Neue Theorien entwickeln - Friedrich Krotz - E-Book

Neue Theorien entwickeln E-Book

Friedrich Krotz

0,0

Beschreibung

Wir leben in einer Welt, die sich immer schneller verändert; Globalisierung, Individualisierung, Ökonomisierung oder Mediatisierung sind Stichworte, unter denen dies diskutiert wird. Wie alle Sozialwissenschaften steht deshalb auch die empirische Kommunikationswissenschaft vor immer neuen Forschungsfragen und Forschungsfeldern. Viel stärker als bisher muss Forschung deshalb in Zukunft darauf angelegt sein, neue Bereiche konzeptionell und theoretisch zu erfassen. Dies aber nicht durch blinde Empirie, die sich in der Suche nach Verknüpfungen von immer neuen Variablen erschöpft. Und auch nicht durch reine Denkoperationen, wie alles auch sein könnte. Vielmehr müssen neue Theorien auf empirischer Grundlage entstehen. Dies leistet die heuristische Kommunikationsforschung, mit der sich der Band beschäftigen will. Sie greift unter anderem auf die Ethnographie als Forschungsstrategie zurück – insofern Kommunikation und Kultur eng zusammenhängen, hat Ethnographie in der Kommunikationsforschung bereits eine lange Geschichte. Und wie man konkrete Forschungsfragen durch die nachvollziehbare Konstruktion von empirisch gestützter Theorie beantwortet, zeigt die grounded theory nach Glaser und Strauss. In dem Text wird in diese Methoden sowohl konzeptionell als auch praktisch eingeführt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 551

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Friedrich Krotz:

Neue Theorien entwickeln.

Eine Einführung in die Grounded Theory, die Heuristische Sozialforschung und die Ethnographie anhand von Beispielen aus der Kommunikationsforschung

Köln : Halem, 2019

1. Auflage: 2005

2. Auflage: 2019

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2019 by Herbert von Halem Verlag, Köln

ISBN (Buch) 978-3-86962-452-5

ISBN (ePDF) 978-3-86962-453-2

ISBN (ePUB) 978-3-86962-454-9

Den Herbert von Halem Verlag erreichen Sie auch im Internet unter http://www.halem-verlag.de

E-Mail: [email protected]

SATZ: Herbert von Halem Verlag

DRUCK: docupoint GmbH, Magdeburg

GESTALTUNG: Claudia Ott Grafischer Entwurf, Düsseldorf

Copyright Lexicon ©1992 by The Enschedé Font Foundry.

Lexicon® is a Registered Trademark of The Enschedé Font Foundry.

Friedrich Krotz

Neue Theorien entwickeln

Eine Einführung in die Grounded Theory, die HeuristischeSozialforschung und die Ethnographie anhand vonBeispielen aus der Kommunikationsforschung

Für Petra, Janosch und Nicolas

Inhalt

Vorwort zur zweiten Auflage

Einführung:Von den Forschungsverfahren der Sozialwissenschaften und vom Ziel dieses Buches

I.GRUNDLAGEN EINER THEORIE THEORIEGENERIERENDER FORSCHUNG

1.Annäherungen: Empirie als Rechtfertigung für Theorie und die empirisch gestützte Konstruktion von Theorie als Typus empirischer Forschung

1.1Empirie als die Basis von Sozialwissenschaft

1.2Basisbegriffe und Schritte empirischer Forschung

1.3Beschreibungen, Entwicklung und Test von Theorien als Ziel empirischer Forschung

1.4Die drei Verfahren theoriegenerierender Forschung: ein erster Überblick

1.5Theoriegenerierende Forschung und qualitative Forschung: Ähnlichkeiten und Besonderheiten

1.6Theoriegenerierende Forschung und quantitative Forschung: Kontraste und Voraussetzungen

1.7Ergänzung: Typen von Theorien und das besondere Ziel theoriegenerierender Forschung

2.Basisannahmen theoriegenerierender Forschung

2.1Der kommunikativ vermittelte Charakter der Realität und Kommunikation als Voraussetzung wissenschaftlicher Erkenntnis

2.2Wissenschaftliche Methoden und Verfahren als Ausdifferenzierung von Alltagsverfahren

2.3Der Pragmatismus als Basis theoriegenerierender Forschung

2.4Die Organisation menschlichen Erlebens: Experten, Perspektivität und Praktiken

2.5Formale Logik und Dialektik als Hilfswissenschaften für theoriegenerierende Forschung

2.6Zusammenfassungen und Ergänzungen

3.Theoriegenerierende Forschung als praktischer Prozess

3.1Vom Phänomen zur Beschreibung und zur Theorie:Die Offenheit des Forschungsgegenstandes

3.2Vom Vorverständnis zum Wissen:Die Offenheit von Forscherin und Forscher

3.3Forschung als Dialog:Die Spirale der wissenschaftlichen Erkenntnis

3.4Was heißt: Daten erheben und protokollieren?

3.5Was heißt: Protokolle lesen und Daten auswerten?

II.DIE VERFAHREN THEORIEGENERIERENDER FORSCHUNG: GROUNDED THEORY, HEURISTISCHE SOZIALFORSCHUNG UND ETHNOGRAPHIE

4.Grounded Theory:Die datennahe Generierung von Theorien

4.1Die Grundidee der Grounded Theory

4.2Forschung als spiralförmig angelegte Folge von Schritten, die zu Beschreibung und Theorie führen

4.3Codieren als zentrale Aktivität der Grounded Theory

4.4Memos als Hilfsmittel und die Formen konstruierter Theorie

4.5Die Auswahl der Befragten und die Sättigung der Erfahrungen als Abbruchkriterium des Forschungsprozesses

4.6Ergänzende Anmerkungen

4.7Beispiele: Wie starte ich eine Untersuchung, wie bilde ich Kategorien?

5.Heuristische Sozialforschung: den Gegenstand von allen Seiten betrachten und nach den Gemeinsamkeiten analysieren

5.1Die Entstehung der Heuristischen Sozialforschung und ihre Hintergründe

5.2Forschung als Dialog

5.3Die Regeln der Heuristischen Sozialforschung

5.4Das Prinzip der Auswertung: Analyse auf Gemeinsamkeiten

5.5Was sind Gemeinsamkeiten und wie findet man sie?

5.6Der Ablauf Heuristischer Forschung: Die Auswahl der Befragten und ein Kriterium für ein Ende der Untersuchung

5.7Formen generierter Theorien und Überlegungen zur Qualität von Forschung nach der Heuristischen Sozialforschung

5.8Beispiele und Anmerkungen

6.Ethnographie als Rahmenstrategie zur Generierung von Theorien

6.1Warum noch ein Verfahren?

6.2Was ist Ethnographie?

6.3Anwendungsbeispiel: Ethnographie in der kulturorientierten Kommunikationsforschung und in Bezug auf Internetkulturen

6.4Zum Charakter ethnographischer Forschung im Zusammenhang mit theoriegenerierenden Verfahren

6.5Grundregeln und Phasen ethnographischer Forschung

6.6Ergänzungen und Vertiefungen

7.Die Qualität qualitativer Forschung und eine Ermutigung

7.1Die Qualität qualitativer Forschung

7.2Eine Ermutigung

Literatur

Index

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage der vorliegenden Monographie hat sich manches geändert, was die Sozialwissenschaften, die in ihrem Rahmen betriebene Forschung und die dabei verwendeten Methoden angeht: Einmal haben sich inzwischen so gut wie alle Sozialwissenschaften darauf eingestellt, dass sich im Kontext des Wandels der Medien ihr Gegenstandsbereich verändert hat und weiter verändern wird. Zweitens wandeln sich im Zusammenhang damit die Methoden und Verfahren der wissenschaftlichen Forschung, weil sich die Fragestellungen und Zielsetzungen sowie die leitenden Interessen und das Vorgehen und insgesamt die Bedingungen empirischer Arbeit zumindest teilweise verändern. Drittens scheinen die oft so strikt von einander getrennten akademischen Disziplinen wieder ihren Nachbarwissenschaften mehr Beachtung zu schenken, weil sie alle vor ähnlichen Problemen stehen: es sind ja nicht nur die durch den Medienwandel induzierten Veränderungen, sondern auch andere langfristige und übergreifende Metaprozesse wie Globalisierung und Ökonomisierung, die alle Disziplinen gleichermaßen betreffen. Diese drei Entwicklungen sollen hier in Hinblick auf die Positionierung des Bandes Neue Theorien entwickeln kurz skizziert werden.

Am deutlichsten zeigt sich die erste der genannten Entwicklungen, nämlich der Wandel der Gegenstandsbereiche der einzelnen Sozialwissenschaften und, darüber hinaus, auch vieler weiterer akademischer Disziplinen wie etwa der Psychologie, Medizin, Pädagogik, oder der Religionswissenschaften. Sie alle müssen sich mit dem Aufkommen der Computer, mit neuen Medien und Kommunikationsformen und allgemeiner ausgedrückt mit neuen Formen symbolischer Operationen beschäftigen, die in computerbasierten Netzen stattfinden oder darauf bezogen werden. Denn diese technischen Neuerungen werden zunehmend in immer mehr Bereiche des menschlichen Lebens eingeführt und so entsteht eine digitale, computergesteuerte Infrastruktur, innerhalb der immer mehr symbolische Operationen stattfinden. Zu diesen symbolischen Operationen gehört auch das Kommunizieren der Menschen, die Angebote der alten und neuen Medien, aber auch Maschinenkommunikation: die Verarbeitung von etwa Messwerten oder die Steuerung von Maschinen.

Umgekehrt heißt das, dass immer mehr Menschen in ihrem Alltag und – beispielsweise – beim Erleben und Gestalten ihrer sozialen Beziehungen computerbezogene Kommunikations- und Handlungsformen verwenden, dass Unternehmen, Gruppierungen aller Art, Organisationen und Institutionen in ihren internen wie auch extern gerichteten Arbeitsformen Computer einsetzen, und dass sich so die großen Teilsysteme von Kultur und Gesellschaft immer mehr um diese Infrastruktur herum organisieren – die Wirtschaft und die Politik, die Arbeit und die Demokratie, die Familien und die Bildungseinrichtungen, die Gesundheitsversorgung und die Religion und so weiter. Beispielsweise verändern sich in der Politik die Art und die Inhalte der öffentlichen Diskurse durch den Rückgang der klassischen tagesaktuellen Medien und die sogenannten Sozialen Medien, aber auch die Organisation und die Funktionsweisen der politischen Parteien, der Wahlkämpfe, der Parlamente, der Bürokratie und so weiter. Ebenso relevante Veränderungen müssen auch die anderen Disziplinen berücksichtigen – entweder sind sie dort schon angekommen, oder sie nähern sich mehr oder weniger unaufhaltsam. In der Konsequenz verschieben sich auch gesellschaftliche Traditionen, Sozialisationsformen, Relevanz- und Machtstrukturen.

Wichtig ist dabei, diesen Wandel nicht nur technisch als digitalen Wandel zu verstehen. Vielmehr gibt es auf der einen Seite einen technischen Wandel, der vor allem durch die Potenziale der programmierbaren Maschine Computer und deren universelle Anwendbarkeit sowie deren Vernetzungen geprägt und bestimmt ist. Aber wie diese Techniken sich auf Arbeit und Freizeit, Alltag und Gesellschaft auswirken, ist nicht technisch determiniert und keine lineare Wirkung dieser Technik; die Konsequenzen hängen vielmehr davon ab, wie diese Techniken in die Gesellschaft hinein implementiert und organisiert werden – und vor allem dieser Wandel ist von den Menschen durch ihre Nutzung gestaltbar und durch politische und gesellschaftliche Entscheidungen formbar.

Parallel zur Transformation der Technik muss man folglich eine kontextuelle Transformation der Lebensbereiche der Menschen in den Blick nehmen. Dieser doppelte Wandel wird beispielsweise von der Mediatisierungsforschung untersucht, die sich mit dem Wandel von Alltag, Kultur und Gesellschaft im Kontext des Wandels der Medien theoretisch wie auch empirisch beschäftigt. Dabei impliziert der Medienbegriff, dass es gerade nicht nur um Technik, sondern auch um kulturelle Nutzungsformen und gesellschaftliche Gestaltung geht. Strukturen und Prozesse von und in Alltag, Kultur und Gesellschaft heißen danach mediatisiert, wenn man sie im Verlaufe dieses allgemeinen Wandels nicht mehr ohne Berücksichtigung der Rolle der computergesteuerten Medien theoretisch verstehen oder sinnvoll untersuchen kann. Mediatisiert im Rahmen der bereits vorhandenen computerbasierten Infrastruktur für symbolische Operationen ist heute die Familie, das Aufwachsen der kommenden Generationen, die politische Öffentlichkeit, der Konsum oder auch der Fußball, um nur einige Beispiele zu nennen. Und auf derartige Entwicklungen stellen sich immer mehr auch die Wissenschaften ein, die früher auch selbst im Hinblick auf die Druckmaschine und Papier mediatisiert stattfanden, jetzt aber auch zunehmend im Hinblick auf die computergesteuerte Infrastruktur operieren – sie sind selbst mediatisiert und befassen sich mit mediatisierten Gegenstandbereichen.

Das bedeutet insbesondere, dass ihre bisher gültigen Einsichten und Systematiken mindestens irritiert, manchmal sogar aufgebrochen werden, wenn sich zunehmend auch Formen wie augmented Reality oder sogenannte Künstliche Intelligenz in das Geschehen einmischen, aber auch, dass Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft zunehmend andere Leistungen von den akademischen Wissenschaften erwarten und nachfragen werden. Vermutlich ist noch nie eine solche Vielzahl von Disziplinen gleichzeitig vor derartig bedeutsame neue Fragen gestellt worden, die sich auf ihren jeweiligen Gegenstandsbereich beziehen und sich doch gleichzeitig disziplinübergreifend ähneln. In Anlehnung an Thomas Kuhn kann man zumindest langfristig sogar fragen, ob die akademischen Disziplinen dies im Rahmen ihrer normalen Paradigmen werden bewältigen können oder ob sie nun in grundlegendere Veränderungsbewegungen geraten. Insofern ist dies für alle betroffenen Wissenschaften aber natürlich auch eine spannende neue Zeit, in der sie ihre alten Konzepte überprüfen und neue Perspektiven im Hinblick auf ihre grundlegenden Fragestellungen entwickeln müssen und können. Insbesondere geht es auch darum, dass vielfältige neue Theorien, die ja den Kernbestand wissenschaftlichen Wissens ausmachen, gebraucht werden.

Die hier in der zweiten Auflage vorgelegte Monographie geht auf diesen Wandel durch vier Besonderheiten ein: Indem sie an dem dringenden Bedarf nach neuen Theorien ansetzt, die auf empirischer Basis systematisch entwickelt werden können. Indem sie die traditionelle akademische Zweiteilung von hier Theorie, dort Methoden vieler Disziplinen überwindet und Methoden von dem Bedarf an Theorie her denkt und einführt. Indem sie herausarbeitet, dass die Fragen und Probleme, denen sich Wissenschaft widmet, letztlich immer in Alltag und Gesellschaft angesiedelt sind, auch wenn sie grundlagentheoretisch bearbeitet werden müssen, und damit die oft konzeptionell gedachte Abgrenzung von Wissenschaft von der gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem Leben und dem Alltag der Menschen zwar nicht aufhebt, aber neue konzeptionelle Bewältigungsformen anbietet. Und schließlich, indem sie auch darauf Wert legt, wissenschaftliche Arbeit wissenschaftstheoretisch zu begründen, denn nur durch solche Begründungen unterscheidet sich wissenschaftliches Wissen von anderem Wissen.

Die damit zusammenhängenden Irritationen für die herkömmliche Wissenschaft betreffen natürlich auch Forschungsmethoden, die zweite eingangs genannte Entwicklung im Zusammenhang mit den heutigen Mediatisierungsprozessen. Dabei muss der Begriff der Methoden weit gefasst werden – es geht auch um empirisches Vorgehen, um wissenschaftstheoretische Rechtfertigungen, um die Formen der Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die sich verändern.

Dieser Wandel betrifft die Methoden auch dadurch, dass sich die Arbeitsbedingungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verändern. Es verändern sich die Formen der Datenerhebung wie auch die Möglichkeiten der Datenverarbeitung, etwa durch Hochleistungscomputer sowie durch weiter entwickelte Softwareumgebungen und komplexe Hilfsprogramme, die zur Verfügung stehen. Mit dem Smartphone ist auch immer ein Gerät für vielfältige wissenschaftliche Operationen präsent, mit dem Internet besteht die Möglichkeit, dass sich die früher eher regional oder national begrenzten Horizonte wissenschaftlicher Diskurse viel leichter ausweiten usw.

Von diesen Veränderungen ist insbsondere die quantitative Sozialforschung betroffen. Ebenso wie früher das Telefon haben das Internet und seine daran angeschlossenen Endgeräte wie das Smartphone die Möglichkeit der Datenerhebung im Falle quantitativer Forschung erweitert – Datenerhebung kann heute auch Online stattfinden. Beim Übergang von Face-to-Face-Interviews zu postalischen oder telefonischen Befragungen traten dann allerdings auch eher unbeabsichtigte Veränderungen auf – die eigentlich für quantitative Erhebungen wichtige Standardisierung der Erhebungssituation war nicht mehr gewährleistet, sie konnte auch nicht mehr kontrolliert werden. Mit der Online-Datenerhebung kam dann noch das Problem dazu, dass die Zahl repräsentativer Studien kleiner wird. Repräsentativität erst ermöglicht es ja, unter Abschätzung eines Irrtumsrisikos die Ergebnisse von einer Auswahl, also von einem Teil der Grundgesamtheit, auf die Grundgesamtheit insgesamt zu übertragen. Mit diesem Verlust entstehen Gültigkeitsprobleme, die bisher, soweit zu sehen ist, nicht überwunden werden konnten, vielmehr scheint die Repräsentativität von Auswahlen der quantitativen Forschung aus dem Blick zu geraten.

Heute kommen nun weitere Veränderungen wie BIG DATA, Datafizierung und die sogenannte Künstliche Intelligenz auf, die Empirie verändern. Sie setzen daran an, dass immer mehr dessen, was in der Welt geschieht, sich in irgend einer Weise in die computerbasierte Infrastruktur für symbolische Operationen hinein abbildet und von entsprechender Software systematisch gesammelt, gespeichert und für eine Verwendung welcher Art auch immer aufbereitet wird. Der damit verbundene Reiz der unübersehbar vielen Verhaltensdaten, die technisch zur Verfügung stehen, legt es nahe, diese zu analysieren und explizit oder implizit davon auszugehen, dass die damit erzielte Ergebnisse eigentlich die ganzen Grundgesamtheiten beträfen und Repräsentativität von daher nicht mehr erforderlich sei – wenn sich BIG DATA Forscher zu solchen Fragen überhaupt äußern. Aber auch das wirft wissenschaftstheoretisch bisher nicht beantwortete Fragen nach der Gültigkeit auf, die nicht nur mit dem Hinweis auf eine mögliche praktische Verwendbarkeit beantwortet werden können. Denn die Abweichungen von bisher üblichen theoretisch anvisierten Grundgesamtheiten wie »alle Deutschen zwischen 14 und 65 Jahren«, die entstehen, wenn man sich auf technisch erzeugte Verhaltensdaten beruft, lassen sich kaum statistisch klären. Zudem ist unklar, was der Wechsel von Befragungs- oder Beobachtungsdaten zu Verhaltensdaten, über deren Zustandekommen, was Erhebungszeitpunkte oder Erhebungssituationen angeht, man gar nichts mehr weiß, zu bedeuten hat – führt die via Fragebogen mögliche Rekonstruktion etwa eines Einkaufsprozesses zu Ergebnissen, die den Erkenntnissen gleichen, die man aus entsprechenden Verhaltensdaten gewinnen kann? Und schließlich ist auch offen, wie die mit Hilfe von Algorithmen auf Basis sogenannter künstlicher Intellgenz gewonnenen Ergebnisse im Einzelfall gewonnen wurden und in welchem Verhältnis derartige komplexe maschinelle Auswertungen zu den traditionellen statistischen Auswertungen stehen.

All dies ist wahrscheinlich für Marktforschung oder für direkt auf Einflussnahm und Manipulation angelegte Interventionen in den Netzen etwa politischer Art, wie sie von Cambrigde Analytica möglich gemacht wurden, kein wesentliches Problem. Denn hier kommt es auf Optimierungsprozesse auf Basis mathematisch gefasster sozialer Daten an. Wie jedoch akademisch ausgerichtete Forschung die Qualität und Vergleichbarkeit ihrer Ergebnisse sichern will, ist erst einmal offen. Sie kann zwar, sofern die kommerzielle Industrie Wissenschaftlern Zugang zu ihren gigantischen Datensammlungen gewährt, beispielweise menschliches Interaktionsverhalten oder gesellschaftliche Diskurse mit Hilfe viel umfassenderer Datenbasen untersuchen, aber wie sie die Gültigkeit ihrer Resultate wissenschaftstheoretisch begründen will, muss erst einmal noch geklärt werden. Dies auch deswegen, weil keineswegs klar ist, wie sich Beschreibungen kultureller und sozialer Phänomene und Prozesse verändern, wenn man sie auf Basis der Daten beschreibt und analysiert, die über die elektronischen Abbildungen irgendwelchen Geschehens im Netz gewonnen werden können. Die Theorie jedenfalls bleibt dadurch wahrscheinlich wohl auf der Strecke, weil sie zu diesen datenbezogenen Vorgehensweisen eigentlich nichts beizutragen hat.

Die Probleme der sich wandelnden quantitativen Forschung liegen also im Bereich der wissenschaftstheoretischen Begründung, der Datenorientierung zu Lasten einer Theorieorientierung und in einer unverstandenen und nicht reproduzierbaren Datenselektion durch die Technik und deren Auswertung. Vermuten kann man, dass die quantitative Forschung unter diesen Bedingungen zunehmend mit Hilfe von sogenannter Künstlicher Intelligenz (KI) immer weiter standardisiert wird, sodass nur noch das systematische Ausformulieren einer Forschungsfrage sowie die Interpretation von Ergebnissen als menschliche Aktivitäten übrig bleiben. Zumindest zeichnet sich dies in der Markforschung ab. Es wird dann wohl auch nicht mehr lange dauern bis KI sukzessiv auch diese Aufgaben übernimmt. Von daher lässt sich sogar weitergehend vermuten, dass sich sogar die Fragestellungen, mit denen sich die quantitativ gestützte Wissenschaft beschäftigt, zumindest teilweise so verschieben werden, dass eher Fragen untersucht werden, die mit Datenanalysen beantwortet werden können, dass also der theorielose Empirismus in den Sozialwissenschaften voranschreitet, der Theorie als eine Sammlung von Hypothesen missversteht.

Die qualitative Forschung bleibt von einer Umorientierung durch immer mehr Daten weitgehend unberührt, und auch der Wandel der Medien durch den Computer wirkt sich erkennbar nicht auf die Leitfrage qualitativ angelegter Forschung aus. Denn sie orientiert sich in Anlehnung an Max Weber vor allem am sozialen Sinn menschlichen Handelns, der gerade mit Variablen nicht operationalisiert werden kann, aber dennoch für das menschliche Handeln konstitutiv ist. So muss man zunächst einmal vermuten, dass sich qualitative und quantitative Forschung in unterschiedliche Richtungen ausdifferenzieren werden und dass infolgedessen die Idee, auf mixed methods zu setzen, in Zukunft eher seltener realisiert wird. Mixed methods-Studien, die also sowohl qualitative als auch quantitative Verfahren benutzen, waren ja auch bisher wissenschaftstheoretisch und was ihren Erkenntniswert angeht, nicht recht überzeugend. Denn die jeweiligen Verfahren wurden auf unterschiedliche Forschungsteilfragen angewandt und die zentralen Unterschiede – die Konzentration auf das Messen mit seinen Bedingungen und auf funktionale Beziehungen auf der Basis von Statistik einerseits und die Orientierung an subjektivem Sinn und prinzipiell offener Kommunikation andererseits – wurden so einfach nur überspielt. Möglicher Weise werden sich in der Folge nun auch die einzelnen Disziplinen in verschiedene Richtungen ausdifferenzieren, in denen entweder qualitative oder quantitative Forschung betrieben wird. Denn letztlich passen ja auch die mit qualitativer Forschung gewonnenen Theorien, die, wie oben gesagt, auf Sinnrekonstruktion und Kommunikation beruhen, mit quantitativ begründeten Theorien, die mit Messoperationen und zukünftig als objektivierte Abbilder sozialen Geschehens erhoben werden und die Zusammenhänge als funktionale Relationen fassen, nicht ohne Weiteres zusammen. Eine Ausdifferenzierung in eher theorielose Datenanalysen und systematisch konstruierte Theorien wird diesen Gegensatz wohl verstärken.

Das bedeutet freilich nicht, dass sich nicht auch die qualitative Forschung verändern wird. Denn dort werden auch weiterhin quantifizierbare Ergebnisse in einem aber bescheidenen Ausmaß verwendet werden. Auch gab und gibt es ja Versuche, quantitative Daten qualitativ auszuwerten, ohne erst einmal gigantische Rechenoperationen darauf anzuwenden. Zudem werden wohl auch immer bessere Softwareprogramme entwickelt werden, die qualitative Auswertungen unterstützen. Vermutlich wird sich die qualitative Forschung, die jetzt schon aus zum Teil sehr unterschiedlichen Forschungsverfahren besteht, auch selbst weiter ausdifferenzieren. Vor allem aber ist anzunehmen, dass sich qualitative Forschung leichter daran anpassen kann, dass Alltag, Kultur und Gesellschaft immer weniger stabil sind und immer mehr als Prozesse verstanden und untersucht werden müssen. Dies liegt einerseits daran, dass, wie der vorliegende Band zeigt, qualitative Forschung immer auch als variabler Prozess begriffen wurde und wird. Und andererseits daran, dass, wie ebenfalls in dem vorliegenden Band argumentiert wird, die qualitativen Verfahren letztlich Spezialisierungen und Systematisierungen von Alltagserkundungsverfahren sind und qualitative Forschung nicht davon ausgeht, dass nur und ausschließlich formale Logik und Mathematik zulässige Hilfswissenschaften für die Erkenntnis von sozialer Realität sind. Insofern bleibt der qualitativen Forschung der Alltag als Ressource für Methoden und Modifikationen von Methoden erhalten. Das zeigt sich auch jetzt schon in vielfältigen Neuerungen wie etwa der Wiederbelebung der Aktionsforschung in der Medienforschung, die ihre Ergebnisse in erster Linie zur Ermächtigung der Betroffenen verwendet, oder der Wiederbelebung der (dialogischen) Introspektion, die an der Reflexion des Einzelnen anknüpft, und eben auch an dem vorliegenden Band, der Methoden von der Notwendigkeit von Theorien her denkt, also die Ressource Alltag auch nutzt, indem er Wissenschaft als Einrichtung mit einer ganzheitlichen Perspektive versteht.

Integrativ, was den Gegensatz zwischen qualitativer und quantitativer Forschung angeht, kann es in Zukunft möglicher Weise sein, dass sich qualitative Theoriekonstruktion, wie sie in diesem Band vorgestellt wird, zwar bisher auf datennahe und formale Theorien konzentriert, dass aber mit der Grounded Theory auch Überlegungen vorliegen, wie man aus datennahen Theorien zu formalen Theorien gelangen kann. Vielleicht kann da auch die ausgesprochen breit anwendbare heuristische Forschung weiterhelfen, wie sie hier vorgestellt wird, und die Ethnographie hat sich schon immer aller Daten bedient, die ihr zugänglich waren, wenn es um definierte Forschungsziele ging. Vielleicht lassen sich also die in dem vorliegenden Band dargestellten Überlegungen zur Konstruktion von Theorien, die auf qualitativer Sozialforschung beruhen, weil es im quantitativen Bereich derartiges nicht gibt, ja auch für eine Konstruktion datennaher und formaler Theorien verwenden, die auf quantitativen Daten beruhen.

Abschließend lässt sich im Hinblick auf die eingangs genannte zweite Entwicklungslinie der Methoden sagen, dass es – neben den bereits genannten Überlegungen – eine Grundidee des vorliegenden Bandes ist, angesichts der rapiden Veränderung der Lebensbedingungen der Menschen im Zusammenhang mit dem Medienwandel das Entwickeln neuer Theorien zu unterstützen und in dafür angemessene Methoden einzuführen. Dies geschieht auf Basis eines sinnbasierten Menschenbildes, wie es in qualitativer Forschung prinzipiell unterstellt ist.

Die dritte zu konstatierende Entwicklung beinhaltet, dass sich die einzelnen sozialwissenschaftlichen Disziplinen in ihrer Abgrenzung weiterentwickeln, indem sie ihre Nachbarwissenschaften in den Blick nehmen und so thematisch neue Gemeinsamkeiten erkennen oder zulassen und zugleich ihr Instrumentarium an Methoden erweitern und ausdifferenzieren. So erweitern etwa Volkskunde, Ethnologie und Sozialanthropologie ihre Perspektive, wenn sie die Ethnographie des Internets und damit einer technisch erzeugten Welt betreiben, befassen sich Soziologen mit ethnographischer Forschung, wo kulturelle Differenzen zu beachten sind, berücksichtigen Politikwissenschaftlerinnen die Bedeutung von Medien und kommunikations- bzw medienwissenschaftliche Forschung dazu, entdeckt die Medizin, dass sie es auch mit Interaktionen von Menschen miteinander zu tun hat, beschäftigt sich Religionswissenschaft damit, was es für ein religiöses Menschenbild bedeutet, wenn es jetzt auch intelligent genannte Roboter gibt, und damit, was sich jenseits der offiziellen Kirchen an religiösen Aktivitäten und Vorstellungen entwickelt – und so weiter.

Die damit angesprochenen Öffnungsprozesse zeigten sich beispielhaft auch in dem DFG-Schwerpunktprogramm »Mediatisierte Welten«, das von 2010 bis 2017 von der Universität Bremen aus koordiniert wurde. Im Gegensatz zu vergleichbaren anderen Programmen kamen die meisten Forscherinnen und Forscher in diesem eigentlich kommunikationswissenschaftlich beantragten Programm nicht aus der Kommunikationswissenschaft, sondern aus der Soziologie, und trotz einer thematisch relativ engen Auswahl geförderter Projekte durch die entscheidende DFG-Kommission waren zudem literaturwissenschaftlich basierte Medienwissenschaft, Pädagogik, Informatik sowie Musikwissenschaft vertreten. Nahezu alle Projekte arbeiteten mit qualitativen Methoden, weil sich damit angesichts der erst einmal wenigen gesicherten Einsichten und des ständigen Wandels im Forschungsfeld eben datengestützte Theorien entwickeln lassen. In die gleiche Richtung weist etwa auch die Verwendung des kommunikationswissenschaftlichen Mediatisierungskonzepts in zahlreichen nicht sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Solche Entwicklungen harren jedoch einer systematischen Untersuchung. Auch wäre genauer herauszufinden, unter welchen Bedingungen akademische Disziplinen eher dazu neigen, sich abzuschließen bzw. sich auf traditionelle Grundlagen zurückzubesinnen.

Zusammenfassend lässt sich plausibel behaupten, dass das hier in zweiter Auflage erscheinende Buch und das darin erarbeitete Verständnis von Forschung zur weiteren wissenschaftlichen Entwicklung unter Mediatisierungsbedingungen beitragen können. Es scheint immer noch das mehr oder weniger einzige Methodenbuch zu sein, dass Methoden nicht grundsätzlich als eine Säule von Wissenschaft in den Blick nimmt, sondern disziplinübergreifend danach fragt, mit welchen Methoden man hilfreiche Theorie mit Bezug auf empirische Daten entwickeln kann. Dies ist vor allem auch dann nötig, wenn Wissenschaft inmitten eines großen Umwälzungsprozesses ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Denn unter solchen Bedingungen muss Wissenschaft die historischen Kontinuitäten und das wesentliche Neue der Entwicklung herausarbeiten und einander gegenüber stellen, die bisherigen Entwicklungen kritisch analysieren und der Zivilgesellschaft sowie dem Staat theoretisch eingeordnete und damit reflektierte und verstandene Einblicke ermöglichen, die dazu beitragen, die Entwicklung zu prognostizieren und zu gestalten. Denn mit den derzeitigen Entwicklungen, die entscheidend von Technik und Industrie geprägt sind, wird auch über die Zukunft der Menschheit entschieden.

Damit sind auch einige Alleinstellungsmerkmale des vorliegenden Bandes genannt, die eine zweite Auflage sinnvoll machen. Dafür wurde neben diesem Vorwort der Text kritisch durchgesehen und ggf. verbessert und ergänzt, zudem wurden einige Literaturhinweise aktualisiert. Ich danke dem Verlag, dass er diese zweiten Auflage angeregt hat und diesen Band in seiner Besonderheit weiterhin zugänglich hält.

Hamburg, im Februar 2019

Friedrich Krotz

EINFÜHRUNG:VON DEN FORSCHUNGSVERFAHREN DER SOZIALWISSENSCHAFTEN UND VOM ZIEL DIESES BUCHES

Wir leben in einer Welt, die sich immer schneller verändert. Globalisierung, Individualisierung, Ökonomisierung und Mediatisierung sind einige der vielen Stichworte, unter denen diese Veränderungen untersucht und diskutiert werden. Parallel zum sozialen und kulturellen Wandel verändern sich die Gegenstandsbereiche der einzelnen Sozialwissenschaften, die vor immer neue Fragen gestellt werden, während gleichzeitig die Ansprüche an die unmittelbare Verwendbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse größer werden. Besonders deutlich ist dies etwa in der Kommunikationswissenschaft, die sich verstärkt mit digitalen Medien und mobilem Telefonieren, mit Computerspielen und Roboterkommunikation beschäftigen sollte, während gleichzeitig ihr klassisches Thema, das Feld öffentlicher Kommunikation als Basis von Demokratie, ebenfalls immer mehr Aufmerksamkeit verlangt. Aber auch in den anderen Sozialwissenschaften tun sich immer neue Forschungsbereiche auf, die theoretisch und empirisch bearbeitet werden müssen – von der Ethnologie bis zur Politikwissenschaft, von der Psychologie bis zur Soziologie. Sie benötigen neue und gute Theorien, um diese sich ändernde Welt zu beschreiben, zu erklären, zu verstehen und um sie handhabbar zu machen.

Die Frage, wie man1 sozialwissenschaftliche Theorien sinnvoll entwickelt und, allgemeiner, wie Theorien im Prozess der Wissenschaft entstehen, rückt damit immer mehr in den Vordergrund. Das bedeutet natürlich keineswegs, dass die bereits vorhandenen Theorien und Untersuchungen der sozialwissenschaftlichen Disziplinen obsolet und unbrauchbar werden – zum Teil müssten sie heute allerdings neu bedacht werden. Aber wichtiger noch: Wie entstehen neue gültige und brauchbare Theorien, deren Produktion ja zum Kern wissenschaftlichen Arbeitens gehört? Unabhängig von der Frage, ob sie richtig, wahr oder gültig sind und auch wofür sie gut sind – sie entstehen jedenfalls in der Sozialwissenschaft auf ganz unterschiedliche Weise: Sie können intuitiv erfunden werden, sie können einem großen Geist quasi von selbst zufliegen. Man kann versuchen, sie sich systematisch auszudenken. Man kann sie auch auf der Basis bereits vorhandener Einsichten entwickeln. Theorien können ferner wie bei Max Weber oder Niklas Luhmann das Ergebnis langjähriger empirischer und/oder theoriegeleiteter Auseinandersetzung mit spezifischen sozialen oder kulturellen Fragestellungen sein. Man kann Theorien aber auch systematisch entwickeln, indem man dafür gezielt Daten erhebt und sie im Hinblick auf die Konstitution von Theorie auswertet. Das ist das, worum es in dem vorliegenden Buch geht.

Im Hinblick auf ihre Alltagsprobleme wissen die Menschen eigentlich ziemlich gut, wie man das macht. Wem sich im ›normalen Leben‹ ein Problem in den Weg stellt, der denkt sich meist nicht irgendeine Lösung aus und probiert dann, ob es klappt – das wäre ein Testen von Hypothesen, das schnell im Desaster enden kann. Vielmehr wird man stattdessen versuchen, eine Lösung zu entwickeln, die mit hoher Wahrscheinlichkeit hilfreich ist. Man überlegt zum Beispiel, ob man vielleicht eine der eigenen Erfahrungen, die man auf einem anderen, ähnlichen Praxisfeld gemacht hat, zu Rate ziehen kann, um das Problem zu lösen. Und man befragt andere, von denen man vermutet, dass sie über den fraglichen Sachverhalt Bescheid wissen: Wenn ich zum Beispiel wissen will, wie ich in einer fremden Stadt zum Bahnhof komme, macht es Sinn, die Leute, die dort wohnen, zu interviewen.

Man versucht also im Alltag, systematisch ausgedrückt, durch Datenerhebung und Datenauswertung zu Lösungen zu gelangen. Auch wenn die Lösung von Alltagsproblemen nicht auf die Konstruktion von Theorien oder wissenschaftlichen Erkenntnissen hin angelegt ist, funktionieren solche Alltagsverfahren dennoch im Prinzip so ähnlich wie wissenschaftliche Forschung. Man kann sogar sagen, dass die wissenschaftlichen Verfahren aus den Alltagsverfahren abgeleitet sind, aber natürlich anderen, viel schärfer formulierten Kriterien genügen müssen, damit sie in der Wissenschaft akzeptabel sind. Während man im Alltag versucht, ein Problem zu lösen, zielt Wissenschaft zunächst auf Theorie, also auf die Konstruktion und Verwendung brauchbarer und allgemeiner Begriffe oder auf das Erkennen von allgemeinen Zusammenhängen, und darüber dann auf eine Lösung des Ausgangsproblems. Aber dennoch sind die Vorgehensweisen prinzipiell ähnlich.

Man kann dementsprechend sagen, dass man unter ›Theorieentwicklung‹ einen gezielten, problembezogenen, systematischen und datengestützten Prozess versteht, mit dessen Hilfe man von einer Ausgangsfrage bzw. einem Ausgangsproblem zu einer Theorie als Teil von Wissenschaft gelangt, mit der die Ausgangsfrage beantwortet und aus der schließlich auch eine brauchbare Lösung des Ausgangsproblems abgeleitet werden kann. Eine solche systematische Entwicklung von Theorie gehört ganz offensichtlich zur Arbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

Wie man das macht, lernen Studierende der Sozialwissenschaften aber im Allgemeinen nicht. Wenn man sich die Lehrbücher zur empirischen Sozialforschung ansieht, wird auf der Grundlage wissenschaftstheoretischer oder anderer Vorannahmen in eine von zwei Arten von Sozialforschung eingeführt: Entweder in die sogenannte quantitative oder in eins der vielfältigen, sogenannten qualitativen Verfahren.2 Die quantitativen Verfahren unterscheiden sich von den qualitativen in den zugrunde liegenden Annahmen, im Vorgehen, in den konkreten Forschungsschritten und in den möglichen oder tatsächlichen Ergebnissen. Die qualitativen Verfahren unterscheiden sich aber auch untereinander, manchmal auf grundlegende Weise. Manchmal werden die quantitativen Verfahren als die standardisierten, die qualitativen Verfahren als die nicht standardisierten bezeichnet (AVERBECK-LIETZ/MEYEN 2016). Das ist jedoch keine klare Unterscheidung, weil alle Forschungsverfahren letztlich Regeln aufstellen, denen Forscherinnen folgen müssen. Die quantitativen sind dann eher standardisiert, die qualitativen sind es seltener, aber manche wie etwa Leitfadenintervies

•Die sogenannte quantitative Forschung – wir werden ihr Vorgehen in 1.6 skizzieren – bildet, sieht man von Ethnographie und Volkskunde ab, den methodologischen Mainstream der Sozialwissenschaften. Sie orientiert sich an der Naturwissenschaft und versteht ebenso wie diese das, was sie tut, als Messen von Ausprägungen von einzelnen Merkmalen. Weil alle quantitativen Vorgehensweisen von der Operation des Messens ausgehen, sich an formaler Logik und Mathematik orientieren und im Prinzip gleichartig angelegt sind, kann man auch von einem einheitlichen, formallogisch-mathematischen Paradigma in der Sozialforschung sprechen. Dessen theorierelevanter Ertrag konzentriert sich dabei auf das Testen vorhandener Hypothesen. Diese Hypothesen sind Aussagen der Form Wenn-dann bzw. Je-desto oder Ableitungen bzw. Kombinationen davon. Sie drücken bezogen auf die soziale Wirklichkeit funktionale Beziehungen aus – und das sollen sie auch, weil die quantitative Forschung auf der Suche nach räumlich, zeitlich und sozial übergreifenden Zusammenhängen ist, die sie als Gesetze begreift – wie eben auch die Naturwissenschaften nach allgemeinen funktionalen Gesetzen suchen.

Die Frage, wie man Theorien systematisch entwickelt, stellt sich in diesem Paradigma dann offensichtlich nicht. Man kann – natürlich unter Verwendung angemessener Begriffe – einfach Aussagen der Form Wenn-dann oder Je-desto formulieren, die sich auf den jeweiligen Gegenstandsbereich beziehen. Die Theorie setzt sich dann aus solchen Aussagen zusammen, man muss sie aber natürlich, bevor sie Teil des wissenschaftlichen Wissens werden, empirisch überprüfen. Und man muss beim Überprüfen sehr systematisch und kontrolliert vorgehen, wenn man die Wissenschaft nicht ruinieren will.

Von daher kann man sich die quantitative Sozialforschung als eine Art von Werkzeugkoffer vorstellen, in dem ähnlich strukturierte Instrumente liegen, mit denen man Daten erhebt und analysiert. Die Regeln, wie man diese Instrumente konstruiert und benutzt, ähneln sich für Befragung und Beobachtung, für Experiment und Inhaltsanalyse. Das gleiche gilt für die Auswertung der einmal erhobenen Daten. Deswegen ist quantitative Forschung ja auch arbeitsteilig möglich und kann an Hilfskräfte oder Agenturen, in absehbarer Zeit vermutlich in immer mehr Teilen auch an Software delegiert werden.

Ein solches Verständnis von Forschung hat natürlich vielfältige Konsequenzen für die möglichen Ergebnisse, aber auch für die Art, wie Forscher der Realität gegenübertreten. Die verwendeten Instrumente wie zum Beispiel Fragebögen dienen als Filter für das, was von der Realität berücksichtigt wird und was nicht. Die beteiligten Forscherinnen sind zwar für die Entwicklung und Bedienung der Instrumente und dann wieder für die Auswertung zuständig, gelten sonst aber eigentlich nur als störend. Denn der Forschungsgegenstand wie auch die Beziehung zu den Objekten, mittels derer Daten erhoben werden, werden als unabhängig von den Forscherinnen gedacht, die keinesfalls beeinflusst werden dürfen. Das hat dann immer die Konsequenz, wie es der Psychoanalytiker und Ethnologe George Devereux (1967) ausgedrückt hat, dass der Forscher sich hinter seinen Messinstrumenten verschanzt, über geeigneten Operationalisierungen grübelt, mathematische und insbesondere statistische Probleme löst, Indizes konstruiert und Daten per SPSS analysiert, anstatt sich auf die soziale Realität offen und kommunikativ einzulassen. Dahinter steht das traditionelle Verständnis, wie man beim Messen vorzugehen hat. Ein derartiges Vorgehen war wohl im Fall der Naturwissenschaft jedenfalls bis zu Albert Einstein und Max Planck erfolgreich –, danach aber nicht mehr. Und ob das für die Sozialwissenschaften das einzig angemessene Vorgehen ist, ist nicht plausibel und dementsprechend strittig.

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich gibt es hervorragende, auf quantitativen Daten basierende Untersuchungen, die spezifische Fragen beantworten, aber im großen Ganzen behindert die einseitige Betonung quantitativer Verfahren in den Sozialwissenschaften die Forschung.

•Die sogenannten qualitativen Verfahren sind demgegenüber sehr viel schwieriger zu beschreiben, weil sie eine eher unübersichtliche Vielfalt bilden – psychoanalytische, hermeneutische und ethnomethodologische Forschung, Diskurs-, Inhalts- und Filmanalyse funktionieren je nach ganz unterschiedlichen Regeln und geben auch nur auf ganz bestimmte Fragestellungen Antwort. Man kann hier eigentlich nicht von einem einheitlichen Paradigma sprechen. Immerhin kann man aber ganz allgemein sagen, dass die qualitativen Forschungsverfahren kontextbezogene und kontextberücksichtigende Verfahren sind. Sie gehen davon aus, dass sich der Bereich der Sozialwissenschaften von dem der Naturwissenschaften grundlegend unterscheidet. Während die Natur gewissermaßen ›geschieht‹, beruht ›das Soziale‹ auf dem menschlichen Handeln, und menschliches Handeln geschieht nicht einfach, sondern ist immer sinngeleitetes und bedeutungsstrukturiertes Geschehen. Wenn man also die soziale Wirklichkeit verstehen will, muss man am gemeinten Sinn sozialen Handelns ansetzen. Sinn definiert aber nicht die Forscherin oder der Forscher, sondern die oder der Befragte oder Beobachtete, also die Person, um deren Wirklichkeit es geht und auf deren Wirklichkeit sich Forscherin oder Forscher einlassen müssen: Qualitative Forschung berücksichtigt deshalb eben die Kontexte, in denen Handeln und, allgemeiner, soziale Wirklichkeit entstehen. Sie ist zudem immer kommunikativ angelegt, weil man letztlich nur in der kommunikativen Auseinandersetzung mit einem anderen Menschen den Sinn dessen verstehen kann, den er mit sozialem Handeln verbindet.

Auf diesen Grundannahmen haben sich also mittlerweile unterschiedliche qualitative Verfahren entwickelt. Bedauerlicherweise gibt es kaum systematische Darstellungen davon, auf welchen weiteren fundamentalen theoretischen Annahmen die einzelnen qualitativen Ansätze beruhen, für welches Anwendungsgebiet sie gedacht sind und welche Fragestellung man damit beantworten kann. Auch die Frage, ob jedes als qualitativ attribuierte Verfahren in sich überhaupt plausibel ist, ist keineswegs hinreichend beantwortet. Immer noch kann jeder, der nicht quantitativ forscht, zwar behaupten, er tue dies eben qualitativ – was aber sicherlich verlangt, dass es methodisch kontrolliert und nachvollziehbar geschieht und jeweils begründet werden muss. Immer noch wächst der bunte Strauß qualitativer Verfahren so durch weitere, die oft nur ad hoc entwickelt werden. Auch sind kaum klare Kriterien konsensuell benannt, mit denen man eine qualitative Untersuchung beurteilen kann. Dennoch gibt es natürlich auch wunderbare Arbeiten, großartige Ergebnisse und unglaublich dichte Beschreibungen und Theoretisierungen, die auf Basis qualitativer Forschung entstanden sind. Und es ist erkennbar, dass es bemerkenswerte Bestrebungen gibt, das offene Feld von qualitativen Verfahren zu ordnen und weiterzuentwickeln.

•Die theoriegenerierenden Verfahren, die wir in diesem Buch behandeln, werden üblicherweise zu den qualitativen Verfahren gerechnet. Das ist im Prinzip auch richtig, weil sie ebenfalls kontextbezogen und kommunikativ angelegt und auf den subjektiven Sinn sozialen Handelns ausgerichtet sind und sich auch sonst an vielen allgemeinen Grundregeln qualitativer Forschung orientieren. Sie bilden aber, wie wir noch sehen werden, eine eigenständige Gruppe, weil sie in diesem Rahmen einige Besonderheiten aufweisen. Einerseits machen diese theoriegenerierenden Verfahren keine speziellen Annahmen über die Wirklichkeit, sondern sind im Prinzip auf alle Fragestellungen in allen sozialwissenschaftlichen Gegenstandsbereichen anwendbar, was für viele qualitative Verfahren nicht gilt. Andererseits bestehen sie aus klaren Regelsystemen, die auf die Konstruktion von Theorie zielen. Sie führen deshalb immer zu brauchbaren Theorien, wenn sie regelgerecht verwendet werden. Übrigens können sie im Prinzip auch auf quantitative Daten angewandt werden – ihr Ziel liegt einfach nur darin, Theorien zu entwickeln.

Die quantitativen und die qualitativen Verfahren sind also eigentlich für unterschiedliche Fragestellungen geeignet und führen – wir werden dies später noch genauer begründen – zu unterschiedlichen Arten von Theorien bzw. theoretischen Aussagen. Beide können zur Wissenschaft beitragen. Obendrein beschreiben Kategorien wie quantitativ und qualitativ eigentlich Datenarten, die Forscherin oder Forscher erheben wollen, aber keine Methoden oder Verfahren. Deshalb ist der Streit um hier qualitative und dort quantitative Verfahren eher unfruchtbar, wenn auch als Differenzierung und Unterscheidung natürlich nicht überflüssig.

Nach wie vor sind die qualitativen Verfahren in den Sozialwissenschaften, sieht man von der Ethnologie ab, unterrepräsentiert. Oft beenden Studierende ihre Ausbildung, ohne je etwas davon genauer kennen gelernt zu haben. Und wenn sie davon etwas gehört haben, dann meist eher zufällig und nur von einem der vielen qualitativen Verfahren. Häufig werden die qualitativen Verfahren auch ausgesprochen themenbezogen gelehrt und es wird offen gelassen, welche Fragen man damit überhaupt sinnvoll beantworten kann. Aber auch in einem weiteren Sinn gilt: Wenn man genauer nachfragt, ist das Wissen der Anhänger der einen Gruppe von Verfahren über die anderen Vorgehensweisen oft erschreckend eng und hat mit einem realistischen Wissen über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Verfahren häufig nichts zu tun. Zugespitzt lässt sich sagen, dass die quantitativen Verfahren imperialistisch sind und beanspruchen, als Einzige in den Himmel wissenschaftlicher Erkenntnis zu führen, während die Vielfalt der qualitativen Ansätze ausgesprochen vielfältige Kontextualisierungen sozialer Phänomene ermöglicht und so hauptsächlich die individuellen Interessen der Forschungspersonen betont. Auch die Verbindung zwischen qualitativen und quantitativen Verfahren, die als hybride Forschung bezeichnet wird, bleibt bisher weitgehend im Dunkeln.

Manchen Studierenden und manchen Forschern ist das alles zuwider. Sie sind auf der Suche entweder nach dem besten oder nach einem Universalverfahren. Was das beste Verfahren ist, ist aber nicht entscheidbar, weil verschiedene Verfahren nicht nur verschiedenartige Ergebnisse produzieren, sondern auch nicht vergleichbare Theoriezusammenhänge, die sich nur punktuell zueinander in Bezug setzen lassen. Und ein Universalverfahren wird es niemals geben. Im Gegenteil, das brächte für die Sozialwissenschaften sogar eine erschreckende Verarmung mit sich. Denn in einer pragmatischen Orientierung kann man davon ausgehen, dass empirische Forschung dazu da ist, konkrete Forschungsfragen (anwendungsorientierter oder grundlagenbezogener Art) in einem spezifischen Verwertungszusammenhang zu lösen. Jede Forschungsfrage konstituiert einen Forschungsgegenstand, den es zu beschreiben und theoretisch zu fassen gilt. Wenn dem so ist, so ist es aber natürlich gut, wenn man einen solchen Forschungsgegenstand auf vielfältige Weise und mit unterschiedlichen methodischen Instrumenten untersuchen würde, um möglichst viel darüber herauszufinden. Das heißt aber, dass man eigentlich verstärkt hybride Forschung betreiben sollte, wenn nur mehr darüber bekannt wäre, wie man mit unterschiedlichen Verfahren gewonnene Ergebnisse in einer Theorie zusammenbringt. In einer pragmatischen Perspektive wäre es wohl akzeptabel, dass man den gleichen Sachverhalt auf unterschiedliche Weise beschreibt und theoretisch fasst – ein Horror allerdings für einen methodologischen Puristen.

Über all diese Fragen gibt es kaum Forschung. Entscheidungen methodischer Art werden überwiegend auf der Basis disziplinärer Traditionen, nicht weiter reflektierter Vorannahmen, zufällig vermittelter Qualifikationen und Fertigkeiten sowie im Hinblick auf Karriereinteressen und die Erwartungen von Auftraggebern getroffen – so bleiben die innerwissenschaftlichen Streitigkeiten weiter bestehen. In der Deutschen Gesellschaft für Soziologie hat sich mittlerweile zusätzlich zur Sektion für quantitative Verfahren eine davon unabhängige Sektion für qualitative Verfahren konstituiert, weil eine gemeinsame Sektion nicht funktioniert hat und nicht erkennbar war, wie sie funktionieren könnte. Auch in der Kommunikationswissenschaft wäre das denkbar. In der Psychologie sind qualitative Verfahren dagegen keineswegs ›normal‹, während andererseits Volkskunde, Ethnologie oder Sozialanthropologie auf das Verfahren der Ethnographie festgelegt sind.

An diesem Punkt setzt das vorliegende Buch ein. Es ist natürlich weit entfernt davon, all diese Probleme zu lösen. Beabsichtigt war vielmehr, eine wissenschaftstheoretisch fundierte und anwendbare Einführung in die theoriegenerierende Forschung zu verfassen. Dazu sollten die Verfahren der Grounded Theory, der Heuristischen Sozialforschung und der entdeckenden Ethnographie und deren anwendungsrelevanter Hintergrund so vorgestellt werden, dass man damit Forschungsfragen beantworten kann.

Beim Schreiben des Buches wurde dann allerdings deutlich, dass dieses notwendige Hintergrundwissen breiter dargestellt werden muss als zuerst gedacht. Man muss zum Beispiel begründen, warum diese drei Verfahren zusammengehören und sich von den anderen qualitativen Verfahren unterscheiden. Man muss aber auch herausarbeiten, dass jedes einzelne der drei Verfahren seine besonderen Vor- und Nachteile im Vergleich zu den anderen und so seine eigene Berechtigung hat und dass es nicht darum gehen kann, sie alle zu einem Verfahren zusammenzufassen. Man muss sie zudem wenigstens rudimentär wissenschaftstheoretisch verankern, die ihnen allen dreien gemeinsamen fundamentalen Grundlagen umreißen und ihr Verhältnis zu Sprache, Logik und Dialektik klären – und so weiter.

Die Auseinandersetzung mit derartigen Fragen hat zu dem Teil 1 des vorliegenden Buches geführt. Darin werden grundlegende Überlegungen zur qualitativen Forschung erläutert und diskutiert – ein notwendiger und, wie ich hoffe, praktisch bedeutsamer und hilfreicher, aber vor allem an Grundbegriffen und basalen wissenschaftstheoretischen Fragestellungen orientierten Beitrag zur Theorie qualitativer Forschung. Im zweiten Teil geht es dann um die Darstellung der drei wichtigsten Verfahren theoriegenerierender Art: Um die beiden auf die Lösung von konkreten Forschungsfragen angelegten Verfahren der Grounded Theory und der Heuristischen Sozialforschung sowie um die breiter, aber auch unspezifischer angelegte Ethnographie. Während die ersten beiden Verfahren auf einer relativ überschaubaren Literaturlage beruhen, ist dagegen strittig, was Ethnographie eigentlich genau ist. Wir verstehen sie hier als eine umgreifende Forschungsstrategie, die auf die Entwicklung von Theorie angelegt ist, sich aber eben nicht nur auf die Lösung einzelner, vergleichsweise konkreter Forschungsfragen beschränkt. Die Ethnographie ist aber auch deshalb wichtig, weil sie ein Basisproblem qualitativer Forschung berücksichtigt: Qualitative Forschung setzt nämlich immer voraus, dass die Forscher und die Menschen, die in der Wirklichkeit leben, die untersucht werden soll, miteinander kommunizieren können. Sie beschäftigt sich aber kaum mit der Frage, ob bzw. inwieweit das im Rahmen einer spezifischen Fragestellung eigentlich der Fall ist, und auch kaum damit, wie man solche Kommunikationsfähigkeit herstellen kann. Genau darauf ist aber die Ethnographie ausgelegt.

Bei alldem wird in dem vorliegenden Text immer auch auf die wissenschaftstheoretische Begründung theoriegenerierender Forschung eingegangen, soweit das notwendig und möglich ist. Diese Begründung basiert natürlich nicht wie im Fall der quantitativen Forschung auf dem Denken der formalen Logik und der Mathematik oder der Naturwissenschaft. Sie verwendet auch nicht die Begrifflichkeiten der naturwissenschaftlich orientierten Wissenschaftstheorie, wie es der logische Positivismus oder die analytische Wissenschaftstheorie tun. Eine sinnvolle Begründung qualitativer (und quantitativer) Verfahren muss stattdessen im Pragmatismus angelegt sein, wie ihn der Semiotiker Charles Sanders Peirce, der Philosoph und Psychologe William James, der Soziologe und Sozialpsychologe George Herbert Mead, der Soziologe und Sozialphilosoph James Dewey und andere vertreten haben. Mit pragmatisch (oder auch pragmatistisch) ist dabei insbesondere nicht ›utilitaristisch‹ gemeint, also nützlich im Sinne von hilfreich beim Erreichen vorab festgelegter Ziele. Pragmatisch meint vielmehr – wir gehen in Kapitel 2 noch genauer darauf ein –, dass Methoden und Verfahren dazu beitragen sollen, theoretisches Wissen zu gewinnen, das handlungsfähig macht. Was natürlich keineswegs heißt, dass theoriegenerierende Forschung nicht auch grundlagenorientiert angelegt sein kann und oft auch ist – nichts ist schließlich brauchbarer als eine gute allgemeine Theorie. Solche Theorien lassen sich durch entsprechend angelegtes forschendes Handeln herstellen, und zwar komparativ, als Ergebnis eines Prozesses: Man beginnt mit einem Vorwissen, das man durch Forschung verbessert, erweitert und vertieft. Es geht dementsprechend hier um eine kontextbezogen angelegte Wissenschaft, um Erkenntnis, die ihren Bezug zu Kultur und Gesellschaft im Blick hat und ihre Fragestellungen wie ihr Vorgehen und ihre Ergebnisse kritisch reflektiert.

Die zwei Teile dieses Buches bestehen aus insgesamt sieben Kapiteln.

•Kapitel 1 setzt an dem Phänomen der empirischen Forschung in den Sozialwissenschaften an. Es geht darum, warum sie notwendig ist, woraus empirisches Forschen als Prozess genau besteht, welche Typen von Empirie es gibt, wie sie sich unterscheiden, wofür sie gut sind und auf welche Arten von Theorie sie zielen – denn jede Empirie will theoretisch brauchbare Aussagen machen. Dabei stehen die theoriegenerierenden Methoden und Verfahren im Mittelpunkt – die anderen umrissenen Methoden werden eher im Hinblick darauf und zum besseren Verständnis der Besonderheiten der theoriegenerierenden Forschung diskutiert.

•Kapitel 2 legt dann die wissenschaftstheoretischen und konzeptionellen Grundlagen für die Verwendung theoriegenerierender Verfahren. Sie werden mit pragmatischen Überlegungen zur Erkenntnistheorie begründet und es wird darum gehen, die Grundprinzipien dieser Art empirischer Forschung herauszuarbeiten. So wird klar werden, warum theoriegenerierende Forschung grundsätzlich kommunikativ angelegt ist, was das genau bedeutet und welche Beziehung Forschungsverfahren und Sprache zueinander haben. Zudem werden Konzepte wie Perspektivität und Handlungspraktiken erläutert, die man verstanden haben muss, wenn man Daten durch Beobachtung und Befragung von Menschen und deren Erleben gewinnt und interpretiert. Und es wird darum gehen, die Bedeutung von Logik und Dialektik zu verstehen, die als Hilfswissenschaften für die empirische Forschung wichtig sind.

•Kapitel 3 behandelt dann die theoriegenerierende Sozialforschung als einen zusammenhängenden Forschungsprozess und zeigt seine Grundprinzipien auf. Danach ist der Erwerb von Wissen auf der Basis der Forschungsfrage immer ein Prozess des Herausfindens, was genau der Forschungsgegenstand ist und was für ihn gilt, wie er beschrieben und theoretisch gefasst werden kann. Empirische Forschung ist deshalb nichts anderes als ein regelgeleiteter und dokumentierter Lernprozess von Forscherin und Forscher, die sich mit der Wirklichkeit auseinander setzen und dabei für neue Erkenntnisse offen sein müssen. Dieser Prozess findet als Dialog mit der Wirklichkeit statt und führt vom Vorwissen zu immer besserem Wissen, indem dieses Vorwissen durch den Einbezug neuer empirischer Erkenntnisse verbessert, vertieft und erweitert, gelegentlich auch umgestülpt wird. Das Kapitel endet mit einigen praktischen Hinweisen über das Protokollieren und Transkibieren von Daten – insgesamt wird in diesem Kapitel aber noch nicht zwischen den später genauer dargestellten drei Verfahren differenziert.

Im zweiten Teil des Buches werden dann im Wesentlichen die drei Verfahren vorgestellt.

•Kapitel 4 dient zunächst der Einführung in den Klassiker der theoriegenerierenden Forschung, die Grounded Theory nach Barney Glaser und Anselm Strauss.

•Kapitel 5 führt in die darauf aufbauende, aber die Grounded Theory präzisierende und weiter entwickelnde Heuristische Sozialforschung nach Gerhard Kleining ein.

•Kapitel 6 ist dazu da, die Ethnographie als theoriegenerierende Strategie vorzustellen. Sie ermöglicht es insbesondere, nicht nur Forschungsfragen zu beantworten, sondern auch die Basis für qualitative Forschung zu legen, nämlich Kommunikationsfähigkeit zwischen Forschungsteam und untersuchten Menschen herzustellen.

•In dem knappen Kapitel 7 wird abschließend auf eine Reihe von Gütekriterien für qualitative bzw. theoriegenerierende Forschung eingegangen.

Aber bevor wir nun dieses Programm umsetzen, eine Warnung. Wenn man lernen will, Theorien gegenstandsbezogen und datengestützt zu entwickeln, empfiehlt es sich, ein eventuell bereits vorhandenes quantitatives Methodenwissen erst einmal zu vergessen. Das heißt nicht, dass es nichts wert ist. Aber es heißt, dass der Bezug darauf in die Irre führen kann, wie ich in vielen Lehrveranstaltungen immer wieder gemerkt habe. Das gilt sowohl für quantitative als auch für anders orientierte qualitative Regeln, die eine Leserin, ein Leser vielleicht kennen.

Quantitativ vorgebildete Forscherinnen und Forscher machen beispielsweise häufig den Fehler, auch da, wo man neue Theorien entwickeln will, gleich vorab möglichst viele Menschen nach ihrer Meinung zu befragen – nach dem Motto, je mehr, desto besser. Sie achten auch gerne darauf, dass jeder Einzelne die gleichen Fragen vorgelegt bekommt. Beides aber macht in qualitativen Forschungsprojekten viel Arbeit und führt obendrein manchmal in die Irre. Wenn Glaser und Strauss eine Theorie über das Sterben im Krankenhaus entwickeln wollen, dann befragen sie beispielsweise die Angehörigen, die Krankenschwestern oder die Ärzte darüber. Es gibt aber keinen Grund, sie alle das Gleiche zu fragen, weil sie den in Frage stehenden Sachverhalt aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachten werden – selbst innerhalb der gleichen Berufsgruppe. Dementsprechend müssen Fragen immer auf den einzelnen Befragten abgestimmt sein und folglich entwickelt sich jedes Interview anders. Es macht im Rahmen theoriegenerierender Forschung auch keinen Sinn, erst einmal möglichst viele Menschen zu befragen. Denn das produziert nur viel Material, dessen Auswertung sich vielleicht nicht lohnt oder nicht durchzuführen ist. Stattdessen sollte man mit zwei, drei Interviews, höchstens einem halben Dutzend, beginnen, diese auswerten und dann vor dem Hintergrund der bereits gewonnenen Erkenntnisse überlegen, wie es weitergeht: Qualitative Forschung ist prozessual angelegt.

Qualitativ vorgebildete Forscherinnen und Forscher machen ihrerseits, wenn sie sich mit theoriegenerierender Forschung beschäftigen, oft den Fehler, dass sie glauben, sie müssten Antworten oder allgemeiner Daten deuten, wie es etwa im Rahmen psychoanalytischer oder hermeneutischer Forschung geschieht. In einem strengen Sinn bedeutet ›Deuten‹, dass man vorher schon etwas weiß, eine Theorie im Kopf hat, die hilfreich ist, um zu verstehen, was der andere wohl meint. Gerade im Falle kulturvergleichender Forschung hat sich immer wieder herausgestellt, dass das zu vielen Fehlern führt. Und wenn ich deute, beziehe ich mich auf mein Vorwissen und dessen Kontexte als richtig – und das schränkt mein Vermögen, neue Theorien zu finden, mindestens ein. Deshalb hat ›Interpretieren‹ im Falle theoriegenerierender Forschung eigentlich nichts mit ›Deuten‹ zu tun.

Jedes qualitative und natürlich auch jedes theoriegenerierende Forschungsverfahren kann ebenso wie jedes quantitative Verfahren explorativ eingesetzt werden. Aber weder quantitative noch qualitative Verfahren sind notwendigerweise explorativ. Jede der beiden grundsätzlich unterschiedlichen Vorgehensweisen erhebt vielmehr im Prinzip den eigenständigen Anspruch, gültige Ergebnisse zu erbringen, die keiner weiteren Überprüfung mehr unterzogen werden müssen. Man kann eine qualitative Theorie übrigens auch gar nicht auf quantitative Weise überprüfen und umgekehrt, weil hinter beiden Typen von Forschungsverfahren verschiedene Theoriebegriffe stehen und die Ergebnisse deshalb inkommensurabel sind. Während quantitative Forschung auf abstrakt formulierte und mathematisch umsetzbare Hypothesen der Form Wenn-dann oder Je-desto zielt, will qualitative Forschung theoriegeladene ›dichte‹ Beschreibungen erzeugen, die ihrerseits auf komplexe theoretische Zusammenhänge verweisen. Qualitative Forschung kann quantitativer Forschung dementsprechend vorgelagert sein, insofern sie das Feld erschließt und theoretisch aufbereitet. Sie kann ihr aber auch nachgelagert sein, insofern sie quantitative Ergebnisse valide erweitert und vertieft und abstrakte mathematische bzw. funktionale Beziehungen mit Leben füllt, oder wenn man aus den quantifizierten Beziehungen Theorie erzeugen will. Und die beiden Typen von Verfahren können natürlich auch unabhängig voneinander betrieben werden.

Grundsätzlich kann man deshalb sagen, dass qualitativ arbeitende Forscher von anderen wissenschaftstheoretischen und inhaltlichen Voraussetzungen ausgehen und andere Beschreibungsverfahren und Theoriekonzepte verfolgen als die quantitativen. Das gilt auch für die eigentlichen Erhebungsmethoden: Was eine ›Beobachtung‹ ist, ist für quantitativ arbeitende Forscher etwas anderes als für diejenigen, die qualitativ arbeiten. Anders ausgedrückt heißt das, dass quantitativ arbeitende Forscherinnen und Forscher, die aber qualitativ forschen lernen wollen, grundlegend umdenken müssen.

Um dieses Umdenken zu befördern, setzt das vorliegende Buch immer wieder an den von der quantitativen Forschung als selbstverständlich angesehenen und vermittelten Sichtweisen an, wie Wissenschaftler mit der Wirklichkeit umzugehen haben, und macht deutlich, warum theoriegenerierende Forschung das anders macht. Wie wir bereits oben gesagt haben, sind die meisten Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler mit quantitativer Forschung vertraut. In den Lehrveranstaltungen, die sie dazu besucht haben, sind ihnen im Allgemeinen die Denkweisen dieses Forschungstyps beigebracht, aber meist nicht transparent gemacht worden, sie wurden in der Regel auch nicht kritisch reflektiert, und die Studierenden waren oft ohnehin eher mit mathematischen Überlegungen beschäftigt. In der Folge stellen sich viele Denkgewohnheiten als Denknotwendigkeiten dar, obwohl sie eben nur Gewohnheiten sind. Deswegen sollen diese Gewohnheiten hier problematisiert werden, damit man versteht, wie theoriegenerierende Forschung funktioniert. Nicht gemeint ist damit, dass das an der Verwendung von Statistik und Mathematik orientierte und auf Messoperationen gerichtete Denken grundsätzlich verkehrt ist. Aber es handelt sich nicht um Denken an sich, sondern um ein spezifisches Denken, das, auf soziale und kulturelle Tatbestände angewandt, manchmal hilfreich ist und manchmal nicht.

Auf viele dieser Fragen werden wir immer wieder zurückkommen – hier also nur noch einmal: Machen Sie sich klar, was Sie über empirische Sozialforschung, über Methoden und Verfahren wissen. Dieses Ihr Vorwissen ist Ihr Ausgangspunkt, und das gilt es zu verbessern: so funktioniert theoriegenerierende Forschung. Dazu lassen Sie sich am besten auf den folgenden Text ein.

An den hier vorgestellten Themen habe ich lange gearbeitet. Mit einem Diplom in Mathematik und einem Diplom in Soziologie ist man sowieso immer mit quantitativen und mit qualitativen Verfahren beschäftigt. Aus dem, was ich daraus gelernt habe, kann ich folgern, dass für eine gute und breite Sozialwissenschaft beide Ansätze notwendig sind. Für die Zukunft kann man wohl sagen, dass sich Kultur, Gesellschaft und die Lebensverhältnisse der Menschen immer schneller verändern werden. Gesellschaft als Wandel und Prozess wirft immer neue Fragen auf, und dafür müssen die Sozialwissenschaften nicht immer nur Hypothesen testen, sondern vor allem neue, angemessene, in große Theorierahmen eingepasste Theorien entwickeln. Deswegen hat mich mein Weg eher zu den qualitativen Verfahren geführt, denen ich heute eine ungleich wichtigere Rolle einräume, wenn man Wissenschaft für die Zivilgesellschaft betreiben will – denn qualitative Verfahren beruhen im Kern nicht wie die quantitativen Verfahren primär auf Faktenwissen über andere Personen, sondern auf Kommunikation zwischen Forschungs- und untersuchten Personen.

Ich hoffe, dass der hier vertretene Ansatz zu einer konstruktiven methodologischen Diskussion und Entwicklung beiträgt. An seinem Zustandekommen waren viele beteiligt. Auch wenn ich das vorliegende Buch geschrieben habe und damit für die Mängel hafte, habe ich doch vielen zu danken: Den qualitativen Forschern aus dem von Gerhard Kleining gegründeten, am Leben gehaltenen und zu produktiven Leistungen gepushten Arbeitskreis an der Universität Hamburg, den Forscherinnen und Forschern, mit denen ich zusammenarbeiten durfte. Den Vorablesern dieses Buches, in alphabetischer Reihenfolge: Andreas Hepp, Gerhard Kleining, Friederike Koschel und Stefan Krotz (sie alle haben vielfältige und hilfreiche Verbesserungsvorschläge gemacht – aber natürlich bin ich für alles, was hier steht, selbst verantwortlich). Ich danke schließlich auch den Studentinnen und Studenten, mit denen ich meine Überlegungen in der Lehre erproben konnte und die mir vielfältig Rückmeldung gegeben haben. Und, etwas zähneknirschend, danke ich auch den quantitativ orientierten Forscherinnen und Forschern, mit denen ich das Ganze immer wieder und zum Teil kontrovers diskutieren musste.

1Was eine geschlechtergerechte Ausdrucksweise angeht, wird in diesem Band manchmal die männliche, manchmal die weibliche Form gewählt, manchmal werden auch beide Formen verwendet. Jeweils sollen alle Geschlechter gemeint sein.

2Bis heute stehen dabei die quantitativen Verfahren im Vordergrund.

TEIL I

GRUNDLAGEN EINER THEORIE THEORIEGENERIERENDER FORSCHUNG

1.

Annäherungen: Empirie als Rechtfertigung für Theorie und die empirisch gestützte Konstruktion von Theorie als Typus empirischer Forschung

Überblick

Das erste Kapitel bestimmt allgemeine Ausgangspunkte, die für eine konkrete Einführung in theoriegenerierende Forschung wichtig sind. Wofür braucht man eigentlich Empirie, welche Typen empirischer Forschung gibt es und welchen Platz haben darin theoriegenerierende Verfahren – das sind die zentralen Fragen, um die es geht. Mit den verschiedenen empirischen Verfahren hängt aber auch zusammen, dass es verschiedene Formen dessen gibt, was sozialwissenschaftliche Theorie genannt wird. Auch damit beschäftigt sich dieses erste Kapitel.

•In Abschnitt 1.1 geht es einführend zunächst um die Frage, wieso Empirie und die Beschäftigung mit Methoden und Verfahren für die Sozialwissenschaften von zentraler Bedeutung sind und was das Besondere an der sozialwissenschaftlichen Empirie ist.

•In Absatz 1.2 werden dann auch Sprechweisen festgelegt: Der Begriff der Methode wird für die Erhebung von Daten verwendet, der Begriff des Verfahrens für die gesamte Strategie einer Untersuchung – für Datenerhebung und Auswertung. Damit kann man begründen, dass empirische Forschung egal welchen Typs von einem Vorwissen, mit dem man eine Forschungsfrage formuliert, über die Schritte der Datenerhebung und Auswertung zu einem Ergebnis führt, das in die Gemeinschaft der Wissenschaftler hinein kommuniziert und dort diskutiert wird. Erst in dieser lang andauernden Diskussion entscheidet sich ihr wissenschaftlicher Wert – unbezweifelbare, die Jahrtausende übergreifende Wahrheiten entstehen dabei jedoch nie, weil es das im sozialen und kulturellen Bereich gar nicht gibt.

•In Teilkapitel 1.3 geht es darauf aufbauend darum zu erläutern, dass man empirische Forschungsverfahren nach ihren Zielsetzungen unterscheiden kann: Forschungsverfahren beabsichtigen die Herstellung von Beschreibungen und/oder von Theorien oder aber eine Weiterentwicklung von Theorie durch deren Test und ihre Verfeinerung. Die theoriegenerierenden Verfahren, in die dieses Buch insgesamt einführen will, sind insofern ein besonderer Typ empirischer Verfahren, weil sie die systematische, datengestützte Konstruktion von Theorie ermöglichen.

•Damit sind wir für einen ersten allgemeinen Überblick über die theoriegenerierenden Verfahren gerüstet: Grounded Theory, Heuristische Sozialforschung und Ethnographie werden kurz skizziert, sodass Leserin und Leser wissen, auf was sie sich einlassen, wenn sie dieses Buch weiterlesen. Dies geschieht in Unterpunkt 1.4.

•In Paragraph 1.5 wird es dann darum gehen, kurz die sonstigen qualitativen Verfahren in ihrer Besonderheit zu beschreiben. Dort wird auch deutlich werden, warum die theoriegenerierenden Verfahren zu den qualitativen Verfahren gerechnet werden, obwohl sie eigentlich einen eigenen Typus bilden: weil beide kontextorientiert und kommunikativ angelegt sind.

•In Abschnitt 1.6 werden wir dann genauer die Regeln herkömmlicher quantitativer Forschung umreißen.3 Dies geschieht einmal aus didaktischen Gründen, weil diese Verfahren den meisten Sozialwissenschaftlern bekannt sind und wir die theoriegenerierenden Verfahren, in die dieses Buch einführen will, dann in ihrem Unterschied zu quantitativen Verfahren darstellen können. Dies geschieht zum anderen, um das Verhältnis der theoriegenerierenden zu den quantitativen Verfahren genauer zu beleuchten und damit den Überblick über empirische Forschungsverfahren zu vervollständigen.

•1.7 schließlich nimmt auf der Basis dieser Erläuterungen die Fragestellungen von 1.2 und 1.3 wieder auf: theoriegenerierende Forschung unterscheidet sich nicht nur durch ihre Zielsetzung von anderen Verfahren, sondern auch durch ihr besonderes Verständnis, was Theorie ist. Dazu werden wir verschiedene Typen von Theorien darstellen. Dies wird auch deutlich machen, dass Theorien, wie sie die theoriegenerierende Forschung produziert, in der Wissenschaft zwar häufig vorkommen, dass aber nur Forschung nach den Regeln der theoriegenerierenden Forschung systematisch zu derartigen Theorien hinführt.

Lernziel dieses ersten Kapitels ist also, dass Sie wesentliche Ausgangspunkte für eine Auseinandersetzung mit theoriegenerierender Forschung verstanden haben. Sie sollten insbesondere, wenn Sie es durchgearbeitet haben, über eine Vorstellung davon verfügen, wofür Forschungsverfahren bzw. -methoden gut sind und was sie leisten. Sie sollten wissen, wie man Forschungsverfahren voneinander unterscheidet. Es sollte Ihnen klar sein, dass die Unterschiede verschiedener Forschungsarten nicht nur in unterschiedlichen Auswertungsverfahren liegen, sondern auch in der Anlage von Untersuchungen, in der Datenerhebung und in der schließlich gewonnenen Theorie. Schließlich sollte Ihnen einleuchten, dass Sie vieles von dem, was Sie bisher über Forschungsverfahren gelernt haben, zwar nicht vergessen, aber doch erst einmal auf die Seite legen sollten.

1.1

Empirie als die Basis von Sozialwissenschaft

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit einem bestimmten Typus von Forschungsverfahren der Sozialwissenschaften. Der Hintergrund dafür ist, dass Sozialwissenschaften Erfahrungswissenschaften sind. Das heißt, dass Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler ihre Theorien empirisch rechtfertigen müssen. Gültige sozialwissenschaftliche Theorien entstehen also immer in Auseinandersetzung mit einer empirisch untersuchten Realität. Deshalb gibt es keine Sozialwissenschaft ohne Empirie. Dies gilt für alle Sozialwissenschaften – für die Kommunikationswissenschaft ebenso wie für die Soziologie, die Politikwissenschaft, die Anthropologie, die Volkskunde oder die Psychologie.

Wissenschaft besteht also aus Theorie, aus Empirie, die den Kern des Begründungszusammenhangs jeder Sozialwissenschaft bildet, und aus Regeln, wie man Theorie und Empirie miteinander verbindet – den Methoden und Verfahren empirischen Forschens. Das ist noch nicht alles, wie wir sehen werden: Wissenschaft besteht nämlich auch aus einer Gruppe von Menschen, also Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die diese jeweilige Wissenschaft betreiben, und aus deren fortschreitender Auseinandersetzung miteinander und mit der empirischen Forschung. Sie ist zudem Teil von Kultur, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft und sie hat obendrein eine sie prägende Geschichte.

Zunächst soll aber betont werden, dass die Bedeutung von Empirie die Sozialwissenschaften von anderen Disziplinen unterscheidet. Mathematiker müssen beispielsweise ihre Theoreme formallogisch beweisen, Philosophen verfügen etwa über komplexe Verfahren und Normen, wie man richtig argumentiert – für Platon war beispielsweise die dialektische Erörterung der Weg zur Wahrheit, während Aristoteles mehr auf die sorgfältige Begriffsanalyse setzte. Sozialwissenschaftler müssen jedoch, und das ist ja der Grund, warum die Ausbildung im richtigen empirischen Forschen für sie eine so große Rolle spielt, für das, was sie als gesichert annehmen, empirische Belege angeben, sich also auf die Ergebnisse von Untersuchungen mit empirischen Methoden bzw. Verfahren beziehen.

Die Bedeutung der empirischen Forschung unterscheidet die Sozialwissenschaften von Mathematik, Philosophie und Theologie, auch von der Juristerei, aber nicht von den Natur- und Ingenieurwissenschaften. Auch sie müssen sich durch empirische Forschung rechtfertigen, auch sie sind Erfahrungswissenschaften. Aber hier wird ein zweiter Unterschied wichtig, auf den wir später wieder zurückkommen werden: Die Naturwissenschaften suchen nach Gesetzen, wie die Natur funktioniert – die Physik fragt nach Masse und Geschwindigkeit, die Chemie nach möglichen Verbindungen zwischen Elementen und so weiter. Der Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften ist die Natur, während die Naturwissenschaft selbst etwas ist, was Menschen als Teil von Kultur und Gesellschaft betreiben. Die Sozialwissenschaften sind ebenfalls Teil von Kultur und Gesellschaft – sie beschäftigen sich darüber hinaus aber insbesondere damit, wie Kultur, Gesellschaft, der Mensch, wie Gemeinschaften, Staat und Politik oder die menschliche Kommunikation funktionieren. Die Sozialwissenschaften, und das macht ihre Besonderheit aus, sind also immer auch Teil dessen, was sie untersuchen, und daraus entstehen ganz besondere Problemlagen, sodass die Orientierung empirischer Forschung an den anders gelagerten Naturwissenschaften nur unter sehr rigiden und hochproblematischen Annahmen möglich ist.

Aber kommen wir erst einmal wieder auf die Kernelemente von Wissenschaft zurück, für die Empirie wichtig und unverzichtbar ist: Beschreibungen und Theorien bestehen allgemein ausgedrückt aus Texten, also aus Wörtern und Sätzen. Diese beziehen sich auf den Gegenstandsbereich der jeweiligen Wissenschaft und sind von der Wissenschaftlergemeinschaft als Teil der Wissenschaft mehr oder weniger akzeptiert. Beschreibungen als Texte wollen etwas aus dem Gegenstandsbereich der Wissenschaft in seinen Eigenschaften und Kontexten wiedergeben – zum Beispiel darstellen, wie Menschen Medien nutzen. Theorien ihrerseits bestehen aus aufeinander bezogenen Begriffen, übergreifenden Konzepten, darauf beruhenden Aussagensystemen und darüber ausgedrückten Sinnzusammenhängen. Sie sollen nicht nur darstellen, was da ist, sondern auch, wie etwas funktioniert, woraus es besteht, wie es zustande kommt, was es für wen bedeutet und so weiter. Wir werden dafür öfter ganz pauschal sagen: Theorien beschreiben etwas als Struktur und Prozess sowie in seinen Kontexten und seiner Bedeutung.4 Zu jeder Erfahrungswissenschaft gehört dann natürlich ein System von Normen und Regeln, die festlegen, wie diese Begriffe, Konzepte und Aussagen aussehen, wie sie gewonnen oder gegebenenfalls geprüft werden können, was man damit machen darf und was nicht und auch wie man mit dem Gegenstandsbereich, auf den sich die Wissenschaft bezieht, verfahren darf. Diese Normen und Regeln legen auch die Methoden und Verfahren fest, mit denen Beschreibungen und wissenschaftliche Aussagen gewonnen und überprüft werden; sie bestimmen, wie diese empirische Verankerung der Wissenschaft in der sozialen Realität aussieht. Und das ist es, was in diesem Buch interessiert.

Wichtig ist aber noch, dass diese Normen und Regeln nicht gottgegeben oder vom Himmel gefallen sind. Sie beruhen vielmehr auf einem Diskussionsprozess innerhalb der jeweiligen Wissenschaften und sie werden von der Wissenschaftlergemeinschaft kontrolliert und weiterentwickelt. Die Wissenschaftlergemeinschaften kommunizieren und