Neuer Anfang auf Wienhagen - Lise Gast - E-Book

Neuer Anfang auf Wienhagen E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Elisabeth ist siebzehn. Seit einiger Zeit ist sie von Träumen geplagt. Sie macht sich Sorgen um ihre Zukunft. Aber nicht nur um ihre eigene Zukunft, sondern auch um die ihrer Familie – ihrer Mutter und ihren Geschwistern - und um ihr geliebtes Wienhagen – ihre Heimat. Ihr scheint, dass gerade irgendwie alles, was ihr lieb ist, auseinanderzufallen droht. Damit das nicht geschieht muss man kämpfen! Und zwar gemeinsam! 'Neuer Anfang auf Wienhagen' erzählt die heitere und zuweilen auch ernste Geschichte von einer Familie, die mit vereinten Kräften einen Neuanfang schaffen. -

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Lise Gast

Neuer Anfang auf Wienhagen

Die Geschichte einer Familie

Mädchenroman

Saga

Neuer Anfang auf Wienhagen

© 1958 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711509814

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Der Blitz schlägt ein

Ein krachender Donnerschlag. Elisabeth fuhr hoch, schlafbetäubt und benommen. Sie saß noch einen Augenblick still, dann taumelte sie aus dem Bett. Ingrid und Barbara rührten sich nicht.

Krach — schon wieder. Elisabeth tastete sich mit den Armen in den Bademantel-Ärmel hinein und trat in die Turnschuhe. Sie hatte Angst vor Gewitter, wie die meisten Leute auf dem Lande. Aber gleichzeitig fühlte sie, daß es gut war, geweckt worden zu sein. Sie hatte so entsetzlich geträumt.

Seit einiger Zeit hatte sie häufiger solche Träume: Immer zerbrach etwas, fiel in sich zusammen, etwas, das man heiß und besinnungslos liebte. Diesmal war es die alte Linde im Hof gewesen. Elisabeth sah noch vor sich, wie der Riesenbaum im Traum zusammenstürzte, krachend und wie um Hilfe schreiend — natürlich kam das vom Gewitter. Man träumt ja oft etwas, was man eigentlich schon halbwach miterlebt; beispielsweise, daß die Schulklingel tönt, wenn der Wecker geht. Elisabeth sagte sich das, aber das Entsetzen des Traumes saß noch tief in ihr. Sie tappte durch den Flur der Haustür zu, um sich zu überzeugen, daß es nur ein Traum gewesen war und daß der geliebte Baum noch stand.

Sie hatte kein Licht gemacht. Durch die Flurfenster blendeten die Blitze fast pausenlos herein, schwefelgelb und fast taghell. Man fand sich mühelos zurecht, ohne anzustoßen.

Dann sah Elisabeth, daß die Haustür offenstand. „Nanu?“ Aber vielleicht geisterte hier schon jemand anderes herum, um wie sie zu sehen, ob auch alles in Ordnung war. Richtig, Detlev. Er stand in der Trainingshose über dem Nachthemd unter dem kleinen Vordach und sah in die Blitze.

Elisabeth fühlte eine kleine, wärmende Beruhigung, während sie neben den Bruder trat. Er schien ihren Schritt gehört zu haben.

„Toll, was?“ sagte er, ohne sie anzusehen. „Guck mal den — der war rosa, und er hatte sicher fünfzig Verästelungen, wenn nicht mehr.“

„Schrecklich. Hört denn das nicht auf?“ fragte sie und zog den Mantel am Hals zusammen. Detlev lachte durch die Nase.

„Glaube ich nicht. Das setzt sich über Wienhagen fest und findet nicht weg. Wir haben das ja oft erlebt —“ Seine Stimme ging im Krachen des Donners unter. Elisabeth zog ihn rückwärts.

„Komm rein! — Sonst erwischt es dich womöglich.“

„Mich? Dann schon eher die Linde.“

„Du sollst so was nicht sagen. Ich hab’ sowieso geträumt —“ Sie hielt inne. Träume soll man nicht erzählen!

„Was denn?“

„Ach, laß doch. — Ich habe Angst!“ Es war ihr herausgerutscht. Mit sieben Geschwistern aufgewachsen, vier Brüdern und drei Schwestern, noch dazu als Nummer zwei, als Älteste nach Detlev, hatte sie das wohl noch nie gesagt. Man sagt so etwas nicht, man blamiert sich nicht gern vor den spottlustigen anderen. Beim Reiten und Schilaufen, beim Schwimmen und Klettern — nie durfte man merken lassen, wenn man Angst hatte. Jetzt sagte sie es. Es war ihr entfahren, und sie hielt erschrocken inne. Nun würde Detlev sie verhöhnen.

„Du auch?“ fragte er leise. Es klang so, wie sie es von ihm noch nie gehört hatte: erwachsen, ernst. Elisabeth glaubte, sich doch vielleicht geirrt zu haben. Hatte er wahrhaftig gesagt: „Auch?“

„Komm’ rein“, sagte sie und nahm sich zusammen. Die Linde stand noch, sie hatte es im Licht der Blitze genau gesehen. „Komm, es fängt an zu regnen. So ein Quatsch, hier naß zu werden.“

Er folgte, wenn auch zögernd. Sie tappten den Flur entlang. Die Tür zum Jungenzimmer stand halb offen. Heiner saß aufrecht im Bett.

„Brennt’s?“ fragte er hellwach und mit der bebenden Sensationslust, die Jungen bei Autounfällen, Gewittern und Explosionen empfinden, einem Gefühl, gemischt aus Furcht und Freude, das der Erwachsene einzugestehen nicht mehr den Mut hat.

„Zum Glück nicht“, sagte Detlev barsch und warf die Tür zu. „Du verdienst eine Tracht Prügel, wahrhaftig. Brennt’s, brennt’s! Sowas zu fragen!“

„Vielleicht wollte er wirklich nur wissen, ob es auch nicht eingeschlagen hat?“ sagte Elisabeth begütigend. „Das ist doch noch kein Grund, ihn zu prügeln.“

Detlev blieb an einem der Flurfenster stehen. Er sah Elisabeth nicht an.

„Doch, es ist einer. Überhaupt — Heiner verdient mehr Schläge, als wir alle zusammen je bekommen haben.“

„Was hat er denn verbrochen?“ fragte Elisabeth nach einer ziemlich langen Weile, in der sie beide geschwiegen hatten. Ihre Stimme klang klein und zerdrückt.

„Ich habe es Mutter noch gar nicht gesagt.“ Detlev nahm sich zusammen und versuchte, sachlich und ruhig zu sprechen. Aber die Empörung machte seine Stimme tief und rauh. „Heiner, unser süßer Kleiner! Weißt du, was er auf dem Kerbholz hat? Schule geschwänzt hat er, zwei Wochen lang. Hast du Worte?“

„Aber er ist doch jeden Tag —“

„Irrtum! Hinter die Schule ist er gegangen; wer weiß, wo er sich herumgetrieben hat. Und von Fräulein Honigmann hat er sich entschuldigen lassen. Stell dir das vor!“

Fräulein Honigmann, die frühere Hausdame von Wienhagen, wohnte seit einiger Zeit in der Kreisstadt, wo sich auch die Schulen der Kinder befanden. Sie hatte Heiner immer besonders geliebt und als damals Jüngsten entsprechend verwöhnt. Er bekam jeden Willen bei ihr erfüllt.

Daß er sie öfter besucht, das wußte ich“, fuhr Detlev fort, „und das fand ich immer anerkennenswert, treu, verstehst du. Denn wir haben ihr damals das Leben wahrhaftig nicht leicht gemacht. Er machte übrigens alle Dummheiten mit, auch wenn er nach außen hin unschuldig tat. Jetzt aber dachte ich, er gehe sie aus wirklicher Anhänglichkeit besuchen. So sieht er aus! Er hat sie beschwatzt, ihn telefonisch zu entschuldigen. Halsschmerzen! Na ja, ihm hat sie von jeher alles geglaubt. Freilich meinte sie, es handle sich um einen oder zwei Tage. Wer denkt denn auch an sowas?“

„Und?“ fragte Elisabeth fast lautlos. „Und nun?“

„Nun soll er von der Schule fliegen.“ Die Geschwister zuckten bei einem grellen Blitz zusammen, dem unmittelbar ein fürchterlicher Donnerschlag folgte. Nach einer Weile fuhr Detlev fort: „Mutter bekommt noch einen Brief. Consilium abeundi, das heißt zwar nur, der gute Rat, abzugehen. Aber meines Wissens ist noch niemand, der ihn bekam, länger auf der Schule geblieben. Man fliegt dann eben früher oder später bei der nächsten, winzig kleinen Gelegenheit. Meist früher.“

Detlev schwieg. Elisabeth preßte die Hände zusammen.

„Und du willst es Mutter sagen, ehe der Brief kommt?“

„Ich halte das für richtig. Man kann dann doch — sie erschrickt dann vielleicht nicht gar so sehr.“ Detlev schwieg. Elisabeth wagte nichts zu sagen. Sie standen schweigend und sahen aus dem Fenster.

„Du sagtest vorhin, du hättest Angst — du auch“, begann Elisabeth dann wieder zögernd, schüchtern. Sie stockte immer wieder; aber irgend etwas trieb sie, zu reden. „Hast du nur Angst um Heiner? — weil du denkst, er kommt auf eine schiefe Bahn? — oder?“

„Nicht nur um Heiner, Rüdi ist in der Schule auch ziemlich schlecht angeschrieben. Dauernd hat er Arrest. Und er ist in einer wenig netten Klasse. Keine Raufbolde, verstehst du, sondern — nun, eben Jünglinge, wie man sie sich nicht als Umgang für seinen jüngeren Bruder wünscht. Das ist es aber nicht allein.“

„Sondern?“ flüsterte Elisabeth. Es klang wie ein Hauch.

„Ach, überhaupt. Es ist alles so anders geworden, seit der Vater tot ist. So — so schwierig. Früher war der Vater da, und wenn man was ausfraß, bekam man eins gewinkt. Das war manchmal nicht angenehm, aber einfach in Ordnung. Jetzt erwartet Mutter, daß man spurt. Sie sagt es nicht, aber man fühlt es doch. Die anderen fühlen es, wie man sieht, leider nicht; denn sie benehmen sich, milde gesprochen, schauderhaft. Dafür fühle ich mich eben verantwortlich.“ Detlev ging zum Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus, die immer wieder von Blitzen erleuchtet wurde.

„Und auch sonst“, fuhr er nach kurzem Schweigen fort. „Wienhagen war mal ein richtiges Rittergut, groß, mit einem Herrn, der vierspännig fuhr. Das ist es schon lange nicht mehr. Es ist ein Hof, ein ordentlicher Bauernhof, groß genug, um etwas zu bringen — gerade unser feldmäßiger Gemüsebau rentiert sich, weil wir in die Kreisstadt liefern, die mit ihrer Industriebevölkerung sehr viel Gemüse braucht. Schön und gut, das macht Bumke richtig, er hat erfaßt, worauf es heute und hier ankommt. Überhaupt habe ich manchmal das Gefühl, wir tun ihm Unrecht. Aber ich mag es nun einmal nicht, wenn jemand allzu freundlich ist. Ich traue ihm nicht. Bumkes Art, mich zu duzen, mir Zigaretten anzubieten, du kennst es ja — ich denke immer, da muß was dahinter stecken. Lieber grob, aber ehrlich.“

„Vielleicht kann man auch ehrlich sein und trotzdem höflich“, sagte Elisabeth zögernd. Man hörte ihrer Stimme an, daß sie dies selbst nicht glaubte. „Immerhin hat er damals, als Vater starb, den Hof übernommen und bis heute ganz leidlich geführt.“

„Ganz leidlich.“ Detlev schwieg. Wieder krachte der Donner.

„Freundlich oder nicht — ich weiß nicht, ob er richtig wirtschaftet“, sagte Detlev dann. „Neulich hat er Heu verkauft, jetzt, im Frühjahr, wo man es doch selbst nötig braucht. Freilich bringt das Bargeld. Aber glaubst du, man holt das mit zeitigem Weideauftrieb wieder ein beim Vieh? Ich glaube das jedenfalls nicht.“

Elisabeth antwortete nicht. Nach einer Weile fuhr Detlev fort:

„Siehst du, ich habe mir das oft überlegt. Ob solche Höfe noch ihre Berechtigung haben? Nein, sei mal still, hör mal ruhig zu. Ob man das Land nicht doch lieber aufteilen sollte? Aber man hat es ja erlebt, daß das schief geht, gerade bei solchem Boden, wie wir ihn haben. Siedle du einmal jemanden auf dem Strohberg an, wo nichts ist als Sand und Geröll! Na siehst du. Dort kann sich keiner halten, das ist doch klar. Nur wenn solch unterschiedlicher Boden in einer Hand ist, zusammengefaßt, ist es möglich, etwas herauszuwirtschaften. Gerade unsere Lieferungen an die Stadt bestätigen das. — Gut. Bumke bemüht sich. Er ist streng mit den Arbeitern und verbietet neuerdings das Reiten. Barbara ist wütend! Vielleicht tut er das aber nur, um uns zu helfen?“

„Hast du mit Mutter schon darüber gesprochen?“ fragte Elisabeth nach einer Weile des Schweigens. Etwas in ihr wehrte sich, diesen Sorgenpacken, den Detlev da zu tragen schien, mit auf ihre Schultern zu nehmen. Mutter war doch auch noch da und schließlich hier zuständig. Sie selbst war erst siebzehn und hatte mit der Schule Sorgen genug, wahrhaftig.

Detlev schüttelte den Kopf. Er wußte, Mutter bemühte sich auf ihre Weise. Ehe sie zu ihnen gekommen war und Vater heiratete, verdiente sie ganz gut. Und nun hatte sie, als er starb, ihre damalige Tätigkeit wieder aufgenommen. Sie übersetzte für ihren alten Verlag, machte Register für ihn und mühte sich ab, nachts, die Kinder wußten das. Sie schaffte Bargeld damit heran, sie konnte damit diesen oder jenen kleinen Wunsch erfüllen, darauf war sie stolz. Ob sie aber übersah, was mit Wienhagen los war? Sie stammte aus der Stadt.

„Vielleicht nimmst du das alles jetzt zu tragisch“, sagte Elisabeth.

„Die Leute sind unzufrieden, ich weiß. Neulich war das Essen wirklich verunglückt, Marie hat es zugegeben. Die Nudeln schmeckten muffig. Bumke bezieht alles, Teigwaren, Reis, Zukker und solche Dinge, die wir kaufen müssen, von einer Firma, die wir vorher nicht kannten. Er sagt, es sei vorteilhaft, im Großen einzukaufen, und das ist es auch bestimmt. Aber ob er nicht gar zu billig einkauft? Und trotzdem ist nie Geld da, und es fehlt an allen Ecken und Enden.“

„Fräulein Honigmann bezog auch alles im Großen“, sagte Detlev nachdenklich. „Aber schlechtes Essen gab es bei ihr nie. Vielleicht wäre es besser, wenn Mutter —“

„Wenn Mutter was?“ fragte Elisabeth streitbar. Detlev schüttelte den Kopf.

„Ach, laß. Es hat keinen Zweck, daß wir hier stehen und unken“, sagte er. „Geh schlafen, das Gewitter scheint sieh zu verziehen.“

„Und du?“ fragte Elisabeth, beschämt durch seine Friedlichkeit. Sonst gingen sie meist recht geschwisterlich-streitbar miteinander um. Sein Ton war so nachsichtig gewesen. Sie zögerte, zu gehen.

„Willst du nicht auch schlafen?“ fragte sie deshalb. Detlev seufzte und stieß sich von seinem Platz am Fensterbrett ab. In diesem Augenblick zischte draußen etwas Helles herunter, und fast gleichzeitig krachte es infernalisch und so nahe, daß beide Geschwister zurücktaumelten.

„Das hat eingeschlagen!“ flüsterte Elisabeth. Sie wagte es nicht mit normaler Stimme zu sprechen. Trotzdem schien es Detlev gehört zu haben. Er rannte los und riß sie im Schwung mit sich.

Merkwürdigerweise wußten sie beide, wo es passiert war. Dem Herrenhaus gegenüber stand das Wirtschaftsgebäude, eins der ältesten des Hofes, das den kleinen Turm mit der Uhr trug. Dort! Detlev stemmte sich gegen die Haustür, die er vorhin geschlossen hatte. Der Sturm drückte dagegen. Detlev bekam sie erst auf, als Rüdi und Heiner, plötzlich neben ihm, mit anfaßten. Dann freilich flog sie auf und haute, herumschlagend, an die Wand, daß es krachte. Im nächsten Augenblick rannten sie alle vier, Elisabeth und die drei Jungen, quer über den Hof.

Elisabeth hatte das Gefühl, durch einen Wirbelsturm zu laufen. Staubböen, Wolkenfetzen und trommelnder Regen — jetzt stürzte etwas vor ihr herunter, dem sie noch gerade ausweichen konnte. Dabei schrie, ja, kreischte es: ein dicker Ast der Linde war gebrochen. Elisabeth sah sich nicht um, sondern hastete den Jungen nach über den Hof und dann die enge Treppe im Wirtschaftsgebäude hinauf. Im obersten Stock, in der Nähe des Giebels, züngelte eine kleine Flamme, lief am First dahin, Qualm beengte das Atmen. Es ging alles sehr rasch. Rüdi hatte den Schaumlöscher aus dem Halter gerissen, als er durch die Halle lief. Merkwürdig, daß er daran gedacht hatte und nicht Detlev. Am Brandort freilich war Detlev der Besonnenere. Die Brüder wechselten kaum drei Worte miteinander.

„Von unten! Immer von unten das Feuer angehen!“ hörte Elisabeth.

Gleich darauf zischte der Schaumlöscher.

„So, das hätten wir“, sagte Heiner zehn Minuten später aufatmend. Bis dahin hatten alle vier nichts gesprochen. Jetzt bestand kein Zweifel mehr, daß der Brandherd erstickt war. Draußen prasselte der Regen. Das Gewitter schien mit diesem letzten Schlag alle Kraft ausgegeben zu haben.

„Und die Linde?“ fragte Elisabeth, als sie sich durch den Hof zurücktasteten. Sie waren alle vier naß, so daß es gleichgültig war, ob sie rannten oder langsam gingen. Elisabeth fühlte, daß ihre Knie lahm und kraftlos waren. Vielleicht ging das den Jungen genauso.

„Die steht. Das vorhin war nur ein Ast“, sagte Detlev. Es klang barsch. „Und der Regen ist gut.“

„Ja.“ Natürlich war der Regen gut und beruhigend. Vielleicht hätte sonst doch da oder dort noch ein Funke glimmen und zünden können. Sie dachten alle vier das gleiche.

„Aber die Erbsenfelder!“ sagte Heiner. Auch daran hatten sie alle gleichzeitig gedacht. Detlev knurrte.

„Besser, die sind hin als das Haus.“ Er wußte nicht einmal, ob die Brandversicherung ordnungsgemäß lief. Er mußte morgen mit Humke sprechen.

In einigen Zimmern des Wohnhauses waren jetzt die Fenster erleuchtet. Die Wirtschafterin und die Mädchen waren wohl auch aus dem Schlaf aufgeschreckt. Das Zimmer der Mutter ging nach der anderen Seite. Auch im nahen Dorf brannten die Lichter. Hunde bellten. Vom Tor her kam eilig ein Mann über den Hof auf die Geschwister zu, der Verwalter Humke.

Detlev unterrichtete ihn kurz, und beide gingen nochmal zu der Einschlagstelle zurück. Auch Humke hatte nichts von dem kleinen Brand bemerkt und war nicht wenig erschreckt. Aber nun war ja alles in Ordnung. Ein warmer, sommerlicher Gewitterregen prasselte herunter. Humke sparte nicht mit Worten der Anerkennung. Ja, man müßte morgen gleich die verschiedenen Stellen benachrichtigen, die Polizei, die Versicherung. Jetzt wollte er noch schnell mal durch die Ställe gehen, ob alles in Ordnung war. Na, und dann gute Nacht auch!

Die Geschwister hatten unter dem Vordach des Hauseingangs auf Detlev gewartet. Sie waren alle erleichtert und aufgeräumt, als sie ins Haus traten und Licht machten. Sie lachten sogar, während sie sich gegenseitig musterten, naß wie sie waren und schmutzig. Die Mutter mußte das Gewitter überhaupt nicht bemerkt haben. Sicherlich hatte sie noch lange gearbeitet und war spät zu Bett gegangen.

„Wollen wir es eigentlich Mutter erzählen?“ fragte Detlev. Rüdi klopfte sich mit dem gekrümmten Zeigefinger aufs Hirndach.

„Natürlich. Der Feuerlöscher muß doch nachgefüllt werden.“

„Na klar.“ Detlev schüttelte über sich selbst den Kopf. „Manchmal ist man bekloppt. Übrigens: ob wir nicht was zu essen finden? Ich habe einen Hunger wie sechs Kriegervereine.“

So zogen sie zur Küche. Elisabeth wußte natürlich, wo Marie den Speisekammerschlüssel zu verstecken pflegte.

„Was möchtet ihr?“ fragte sie, während sie aufschloß.

„Schinken!“ platzte Heiner heraus. Es klang so endgültig und gleichzeitig so vergnügt, daß sie alle vier loslachten.

Erst als Elisabeth ins Bett kroch — es wurde draußen schon hell — fühlte sie ihr Herz wieder schwer werden. Es hatte so gut getan, nach abgewandter Gefahr mit den Jungen zu blödeln und zu lachen. Jetzt drückte es aber erneut auf sie. Sie zog die Decke bis ans Kinn hoch, rollte sich wie ein Igel zusammen und versuchte, sich selbst zu beruhigen.

Der Brand war gelöscht. Sie hatten es geschafft. Aber dies war nicht die einzige Gefahr, die ihnen drohte.

Es ging — nun ja, man konnte es ruhig aussprechen — es ging um Wienhagen.

Am nächsten Morgen machte Mutter den Geschwistern Vorwürfe, daß man sie nicht geweckt habe. Tatsächlich, sie hatte das Gewitter und den Blitzeinschlag verschlafen. Aber es war ja alles gut abgelaufen und der Schaden gering. Humke berichtete, daß auch die Verwüstungen durch den Regenguß auf den Feldern nicht der Rede wert seien. Immerhin wollte er heute gleich vormittags zur Stadt fahren, um den Brandschaden anzumelden. Den Dachstuhl würde man mit eigenen Kräften aus dem Dorf wieder instand setzen können. Das war nochmal gut abgelaufen. Die Geschwister konnten also ihren gewohnten Gang zu den verschiedenen Schulen antreten, um einen wichtigen Gesprächsstoff bereichert. —

„Du lieber Himmel, was schreibt ihr denn da?“ fragte Elisabeth, als sie an einem der folgenden Nachmittage ins Jungenszimmer trat. Wahrhaftig, ein ungewohntes Bild: Rüdi und Heiner saßen am Sonntag nach Tisch, zu einer Zeit also, da jeder tun und lassen konnte, was er wollte, und kritzelten. Das taten sie bestimmt nicht freiwillig. Ihre Gesichter waren auch entsprechend mürrisch.

„Das möchtest du gern wissen!“ knurrte Rüdi; Heiner aber, der Vierzehnjährige, guckte Elisabeth bittend an. Er schien zu wittern, daß Hilfe nahte.

„Ich krieg’ keinen Anfang — es ist scheußlich.“

„Was denn, Heiner?“ fragte Elisabeth und setzte sich neben ihn. Seit einiger Zeit hatte man beschlossen, ihn nicht mehr, wie früher, Heinz, sondern Heiner zu rufen. Das klang männlicher, hatte Detlev gesagt. „Meine Familie? Willst du eine Chronik anlegen?“

„N—nein, aber —“ er schnupfte auf. Elisabeth erschrak. Er würde doch nicht etwa weinen.

„Aber?“ fragte sie deshalb schnell.

„Wir sollen doch fort. Alle beide.“

„In Zwangserziehung. Ich auch. Und bloß, weil Heiner —“ sagte Rüdi wütend. Elisabeth sah ihn erschrocken an.

„Fort? Ihr sollt fort?“ Das hatte sie noch nicht gehört. „Oder ist das ein blöder Witz von dir?“

„Witz! Ja, schöner Witz! Es ist wegen —“ und nun gaben sie sich die Stichworte und berichteten, was vorgefallen war. Dabei sparte Rüdi nicht mit Beschimpfungen seiner Lehrer und seiner Brüder, des jüngeren, weil er der Anlaß war, und des älteren, weil er Mutter zu diesem Plan zugeredet hatte. Elisabeth hob abwehrend die Hände.

„Sachte! Wer hatte immer Arrest? Und wer hat die Schule geschwänzt? Na also. Und wohin sollt ihr?“

„In ein Internat. In Neunkirchen.“ Das war ein Städtchen, etwa dreißig Kilometer von Wienhagen entfernt. Elisabeth entsann sich jetzt, daß es dort eine Heimschule für Jungen gab, die sehr gerühmt wurde. Keine „Presse“, auch kein Landschulheim, sondern ein Internat mit frischen, netten, vernünftigen Lehrern. Von Zwangserziehung, wie Rüdi sich ausgedrückt hatte, konnte keine Rede sein.

„Ach! Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum ihr da heute hier sitzt und schreibt.“

„Wir müssen für die Aufnahme in diese Schule einen Aufsatz machen, damit sie uns schon etwas kennen lernen, und wir — ich meine, unsere Familie —“ er stockte.

„Na? Was denn?“ fragte Elisabeth ermunternd.

„Unsere Familie ist doch so schwierig zu beschreiben“, maulte Heiner. Diesmal widersprach auch Rüdi nicht. Elisabeth überlegte.

Wirklich, in diesem Punkt hatten die Jungen recht. Es gab in der Familie Hagen „meine-deine-unsere“ Kinder, wie sollte man das auf eine kurze klare Formel bringen? Unter dem Fenster hörte man es jetzt rufen:

„Liiiiiesabeth! Kommste endlich?“ Das war die kleine Liane, das Nestküken. Wo Gerd steckte, ahnte sie nicht.

„Ja! Warte doch! Du hast recht, Heiner, das ist eine knifflige Geschichte.“ Sie beugte sich vor, auf dem Nachbarstuhl kniend und die Arme aufgestützt. So lag sie über dem Tisch, beide Fäuste in die Backen gestemmt, und sah auf das Blatt herunter, auf dem er angefangen hatte zu schreiben. „Ich bin der dritte Sohn von —“ weiter ging es noch nicht.

„Hier steckt ihr?“ fragte in diesem Augenblick Barbara. Sie war zur Tür hereingeschusselt gekommen, trotz des Sonntags in Reithosen und Anorak, ein Reithalfter in der Hand. „Rüdi, wo bleibst du denn? Dann nehme ich eben die Horka!“

„Untersteh dich!“

„Nun seid doch mal einen Augenblick still! Von draußen brüllt Liane nach mir, du zerrst an Rüdi, man kann ja keinen Gedanken fassen.“

„Wozu brauchst du denn am heiligen Sonntag Gedanken? Außerdem macht Denken häßlich.“ Barbara lachte.

„Grünschnabel! Ich brauch’ sie zu dem Aufsatz: Meine Familie. Schreib du das mal kurz und bündig bei so verworrenen Verhältnissen wie den unseren.“

„Ach, ihr Umstandsräte! Ich brächte das in drei Sätzen fertig“, sagte Barbara und setzte sich mit einem Hops auf den Tisch, ließ die Beine baumeln und polierte mit dem Ärmel ihres Anoraks den Stirnriemen des Halfters. „Ich schriebe —“

„Was denn, bitte sehr?“

„Wollen wir wetten, daß ich es in drei Sätzen hinkriege? Also: Vater und Mutter waren beide verwitwet, als sie heirateten. Vater hatte drei Söhne, Detlev, Rüdiger und Heiner, Mutter drei Töchter, Elisabeth, Ingrid und Barbara. Nach einem Jahr bekamen sie Zwillinge: Gerd und Liane. Basta. Punkt. Streusand drüber. Na? Wie findet ihr das?“

„Großartig“, sagte Rüdi anerkennend, und auch Elisabeth sagte, sich aufrichtend: „Gar nicht dumm, Bäbbs. Kurz, treffend und völlig ausreichend. Dafür bekommst du eine Eins mit einem goldenen Stern.“

„Können wir das aber alle beide schreiben? Ich meine, ob das nicht auffällt, wenn Rüdi und ich denselben Aufsatz abgeben?“ fragte Heiner vorsichtshalber noch. Barbara lachte.

„Es ist doch dieselbe Familie. Da muß man doch auch dasselbe schreiben. Aber ihr könnt es ja so machen, daß Rüdi schreibt: Vater und Mutter waren — und Heiner, als der Kavalier, der er hoffentlich noch wird: Mutter und Vater ... Auf diese Weise kommen einmal die Jungen, einmal die Mädel zuerst dran. Was denkt ihr?“

„In Ordnung“, nickte Heiner und hatte schon angefangen zu kritzeln. Auch Rüdi beeilte sich, die drei Sätze so schön wie möglich auf den linierten Bogen zu malen. Zu Heiners Ärger war er eher fertig, denn Barbara stand neben Rüdi und feuerte ihn an: „Los, los! In derselben Zeit hätte ich schon dreißig Sätze geschrieben, Bumke ist nicht da, das müssen wir ausnützen.“

Bumke — eigentlich hieß er ja Humke, aber die Kinder nannten ihn schon lange nur noch Bumke — war nicht da! Welche Aussicht, einen schönen Sonntagnachmittag zu verbringen. Heiner und Rüdi schrieben schneller, Elisabeth mußte mahnen: „Aber nicht schludern! Ihr kommt schon noch zur Zeit auf die Pferde.“

„Ich nehme den Lausbub“, sagte Rüdi, über seinen Bogen gebeugt, „Bumke hat gesagt — aber er hat nichts zu sagen. Früher durften wir jedes Pferd nehmen.“

„Außer dem Satan!“

„Den? Den haben wir doch genommen. Jedenfalls Detlev!“ sagte Heiner. „Ich weiß es genau. An dem Tag, an dem wir den Brief von Mutter bekamen, daß ihr zu uns ziehen wolltet, an dem hatte er ihn geritten. Rüdi war dabei — nicht wahr? Freilich nur im Stall, sonst hätte Vater es gemerkt.“

„Ich dachte, ihr durftet?“ fragte Barbara. Rüdi lachte. Er war mit seinem Aufsatz fertig und rannte, noch ehe die Tinte der letzten Zeile getrocknet war, damit hinüber zu Mutter; gleich darauf kam er vergnügt und befriedigt wieder. „Nun los!“

Rüdi war jetzt sechzehn, ein nicht allzu großer, aber kräftiger Junge mit runden Schultern, einer ein wenig aufgestülpten Nase und vielen kleinen Sommersprossen auf der sonst reinen und klaren Haut. Er trug das Haar seit einiger Zeit glatt nach hinten gestrichen, ohne Scheitel. Dadurch wirkte er erwachsener. Freilich, so hübsch und schmuck und gut aussehen wie Detlev, der älteste, würde er wohl nie; aber er war frisch, gesund und kräftig. Mutter nannte ihn manchmal ihr frischgebackenes Brot. Barbara verstand sich ausgezeichnet mit ihm, obwohl sie erst dreizehn war. Sie liefen nebeneinander mit ihm über den Hof, dem Stall zu. Auf dem Dach des Wirtschaftsgebäudes hockten zwei Handwerker, die den Brandschaden ausbesserten.

Elisabeth saß noch neben Heiner und überwachte die letzten Worte seines Aufsatzes. „Mach möglichst keinen Fehler mehr!“ mahnte sie. Ihr Herz war schwer.

Daß die Jungen weg sollten! Wenn zwei aus der Geschwisterreihe heraustraten, änderte sich das ganze Familienbild. Freilich, nicht lange mehr, und auch Detlev und sie würden in die Welt hinausgehen.

Elisabeth entsann sich noch genau des Weihnachtsfestes, an dem Vater — damals noch Onkel Gerd — ihnen gesagt hatte, Mutter und er wollten nun heiraten. Sie wollten eine richtige Familie werden, mit Vater und Mutter, Brüdern und Schwestern, für immer. Und dann waren es nur drei glückliche Jahre geworden, die das Schicksal ihnen schenkte. Vater starb, als Liane und Gerd, die beiden Jüngsten, gerade zwei Jahre alt waren.

Elisabeth hatte sehr an ihrem zweiten Vater gehangen. Sie ahnte auch, wie schwer es für Mutter war, zum zweitenmal einen geliebten Mann verloren zu haben. Mutter trug es tapfer. Immer wieder sagte sie, wie stolz sie diese große und schöne Aufgabe machte, die Vater ihr hinterlassen hatte: für ihre Kinder zu sorgen. Vor allem betonte sie, wie gut es war, daß die Jungen nun ganz zu ihnen gehörten. Sie hätten sonst niemanden auf der Welt gehabt. Und die Heimat, der Hof Wienhagen, blieb ihnen ja auch, ihnen allen.

Nun sollten Heiner und Rüdi fort. Nicht weit — und nicht für immer. Trotzdem hatte Elisabeth das Gefühl, als schlüge das Leben eine Bresche in ihre Reihe, wenn jetzt zwei von ihnen nicht mehr täglich an dem langen Tisch saßen, Mutter ärgerten, die Schwestern ruppig behandelten, obwohl sie sie im Grunde herzlich gern hatten, abends trödelten, um das Schlafengehen hinauszuschieben, und in der Früh brummten, wenn sie geweckt wurden. Ein Jungenszimmer, nur von Detlev bewohnt ...

„Warum heulst du denn?“ fragte in diesem Augenblick Heiner verblüfft. Er hatte verschiedene Schubladen aufgezogen, darin herumgekramt und sie wieder zugestoßen, war dann am Diwan stehengeblieben und hatte den Fuß daraufgesetzt, um sich das Schuhband zu binden. Dabei sah er um sich, weil Elisabeth so komisch aufseufzte.

„Heulen? Quatsch.“ Elisabeth zog ihr Taschentuch heraus und schnaubte laut. Sie saß vor dem bestoßenen, zerkratzten und verschnitzelten Jungenstisch — die drei litten nie eine Decke darauf und pflegten, wenn sie arbeiten oder nachdenken mußten, die Eichenplatte mit Messer, Federhalter oder Bleistift zu verzieren — und legte beide Arme gekrümmt auf die Platte, das Gesicht hinein. Heiner stand vor ihr, nicht begreifend, hilflos.

„Warum denn? Sag doch!“ Er stieß die ältere Schwester ein wenig an. „Was hast du denn?“

„Alle geht ihr weg.“ Elisabeth hob das Gesicht nicht. „Du und Rüdi — und Ostern macht Detlev Abitur und geht auch, irgendwohin in eine Universitätsstadt. Und Ingrid will Kindergärtnerin werden. Und —“

„Aber Elisabeth!“

„Und alles hier ist anders und vorbei!“ Elisabeth hatte sonst nicht die Art, sich gehen zu lassen. Deshalb erschrak Heiner so. In diesem Augenblick ging die Tür. Elisabeth hörte es nicht. Mutter kam herein. Heiner, vor der weinenden Schwester stehend, machte eine hilflose Bewegung.

Mutter sah ihn an, dann ihr Mädel, ihre Älteste. Mutter war schmal geworden in den letzten Jahren, sie hatte zwar noch kein graues Haar, aber sie wirkte älter. Nur ihre Bewegungen waren noch immer jugendlich rasch, leicht und weich.

So setzte sie sich jetzt neben ihr Kind und legte den Arm um die jungen Schultern. Elisabeths letzte Worte, unglücklich und anklagend, standen noch im Raum.

„Kind, Kind! Nichts ist vorbei“, sagte Mutter leise, zärtlich und ohne jeden Tadel in der Stimme. „Anders freilich wird unser Leben, mit jedem Jahr, mit jeder Woche, jedem Tag. Das ist aber überall so, man bemerkt es nur als Kind nicht. Aber denk doch, wie schön es wird, wenn Heiner und Rüdi in den Ferien heimkommen, und wir backen Kuchen! Und wenn Detlev Abitur macht! Ich habe ihm den Führerschein versprochen, vielleicht aber bekommt er den schon für das Herbstzeugnis, wenn er in zwei Hauptfächern eine Zwei hat.“ Elisabeth blickte auf. Noch immer wie in den Kindertagen ließ sie sich von dem guten Zuspruch der Mutter gefangen nehmen und trösten. Ja, wenn wir unsere Mutter nicht hätten! mußte sie denken.

Frau Hagen lächelte vor sich hin, als sie fortfuhr:

„Meine letzte Übersetzung bringt vielleicht einmal einen ordentlichen Batzen, wenn das Buch gut einschlägt. Ich bin diesmal am Gewinn beteiligt, also müssen wir den Daumen für eine hohe Auflage halten. Du darfst dann auch fahren lernen, sobald du achtzehn bist. Dann könnt ihr am Ferienanfang einmal allein nach Neukirchen fahren und die beiden abholen, oder auch, wenn einer Geburtstag hat und wir alle zusammensein wollen.“

„Erlaubst du uns das?“ fragte Elisabeth und hob den Kopf.

Mutter nickte heftig:

„Freilich. Freust du dich?“

Elisabeth legte ganz schnell die Arme um Mutters Hals. Das tat sie sonst nie. Irgend etwas hatte sie heftig angerührt. Sie saßen aneinandergelehnt und versuchten, Trost beieinander zu finden. Sie wollten beide tapfer sein und versuchen, alles, was kam, richtig und schön zu finden. Sie mußten es lernen.

Ob es gelingen würde? Elisabeth hatte Mutter vorhin einen Wimperschlag lang angesehen. Freilich, Mutter tröstete, wie sie früher getröstet hatte, als man noch klein war und heulte, weil man auf die Nase gefallen war oder ein Schulbuch nicht finden konnte. Jetzt aber merkte man, daß sie vielleicht selbst ein wenig Trost brauchte.

‚Ich will versuchen, ihr zu helfen‘, nahm sich Elisabeth vor, ‚ich will stark sein und Mutter beistehen!‘

Sie war siebzehn Jahre alt. Sie hatte einen älteren Bruder und sechs kleinere Geschwister — und keinen Vater mehr, der, stark, groß und selbstverständlich, vor ihnen allen stand und die Schläge, die das Leben austeilte, auffing. Dafür eine Mutter, die sich redlich bemühte, Vater zu ersetzen, die aber ein wenig zart war.

Elisabeth fühlte dies alles im Augenblick sehr deutlich und sehr bedrängend. War es verwunderlich, daß ihr Herz ein wenig verzagt schlug, als sie fühlte: ‚Du bist nun groß. Auf dich kommt es an!‘

Es geht um Wienhagen