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Ein Familienurlaub auf Lanzarote, der zum Albtraum wird...
Lanzarote, am Neujahrsmorgen: Henning sitzt auf dem Fahrrad und will den Steilaufstieg nach Femés bezwingen. Seine Ausrüstung ist miserabel, das Rad zu schwer, Proviant nicht vorhanden. Während er gegen Wind und Steigung kämpft, lässt er seine Lebenssituation Revue passieren. Eigentlich ist alles in bester Ordnung. Er hat zwei gesunde Kinder und einen passablen Job. Mit seiner Frau Theresa praktiziert er ein modernes, aufgeklärtes Familienmodell, bei dem sich die Eheleute in gleichem Maße um die Familie kümmern. Aber Henning geht es schlecht. Er lebt in einem Zustand permanenter Überforderung. Familienernährer, Ehemann, Vater – in keiner Rolle findet er sich wieder. Seit Geburt seiner Tochter leidet er unter Angstzuständen und Panikattacken, die ihn regelmäßig heimsuchen wie ein Dämon. Als Henning schließlich völlig erschöpft den Pass erreicht, trifft ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: Er war als Kind schon einmal hier in Femés. Damals hatte sich etwas Schreckliches zugetragen – etwas so Schreckliches, dass er es bis heute verdrängt hat, weggesperrt irgendwo in den Tiefen seines Wesens. Jetzt aber stürzen die Erinnerungen auf ihn ein, und er begreift: Was seinerzeit geschah, verfolgt ihn bis heute.
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Seitenzahl: 250
Für David, der weißworum es hier geht
JULI ZEH
NEUJAHR
Roman
Luchterhand
Ihm tun die Beine weh. An der Unterseite, wo Muskeln liegen, die man selten beansprucht und deren Namen er vergessen hat. Bei jedem Tritt stoßen seine Zehen an das Innenfutter der Turnschuhe, die fürs Joggen, nicht fürs Radfahren gemacht sind. Die billige Radlerhose schützt nicht ausreichend vor dem Scheuern, Henning hat kein Wasser dabei, und das Fahrrad ist definitiv zu schwer.
Dafür ist die Temperatur fast perfekt. Die Sonne steht weiß am Himmel, brennt aber nicht. Säße Henning auf einem Liegestuhl im Windschatten, würde ihm warm werden. Liefe er am Meer entlang, würde er eine Jacke überziehen.
Radfahren ist pure Entspannung, beim Radfahren erholt er sich, auf dem Rad ist er mit sich selbst allein. Eine schmale Schneise zwischen Beruf und Familie. Die Kinder sind zwei und vier.
Der Wind sorgt dafür, dass er nicht schwitzt. Der Wind ist heftig heute, eigentlich zu heftig. Theresa hat schon beim Frühstück zu klagen begonnen, sie klagt gern über das Wetter und meint es nicht böse, ihn nervt es trotzdem. Zu warm, zu kalt, zu feucht, zu trocken. Heute zu windig. Man kann nicht mit den Kindern raus. Den ganzen Tag im Haus bleiben müssen, dafür fährt man doch nicht in die Sonne. Es war Henning, der auf diesem Urlaub bestanden hat. Sie hätten Weihnachten zu Hause feiern können, günstig und gemütlich in ihrer großen Göttinger Wohnung. Sie hätten Freunde besuchen können oder sich im Centerpark einmieten. Aber dann wollte Henning plötzlich nach Lanzarote. Abend für Abend surfte er durchs Internet, betrachtete Fotos von weißer Gischt an schwarzen Stränden, von Palmen und Vulkanen und einer Landschaft, die aussah wie das Innere einer Tropfsteinhöhle. Er studierte Tabellen mit Durchschnittstemperaturen und schickte seine Funde an Theresa. Vor allem klickte er sich durch Bilderserien von weißen Villen, die zur Vermietung standen. Eine nach der anderen, Abend für Abend. Immer wurde es spät. Er nahm sich vor, damit aufzuhören und zu Bett zu gehen, und öffnete dann doch die nächste Anzeige. Betrachtete die Fotos, gierig, süchtig, fast so, als suche er ein bestimmtes Haus.
Da stehen sie nun, diese Villen, ein gutes Stück von der Straße entfernt, vereinzelt im Campo verstreut. Aus der Ferne gleichen sie weißen Flechten, die sich auf dem dunklen Boden festgesetzt haben. Bei mittlerer Distanz werden sie zu Anordnungen aus verschieden großen Würfeln. Erst wenn man langsam vorbeifährt, erkennt man sie ganz: beeindruckende Haciendas, häufig am Hang gelegen, das Gelände treppenförmig gestuft, umgeben von weißen Mauern mit schmiedeeisernen Toren. Vor den Haupthäusern kunstvoll verwilderte Gärten, hohe Palmen, skurrile Kakteen, üppige Bougainvilleen. In den Einfahrten meistens Mietwagen. Verschiedene Terrassen in verschiedene Himmelsrichtungen. Ringsum Panorama, Aussicht, Horizont. Vulkanberge, Himmel, Meer. Im Vorbeifahren betastet Henning diese Anwesen mit Blicken. Er spürt, wie es sich anfühlen muss, dort zu leben. Das Glück, der Triumph, die Großartigkeit.
Ohne Theresa zu fragen, mietete er schließlich eine Ferienunterkunft für sich und die Familie, zwei Wochen in der Sonne, über Weihnachten und Neujahr. Keine Villa, sondern etwas, das sie sich leisten können. Eine Scheibe Haus zwischen anderen, die alle gleich aussehen, jede mit einer windgeschützten Terrasse und winzigem Garten. Ganz hübsch, aber wirklich klein. Der Gemeinschaftspool ist türkis und gepflegt. Zum Schwimmen ist das Wasser meistens zu kalt.
In Deutschland Schneeregen bei einem Grad plus, hat er heute Morgen zu Theresas Gejammer gesagt.
Erster-Erster, Erster-Erster, er skandiert es innerlich bei jedem Tritt in die Pedale. Der Wind ist stark und bläst von vorn. Die Straße steigt an, Henning kommt nur langsam voran. Er hat das falsche Fahrrad gemietet, die Reifen sind zu dick, der Rahmen zu schwer. Dafür hat er mehr Zeit, die Häuser zu betrachten. Er weiß, wie sie von innen aussehen, er hat die Bilder aus dem Internet im Kopf. Fliesenböden und offene Kamine. Badezimmer mit Natursteinwänden. Doppelbetten, an denen Moskitonetze wehen. Geschlossene Patios, in deren Mitte eine Palme wächst. Vorne Meerblick, hinten Bergpanorama. Vier Schlafzimmer, drei Bäder. Eine lächelnde Ehefrau in heller Leinenhose und flatternder Bluse. Glückliche Kinder, die sich vorzugsweise friedlich spielend mit sich selbst beschäftigen. Ein Mann, der stark ist, verantwortungsbewusst und liebevoll zu seiner Familie, trotzdem innerlich unabhängig und immer ganz bei sich selbst. Dieser Mann liegt im Liegestuhl und trinkt den ersten Cocktail des Tages, am frühen Nachmittag. Dicke Mauern, kleine Fenster.
Die Miete für ein solches Anwesen hätte 1.800 Euro pro Woche gekostet. Das Scheibenhaus kostet 60 am Tag. Sie haben ein Schlafzimmer mit einem 1,40er-Bett, was Henning eigentlich zu schmal findet. Ein weiteres Zimmer mit Kinderbett, Babybett und sogar einem voll ausgestatteten Wickeltisch, inklusive Feuchttüchern, Babyöl und einem kleinen Vorrat an Windeln. Auf den Regalen im Wohnzimmer stehen Thriller, die andere Feriengäste zurückgelassen haben, die meisten auf Englisch, ein paar auf Deutsch. Die Küche ist offen, draußen befindet sich ein Essplatz hinter einer großen Glasschiebetür. Im Garten eine Grillstation und gemauerte Bänke, auf denen sie abends sitzen und Wein trinken, wenn die Kinder im Bett sind. Im angrenzenden Haus auf der einen Seite wohnen junge Leute, die den ganzen Tag unterwegs sind und nur zum Schlafen zurückkommen. Auf der anderen Seite ein britisches Ehepaar über sechzig, das sich genauso gedämpft unterhält wie Henning und Theresa und sich bislang nicht über die Kinder beschwert.
Wir haben echt Glück. Wir haben es prima getroffen. Bibbi hat von der ersten Nacht an richtig gut geschlafen, im Grunde sogar besser als zu Hause, wie Theresa und Henning immer wieder beteuern. Sie versichern einander, dass es ein reizendes Haus ist, und das ist es ja auch. Das Wetter ist toll, bis auf den Wind, der erst seit heute in dieser Stärke weht. Ein paar Mal waren sie schon am Strand. Inzwischen findet Theresa, dass es eine gute Idee war, hierher zu fahren. Anfangs war sie dagegen. Henning hat so getan, als hätte er sie mit der heimlichen Buchung überraschen wollen, dabei kam es ihm nur darauf an, ihren Widerstand zu umgehen. Vorwürfe hat sie ihm deswegen nicht gemacht, das ist nicht ihre Art. Sie gibt ihm lieber stumm das Gefühl, es verbockt zu haben. Warum die Kanaren? Zu stressig, zu teuer, irgendwie überkandidelt. Es kommt nicht oft vor, dass Theresa ihre Meinung ändert. Aber jetzt ist sie gern hier, nur den Wind kann sie nicht leiden.
Der Mietwagen kostet 135 die Woche, das Fahrrad 28 am Tag. Beim ersten Einkauf im Eurospar haben sie über 300 Euro ausgegeben. Wenn sie essen gehen, belaufen sich die Rechnungen für zwei Kinder und zwei Erwachsene bei je einem Getränk auf 30 bis 50 Euro. Der Flug war günstig, allerdings findet Henning es unverschämt, dass die Kinder fast den vollen Preis zahlen. Er weiß nicht, warum er immer so genau darauf achtet, was alles kostet. Sie nagen nicht gerade am Hungertuch. Trotzdem läuft in Hennings Kopf eine Rechenmaschine, die Theresa bestimmt lächerlich fände, wenn sie davon wüsste. Er kann nichts dafür. Er registriert einfach immer den Wert der Dinge, genauer gesagt, ihren Preis. Vielleicht ist Geld das letzte verbliebene Ordnungssystem auf der Welt.
Erster-Erster, Erster-Erster.
Außer ihm sind kaum andere Fahrradfahrer unterwegs. Genauer gesagt, hat Henning noch keinen einzigen gesehen. Vielleicht hält sie der Wind in den Häusern. Oder sie schlafen ihren Rausch aus. Männer, die keine Kinder haben. Oder es besser hinkriegen als er.
Im Fahrradgeschäft haben sie ihn gefragt, was er vorhabe. Bisschen rumfahren, hat Henning geantwortet. Der Mann hat ihm ein schlankes Mountainbike empfohlen, mittleres Profil, Luftfederung. Damit können Sie auch mal über die Sandpisten brettern, hat er gesagt.
Zuhause trainiert Henning nicht mehr, er kommt einfach nicht dazu. Früher ist er jedes Wochenende gefahren, manchmal mehr als 100 Kilometer am Tag. Lanzarote, die Fahrradinsel. So heißt es im Internet. Gute Straßen, steile Hänge. Hier trainieren auch die Profis. Henning hielt es für eine gute Idee, im Urlaub die eine oder andere Tour zu unternehmen, nicht zu weit und ganz entspannt. Nun sind sie schon mehr als eine Woche hier, und er hat noch kein einziges Mal auf dem Rad gesessen. Bis heute.
Es war eine spontane Idee. Nach dem Frühstück ist er vors Haus getreten und hat zum Atalaya-Vulkan hinübergeschaut, der dunkel und schweigend den Atlantik überblickt. Da wusste Henning, er muss da rauf. Auf 500 Höhenmetern liegt das Bergdorf Femés. Die Straße ein breites, gleichmäßig ansteigendes, am Ende steil gewundenes Band. Es sah nicht weit aus. Henning rief hinter sich ins Haus: »Tschüs, kleine Radtour, bin bald wieder da«, und schloss die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten.
Erster-Erster, Erster-Erster. Das Schöne am Radfahren ist, dass man nur treten muss. Mehr nicht. Es läuft gut. Langsam, aber gut. Bis auf die schmerzenden Oberschenkel fühlt sich Henning topfit.
Kaum zu glauben, dass sie erst eine Woche auf der Insel sind. Henning kommt es vor, als läge Weihnachten schon viel länger zurück. Irgendwie war Heiligabend ganz schön. Wobei »schön« seit vier Jahren bedeutet: schön für die Kinder. Theresa hat darauf bestanden, einen Tannenbaum zu organisieren. Gleich nach der Ankunft auf der Insel ist sie stundenlang im Mietwagen durch die Gegend gefahren, um auf einer Insel ohne nennenswerte Vegetation eine Fichte aufzutreiben. Währenddessen saß Henning mit Jonas und Bibbi im Scheibenhaus und stellte fest, wie anstrengend Urlaub mit Kindern ist, wenn man weder die Legokiste noch die Brio-Eisenbahn oder die Stofftiersammlung dabeihat.
In Hennings Vorstellung gibt es Kinder, die mit einem kleinen Garten wie dem des Scheibenhauses vollauf zufrieden wären. Stundenlang würden sie im schwarzen Kies spielen, der statt Gras die gesamte Gartenfläche bedeckt. Bibbi und Jonas tun das nicht. Manchmal fragt sich Henning, ob sie irgendetwas falsch machen. Jonas’ Lieblingsfrage lautet »Was machen wir jetzt?«, und sogar Bibbi sagt schon »Mir ist langweilig«, einen Satz, den sie von ihrem Bruder gelernt hat.
Theresa meint, dass die beiden einfach noch zu klein seien, um sich allein zu beschäftigen. Die gleichaltrigen Kinder in ihrem Bekanntenkreis brauchten auch ständig ein Unterhaltungsprogramm. Aber Henning will Vater sein, nicht Entertainer oder Spielkamerad. Er denkt, dass da etwas nicht stimmt. Als Henning klein war, wären er oder seine Schwester niemals auf den Gedanken gekommen, die Mutter zu fragen, ob sie mit ihnen spielt. Schwer zu verstehen, was sich seitdem geändert hat.
Theresa musste schließlich einsehen, dass es auf der ganzen Insel keine Tannenbäume gab, genauer gesagt, nur eine kleine Anzahl von vorbestellten Exemplaren, die ein deutscher Pflanzenhandel für deutsche Auswanderer per Schiff importieren lässt. Sie kam dann mit einem Plastikbäumchen nach Hause, fertig geschmückt und im Kofferraum versteckt, damit sie den Kindern später erzählen konnte, das Christkind habe ihn gebracht. Seit Bibbi und Jonas auf der Welt sind, zieht Theresa diese Show jedes Jahr durch. Heimlichtuerei, Christkind, Geschenke. Sie würde mitten im Himalaya einen Weihnachtsbaum organisieren und vor den Kindern verstecken. Oft fühlt sich Henning genervt von ihrer Verbissenheit, dabei weiß er im Grunde, dass er neidisch ist. Zum einen, weil Theresa kämpft, bis sie hat, was sie will. Zum anderen, weil es bei ihr früher auch vom Christkind gebrachte Weihnachtsbäume gab. Der erste Blick ins Wohnzimmer auf den mit Kerzen und bunten Kugeln geschmückten Baum gehört zu Theresas schönsten Kindheitserinnerungen.
Für Henning und Luna gab es meistens keinen Baum, und wenn doch, dann hatte die Mutter bei einem ihrer stressigen Einkäufe das kleinste verkrüppelte Tännchen mitgenommen und in den überfüllten Kofferraum gestopft. Außer Zeit fehlte der Mutter ständig das Geld. Der Vater hatte die Familie verlassen, als Henning etwa in Jonas’ Alter war, vier oder fünf. Wenn Henning an seine Kindheit zurückdenkt, sieht er Mutter, Luna und sich selbst. Seinen Vater Werner sieht er nicht. An die Zeit, bevor Werner »ein neues Leben angefangen hat«, wie die Mutter es nennt, besitzt er keine Erinnerung.
Nach allem, was er weiß, ist es nicht ungewöhnlich, dass die Erinnerung eines Menschen erst mit fünf oder sechs einsetzt. Im Verlag hat er einmal ein Buch betreut, das vom menschlichen Gedächtnis handelte. Darin hieß es, frühe Erinnerungen beruhten in Wahrheit oft auf Fotos oder Erzählungen. Man könne sie sogar erzeugen, indem man erwachsenen Menschen manipulierte Bilder aus ihrer Vergangenheit zeige. Sie erinnerten sich dann an Dinge, die gar nicht stattgefunden haben.
Das findet Henning unheimlich. Er zieht es vor, sich gar nicht zu erinnern. Tatsächlich gibt es einige Fotos von der vierköpfigen Familie: schöne Mama, blonder Henning, lachender Werner mit dunklem Schnauzbart und dazwischen die kleine Luna mit der großen Zahnlücke, die sie so entzückend frech aussehen lässt. Aber weder erkennt Henning im schnauzbärtigen Werner seinen Vater, noch kann er sich daran erinnern, wie Luna so früh ihre beiden Schneidezähne verloren hat, auch wenn die Geschichte vom Sturz mit dem Dreirad immer wieder erzählt worden ist.
Mutters Weihnachtsbäume hatten, anders als Theresas, niemals etwas mit dem Christkind zu tun. Es waren Damit-ihr-endlich-Ruhe-gebt-Bäume. Henning und Luna haben sie trotz oder vielleicht sogar wegen der krummen Ästchen geliebt. Doch daran will Henning nicht denken; wenn es nach ihm ginge, müsste er für den Rest seines Lebens keinen Weihnachtsbaum mehr sehen.
Am Heiligabend im Scheibenhaus war er Theresa dann doch dankbar für ihre Hartnäckigkeit. Mit strahlenden Augen standen die Kinder vor dem billig geschmückten Plastikbäumchen, starrten in die künstliche Lichterkette und stupsten die bunten Kugeln mit den Fingern an. Jonas mochte vor allem die Schneemänner mit Piratenkopftuch, die an den Plastikzweigen hingen, Bibbi die Vögelchen mit Mütze. Henning stand daneben und überlegte, ob sich wenigstens Jonas eines Tages an diesen Augenblick erinnern würde. Ob irgendein Detail dieses Urlaubs erhalten bliebe.
Die Haut der Berge hat Falten, in denen Schatten wohnen. Es ist, als warte dort die Nacht auf ihren allabendlichen Einsatz. Gegen sechs Uhr wird die Dunkelheit aus den Schluchten heraufziehen und in kürzester Zeit die Insel zudecken. Tagsüber ist die Sicht überklar, die Berge sind scharf konturiert, die Farben intensiv wie nach einer Bildbearbeitung. Henning fühlt sich unwirklich in der von Flechten bedeckten Mondlandschaft, weder sein Fahrrad noch er passen hierher. Im Reiseführer hat er von den letzten, erst 300 Jahre zurückliegenden Vulkanausbrüchen gelesen. Wie damals der Timanfaya ein Drittel der Insel mit Lava überflutete. Wie er Vegetation und Tierwelt auslöschte, ganze Landstriche mit Asche und Schlacke bedeckte. Giftige Dämpfe, Salzwasser-Geysire, herausgeschleudertes Gestein. Geblieben ist eine erdgeschichtliche Stunde null. Ein mineralischer Anfang, gesichtslos und geschichtslos, stumm.
Der Reiseführer sagt, dass manche Menschen Lanzarote hassen, während andere es abgöttisch lieben. Henning weiß noch nicht, zu welcher Sorte er gehört.
Es sind jetzt die ersten Momente, in denen er mit sich und der Insel allein ist. Bislang sind die Tage mit kindgerechten Unternehmungen vergangen, Spielplatz, Strand, Piratenmuseum, Kamelreiten. Eisessen, Kartbahn, Zoo, noch ein Eis. Wer würde es schon aushalten, den ganzen Tag mit zwei kleinen Kindern im Haus zu verbringen? Mit Kindern ist Urlaub eine Episode, in der das Leben noch anstrengender ist als sonst. Man findet keine ruhige Minute, errichtet mit aller Kraft ein Bollwerk gegen Chaos, Langeweile und schlechte Laune. Man liest im Reiseführer das Kapitel »Familie«, sucht in Supermarktregalen eine bestimmte Wurstsorte und im Fernsehen nach Kinderprogrammen. Man lernt, den Buggy in den viel zu kleinen Kofferraum des Mietwagens zu falten, man kämpft gegen die Gurte der Kindersitze, man redet viel über die Kinderfreundlichkeit der Spanier, darüber, dass sämtliche Restaurants über Hochstühle von IKEA verfügen und dass man auf den Spielplätzen auffallend viele Väter sieht. Sie wissen längst, dass Arbeit nicht mehr der Feind der Freizeit ist, sondern eine Verteidigungsstrategie gegen den Dauerzugriff der Kinder. Vom Urlaub werden sie sich in ihren Jobs erholen.
»Es ist nur eine Phase«, lautet einer von Theresas Lieblingssätzen. Manchmal versteht Henning: »Es ist nur eine Phrase.« Schlimm genug, dass beides stimmt.
Um auch den Silvesterabend familienfreundlich zu gestalten, hatten sie auf Last-Minute-Basis das Silvestermenü im Hotel »Las Olas« gebucht, und zwar die erste Schicht, Beginn 18 Uhr, vier Gänge. Ende 20:30 Uhr, weil um 21 Uhr die nächsten Gäste kamen. Das war demütigend, aber optimal für den Tagesrhythmus der Kinder, der sich auf diese Weise nur um knapp zwei Stunden verschob.
Der Speisesaal des »Las Olas« war so groß, dass man nirgendwo ein Ende sah. Tische für acht Personen standen dicht an dicht. Es roch nach Massenabfertigung. Sie hatten sich das Arrangement festlicher vorgestellt. Das Menü kostete hundert Euro pro Person; immerhin war es für die Kinder umsonst.
Theresa fing sofort an, das Beste daraus zu machen. Das-Beste-daraus-Machen ist bei ihr ein Programm, das startet, sobald etwas nicht optimal läuft. Sie entschied, mit den Kindern einen Spaziergang durch die Lobby zu unternehmen, um den mit Swarowski-Schmuck behängten Weihnachtsbaum zu bestaunen, während Henning die reservierten Plätze suchen und alles für ihre Ankunft vorbereiten sollte. Einen Hochstuhl organisieren, Feuchttücher bereitlegen, die Gläser durch mitgebrachte Plastikbecher ersetzen.
Beim Betreten des Speisesaals fühlte sich Henning wie auf einem Kreuzfahrtschiff, obwohl er noch nie auf einem gewesen ist. An den meisten Tischen saßen bereits Gäste, blickten den Neuankömmlingen erwartungsvoll entgegen oder studierten das Menü, das sie vermutlich schon auswendig konnten. Er fand es unangenehm, sich zu Fremden zu setzen. In Gegenwart anderer Menschen wird das Bändigen der Kinder zur verzweifelten Pflicht. Henning suchte Nummer 27 und gelangte schließlich an einen Tisch neben einem Springbrunnen, an dessen Grund ein paar Kois schwammen. Mindestens eine Viertelstunde Ablenkung, schätzte er. Weniger ermutigend waren die Sets aus verschiedenen Tellern, Bestecken, Gläsern und gefalteten Servietten, die es vor den Händen der Kinder in Sicherheit zu bringen galt. Erfreulich wiederum der Umstand, dass schon ein Hochstuhl bereitstand.
An der anderen Tischseite erhob sich ein älteres Ehepaar, reichte ihm die Hände, wünschte auf Deutsch frohe Weihnachten und nannte Namen, die er nicht verstand. Er sagte, dass gleich noch seine Frau mit den Kindern kommen werde, und sie sagten »Wunderbar!«, ohne dass es ironisch klang.
Henning beschloss, sich zu entspannen. Es gab allen Grund dazu. Im Rahmen des Möglichen verlief der Urlaub gut, ja, geradezu perfekt. Schon am Flughafen hatte er sie gespürt, diese besondere Atmosphäre aus Licht und Luft und Leichtigkeit. Die Spanier waren freundlich, sogar mit Kindern fühlte man sich überall willkommen. Niemand vermittelte einem das Gefühl, etwas falsch zu machen. Als wäre das Wort »Stress« noch nicht erfunden.
Allerdings ist ES in der vergangenen Nacht wieder aufgetaucht. Davon hatte er im Speisesaal des »Las Olas« noch nichts gewusst. Während er am Tisch 27 auf Theresa und die Kinder wartete, blickte er auf eine ganze Woche ohne ES zurück. Eine Woche normales Leben, normaler Schlaf, normale Probleme, normale Freuden. Seit zwei Jahren die längste störungsfreie Zeit. In den vergangenen Tagen hatte sich Henning immer wieder verboten, an ES zu denken, weil der bloße Gedanke es aus seiner Höhle locken kann. Natürlich dachte er trotzdem die ganze Zeit daran. Zu seinem Erstaunen blieb ES dennoch in seinem Loch, es hatte sich zurückgezogen, lauerte, schlummerte oder was auch immer es tat, während es ihn nicht quälte. Normalerweise verbot sich Henning auch jede Freude über die Abwesenheit von ES, weil es beim Aufkeimen von Hoffnung umso heftiger zuschlug. Aber hier, im überfüllten, überhitzten Speisesaal des »Las Olas«, erlaubte er sich ein paar vorsichtige Momente des Glücks. Warum auch nicht? Es ging ihm gut. Er war ein normaler Mensch unter Menschen. Er wurde nicht verrückt.
Das deutsche Ehepaar stammte aus Würselen, dem Ort, an dem Martin Schulz geboren ist, und erzählte gleich, dass es den momentanen SPD-Chef noch aus seiner Zeit als Buchhändler kenne. Während Henning nickte und zustimmende Laute von sich gab, hielt er nach Theresa und den Kindern Ausschau, die mit der Weihnachtsbaumbesichtigung langsam fertig sein mussten. Schließlich entdeckte er sie in einiger Entfernung, sah Theresa lachen, sie stand an einem vollbesetzten Tisch, an dem auch zwei Kinder in Bibbis und Jonas’ Alter saßen. Die vier Kinderköpfe steckten zusammen, vermutlich in gemeinsamer Betrachtung eines Spielzeugs. Vielleicht führte Bibbi ihr Quietsche-Meerschweinchen vor, das sie zu Weihnachten bekommen hatte und mit dem sie überall Furore machte. Plötzlich spürte Henning, wie sehr er die Kinder liebt, so sehr, dass es manchmal die reinste Folter ist.
Theresa hob eine Hand vor den Mund und lachte so laut, dass Henning es quer durch den Saal hören konnte. Wenn er sie aus der Entfernung sieht, fällt ihm manchmal auf, wie klein sie ist, als hätte er das in all den Jahren nicht gewusst oder wieder vergessen. Kaum einen Meter sechzig und trotzdem so voller Leben. Er könnte nicht sagen, ob sie schön ist oder auch nur gut aussieht. Sie trägt ihr braunes Haar kurz geschnitten und hat einen kräftigen, kompakten Körper. Ihre Wirkung auf andere Menschen ist enorm. Jeder scheint etwas Besonderes in ihr zu sehen. Nicht nur Männer, auch Frauen suchen ihre Nähe und beginnen sofort, ihre Lebensgeschichten zu erzählen. Am meisten mag Henning ihr ansteckendes Lachen, auch wenn häufig er es ist, über den sie lacht. In letzter Zeit beginnen ihre Wangen leicht einzufallen, was niemand merkt, der sie nicht schon lange kennt. Henning nimmt es als Indiz, dass sie trotz ihrer breiten Hüften im Alter nicht fett, sondern hager werden wird. Er weiß gar nicht, was ihm lieber wäre. Er mag generell keine alten Frauen und wird trotzdem eines Tages mit einer zusammenleben. Alte Männer mag er noch viel weniger; trotzdem wird er irgendwann einer sein.
Bei diesen Gedanken streckte ES seine Fühler nach ihm aus, weshalb sich Henning beeilte, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten. Ein Kellner trat mit einem runden Tablett voller Sektgläser an den Tisch. Henning bediente sich, das ältere Ehepaar auch. Er beschloss, dass sie Katrin und Karlchen hießen. Sie prosteten ihm zu. Er stürzte sein Glas hinunter und spürte die Wirkung sofort. Für gewöhnlich trank er wenig Alkohol, vor allem nicht so früh am Abend und nicht so schnell. Er hob einen Finger, um den Kellner ein zweites Mal an den Tisch zu bitten, und auch das nächste Glas leerte er zügig. Jetzt schien ihm das Ambiente weniger billig. Dann aßen sie eben ein Pauschalmenü in einem Pauschalhotel voller Pauschaltouristen – na und? Katrin und Karlchen waren nett, die Deko erträglich, später würde es vielleicht kurz Gelegenheit zum Tanzen geben oder einen Zauberer für die Kinder. Als er gerade dachte, dass Theresa jetzt allmählich an seinen Tisch kommen könnte, kam sie mit den Kindern herüber. Großes Hallo mit Katrin und Karlchen, als wären sie alte Bekannte. Man trank gleich auf »Du«, das war einfacher und auf der Insel üblich. Der erste Gang kam, Jakobsmuscheln, die wirklich gut schmeckten, die Kinder griffen sich jeweils ein Stück Brot und verschwanden unter dem Tisch. Als er sie zur Ordnung rufen wollte, sagte Theresa »Lass doch« und legte ihm eine Hand auf den Arm.
Der Abend entwickelte sich besser als erwartet. Das Essen schmeckte, und von Bibbi und Jonas war erstaunlich wenig zu sehen. Immer wieder liefen sie hinüber zu den Kindern an Tisch 24, mit denen sie sich anscheinend bestens verstanden. In regelmäßigen Abständen ging Theresa sie zurückholen, wobei sie immer eine Weile mit den Gästen dort plauderte, Franzosen, wie Henning inzwischen wusste. Ganz entgegen seiner Gewohnheit hatte er beschlossen, einfach sitzen zu bleiben, Sekt zu trinken und auf den nächsten Gang zu warten. Er genoss den leichten Rausch, er genoss es, die Musik zu mögen, über die sich Katrin und Karlchen beschwerten, Hits aus den Neunzigern, Lemon Tree und sogar Come As You Are, er hätte alles mitsingen können und auch Lust dazu gehabt.
Katrin und Karlchen redeten über Politik. Sie gehörten zu den Menschen, die den Medien keine Informationen, sondern Stimmungen entnehmen, und waren sich mit dem Rest der Bundesrepublik einig, dass die Reise in den Abgrund geht. Noch immer keine neue Bundesregierung, dazu Brexit, Trump, AfD. Katrin wiederholte die überall gesagten Sätze – dass sich etwas Grundlegendes geändert habe, dass ganz neue Zeiten auf sie zukämen, dass die Wahrheit angesichts von Populisten und Sozialen Medien überhaupt keine Rolle mehr spiele. Sie wollte darauf trinken, dass 2018 besser werde als das Jahr davor, und Henning spielte mit, obwohl ihm das Gerede von »postfaktisch« und »Zeitenwende« unendlich auf die Nerven ging.
Immerhin lächelten Katrin und Karlchen den Kindern zu, tranken genauso schnell Sekt wie er und fragten Theresa nach ihrem Beruf, woraufhin gleich ein angeregtes Gespräch über die besten Steuertricks begann.
Im Laufe des Abends vergaß Henning immer wieder, dass er sich nicht auf einem Schiff befand. Ihm kam es vor, als fahre der hell erleuchtete Saal über ein ruhiges schwarzes Meer durch die Nacht. Als sie um neun Uhr gehen mussten, schien Mitternacht schon drei Mal vorüber. Theresa hatte eine Menge Zeit an Tisch 24 verbracht. Vielleicht mehr als an 27. Statt die Kinder zu holen und zurückzukommen, hatte sie immer länger dort gestanden und Französisch geredet, mit einem Glas Mineralwasser in der Hand.
Erster-Erster, Erster-Erster.
Von Playa Blanca aus steigt das Gelände zuerst nur mäßig an. Es ist vor allem der Wind, gegen den er kämpft, ein Wind, der stärker ist als die Schwerkraft, der ihn manchmal in Böen meterweit zur Seite treibt, der ihn unbedingt zum Umkehren veranlassen will. Henning kehrt nicht um. Weil sich sein Puls beschleunigt, wählt er einen kleineren Gang, passt seinen Rhythmus der neuen Übersetzung an, konzentriert sich darauf, im Takt der Pedale zu atmen und dabei die Lungen restlos zu entleeren. Ein Tritt ein, zwei Tritte aus. Es ist wichtig, die Kraft gut einzuteilen, nicht aus der Puste oder ins Schwitzen zu kommen. Geschwindigkeit spielt keine Rolle, er hat sich nur vorgenommen, den Aufstieg zu schaffen, egal, in welcher Zeit. Heute ist ein guter Tag für Femés, er fühlt sich ausgeruht trotz der beschissenen Nacht. Erster Erster, ein Tag wie geschaffen für eine Herausforderung. Er wird dem neuen Jahr gleich mal zeigen, was eine Harke ist.
Das letzte Jahr hat es nicht gut mit ihm gemeint. Obwohl alles einigermaßen glattlief, keine schweren Krankheiten, keine Todesfälle, lebte Henning im ständigen Gefühl, es stünde eine Katastrophe bevor. ES befällt ihn mittlerweile nicht nur nachts, sondern auch am helllichten Tag. Zwischen den Attacken ringt er mit der Angst vor der nächsten Attacke. Abgesehen davon gelingt es ihm nicht, seinen Platz zwischen Job und Kindern zu finden. Sein Leben gleicht einer Flucht, er kann nichts zu Ende bringen, hat für nichts richtig Zeit.
Er und Theresa arbeiten halbtags. Sie teilen sich Kinder und Beruf. Das ist ihnen wichtig. Sie haben einiges auf sich genommen, um ihr Modell bei den Arbeitgebern durchzusetzen, wobei sich Theresas Steuerbüro sogar kooperativer zeigte als der leicht linkslastige Sachbuchverlag, in dem Henning arbeitet. Der Verleger ging so weit, ihm indirekt mit Kündigung zu drohen, und lenkte erst ein, als Henning versprach, Arbeit mit nach Hause zu nehmen. »Ganztags arbeiten, halbtags verdienen«, nennt Theresa das. Immerhin kann Henning auf diese Weise voll mitmachen bei der Alltagsorganisation. »Einteilung« lautet das Zauberwort. Oft sitzt er in den frühen Morgenstunden oder spätnachts über den Manuskripten und leidet trotzdem unter dem Gefühl, die Bücher nicht mehr so intensiv betreuen zu können wie früher. Glücklicherweise hat sich noch keiner der Autoren beschwert.
Hauptsache, sie machen es nicht wie ihre Eltern. Hennings Mutter hat sich als Alleinerziehende bis auf die Knochen abgearbeitet. Auch Theresas Mutter war für die Kinder allein zuständig, während ihr Mann arbeiten ging. Für Henning und Theresa stand von Anfang an fest, dass sie etwas anderes wollen. Etwas Zeitgemäßes. Fifty-fifty statt 24/7.
Kurz nach Jonas’ Geburt ließ der Vermieter ihrer Vierzimmerwohnung in Göttingen das Dachgeschoss ausbauen, sechs kleine Studentenwohnungen mit winziger Küche, winzigem Duschbad und jeweils einem Zimmer, das durch die Dachschrägen noch kleiner wird. Eins der Mini-Apartments haben Henning und Theresa als Home Office dazugemietet. Henning ist gern dort oben. Die Beengtheit der Räume, der schlichte Teppichboden, der leere Kühlschrank, die Filterkaffeemaschine in der Küche – alles erinnert ihn an seine Studentenzeit. An die Phase, in der er glaubte, alles müsse gut werden, weil er es geschafft hatte, von zuhause auszuziehen.
Meistens ist es allerdings Theresa, die das Home Office nutzt. Weil sie mehr verdient, findet Henning es selbstverständlich, ein bisschen mehr Hausarbeit zu übernehmen, was Theresa, wie sie ihn spüren lässt, auch erwartet. Nach dem Vormittag im Verlag holt er Bibbi und Jonas vom Kindergarten ab, kocht das Mittagessen, legt die Kleine schlafen, spielt mit Jonas eine Stunde Lego. Anschließend gehen sie auf den Spielplatz. Wenn Theresa am späten Nachmittag aus dem Home Office herunterkommt, ist Henning meistens mit den Kindern einkaufen oder hat schon angefangen, das Abendessen vorzubereiten. Am Wochenende bietet ihm Theresa manchmal an, für einen halben Tag die Kinder zu nehmen, damit er ein paar freie Stunden für sich hat. Dann sagt er, dass er sowieso arbeiten müsse oder dass es doch auch mal schön sei, etwas zu viert zu unternehmen. Er packt Bibbis Wickeltasche, und sie fahren zusammen in den Wildpark.
In Wahrheit ist er schon zu sehr daran gewöhnt, seine Zeit mit den Kindern zu verbringen. Sosehr ihn die Kleinen oft anstrengen und nerven – allein weiß er nichts mehr mit sich anzufangen. Zu viele Dinge hat er schon zu lange nicht mehr getan. Radfahren, Lesen, Musikhören, Freunde treffen. Aber im kommenden Jahr soll das anders werden. Ab jetzt will er drei Mal die Woche Rad fahren, mindestens, egal, was sonst passiert. Theresa wird ihn unterstützen. Sie wird es gut finden, wenn er endlich wieder etwas »macht«. Sie sagt immer, dass alles nur eine Frage der Einteilung sei.
Überhaupt ist »machen« für Theresa ein wichtiges Wort. »Etwas machen« gehört für sie zu einem gelingenden Leben. »Wir müssen mal wieder etwas machen« kann dabei alles Mögliche bedeuten, eine gemeinsame Unternehmung, Frühjahrsputz, Urlaubsplanung, eine Abendeinladung für Freunde, Familienbesuche oder das Erstellen eines Finanzplans. In Hennings Ohren klingt »machen« meistens nach einer Drohung. Sein Lieblingswort ist »funktionieren«. Schließlich kommt es im Leben immer und überall darauf an, ob etwas funktioniert, und solange alles funktioniert, muss man eigentlich auch nichts machen.