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Die mitreißende New Adult Sensation und Peter Pan Retelling von Bestsellerautorin Jessa Hastings Wenn du in Nimmerland dein Herz verlierst, bist du selbst verloren … So lange sie denken kann, weiß Daphne Darling, dass Peter Pan sie in sein magisches Reich hinter den Sternen holen wird, wie ihre Großmutter und ihre Mutter vor ihr. Doch anders als erwartet taucht er erst auf, als Daphne bereits 17 ist – und dann hockt vor ihrem Fenster kein vorwitziger Junge, sondern ein junger Mann! In Nimmerland wird Peters Verhalten bald immer seltsamer: Bringt er im einen Moment Daphnes Herz zum Flattern, hat er sie im nächsten scheinbar völlig vergessen. Als Daphne dem jungen Piraten Jamison Hook begegnet, lässt sie sich von seinem dunklen Charme mitreißen. Doch beide Jungen hüten gefährliche Geheimnisse, und wenn Daphne ihr Herz an einen der beiden verliert, könnte sie sich selbst verlieren … So mitreißend emotional wie Sarah J. Maas und Jennifer L. Armentrout erzählt TikTok-Phänomen Jessa Hastings in dieser romantischen Fantasy die dramatische Liebesgeschichte zwischen Wendys Enkelin, einem inzwischen erwachsenen Peter Pan, und Kapitän Hooks unfassbar sexy Piratennachkommen. Dieses Fairytale Retelling wirst du nicht mehr aus der Hand legen können!
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Seitenzahl: 677
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jessa Hastings
Roman
Aus dem Englischen von Wolfgang Thon
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
So lange sie denken kann, weiß Daphne Darling, dass Peter Pan sie in sein magisches Reich hinter den Sternen holen wird, wie ihre Großmutter und ihre Mutter vor ihr. Doch anders als erwartet taucht er erst auf, als Daphne bereits 17 ist – und dann hockt vor ihrem Fenster kein vorwitziger Junge, sondern ein junger Mann! In Nimmerland wird Peters Verhalten bald immer seltsamer: Bringt er im einen Moment Daphnes Herz zum Flattern, hat er sie im nächsten scheinbar völlig vergessen. Als Daphne dem jungen Piraten Jamison Hook begegnet, lässt sie sich von seinem dunklen Charme mitreißen. Doch beide Jungen hüten gefährliche Geheimnisse, und wenn Daphne ihr Herz an einen der beiden verliert, könnte sie sich selbst verlieren …
So mitreißend emotional wie Sarah J. Maas und Jennifer L. Armentrout erzählt TikTok-Phänomen Jessa Hastings in dieser romantischen Fantasy die dramatische Liebesgeschichte zwischen Wendys Enkelin, einem inzwischen erwachsenen Peter Pan, und Kapitän Hooks unfassbar sexy Piratennachkommen.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
DANKSAGUNGEN
An den allerersten verlorenen Jungen, den ich so sehr liebte, als ich noch klein war. Du bist an einen weit entfernten Ort gegangen, an den dir niemand von uns folgen konnte, und du bist wahrscheinlich der Grund, warum ich mich zum ersten Mal in die Geschichte vom ewig jungen, ewig freien Jungen verliebt habe. Du warst Jugend, du warst Freude, du warst der kleine Vogel, der aus dem Ei geschlüpft ist, und du bist bis zum heutigen Tag zeitlos in meinem Kopf verankert, mit goldenem Haar und lachend.
Ich hoffe, du hast gefunden, wonach du gesucht hast. Ich hoffe, dass du frei bist.
In den Legenden, die in meiner Familie von Generation zu Generation weitergegeben werden, gibt es diesen Jungen. Er rutscht über die Rockschöße der Sonne, reitet auf dem Wind, und Freiheit strömt durch seine Adern. Sein Herz, so heißt es, ist wild, aber in jeder Version der Geschichte, die mir je über ihn erzählt wurde, war nie davon die Rede, dass sein Herz unzähmbar sei.
Er nehme die Fantasie gefangen und befreie die Seele, sagen sie über ihn. Meine Großmutter kannte ihn, und ihre Mutter vor ihr. Und auch meine eigene Mutter. Das Vermächtnis unserer Familie ist mit Geschichten über ihn gespickt, darüber, wer er ist, über die Abenteuer, die sie mit ihm erlebt haben … manche waren erschreckend, andere aufregend, aber immer, immer waren sie schön.
Die Schönheit ist schon ein merkwürdiges Ding, findet ihr nicht auch? Denn schön sein bedeutet nicht notwendigerweise, auch immer gut zu sein, und nur weil euch etwas nicht glücklich macht, schließt das nicht aus, dass es nicht trotzdem schön ist. Eine provokante Lektion, die ich allerdings erst nach einer ganzen Weile begriff.
Meine Großmutter Wendy erzählte mir Geschichten über sie selbst und diesen Jungen. Wie er an einem stillen Abend im Jahr 1910 zu ihr kam, als ihre kleinen Brüder besonders mutwillig gewesen waren. Er klopfte an ihr Fenster – dass er es tun würde, hatte sie schon immer gewusst, weil die Mutter ihrer Mutter es ihr erzählt hatte, und sie glaubte ihr –, bestreute sie mit Goldstaub, und weg waren sie. Glückliche Gedanken und so weiter.
Ihr kennt die Geschichte.
Der Junge nahm sie mit in ein fernes Land, das hinter einem Stern versteckt war und wo es noch echte Piraten gab, wo sich Meerjungfrauen nicht verbargen und Feen durch die Luft flatterten wie Herbstblätter an einem windigen Tag. Dorthin brachte er meine Mutter, genauso, wie er meine Großmutter und meine Urgroßmutter dorthin gebracht hatte.
Und wohin er mich ebenfalls bringen würde.
Diese Geschichten wurden mir schon erzählt, bevor ich mich überhaupt erinnern konnte. Sie wurden mir ohne meine Zustimmung ins Gehirn eingeprägt. Magie umgab mich, ob ich wollte oder nicht. Ich wollte sie nicht. Wie meine Mutter vor mir halte ich mich für eine gebildete Frau und für viel zu alt für solche Gutenachtgeschichten.
Dieser Junge aus ihren Geschichten soll meine Urgroßmutter Mary geholt haben, als sie zwölf war, Wendy, als sie dreizehn war, und meine Mutter ebenfalls mit dreizehn. Und bei mir sollte es genauso sein, so dachten sie.
Das war die Geschichte, die sie mir erzählten, wenn sie mich abends ins Bett brachten, meine gesamte Jugend lang.
Manchmal war es meine Großmutter, manchmal meine Urgroßmutter – nur meine Mutter erzählte sie nie, weil sie sagte, die Geschichten würden mir den Verstand verderben.
»Ich denke, er wird dich bald holen kommen, Daphne.« Meine Großmutter lächelte mich in meiner Kindheit jeden Abend an, wenn sie das Fenster offen ließ, damit er hereinkommen konnte.
Nur, seht ihr, der Junge kam nicht.
Zehn, elf, zwölf, dreizehn – die Jahre rannen vorbei, wie der Regen über die Fensterscheiben rinnt, und meine Fenster blieben unverriegelt, aber auch ungeöffnet.
Je älter ich wurde, desto häufiger fragte ich mich, ob diese Familienlegende nur eine merkwürdige Gutenachtgeschichte war. Vielleicht ein grotesker Scherz, von dem sich alle hatten mitreißen lassen und den sie nun schon viel zu viele Jahre auf die Spitze trieben.
Als ich fünfzehn war, erkannte ich sie in den Gesichtern meiner Großmütter – diese Angst, dass vielleicht etwas passiert war. Vielleicht hatte der Mann mit dem Haken den Jungen endgültig besiegt. Oder möglicherweise war er in der großen Schlacht, von der er immer gesprochen hatte, gestorben. Ich sah zu, wie dieser Gedanke über ihre Gesichter huschte, so wie der Junge ihren Worten nach durch den Himmel fliegen würde. Aber am Ende beruhigten sie sich immer damit, dass er niemals sterben könnte. Er konnte unmöglich sterben, weil er der Never-Boy war. Er mochte behaupten, dass der Tod ein furchtbar großes Abenteuer wäre, aber immerhin war der Tod so ganz und gar nicht sein Schicksal. Jedenfalls argumentierten sie so.
Wenn man ihn heute zu meinen Großmüttern bringen würde, würden sie immer noch erröten und einen träumerischen Blick bekommen. All diese Jugend und die Sonnenuntergänge, die Abenteuer und die Wunder, die Fehler und eine Magie, von der ich ziemlich sicher bin, dass es sie nicht wirklich gibt. Für sie jedoch existiert sie. Es ist, als ob der Junge in ihren Erinnerungen lebt, und sie auch, jung und unsterblich, wenn der Zeiger der Uhr rückwärts tickt, die Zeit zurückdreht und ihre Fesseln löst und sie erneut frei sind von den Ketten des Alters.
Meine Mutter war nicht so, wohlgemerkt, obwohl auch sie gewissermaßen in der Vergangenheit lebt. Es ist jedoch die historische Vergangenheit, die irgendwie viel schwieriger zu erreichen ist.
Wendy sagte, meine Mutter habe Peter besucht. Mary, meine Urgroßmutter, behauptete, meine Mutter sei eine ganze Weile dortgeblieben. Ich weiß nicht, was an der Vergangenheit meiner Mutter und ihrem angeblichen Leben in Neverland wahr ist und was nicht. Ich weiß nur, dass sie heutzutage den größten Teil ihrer Zeit auf der Yucatán Peninsula verbringt. Dort führt sie eine »sehr wichtige Ausgrabung« durch – das sind ihre Worte. Sie ist Archäologin, versteht ihr? Eine »Sache von Leben und Tod«, so nennt sie ihre Ausgrabung. Ich bezweifle allerdings, dass das stimmt. Ich kann mir unmöglich vorstellen, wie das zutreffen soll, denn alles, was sie ausgräbt, ist schon seit geraumer Zeit nicht mehr am Leben. Ich hege den leisen Verdacht, dass der Tod, von dem sie spricht, vielleicht eher ihr eigener ist. Dass sie nicht dazu geschaffen war, Mutter zu sein, und dass es sie umbringen könnte, wenn sie sich so verhielte – und sei es auch nur einmal in ihrem Leben.
Als ich vierzehn war, war ich mit der ganzen Farce fertig. Mittlerweile ging ich auf das Roedean-Internat, und aus gutem Grund war meine Mitbewohnerin im Wohnheim1 recht unglücklich mit meiner Neigung, nachts die Fenster nicht zu verschließen. Abgesehen davon war ich dem Alter für Gutenachtgeschichten entwachsen, und Märchen hatte ich auch satt. Dieser mysteriöse Junge, den man mir mein ganzes Leben lang als real untergeschoben hatte, hatte sich in einen Mythos verwandelt, auch wenn Oma Wendy und Großmutter Mary immer noch Stein und Bein schworen, dass es ihn wirklich gab und er aus irgendeinem Winkel des Universums unterwegs war, um mich aufzuspüren.
Die Wahrheit ist, ich konnte gut darauf verzichten, dass er kam und mich fand.
Wir haben 1967, und ich bin siebzehn Jahre alt, bald achtzehn. Ich will meinen Sommer nicht mit einem sonderbaren dreizehnjährigen Jungen verbringen. Abgesehen von der Vorstellung, dass sich zuvor erwähnter Junge in einem Status fragwürdiger Legalität befindet, klingt das auch ziemlich schrecklich. Ich habe weitaus dringendere Dinge im Kopf als einen imaginären Jungen, der sich über sich selbst und alles, was er tut, lustig macht.
Dieser Sommer ist alles, was zwischen mir und dem Beginn meines wirklichen Lebens steht.
Ich war immer recht jung für meine Klassenstufe. Meine Mutter hat mich früh angemeldet. Sie sagte einmal, ich sei eben sehr klug, aber ich glaube, es lag daran, dass sie in Belize sein wollte. Nun, für mich hat es gut funktioniert, denn ich bin bereit, erwachsen zu werden. Ich war mein ganzes Leben lang eine Erwachsene, glaube ich. Das musste ich sein.
Der verantwortungsbewussteste Erwachsene, den ich kenne, ist ganz und gar vom Mesoamerika des neunten Jahrhunderts besessen, und für meine Großmütter existieren nur Feen2, wenn auch nicht buchstäblich – sehr zu ihrem Leidwesen.
Trotzdem sind sie entzückend. Bitte glaubt keine Sekunde lang, dass sie es nicht wären.
Wendy und Mary sind mir die liebsten Menschen auf der Welt, so realitätsfern sie auch sein mögen.
Es macht sie beide traurig – vor allem Wendy, das merke ich –, dass er mich vergessen hat. »Er vergisst manchmal Dinge, weißt du?«, sagt sie und schneidet eine Grimasse, als ob es dadurch weniger schmerzt. Dass man mich leicht vergessen kann oder dass ich von Verrückten aufgezogen wurde, meine ich.
Wenigstens sind sie geschäftstüchtige Verrückte. Wendy hat alle ihre Geschichten in einem großen Buch zusammengefasst und illustriert; ihr habt es wahrscheinlich gelesen. Sie hat es unter einem Männernamen veröffentlicht, weil es eine Männerwelt ist. Damals vielleicht mehr als heute.
Die sexuelle Revolution steht vor der Tür (behauptet man jedenfalls), aber ich interessiere mich nicht sonderlich für Sex. Ich interessiere mich für Intelligenz und wie man sie entwickelt.
Ich mag Geologie. Das ist seltsam, hat mir mein Freund gesagt. Es wäre seltsam, so etwas zu mögen. Aber ich mag diesen Planeten. Ich bin glücklich, dass ich auf ihm lebe, glücklich, durch ihn geerdet zu sein. Es ist wunderschön hier, warum sollte ich es also nicht sein? Ich brauche keinen albernen Stern, auf dem Meerjungfrauen hausen. Ich habe diesen Planeten mit all den seltsamen und merkwürdigen Varianten des Lebens, die sich hier tummeln. Seekühe und Kolibris und Glühwürmchen. Was für eine Welt!
Noch eine Sache auf diesem Planeten, die ich liebe? Cambridge. Und ich wurde aufgenommen. Im Herbst geht es los. Ich habe Wendy dazu gebracht, sich mit mir in der Bibliothek auf die Tische zu legen, als niemand zuschaute, und die Weisheit derer einzuatmen, die vor mir gegangen sind. Zum milliardsten Mal in meinem Leben spürte ich den großen Drang, alles zu lernen, was ich kann, einfach alles zu wissen. Manchmal sagt Mary, sie könne an mir sehen, wie es mich älter macht, wie all das Wissen, das ich mir anzueignen versuche, mich erwachsen werden lässt. Aber dann hat Wendy auch immer gesagt, wie seltsam es sei, dass die Liebe einen wieder zurückentwickelt. Die Zeit löst sich in der Gegenwart der Liebe auf, sagt sie. Sie durchbohrt den Schleier unseres Verständnisses.
Es ist kein besonders spektakulärer Abend. Eigentlich ist es ein ganz normaler.
Frisch sogar.
Die Luft ist kühl, auf unserer Straße in unserer kleinen Ecke am Park in Chelsea ist es wie immer herrlich ruhig und der Himmel klar, gespickt mit Sternen, die bei näherer Betrachtung vielleicht ungewöhnlich hell waren.3
Und in dieser Nacht, die keine große oder besondere Bedeutung hat, beginnt meine Geschichte wirklich.
Ist euch klar, wie sehr man sich an die Geräusche des eigenen Zuhauses gewöhnt?
Mit Ausnahme der Zeit, die ich im Internat verbracht habe, habe ich mein ganzes Leben lang in Nummer 14 gelebt. Es ist das Haus, in dem meine Mutter aufgewachsen ist, und ihres, seit drei Generationen das Haus der Darlings. Ich kenne die Geräusche meines Hauses in meinem tiefsten Inneren – vielleicht sind es Erinnerungen in meinem Blut. Eingebettet in meine DNA.
Ich nehme an, es ist wichtig, an dieser Stelle innezuhalten und euch mitzuteilen, dass in meinem Schlafzimmer ein ständiger, unausgesprochener Kleinkrieg tobte: Fenster auf – Fenster zu.
Mit dem Entriegeln konnte ich umgehen. Wie ich bereits erwähnte, war aufgrund der Hartnäckigkeit meiner Großmütter mein Schlafzimmerfenster immer unverriegelt,4 trotz der exponentiell steigenden Kriminalität in dieser Stadt. Wer war ich schon, ihnen zu widersprechen? Sie wollten sehen, wie ich von einer Bande Jugendlicher zerfleischt wurde, die an der Wand eines Hauses in Chelsea hochkletterten, um ein leicht zu öffnendes Fenster zu finden, durch das sie auf der Suche nach schnellem Drogengeld einsteigen konnten? Schon in Ordnung. Sollte mein Tod doch eine Bürde sein, die sie herumzuschleppen hatten. Weniger in Ordnung war für mich jedoch die schamlose Einladung des Ärgers, indem sie das besagte Fenster weit offen ließen.
»Vielleicht weiß er sonst nicht, dass er reinkommen soll«, sagte Wendy.
»Dann ist er nicht gerade clever«, hielt ich dagegen, und sie verdrehte die Augen.
»Also …«, mischte sich Mary ein. »Er kann ja wohl kaum durch die Stadt laufen und überall Fenster öffnen, oder? Er würde wegen Hausfriedensbruchs angeklagt werden.«
»Vielleicht sollte er das auch!«, antwortete ich vorlaut.
»Daphne!« Wendy seufzte, bevor sie es wieder öffnete.
Ich hatte bereits erwähnt, dass es für die Jahreszeit ungewöhnlich frisch war. Jeden Abend, wenn ich aus der Bibliothek nach Hause kam, schloss ich das Fenster, weil ich fürchtete, mir sonst den Tod zu holen. Und jede Nacht schlich sich eine meiner Großmütter ins Zimmer und öffnete es wieder, als hätten sie einen nervösen Tick. Morgens stritten wir deswegen, aber insgeheim hatte ich mich an den Luftzug im Gesicht gewöhnt. In den Nächten, in denen sie selbst einschliefen, bevor sie dazu gekommen waren, mein Fenster zu öffnen, schlief ich wesentlich schlechter. Ich mochte es, dass die Kälte mir einen Vorwand gab, eingekuschelt unter schweren Decken zu schlafen.
Es ist ziemlich spät an diesem lebhaften, sternenklaren, ganz normalen Abend, und gegen Mitternacht oder vielleicht ein bisschen früher. Ich schlafe schon, als ich höre, wie mein Fenster geöffnet wird.
Ich habe einen leichten Schlaf. Den hatte ich schon immer.
Als ich höre, wie das Fenster hochgeschoben wird, lächle ich wie immer. Ich frage mich, welcher dieser süßen Plagegeister von Großmüttern es ist. Ich würde es gleich erfahren, denn ich kenne auch ihre Geräusche. Wendy tritt immer auf dieselbe knarrende Bodendiele, und Mary, egal, wie oft wir dieses Spiel schon gespielt haben, stößt auf dem Weg nach draußen mit ihrem Gehstock an die Tür.
Ich warte mit hochgezogenen Augenbrauen und lausche auf den verräterischen Hinweis, damit ich mich am nächsten Morgen bei der richtigen Frau beschweren und ihr nahelegen kann, sich gefälligst um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Sie nähmen lieber in Kauf, dass ich mir eine Lungenentzündung hole, als zu riskieren, dass ihr imaginärer Freund vor einem geschlossenen Fenster steht.
Aber ich höre nichts.
Kein Knarren von Dielen.
Keinen Schlag mit dem Stock.
Ich warte.
Mein ganzes Leben lang haben sie mein Fenster geöffnet. Ich kenne das Geräusch, also weiß ich mit Sicherheit, dass es offen ist … und außerdem kann ich den Windzug spüren, auf den ich warte.
Ich richte mich blitzschnell auf, und es dauert nur eine Sekunde, bis sich meine Augen auf die Dunkelheit einstellen. Aber noch bevor sie das tun, sehe ich die Gestalt dastehen.
Groß. Breitschultrig. Ein Mann.
Mir schießt in einem Sekundenbruchteil der Gedanke durch den Kopf: »Scheiße! Jetzt ist es also passiert! Die Jugendlichen und das Drogengeld!« Ich beschließe jedoch, meinen bevorstehenden Tod nicht tatenlos daliegend hinzunehmen, schlage mit der flachen Hand auf die Lampe neben mir und setze mich so schnell und aufrecht wie möglich hin.
»Wer sind Sie?«, frage ich schnell und schroff. Ich hoffe, dass er mein nervöses Atmen nicht bemerkt.
Er schneidet eine Grimasse. »Du weißt nicht, wer ich bin?«
Und da nehme ich sein Gesicht wahr.
Goldblondes Haar. Interessante Augen, die etwas hervorstehen, aber ich kann ihre Farbe vom Bett aus nicht erkennen. Er trägt nur eine verblichene, zerschlissene olivgrüne Leinenhose, die vorne zugebunden ist. Kein Hemd.
Was ziemlich verwirrend ist, wenn ich ehrlich bin.
In London sieht man nicht viele Männer ohne Hemd, wahrscheinlich liegt es daran. Außerdem ist der Sommer fast vorbei, und Strände gibt es hier sowieso nicht, und wer schwimmt schon in der Themse, und ich starre nur auf seine Brust, benommen, den Mund leicht geöffnet. Er ist zweifellos Kaukasier, verbringt aber offensichtlich unendlich viel Zeit in der Sonne.
Ich schaue auf seine Füße. Sie sind nackt und ein wenig von Erde verkrustet, als wäre er gerade nach einem Fußballspiel auf einem feuchten Feld hereingekommen.
Ich blicke wieder zu seinem Gesicht hoch.
Er hat dichte Augenbrauen und den Kopf schief gelegt, während er mich betrachtet. Seine Augen tanzen über mich hinweg, und wenn ich den Moment analysieren müsste, würde ich sagen, dass er vielleicht genauso verwirrt aussieht wie ich.
Ich springe aus dem Bett und werfe ihm einen finsteren Blick zu. Ich habe keine Angst mehr, obwohl – sollte ich welche haben? Vielleicht empfinde ich ja in der Rückschau Furcht, eines Tages.
Stattdessen hebe ich auf seine Frage hin die Augenbrauen. »Sollte ich das?«
»Ja.« Er runzelt die Stirn. »Ist schon etwas peinlich für dich, dass du es nicht weißt.«
Ich verschränke die Arme geziert vor meiner Brust. »Ist es nicht eher peinlicher für dich, da du in mein Schlafzimmer einbrichst, in der Erwartung, erkannt zu werden, und es nicht wirst?«
Sein Blick verändert sich, wird herausfordernd »Du musst wohl wissen, wer ich bin, ein bisschen jedenfalls, denn warum sonst hast du keine Angst?«
»Ich könnte unglaublich mutig sein«, erwidere ich und hebe hochmütig das Kinn.
Er verdreht die Augen. »Oder dumm.«
Ich schnaube ein wenig, verschränke die Arme fester vor der Brust und betrachte ihn im Licht, das der Mond auf ihn wirft. »Bist du«, ich blinzle zweimal, »Peter Pan?«
»Wusste ich doch, dass du es weißt!« Er zeigt triumphierend auf mich.
Ich mustere ihn mit zusammengekniffenen Augen und schüttle den Kopf. »Du kannst nicht er sein.« Ich runzle die Stirn, während ich vorsichtig einen Schritt auf ihn zugehe. Er misst etwa 1,85 Meter. Vielleicht auch mehr. Jedenfalls ist er groß, das ist ganz sicher. »Du bist …« Ich blinzle mehrmals und verziehe das Gesicht. »Groß.«
Er schaut auf seine nackte Brust hinunter, streckt sie ein bisschen heraus, blinzelt mich an und macht dann diese Sache mit den Augenbrauen, die mir Herzrasen und weiche Knie bereiten könnte. »Ich weiß.«
»Aber du solltest doch …« Ich suche nach den richtigen Worten.
»Ein Junge sein?« Er wirkt genervt. »Ich bin ein Junge.«
Ich betrachte ihn erneut mit schief gelegtem Kopf. Er sieht nicht aus wie ein Junge. Er sieht so alt aus wie ich, vielleicht sogar ein kleines bisschen älter.
Ich kneife die Augen zusammen. »Also, wie alt bist du denn?«
»Ich bin größer als du«, gibt er schnell zurück.
»Ich habe nicht gefragt, wie groß du bist.« Obwohl er unbestreitbar größer ist als ich. Ich bin gerade mal 1,70 Meter. »Ich will wissen, wie alt du bist.«
»Älter als du«, sagt er. Jetzt fällt mir auf, dass er einen amerikanischen Akzent hat. Und ausweichend antwortet. Was nicht sonderlich überraschend ist … diese verdammten Amis.
»Und das ist wie alt?« Ich stemme die Hände in die Hüften und fange an, mich zu ärgern.
»Perfekt alt.«
Ich stampfe mit dem Fuß auf. »Und das ist was?«
Er macht einen Schritt auf mich zu, und jetzt sehe ich seine Augen.
Grün. Unverkennbar grün.
Peter Pan mustert mich von oben bis unten. Sein Kopf ist zur Seite geneigt.
»Du bist auch die perfekte Art von alt.«
Ich werde rot. Ich weiß nicht, warum.
Ich schlucke schnell, schüttle den Kopf und reiße mich wieder zusammen.
»Komm schon, Wendy.« Der Junge greift nach meiner Hand, und ich reiße sie zurück.
»Ich bin nicht Wendy.«
Er verdreht die Augen und stöhnt, etwas ungeduldig und rüde. »Und was bist du dann?«
»Du meinst, ›wer‹ ich bin?«
Er verdreht wieder die Augen und sagt nichts.
»Ich bin Daphne.«
Er schneidet eine Grimasse. »Das ist ein komischer Name.«
Ich schneide ihm auch eine. »Nicht komischer als Peter Pan.«
»Mein Name ist der beste Name.« Er zuckt stolz mit den Schultern.
Ich blinzle ihn an. »Warum Pan?«
»Warum Daphne?«, kontert er mit dumpfer Stimme.
Ich finde, er ist eine schreckliche Nervensäge.
Ich atme tief durch und seufze, um mitzuteilen, dass ich verärgert bin. Aber dabei steigt mir zufällig sein Geruch in die Nase. Weißt du, wie die Luft riecht, wenn die Sommerzeit naht? Wie Frangipani und Meer. Er riecht wie die Luft kurz vor dem Sturm. Er riecht nach Freiheit, und ich will es nicht, aber ich atme ihn tief ein. Und als ich ihn erst mal in meiner Brust spüre, ist da diese seltsame Gewissheit, und zwar ziemlich deutlich. Dass das Gefühl von ihm da drin vielleicht nie mehr ganz verschwindet.
Habt ihr jemals so ein Gefühl gehabt? So eine Vorahnung? Eine starke Objektpermanenz von dem, was als Nächstes kommen wird?
So fühlt es sich an, Peter Pan einzuatmen. Als machte man den ersten Schritt auf einem Teppich, der vor einem ausgerollt ist.
Seine Augen streifen über mein Gesicht, mit einer neugierigen Intensität, die ich nicht verstehe. Ich frage mich, ob er mich küssen wird, so nah beugt er sich zu mir. Weiß er überhaupt, was Küsse sind? Meine Wangen fühlen sich heiß an, und ich schlucke nervös, bevor ich den Kopf über mich selbst schüttle.
Ich darf nicht vergessen – und das ist unbestreitbar die Stärke einer Frau –, dass ich furchtbar sauer auf ihn bin. Er hat mich aus dem Stand heraus dumm genannt, meinen Namen falsch verstanden und ihn dann auch noch komisch genannt. Ich wende mich von ihm ab, die Arme vor der Brust verschränkt und die Brauen vor Empörung hochgezogen.
»Wendy, Mädchen.« Er schiebt den Kopf um meine Schulter. »Warum bist du wütend?«
»Ich heiße nicht Wendy.« Ich kehre ihm den Rücken zu und setze mich auf mein Bett. Wenn ich ehrlich bin, mag ich ihn nicht besonders, glaube ich. Seinetwegen fühle ich mich nicht wohl in meiner Haut, und doch sehne ich mich fast verzweifelt nach seiner Anerkennung. Ich habe noch nie die Anerkennung eines Mannes gesucht.
Ich hatte Freunde. Viele Jungs mögen mich. Ich bin durchaus auf konventionelle Art attraktiv, und ich bin klug. Ich stamme aus einer wohlhabenden, wenn auch als exzentrisch geltenden Familie5. Ich bin geheimnisvoll und unnahbar. Ich interessiere mich nicht für die Dinge, für die sich andere Mädchen interessieren. Als Jasper England mich zum Abendessen auf das Landgut seiner Familie einlud, kreischten alle Mädchen in meinem Schlafsaal, nur ich nicht.
Ich bin hingegangen. Und habe mich gut amüsiert. Wir haben uns geküsst. Davon verstand er was. Er fragte mich, was ich nach der Schule machen wolle, und ich sagte, ich wolle auf die Universität gehen. Er fragte mich, ob ich meinen Master machen wollte. Denn in dem Fall könnte er mir viel Zeit ersparen.
Als ich ihm sagte, ich wolle Mineralogie studieren, starrte er mich an, als hätte ich gesagt, ich wolle eine Gabel in eine Steckdose stecken.
Wir haben den ganzen Sommer zusammen verbracht,6 weil er wirklich sehr gut küssen konnte. Schließlich fragte Jasper, ob das mit der »Geologie-Sache« ein Scherz gewesen wäre, und ich sagte Nein, und dann hat er mich kurz darauf nach Hause gebracht, und seitdem haben wir nicht mehr miteinander gesprochen.7
Ich weiß nicht, was Peter Pan an sich hat, das mich sofort entmutigt, aber so ist es. Mir ist nur nicht klar, warum. Ich kenne diesen Jungen schließlich nicht, außer dass ich ihn wohl doch kenne, glaube ich. Ich kenne ihn, wie ihr ihn kennt, wie wir ihn alle kennen … aus einem alten Traum.
Niemand mag es, wenn ein Traum kaputtgeht.
»Aber du bist ein Mädchen.« Peter kniet sich vor mich und legt die Hände auf meine Knie. Das ist das erste Mal, dass wir uns berühren. Mein Gehirn merkt sich das, denn ich weiß, dass sich mein Herz später daran erinnern wollen wird. Ich trage einen ziemlich kurzen Slip und ein weißes Baumwollleibchen, und er schaut zu mir hoch und lächelt.
Peter runzelt die Stirn, verwirrt, aber sein Lächeln bleibt auf seinen Lippen.
»Das beste Mädchen, das ich je gesehen habe«, stellt er sachlich fest, und meine Wangen färben sich rosa.
Sie gefallen ihm, meine rosa Bäckchen. Das merke ich daran, dass er sich in die Brust wirft, vom Boden aufspringt und sich durch sein blondes Haar streicht.
Er geht durch mein Zimmer und sieht sich die Poster an der Wand an.
»Wer ist das?« Er zeigt auf eines.
Ich werfe einen Blick auf das Plakat und sehe Peter dann verwirrt an. »Das ist Mick Jagger.«
»Kennst du ihn?« Er runzelt die Stirn.
»Nein, aber …«
»Warum hängt dann ein Bild von Mick Jagger an deiner Wand?«
»Na, weil er ziemlich sexy ist, findest du nicht?«
Peter verzieht das Gesicht. »Was ist sexy?«
Ich schürze die Lippen. »Gut aussehend«, erkläre ich ihm. Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, zieht er einen Dolch aus seinem Gürtel und schlitzt mein Poster in zwei Hälften.
Es geht alles so schnell – eine Veränderung, die man übersieht, wenn man auch nur blinzelt, –, aber Peters Gesicht wechselt blitzschnell von neugierig zu düster. Das Plakat flattert zu Boden, und unsere Blicke folgen ihm.
»Hey!«, knurre ich. »Das war mein Lieblingsposter!«
»Ich bin jetzt dein Liebling.« Er wirft mir ein knappes Lächeln zu.
Ich schaue ihn böse an.
»Ich teile nicht gern«, sagt er und mustert seinen Dolch, bevor er ihn einsteckt.
»Was teilen?« Ich verschränke wieder die Arme.
Er sieht mich stirnrunzelnd an. »Dich.«
Ich wünschte, das würde mich nicht für ihn einnehmen, aber das tut es, einfach so. Vielleicht liegt es daran, dass ich noch nie die Wertschätzung eines Mannes erfahren habe.
»Vaterlose Mädchen, die sich selbst überlassen werden, sind eine Gefahr für die Gesellschaft und für sich selbst«, hörte ich einmal eine Freundin meiner Großmutter sagen, die alle schnell mit Urteilen bei der Hand waren. Ich bin mir nicht sicher, was sie damit meinte, aber vielleicht betraf das ja einen Fall wie diesen.
Diesen Nervenkitzel, ihm zu gefallen, selbst wenn das bedeutete, etwas zu verlieren, das ich zuvor geliebt habe.8
Es ist nur ein Poster, sage ich mir, während ich darauf hinunterstarre und alles verdränge, was es implizieren könnte.
»Warum bist du Amerikaner?«, frage ich und lege den Kopf schief.
»Was ist ein Amerikaner?«, fragt er misstrauisch, bevor er schnell hinzufügt: »Ich weiß, was es ist, aber ich will nur rausfinden, ob du es auch weißt.«
Ich werfe ihm einen vielsagenden Blick zu. »Ein Amerikaner ist jemand aus Amerika.«
»Richtig.« Er nickt. »Und das ist …?«
»Ein Kontinent?« Ich runzle die Stirn. »Und ein Land.«
»Auf …?« Er zieht die Augenbrauen hoch.
Die Falten auf meiner Stirn werden dicker. »Der Erde?«
»Ah.« Er nickt wieder. »Richtig. Nein, ich weiß … gut. Wissen Amerikaner alles?«
Ich verdrehe die Augen. »Ich meine, sie glauben es jedenfalls.«
Er zuckt mit den Schultern. »Wahrscheinlich bin ich deshalb einer, weil ich wirklich alles weiß.«
Ich lasse meine Augen wieder rollen, während ich zu ihm aufschaue.
Er ist wirklich ziemlich groß.
»Stimmt irgendetwas von dem, was sie über dich gesagt haben?« Ich sehe zu ihm hoch, während ich die Überreste meines Plakats einsammle, zusammenfalte und in eine Schublade lege.
»Ich weiß nicht.« Er lehnt sich lässig an die Wand und verschränkt die Arme vor der Brust. »Was haben sie denn gesagt?«
»Also …« Ich stehe auf und gehe zu ihm. »Erstens haben sie gesagt, dass du ein Junge bist.«
»Ich bin ein Junge«, bestätigt er stolz.
»So gerade noch.« Mein Blick gleitet an ihm hinunter und bleibt dort hängen.
Mein Großvater9 hat vor seinem Tod seine ganze Zeit im Garten verbracht. Unser Garten war der beste in der ganzen Straße, wunderschön. Ich liebte seine Hände, wenn er von draußen hereinkam. Ich machte ihm eine Tasse Tee und servierte ihm einen Jaffa-Kuchen, und er aß ihn, ohne sich vorher die Hände zu waschen, und das machte mich glücklich. Peters Hände erinnern mich an seine, also nehme ich an, dass er mich auch glücklich macht.
Wir stehen jetzt aufgerichtet voreinander, und ich nehme seine Hand in meine, drehe sie um und inspiziere seine riesigen Pranken. Ich liebe ihre Rauheit. Ich liebe sie sofort. Ich weiß, es ist seltsam, das zu sagen, denn unter den Fingernägeln ist Schmutz, aber trotzdem haben seine Hände etwas Schönes.
»Das sind keine Jungenhände«, stelle ich fest.
Er packt meine Hände wieder und untersucht sie ebenfalls genau.
»Für mich sehen sie aus wie Mädchenhände.« Er blickt auf mich herunter und lässt meine Hand nicht los. »Was sagen sie noch über mich aus, Mädchen?«
»Dass du gegen Piraten kämpfst?«
»Das tue ich.« Stolz reckt er sein Kinn.
»Dass du fliegst?«
Und dann grinst er mich so unglaublich verwegen an. Mein Herz fühlt sich an, als ob es selbst fliegen würde.
»Ich weiß.« Er nickt feierlich.
»Zeigst du es mir?« Ich ertappe mich dabei, wie ich ihn mit den Wimpern anklimpere.
Er wirft sich wieder in die Brust und nickt.
Dann fliegt er.
Es ist nicht spritzig, wie man es sich vielleicht vorstellt. Es ist … Stellt euch eine Feder vor, die langsam und anmutig zu Boden fällt, und dann spult es in eurem Kopf rückwärts ab. So sieht es aus, wenn er aufsteigt.
Ich wünschte, mein Gesicht würde nicht vor Entzücken strahlen, aber das tut es – ich merke es.
»Wie machst du das?« Ich schaue ihn bewundernd an, und glaubt mir, wenn ich es euch sage: Er ist ein Wunder.
»Glückliche Gedanken.« Peter Pan zuckt mit den Schultern, als wäre es nichts.
»Woran denkst du?«
»An dich.« Er grinst, dann streckt er seine Hand aus und reicht sie mir wie ein Gentleman.
Ich schaue zu ihm hoch, meine Lippen sind geschürzt.
»Jetzt, Mädchen.« Er wirft mir einen Blick zu. »Denk an mich.«
Als ob ich ausgerechnet diese Aufforderung bräuchte, und nicht schon ziemlich, wenn nicht sogar Hals über Kopf in diesen goldblonden fliegenden Jungen in meinem Zimmer verliebt wäre. Als ob ich nicht – von nun an und für den Rest meines dummen Lebens – auf die eine oder andere Weise von ihm entzückt oder gequält werden würde. Und dann stößt mein Kopf – und vielleicht auch ganz leise mein Herz – mit einem dumpfen Schlag gegen die Decke – wohl ohne meine Erlaubnis und in mehr als einer Hinsicht –, während ich auf und davon schwebe.
»Peter!«, schreit Oma Mary, deren zierlicher, gebrechlicher Körper kaum die Hälfte der offenen Tür einnimmt. »Ich dachte, du wärst gestorben.«
Peter schwebt herunter und beäugt sie misstrauisch.
»Niemand könnte mich töten.« Er runzelt ein wenig die Stirn und neigt den Kopf in ihre Richtung wie bei mir, was mir das Gefühl gibt, nichts Besonderes zu sein. »Wer bist du?«
Ich schaue von ihm zu ihr, und die Tiefe der Traurigkeit meiner Urgroßmutter holt mich auf den Boden zurück.
»Du erinnerst dich nicht an mich?«, fragt sie ihn.
Er kneift die Augen zusammen. »Ich erinnere mich an jeden.«
»Ich bin Mary«, sagt sie.
Peter tritt ängstlich einen Schritt zurück. »Lügnerin.«
»Es ist wahr, Peter. Ich bin jetzt alt.« Sie lächelt ihn traurig an. »Sehr viel älter als zwanzig.«
»Aber du hast es versprochen.« Er senkt den Kopf, um ihr in die Augen sehen zu können.
»Peter«, sagt sie sanft und geht auf ihn zu, aber er weicht einen weiteren Schritt zurück. »Wir haben dieses Gespräch schon einmal geführt.«
»Wann?« Selbst seine Brust sieht verärgert aus.
»Tausendmal, in eben diesem Zimmer.«
Peter schüttelt den Kopf, und wie er die Stirn runzelt, bricht mir das Herz. Wie sich auf seinem zarten Gesicht sein Unverständnis darüber abzeichnet, dass jemand ein Versprechen brechen kann, das er ihm gegeben hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das allzu oft vorkommt, wenn man es verhindern kann …
»Aber ich war doch nur kurz weg …«
»Ich bin neunzig, Peter«, sagt Mary zu ihm, und Peter Pan plumpst wie ein Stein auf den Boden.
Er sieht zu uns auf – erst zu ihr, dann zu mir –, und seine Augen quellen fast über vor Empfindungen, die er sicher nicht ganz verstehen kann. Ich starre auf ihn hinab.
Ich habe es mir nicht vorgenommen – es geschieht ganz unwillkürlich –, aber plötzlich sinke ich neben ihm auf die Knie. Er strahlt etwas so Verzweifeltes aus, ein solches Bedürfnis nach meiner ganzen Aufmerksamkeit und Konzentration, dass ich spüre, wie er mir die Schlüssel zu meiner Befangenheit aus der Tasche zieht.
Ich berühre sein Gesicht, als hätte ich keine Kontrolle mehr über meine Hände, als wären sie bereits seine, als wären sie Magnete für sein Gesicht. »Du musst nicht weinen.«
Er schlägt meine Hand weg, springt vom Boden auf und wischt sich mit der Armbeuge rasch das Gesicht ab. »Ich habe nicht geweint.« Er wirft mir einen finsteren Blick zu.
»Außerdem, Peter …« Mary versucht ganz offensichtlich, ihn abzulenken. Das Gleiche macht sie auch mit meinem rotznasigen kleinen Nachbarn. »Du bist auch gewachsen.«
Peter Pan richtet sich auf, und alle unangenehmen Gefühle scheinen verpufft zu sein, als er sie angrinst.
»Ich weiß! Bin ich nicht groß und gut aussehend?«
»Und unausstehlich«, setze ich hinzu.
»Was hast du gesagt?« Er blickt zu mir und blinzelt. Offenkundig hat er mir nicht zugehört, was mich wütend macht und mich – bedauerlicherweise – noch etwas mehr zu ihm hinzieht.
»Daphne, Darling.« Mary wedelt mit der Hand in meine Richtung. »Sei nicht so pingelig. Er ist einfach ein Schmuckstück.«
»Genau, Mädchen.« Peter grinst mich an. »Ich bin ein Schmuckstück«, wiederholt er stolz.
Mary schaut zu ihm. Ihre alten Augen sind wieder ganz jung vor Staunen. »Peter, warum bist du erwachsen geworden?«
»Ich bin noch nicht erwachsen.« Er schwebt in der Luft und lehnt sich zurück, als säße er auf einer aufblasbaren Liege in einem Pool.
»Aber fast.« Sie sieht ihn an, wie es nur ein alter Freund kann.
Peter zuckt mit den Schultern, dann hebt er noch einmal eine Achsel. »Ich musste es werden«, gibt er dann zu.
»Warum?« Ich runzle die Stirn.
»Damit ich die Kämpfe gewinnen konnte, die ich gewinnen muss.«
»Und welche sind das?«, frage ich neugierig.
Peter Pan sieht mich mit einem Blick an, der mich eigentlich erschrecken müsste. Tut er aber nicht.
»Alle«, sagt er und atmet dann laut durch die Nase aus. »Du wirst schon sehen.«
»Vielleicht will ich es ja gar nicht sehen«, sage ich, einfach so, nur um zu widersprechen.
Er schwebt zu mir herunter, und unsere Blicke begegnen sich. »Du willst es sehen«, sagt er, und das stimmt. Dann klatscht Peter in die Hände, und seine Augen leuchten. »Wollen wir gehen?«
»Wohin gehen?« Ich blinzle.
Peter und meine Urgroßmutter lachen.
»Nach Neverland, Liebes«, sagt Mary, als wäre ich ein Dummerchen.
Meine Miene verfinstert sich, und ich sehe sie an, als wäre sie verrückt. Was sie auch ist. Ich bin siebzehn – ein Teenager! So Gott will, gehe ich in ein paar Monaten auf die Universität. Ich habe mein Leben geplant. Ich kann nicht mit einem Jungen weglaufen, den ich nicht mal kenne.
Ich schüttle den Kopf, und Peter verdreht ungeduldig die Augen.
»Darling.« Mary berührt sanft meinen Arm. »Du musst mit ihm gehen.«
»Und warum muss ich das?«, frage ich sie leise.
»Du weißt, warum«, sagt sie. Dann lächelt sie mich auf diese seltsame Art an. Es ist ein Lächeln, an das ich noch Stunden, Tage und Jahre zurückdenken werde. Wenn sich die Zeit in nichts auflöst und die Erinnerungen an mein altes Leben zu verschwimmen beginnen, wie Wolken, die vom Himmel geblasen werden, werde ich immer noch an dieses Lächeln denken.
Ein Segen? Eine Erlaubnis? Eine Warnung? Die Ränder ihres Lächelns, die mir vielleicht verraten haben, was von oben Genanntem es wirklich war, werden irgendwann verblassen, und ich werde mich immer fragen, ob sie damit andeuten wollte, dass es nur ein Initiationsritus oder tatsächlich ein Geburtsrecht wäre.
Ich sehe zu ihm hinüber, und etwas in mir spürt Erleichterung, ich weiß nicht, warum. Als wäre mit ihm zu gehen ein Schritt zu meiner Bestimmung hin. Dabei glaube ich nicht mal an Bestimmung! Ich glaube an Wissenschaft und Fakten, nicht an Jungs, die angeblich ein besonderer Teil meines Schicksals sind.
Aber er ist hier. Wie sie es immer vorhergesagt haben …
»Was ist mit meiner Ausbildung?« Meine Stimme klingt kläglich.
»Deine Ausbildung wird immer hier warten.« Sie lächelt zart.
Ich strecke die Hand aus und berühre sie. »Und was ist mit dir?«
Ihr Lächeln wird traurig und müde. »Schon bald werde ich gegangen sein.«
»Wohin?«, will Peter wissen.
Mary wirft ihm einen ernsten Blick zu und schaut dann wieder zu mir. Ich glaube nicht, dass er es versteht, und wahrscheinlich ist es auch besser so – es gibt einfach Dinge, die die Sonne nicht wissen sollte.
»Du musst gehen, Daphne«, sagt sie und legt ihre Hand an mein Gesicht. »So wie ich gegangen bin und meine Mutter vor mir … und Wendy nach mir und deine Mutter nach ihr. Dies …«, sie senkt die Stimme, damit er diesen Teil nicht hören kann, »er ist deine Bestimmung, mein Liebling. Dass er jetzt deinetwegen gekommen ist, einfach so.« Sie wirft mir einen seltsamen und gewichtigen Blick zu. »Es ist Schicksal.«
Meine Schultern sacken unter dem Gewicht des Ganzen hinab, und sie lacht.
Sie schaut zwischen Peter Pan und mir hin und her. »Meine Süße«, seufzt sie. »Da draußen wartet ein ganzes Universum auf dich.«
»Ja, Mädchen.« Peter bedenkt mich mit einem stolzen Grinsen. »Komm schon.«
Er greift nach meiner Hand, und ich würde gern behaupten können, dass es mich ärgert – und ich tue auch so, als ob es das täte –, aber die Berührung fühlt sich an wie das Britzeln von Elektrizität. Unsere Blicke treffen sich, und so, wie er mich ansieht, begreife ich, dass er es auch spürt. Denn ganz plötzlich sieht er etwas erschrocken aus und reißt seine Hand zurück.
»Weißt du überhaupt, wie ich heiße?« Herausfordernd hebe ich die Augenbrauen.
»Natürlich kenne ich deinen Namen.«
»Dann los.« Ich zucke etwas zickig mit den Achseln. »Wie lautet er?«
»D… D… Drache.«
»Drache.« Ich blinzle. »Du denkst, mein Name ist Drache?«
Er lacht spöttisch. »Nein. Er ist … D… Dais… Daphne! Ja, Daphne. Ha! Ich hatte recht. Ich wusste es.«
Ich sehe Mary an. »Das mache ich auf keinen Fall.«
Mary lächelt amüsiert. »Liebling, du bist jetzt schon eigentlich zu alt.«
»Nein, bin ich nicht. Ich bin erst siebzehn!«
»Gerade noch so eben.« Sie wirft mir einen vielsagenden Blick zu. »Bald bist du achtzehn, und schon jetzt musst du weniger erwachsener werden. Das musstest du schon immer.«
»Ich habe gerade die Schule beendet. Was würden die Leute wohl sagen, wenn ich mitten in der Nacht mit einem fremden Jungen verschwinde?«
»Es ist nicht wichtig, was sie sagen, Daphne. Wichtig ist, dass du glücklich und frei bist.«
»Wir haben 1967!« Ich hebe verärgert die Hände. »Wir leben in London, nicht in Bengasi! Ich bin sehr frei, und ich bin sehr glücklich!«
Sie berührt mein Gesicht mit mütterlicher Zärtlichkeit. »Mein Schatz, das liegt daran, dass du beides noch nicht wirklich kennst.«
Ihr zartes Lächeln scheint von Traurigkeit umflort, und ein Gedanke, den ich hasse, schwirrt mir durch den Kopf. Dass ich sie vielleicht nie wiedersehen werde.
»Geh!«, fordert sie mich auf. Sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände und küsst mich auf die Wange.
Dann greift sie nach Peters Hand. Zuerst scheint es ihm Angst zu machen, von einer alten Frau berührt zu werden. Als ob man sich anstecken könnte, wenn man sich nicht gleich danach gründlich die Hände wäscht. Aber dann lächelt er sie an, und ich beobachte, wie zwischen den beiden etwas strömt, einen Moment lang, das sich anfühlt, als hätte ich es nicht miterleben sollen. Aber das tue ich. Es ist ein stummes Lebewohl. Das letzte Mal, dass sie sich sehen. Das Ende des Wegs für ihr großes Abenteuer.
»Ich fliege dich zu den Sternen, wenn es so weit ist«, verspricht er ihr feierlich.
»Ich werde wieder jung sein, wenn du das tust.« Sie lächelt so unendlich traurig. »Denk an mich, wie ich einst war, Peter«, bittet sie ihn, und er nickt gehorsam. »Und du …« Sie dreht sich an der Tür zu mir um und lächelt sanft. »Erinnere dich an mich wie die, die du sein wirst.«
Dann schlüpft sie aus meinem Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Ich schaue ihr hinterher und weiß nicht, wann ich angefangen habe zu weinen, aber meine Tränen fallen.
Peter schaut auf mich herab und tritt einen Schritt näher. Er neigt wieder den Kopf und wischt sie mir mit den Fingerkuppen seiner riesigen Pranken weg.
»Jetzt nur noch fröhliche Gedanken, okay, Mädchen?«, sagt er.
Ich nicke.
»Bist du bereit?«
Die Frage ist vielleicht bedeutungsvoller, als mir lieb ist. Bin ich bereit, Mary Evangeline Darling in diesem Leben nie mehr wiederzusehen? Bin ich bereit, alles, was ich je gekannt habe, für einen magischen Jungen zu verlassen? Bin ich bereit, mein Herz völlig brechen zu lassen? Alle Geschichten über ihn sind voll von Abenteuern, zu wunderbar, um ihnen auf Papier gerecht zu werden. Aber es gibt einen roten Faden in allen, und über diesen Faden sprechen wir nicht. Darum haben sie mein ganzes Leben lang einen Bogen gemacht, dem haben sie nie direkt in die Augen geschaut. Es ist ein seltsamer Tanz, dessen Schritte den Frauen meiner Familie von Natur aus angeboren zu sein scheinen, und schon bald würde ich erleben, wie ich mich ihnen anschlösse. Ohne viel Zeit darauf zu verwenden, ohne bewusste Überlegung oder Anstrengung würde auch ich die Schritte machen und mich ebenfalls am Rand dieses roten Fadens entlanghangeln.
Die Antwort ist also: Nein, eigentlich bin ich für nichts davon bereit. Und trotzdem fängt mein Herz an davonzuschweben, wie ein Papierdrache, der in dem Himmel seiner Augen gefangen ist. Und ich spüre, dass das alles keine Rolle spielt. Ich habe keine Wahl, nicht wahr? Es ist genauso, wie Mary gesagt hat. Es ist das Schicksal meiner Familie; wir sind an ihn gebunden. »Und so wird es immer weitergehen«, sagte Wendy immer. Es ist unsere Bürde, ihn zu lieben. Was ich nicht tue und auch nicht tun werde. Aber ich konnte mir vorstellen, dass jemand es tun könnte.
»Klar.« Ich räuspere mich. »Also, was brauche ich?« Ich sehe mich in dem Zimmer um.
Er wirft mir einen neckischen Blick zu. »Mich.«
Ich verdrehe die Augen. »Nein, was brauche ich wirklich, ich meine, praktisch gesprochen?«
Er schwebt zu mir herüber und hebt mein Gesicht sanft an, sodass es seines spiegelt. »Nur mich.«
Ich schlage seine Hand weg, bin verlegen, weil meine Wangen sich schon wieder rosa färben. Für Jasper Englands isländisch-blaue Augen haben sie sich nie rosa gefärbt, und sie werden es auch nicht für Peters Augen, nehme ich mir vor, obwohl sie es bereits sind.
»Das ist doch lächerlich!« Ich schüttle den Kopf über ihn, während ich in meinem Zimmer nach einem Rucksack krame.
»Ich passe auf dich auf, Mädchen«, sagt er mit ziemlich ernster Miene, dann greift er nach meiner Hand. »Komm jetzt mit mir.« Er zieht mich zum Fenster, und seine Augen leuchten wie die Sterne, die uns rufen. »Du wirst dir nie wieder Sorgen um Erwachsenenzeug machen müssen.«
Er schwebt rückwärts, zieht mich auf die Kante der Fensterbank, und ich beobachte ihn genau.
»Nie ist wirklich eine furchtbar lange Zeit …«
In diesem Moment, als ich an der Grenze zwischen allem, was ich wusste, und allem, was ich lernen konnte, taumele, am Rand der Klippe stehe, die letztlich den Abgrund am Rest meines Lebens darstellte, hätte ich ihm gern sagen können, du hättest mich in beide Richtungen ziehen können, es hätte mir gereicht, dass du mir ein Leben in Sicherheit und Glück versprochen hättest, und ich hätte das blöde Fenster für immer verrammelt. Aber das Unbekannte hat etwas so Süßes an sich, und es ist so erregend, sich in etwas Neues zu stürzen, dass ein Teil von mir wohl wusste, obwohl ich noch nicht dort war, dass Neverland eines Tages sowohl der große Meilenstein als auch der Erdrutsch meines Lebens sein würde.
Ihr mögt mich für dumm halten, weil ich mitten in der Nacht mit einem Jungen aus dem Fenster springe, dessen Haare so unzähmbar sind wie sein Herz, aber wenn ihr die Verlockung und die Anziehungskraft dieses besagten Jungen nicht versteht, dann, und es tut mir schrecklich leid, euch das sagen zu müssen, habt ihr Peter Pan nie getroffen.
Ich weiß nicht, wie es passiert oder wie er es macht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Peter Zeit und Raum so falten kann, als wären sie ein Stück Papier in seiner Gesäßtasche, denn es dauerte wirklich nur einen Moment oder zwei, zu dem verdammten zweiten Stern von rechts zu kommen, den ich mein ganzes Leben lang angestarrt habe. Schwarze Löcher gibt es übrigens wirklich, auch wenn ich annehme, dass es auf der Erde erst in ein paar Jahren einen endgültigen Beweis dafür geben wird. Vielleicht steckt er ja sogar mit den schwarzen Löchern unter einer Decke. Er sagte mir, dass das Überschreiten des Ereignishorizonts normalerweise auf der Haut sticht. Aber er habe darum gebeten, dass der Horizont mich nicht sticht.
Ich muss ihm zugestehen, er hat es nicht getan. Es gibt jedoch eine Menge über das Innere eines Schwarzen Lochs zu sagen – es ist weit weniger bedrohlich, als man aufgrund seines Namens vermuten könnte. Und ich bestehe darauf, dass in diesem speziellen Szenario sein Bellen viel schlimmer ist als sein Biss. Es ist ein wirbelndes, heißes Durcheinander aus allem, was es im Universum jemals gegeben hat oder geben wird, und es schwimmt irgendwie über euch und um euch herum und vielleicht – da bin ich mir nicht ganz sicher – aber möglicherweise auch durch euch hindurch. Es ist ein wirklich beeindruckender Anblick.
Peter Pan beim Fliegen zuzusehen, ist wie einen Delfin beim Schwimmen im offenen Meer zu beobachten.
Er gleitet über den Himmel und streift die Sterne. Ich habe noch nie so etwas wie ihn gesehen, als würde ein Stein über den Himmel hüpfen und sich wie ein Lichtstrahl zwischen den Kometen hindurchschlängeln. Er besteht aus allen für uns sichtbaren Teilen des elektromagnetischen Spektrums, und sogar aus denen, die wir nicht sehen können, und das alles in wundervolles Fleisch gehüllt, mit der freiesten aller Seelen. Du hättest nicht mal versuchen brauchen, es mir in diesem Moment zu sagen, denn ganz gleich, was du sagen würdest, ich hätte dir sowieso nicht geglaubt, aber jemand muss einen hohen und beeindruckenden Preis für die Freiheit dieses Jungen zahlen, und er dürfte nur selten, wenn überhaupt, derjenige sein, der die Rechnung begleicht.
Während wir durch die tiefschwarze Nacht am Rande unserer Atmosphäre fliegen, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie Peter mich beobachtet.
Ich schaue zu ihm hinüber.
»Mädchen.« Er blinzelt.
Ich hebe fragend die Brauen.
»Du bist wirklich sehr hübsch.«
Mein Herz schwillt mehr an, als mir lieb ist, aber ich versuche, einen kühlen Kopf zu bewahren. »Aber hältst du mich auch für klug?«
»Wir werden sehen.« Er lächelt mich verschmitzt an, und ich runzle die Stirn.
Alles, was ich in meinem Leben wollte, war, klug zu sein. Klugheit ist meine Daseinsberechtigung, seit ich in der siebten Klasse Klassenbeste wurde und meine Mutter zufällig dabei war. Sie war sehr erfreut. Seitdem war ich immer Klassenbeste.
»Jetzt, Mädchen.«
Ich schnaufe verärgert. »Hast du schon wieder meinen Namen vergessen?«
»Daphne, Mädchen.« Er wirft mir einen selbstgefälligen Blick zu. »Hast du schon mal mit einem Jungen Händchen gehalten?«
Ich will nicht lachen, aber ich lache. Nur ein bisschen. Es ist eigentlich mehr ein Schniefen als ein Lachen, also mache ich rasch ein Husten daraus.
»Ja.«
Peter Pans Gesicht verfinstert sich.
»Mit wem?«
»Also …« Ich spitze die Lippen, und meine Gedanken schweifen ab.
»Du hast seinen Namen vergessen?« Peters Frage klingt hoffnungsvoll und vergnügt.
Jasper. Und Steffan. Ein walisischer Junge, mit dem ich letzten Frühling ausgegangen bin. Wir haben uns auch geküsst, aber ich glaube nicht, dass Peter viel an diesem spezifischen Detail liegt.
»Na klar«, lüge ich.
Peter fegt auf mich zu und nimmt meine Hand in seine. »Du wirst dich immer an den Tag erinnern, an dem du mit Peter Pan Händchen gehalten hast.«
Er wirft mir ein unbekümmertes Lächeln zu.
Und er hat recht, das werde ich. Aber ich frage mich, wie er schon vergessen konnte, dass wir nicht einmal vor einer Stunde in meinem Schlafzimmer Händchen gehalten haben. Ich denke, es ist besser, es nicht zu sagen; er scheint sich nicht gern korrigieren zu lassen. Bleiben wir fair – wer tut das schon? Ich glaube kaum, dass das ein Licht auf ihn wirft. Jedenfalls nicht mehr als auf mich, weil ich Peter nichts sage, was ihm missfällt, da ich möchte, dass er mich mag.
Wie furchtbar albern von mir. Wie schrecklich typisch für die Art Mädchen, die ich gar nicht bin. Stell dir vor, ich sage nicht die Wahrheit, um die Gefühle eines Mannes zu schonen. Einfach lächerlich.
Und doch sollte das nur die erste von vielen solchen Gelegenheiten sein.
Ich brauchte sehr lange, um zu lernen, dass es viele verschiedene Arten von Männern in dieser Welt und all den anderen Welten wie der unseren gibt, aber eine todsichere, schnelle und einfache Methode, einen echten Mann unter all den Männern zu erkennen, ist, herauszufinden, wie sehr du in seiner Gegenwart du selbst sein darfst. Ein echter Mann wird dir erlauben, ganz du selbst zu sein, dir den nötigen Spielraum lassen, deine Meinung zu ändern oder sie sogar weiterzuentwickeln. Ein einfacher Junge gibt dir vielleicht nur ein Achtel Raum dafür auf diesem Weg, wenn du Glück hast.
Peter drückt meine Hand.
»Jetzt musst du dich gut festhalten, Mädchen, die Sonne geht auf, und wir müssen sie auf ihrem Weg in das Universum nebenan einholen.«
Mehr Vorwarnung bekomme ich nicht.
Sein Griff um mich verstärkt sich ein wenig, ist aber bei Weitem nicht fest genug für das, was gleich passieren wird.
Ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte finde, um zu beschreiben, wie es sich anfühlt, durch den Kosmos geschleudert zu werden.
Ein paar Jahre zuvor war ich mit meinem Großonkel und meiner Tante in SeaWorld in San Diego. Ihre Kinder sind unterirdisch, und sie mögen mich viel lieber. Sie sagen, dass ich das ganze Erlebnis aufwerte, also nehmen sie mich meistens mit.
In SeaWorld gibt es Wasserrutschen, und auch wenn dies ein unvollkommener Vergleich ist, so ist es doch die beste Art, es zu erklären, die ich mir vorstellen kann.
Es ist wie ein Rausch, fast nass, sehr dunkel. Gleichzeitig sanft, aber auch irgendwie plemplem in den Kurven und Ecken. Es zischt, und am Ende wird man schneller, und dann kommt das Licht! Überall Licht.
Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe, aber ich halte mich immer noch an Peter Pan fest.
Oder vielleicht, wie er mich so ansieht, meine Hand immer noch in seiner, sein Gesicht jetzt vom Licht dreier ziemlich nahe beieinanderstehender Sonnen erhellt, und mit, wie ich sehe, leicht rosa Wangen, hält er sich vielleicht tatsächlich an mir fest.
Wir reiten auf der aufgehenden Sonne wie in einem Riesenrad, und meine Hand liegt immer noch in seiner, und ich frage mich, ob er vergessen hat, dass er sie hält, und ob das gut oder schlecht ist. Ich kann es nicht sagen.
»Da sind wir«, sagt er, steht auf und zieht mich mit.
Wir fallen ein paar Fuß tief und landen auf einer Wolke.
»Weißt du, dass man uns auf der Erde beibringt, dass Wolken nur aus Wasserdampf bestehen? Du kannst nicht auf ihnen stehen.«
Peter sieht mich empört an. »Lügner.«
Dann zieht er mich von der Wolke hinunter auf einen Weg, der irgendwo hinführt, wohin ich noch nicht blicken kann.
Erst jetzt lässt er meine Hand los, und ich will nicht bedürftig klingen, aber kaum berührt er mich nicht mehr, wünsche ich mir irgendwie, dass er es wieder tut.
Er führt mich über den Wolkenpfad, springt voraus wie ein Welpe, den man von der Leine gelassen hat, bis wir zu einer kleinen Hütte inmitten eines Wolkenfelds kommen, das über einem großen Berg thront.
Verwirrt sehe ich mich um. »Was ist das?«
»Gepäckaufgabe«, sagt ein Mann, der vor der Hütte sitzt und mir bis jetzt nicht aufgefallen ist. Er liegt halb auf einem Holzstuhl und hat seine Angelrute in eine ferne Wolke geworfen. Seine Haut ist wie Leder, ein bisschen braun, so wie eure auch sein würde, wenn ihr den ganzen Tag auf einem Stuhl in einer Wolke verbringen würdet. Ich kann seine Haarfarbe nicht erkennen, weil er eine rote Fischermütze trägt, aber ich vermute, dass sein Haar, egal, welche Farbe es einmal hatte, jetzt ergraut ist. Seine Augen jedoch sind unglaublich blau. Er sieht aus, als wäre er in den Sechzigern. Vielleicht siebzig?
Er steht auf und reicht mir die Hand. »Ich bin John.«
Ich schüttle seine Hand. »Daphne.«
»Alles klar, Peter?« John nickt ihm zu.
»Alles klar.« Peter zuckt die Achseln.
»Du bist ein gutes Stück größer geworden.« John reckt das Kinn zu ihm. »Du wirst es diesem Hook ganz schön schwer machen.«
Peter wirft John einen kurzen Blick zu, als ob er sich über die Unterstellung ärgern würde, dass er es nicht schon getan hat. Er fährt sich mit der Hand durchs Haar und sieht mich dann ein wenig missmutig an. »Bin gleich wieder da.«
Ich nicke kurz.
John lächelt mich an und beugt sich vor. »Du hast die Augen deiner Mutter«, flüstert er.
Ich zögere. »Woher weißt du, wer meine Mutter ist?«
Er lächelt schwach, aber es könnte ein trauriges Lächeln sein. »Ich verliere nie Gepäck.«
Und noch bevor ich mich fragen kann, was er damit meint, schlendert Peter aus der Hütte und sieht leichter aus als noch vor einem Moment.
Er berührt die Wolken kaum, als er darübergleitet, ohne wirklich auf sie zu treten, als würde ihn nichts auf der Welt mehr belasten.
»Du bist dran, Mädchen.« Peter deutet zur Hütte.
»Hab keine Angst.« John legt einen Arm um mich.
»Was soll ich machen?«, frage ich und blinzle heftig.
»Dein Gepäck aufgeben.«
»Aber ich habe nichts mitgebracht.« Ich zucke mit den Schultern und zeige ihm meine leeren Hände.
Er mustert mich freundlich, dann flüstert er: »Nicht diese Art von Gepäck. Du wirst es schon sehen. Geh direkt zum Spiegel, wenn du so nett wärest.« Dann geht er hinaus und schließt die Tür hinter sich.
Es ist ziemlich dunkel in der Hütte, die von silbrigem Licht nur schwach beleuchtet ist, und der Raum ist größer und tiefer und breiter, als die Hütte von außen vermuten lässt.
In der Mitte steht ein Spiegel. Ein ziemlich schlichter Spiegel, nichts Verschnörkeltes.
Auf den Boden ist ein großes X gemalt, etwa einen Fuß davor. Es ist nur logisch, dass ich mich daraufstelle.
Ich starre mich an. Lange braune Haare. Blaue Augen, wie die meiner Mutter, anscheinend. »Überraschend bräunliche Haut«, wie meine Schlafsaalaufsicht sagen würde, mit, wie ich finde, etwas zu langen Armen und Beinen. Ich hoffe nur, dass sie Peter gefallen.
Ich schaue an mir hinunter und frage mich, wie ich das Gepäck, von dem sie sprechen, finden soll, dann sehe ich etwas am Rand meines Blickfelds …
Mein Spiegelbild, das unter ungefähr fünfzig Taschen fast verschwindet.
Taschen in allen Formen und Größen. Verschiedene Farben, verschiedene Materialien, winzige Taschen und riesige Taschen. Jede Tasche ist mit einem Etikett versehen, aber ich habe Angst, es zu lesen. Es wäre eine schreckliche Konfrontation, wenn ich herausfinden würde, was genau mich diese siebzehn langen Jahre belastet hat. Aber ganz offensichtlich stehe ich hier, furchtbar festgefahren und nicht einmal im Entferntesten so sorglos, wie ich dachte.
Man könnte sogar sagen, ich werde von Sorgen erdrückt.
Ich neige den Kopf nach links, nur um sicherzugehen, dass es kein Trick und mein Spiegelbild ist und mir folgt. Das tut es.
Ich trete einen Schritt näher. Auch das tut es.
Um den Hals meines Spiegelbilds ist eine mauvefarbene Umhängetasche drapiert. Langsam, während ich mich im Spiegel betrachte, greife ich danach und ziehe sie von mir herunter. Und obwohl ich sie in meinen Händen nicht sehen kann, spüre ich sie dort und fühle den Unterschied in mir, als ich sie auf den Boden fallen lasse. Während ich das tue, bin ich mir im Stillen ziemlich sicher, dass gerade diese Tasche etwas mit meiner Mutter zu tun hat.
Was auch immer es war, es fühlt sich unglaublich an, sie nicht mehr herumzuschleppen.
Also mache ich dasselbe mit einer anderen Tasche.
Und dann noch einer.
Allmählich fällt der Groschen, und ich lege alles ab. Alles. Meinen ganzen Ballast.
Sie fallen wie Schuppen von mir ab, und ich habe das Gefühl, ich könnte schweben, und vielleicht tue ich das auch, eine winzige Sekunde lang.
Ich gehe wieder nach draußen, aber jetzt ist es mehr wie ein Gleiten, ein bisschen wie Schlittschuhlaufen, und ich gleite – rums – direkt in John hinein. Ich werfe ihm einen entschuldigenden Blick zu.
»Ich wusste nicht, wo ich sie hinlegen sollte. Es tut mir leid.«
Er wedelt mit der Hand. »Darum kümmere ich mich.«
»Danke.« Ich greife nach seinem Arm und lächle ihn an.
»Wir sehen uns.« Er wirft mir so einen Blick zu, und ich weiß nicht, was er damit meint. Aber … kennt ihr das Gefühl, dass jemand die Zukunft kennt? Und euch vielleicht auch?
»Du siehst leichter aus.« Peter Pan lächelt mich an, während ich hinüberschwebe.
»Habe ich vorher schwer ausgesehen?« Ich runzle die Stirn und schaue an mir hinunter.
»Sehr.« Er nickt und wirft mir so einen Blick zu, und ich ärgere mich über seine Unhöflichkeit.
Peter wirbelt mit einem Tritt eine Wolke auf, steht am Rand und schaut nach unten, und das ist alles schrecklich unfair. Denn hier gibt es so viele Sonnen, dass er von allen Seiten beleuchtet wird und es aussieht, als wäre er von einem Heiligenschein umgeben.
Seine Schultern sind mit Sommersprossen übersät, und ich frage mich, unter welchen Umständen er wohl so ruhig halten wird, dass ich sie eines Tages zählen kann. Wahrscheinlich, wenn er schläft. Oder wenn ich ihm eine Tasse Kamillentee servieren würde, vielleicht.10
»Was starrst du so?« Peter runzelt die Stirn, blickt über die Schulter und dann zu mir hoch.
»Was?« Ich blinzle und räuspere mich. »Nichts.«
Peter wirft mir einen misstrauischen Blick zu und schnappt dann erfreut nach Luft. Er holt ein Monokular aus seiner Gesäßtasche und zeigt es mir.
»Das habe ich Kapitän Hook stibitzt.« Er grinst, während er es aufzieht und hindurchschaut. »Die Meerjungfrauen liegen draußen auf dem Skull Rock! Ich muss ihnen zeigen, dass ich jetzt groß bin.« Er sieht selbstgefällig zu mir herüber. »Und ein Schmuckstück.«
Ich zögere, und noch bevor ich etwas erwidern kann, nimmt er Anlauf.
»Folge mir!«, sagt er und springt.
»Warte!«, rufe ich ihm nach und laufe zum Rand. »Wohin willst du …?«
Dann springt er kopfüber aus den Wolken. »Spring, Wendy! Pass nur auf, dass du nicht …!«
Und das war’s.
Er ist verschwunden.
Danach kann ich ihn nicht mehr hören.
Also, hört zu. Ich weiß nicht, warum ich das mache. Es ist verrückt, und im Nachhinein würde ich diesen Plan genauso schäbig und unausgegoren finden wie ihr, wenn ihr ihn zum ersten Mal hört. Aber mit so gut wie keinem Gedanken an meine Überlebenschancen und mit minimaler Rücksicht auf mein persönliches Wohlbefinden stürze ich mich von der Wolke, genau wie Peter es getan hat.
So beginnt es. Mein rasanter Abstieg, mein Sturz hinter ihm her.
Die Wolken peitschen an meinem Kopf vorbei, ich werde schneller, und der Planet unter mir, von dem ich mit Sicherheit weiß, dass er nicht die Erde ist,11 kommt immer näher, und genau in diesem Moment erfahre ich eine schreckliche Offenbarung. Mir wird klar, dass ich nicht fliege, sondern falle.
Es ist schon komisch, wie ähnlich sich diese beiden Dinge am Anfang anfühlen können, nicht wahr?