit Engelsflügeln. Bis zuletzt ist sie nicht willens, ihrer Gegner*innen wirklich schaden zuzufügen. Im Moment ihres Sieges verliert sie ihre »Rüstung«. Ihre Nacktheit zeigt Verletzlichkeit. Doch dieser gemalte Körper hat – im Gegensatz zu den Frauen auf Bildern männlicher, genialer Künstler, deren »ernsthafte« Kunst in der Gesellschaft einen anderen Stellenwert hat als die popkulturellen Bewegtbilder im Anime – Handlungsmacht.

Und so leiten die Magical Girls, wie kann es anders sein, stets die Revolution ein.

  5Siehe etwa den ästhetischen, oberflächlichen Bezug auf Sailor Moon in Futur Drei | No Hard Feelings (2020, Regie: Faraz Shariat), den ich gemeinsam mit Aidan Riebensahm und Arpana Aischa Berndt im Global Lexicon of Melodrama so beschreibe: »While the film’s narrative follows a simple structure, it is full of montages and cinematographic embellishments that emphasize the characters’ inner worlds, albeit in a metaphoric way that aims to become part of a larger (meta-)discourse. These montages and music video-esque aesthetic choices, that veer away from a hard, gritty reality and have magical under- and overtones (and metaphors, see the theme of the magical girl Japanese anime Sailor Moon, which is recontextualized here as part of a post-migrant childhood, and which serves as Parvis’ catalyst for exploring his femininity), can be viewed as sentimental, since they shift reality into fantastical settings of 90s nostalgia from a post migrant point of view, drawing on children’s cartoons and anime, images of food, soft, dream-like colors and the grainy images of home videos. This cinematographic aesthetic practice, perhaps best encapsulated in the montage of possibilities towards the end of the movie (filmed with a method that turns the images into a fragmented kaleidoscope), which shows the characters how they are and the potentials of how they could have been, is highly melodramatic in nature.«

  6Das Aussehen der Figur Lady Oscar basiert im Übrigen auf Björn Andrésen, der »schönste Junge der Welt« – das kommt auch in dem Dokumentarfilm über Andrésen, Världens vackraste pojke (Der schönste Junge der Welt) von Kristina Lindström und Kristian Petri zur Sprache.

  7Als tragic gays müssen in der Anime-Version von Sailor Moon die Bösewichte Kunzite und Zoisite nach dem Standard »Kill your Gays«-Trope herhalten. Die beiden Figuren sind im Manga Fürsten, die in ihren vergangenen Leben mit den Inner Senshi (= inneren Kriegerinnen, also Sailor Mars, Sailor Venus, Sailor Jupiter und Sailor Merkur) liiert waren, im Anime schlicht Liebhaber. Interessant ist hierbei, dass der feminine Zoisite in der deutschen und anderen Synchros kurzerhand zur Frau gemacht und in der französischen Lokalisation zu Kunzites Bruder wird. Homosexualität zwischen Männern ist in westlichen Kindermedien in den 1990ern noch ein Ding der Unmöglichkeit, doch auch in modernen Kindermedien beschränkt sich Queerness in der Regel auf lesbische Liebschaften, siehe etwa die Neuauflage von She-Ra oder Disney’s Owl House.

  8Diese Pauschalaussage muss natürlich insofern eingeschränkt werden, als dass nicht alle Frauen, auch nicht alle japanische Frauen, homosexuelle Beziehung zwischen Männern anziehend finden und auch nicht alle heterosexuellen Männer Beziehungen zwischen (cis-)Frauen anziehend finden.

  9In Japan wurde Homosexualität bzw. homosexuelle Handlungen nur kurzzeitig während der Meiji-Periode rechtlich verfolgt (1872 bis 1881), allerdings stand noch 2023 die Gleichstellung von Homosexualität vor dem Gesetz zur Diskussion.

 10»Bio-Queen« für cis-weibliche Personen zu verwenden, die weibliche Drag Personas verkörpern, wird zuweilen problematisiert, weil es einen gewissen Naturessentialismus, einen Fokus auf das biologische Geschlecht, widerspiegelt.

 11Die Frage, die sich natürlich stellt, ist, ob das eine gute Vermittlung tatsächlicher Gegebenheiten ist, ob Gewalt und Wut in allen Menschen durch genügend Liebe überwunden werden können. Eine solche Haltung kann auch begünstigen, dass FLINTA, die Medien wie