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Wie viel kann man ertragen, bis es einem das Herz zerreißt? »The Great Undoing« ist der vierte Band von Jessa Hastings' TikTok-Sensation, dem Magnolia Parks Universum und setzt Daisy Haites' Geschichte fort. Daisy Haites dachte, sie hätte alles in ihrem alten Leben hinter sich gelassen: die Kriminalität, ihre Familie und den Mann, den sie liebt. Doch als ihre Sicherheit erneut bedroht ist, muss sie wieder zu ihrem Gangsterbruder Julian und ihrem Ex-Freund Christian zurückkehren, die beide verzweifelt versuchen, sie zu beschützen. Alles wird noch komplizierter, als Magnolia Parks mit einem gebrochenen Herzen auftaucht, und Julian ihr näher kommt als er sollte. Denn sich zu verlieben ist für Julian nicht nur unerwünscht - es könnte für alle Beteiligten tödlich sein ... In diesem TikTok-Bestseller kehrt Londons attraktivste Gangsterfamilie zurück: Daisy und Julian müssen in dieser dramatischen Fortsetzung nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Herzen beschützen. Jessa Hastings' Liebesroman-Reihe voller Liebe, Geheimnisse & Leidenschaft, Glamour & ganz viel Gefühl erscheint in folgender Reihenfolge: - Magnolia Parks - Daisy Haites - Magnolia Parks – The Long Way Home - Daisy Haites – The Great Undoing - Magnolia Parks – Into the Dark
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Seitenzahl: 740
Jessa Hastings
Daisy Haites
Übersetzt von Kristina Koblischke, Regina Jooß und Nora Petroll
Knaur eBooks
Daisy Haites dachte, sie hätte alles in ihrem alten Leben hinter sich gelassen: die Kriminalität, ihre Familie und den Mann, den sie liebt. Doch als ihre Sicherheit erneut bedroht ist, muss sie wieder zu ihrem Gangsterbruder Julian und ihrem Ex-Freund Christian zurückkehren, die beide verzweifelt versuchen, sie zu beschützen.
Alles wird noch komplizierter, als Magnolia Parks mit einem gebrochenen Herzen auftaucht, und Julian ihr näher kommt als er sollte. Denn sich zu verlieben ist für Julian nicht nur unerwünscht - es könnte für alle Beteiligten tödlich sein ...
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Triggerwarnung – Hinweis
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Danksagung
Über die Autorin
Liste sensibler Inhalte / Content Notes
Bei manchen Menschen lösen bestimmte Themen ungewollte Reaktionen aus. Deshalb findet ihr am Ende des Buches eine Liste mit sensiblen Inhalten.
Für all die Leute, die mir über PNs schreiben, dass ich eure Therapierechnungen bezahlen soll. Das werde ich nicht tun, aber ich widme euch dieses Buch. Bleibt so dramatisch, wie ihr seid. In einem vernünftigen Rahmen. Unter angemessenen Umständen. Seid im Alltag vielleicht nicht ganz so dramatisch. Danke für alles.
Und natürlich für Christa. Einfach weil.
Daisy
Ich rolle mich auf die Seite und lege das Kinn auf seine Brust.
»Morgen.« Er lächelt mich müde an und legt den Arm um mich. »Wie hast du geschlafen?«
»Gut, glaube ich.«1 Ich nicke. »Oder nicht?«
Killian Tiller zuckt mit den Schultern, und gleichzeitig zucken seine Mundwinkel. »Du hast mir keine übergebraten, als ich gestern Nacht ins Bett gekommen bin, das war gut.«
Ich lächle ihn stolz an, und er schnaubt lachend. Normale Leute verpassen ihrem Freund keine reflexartigen Ellbogenschläge, wenn besagter amerikanischer Freund spätnachts in ihr Bett kriecht.
»Um wie viel Uhr sollen wir los zum Markt?« Ich setze mich auf und rücke noch etwas dichter an ihn heran.
Er lächelt unbehaglich. »Ich muss arbeiten …«
»Es ist Samstag!«, erwidere ich und runzle die Stirn.
»Ich weiß.« Wieder zuckt er mit den Schultern. »Einfach ein unglücklicher Zeitpunkt.«
»Tills.« Ich lasse die Schultern hängen. »Geht es um meinen Bruder?«
»Dais, du weißt, dass ich von allem abgezogen wurde, das mit ihm zu tun hat.«2 Er presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. »Aber überleg mal – ohne mich kannst du so lange an den Ständen mit grünem Blattgemüse rumstehen, wie du willst …«
Ich sehe ihn abwägend an. »An den Ständen bist du tatsächlich ziemlich nervig.«3
Er seufzt und wappnet sich für die Diskussion, die wir schon fünfzigmal geführt haben. »Ein Blatt ist ein Blatt, Daisy.«
Ich schüttle den Kopf. »Nein.«
»Doch.« Er nickt. »Nur ein Haufen Blätter, die von exzentrischen Botanikern benannt wurden.«
»Ein Kopf Romanasalat unterscheidet sich in Aussehen und Verwendung sehr stark von – sagen wir – Grünkohl.« Ich sehe ihn eindringlich an, und er schüttelt stur den Kopf, einfach um mich zu provozieren.4
»Bist du zum Abendessen zu Hause?«
»Denke schon.«
Er nickt und beugt sich zu mir, küsst mich so, wie ich es mir jahrelang erträumt habe, und rollt sich dann aus dem Bett, um zu duschen.
Er hat sein eigenes Apartment, aber eigentlich wohnt er bei mir im Kensington Gardens Square.5
Nachdem ich etwa einen Monat lang allein gelebt habe, bin ich eines Tages nach Hause gekommen, nur um festzustellen, dass bei mir eingebrochen wurde.
Tür eingetreten, Schloss herausgebrochen, die ganze Bude auf den Kopf gestellt – gestohlen wurde nichts, zumindest soweit ich es beurteilen konnte.
Ich hab die Polizei gerufen, denn das machen normale Leute6 wohl, wenn etwas schiefläuft – sie rufen nicht ihren Bruder an7 oder die Lost Boys8, sondern die Polizei9. Also habe ich die Polizei gerufen.10
Und dann ist Killian Tiller aufgetaucht.
Er hat an meine eingetretene Tür geklopft, und sie ist langsam aufgeschwungen. Ich war da, saß auf einer Bank neben meinem Nachbarn Jago11, der den Mann in der Tür argwöhnisch beäugte.
Bei Tillers Anblick bin ich aufgesprungen, und ein seltsames Kribbeln ist durch meinen Körper gegangen, gleichzeitig eine Art Erleichterung und Traurigkeit. Ich erinnere mich, dass ich mir plötzlich sehr bewusst war, eine bauschige Levi’s 501 und ein schwarzes bauchfreies Oberteil zu tragen. Meine Socken passten nicht zusammen, und meine Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, in den sie kaum passten, weil ich sie abgeschnitten habe, als ich alle aus meinem Leben verbannt habe.
»Ich hab’s über Funk gehört«, sagte Tiller mit gerunzelter Stirn, griff in seine Gesäßtasche und hielt Jago kurz seine Dienstmarke hin.
»Das ist Killian Tiller«, sagte ich. »Er ist ein …« Meine Augen wurden schmal, und Tiller zog auf diese bekannte neckische Art die Brauen hoch. »So was wie ein alter Freund.«
Jago nickte, sagte, ich solle mich später bei ihm melden – dass ich bei ihm schlafen könne, wenn ich wolle –, und ging.
Tiller ließ den Blick durch die Wohnung schweifen. »Deine Haushaltsführung ist nicht mehr das, was sie mal war.«
Ich verdrehte die Augen und lächelte ihn schwach an. Er war froh, mich zu sehen, so viel war klar.
»Hast du die Wohnung genau so vorgefunden?« Er berührte einige meiner Habseligkeiten mit einem Stift, um keine Spuren zu verwischen. »Hast du irgendwas bewegt?«
Ich schüttelte den Kopf, woraufhin er sein Handy hervorholte und ein paar Fotos schoss.
»Irgendeine Vermutung?« Er blickte zu mir.
»Du meinst, ob es Julian war?« Ich zog verteidigend die Brauen hoch.12,13
Er schob den Unterkiefer vor. »Das hast du gesagt, nicht ich.«
»Nein, es war nicht Julian.« Ich starrte ihn finster an, und er nickte nur und sah sich weiter in der Wohnung um.
»Wie ist es dir ergangen?«, fragte er von der anderen Seite des Raums her und sah mich mit vor der Brust verschränkten Armen und ernstem Gesicht an.
»Na ja, also …« Ich ließ den Blick durch das verwüstete Wohnzimmer schweifen. »Mir ging es schon besser.«
Er unterdrückte ein Lächeln. »Vor dem hier – wie ist es dir ergangen?«
»Gut.« Ich spitzte die Lippen. »Schätze ich.«
»Hattet ihr mal Kontakt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass er aus London geflohen ist,14 weil er vom Scotland Yard gesucht wird.« Ich warf ihm einen bösen Blick zu.
»Na ja …« Er zuckte mit seinen amerikanischen Schultern. »Er hat ziemlich viele Gemälde gestohlen.«
»Ich weiß.«
»Hat etliche Gesetze gebrochen.«
»Ich weiß.« Ich nickte ungeduldig.
»Hat zwei Kinder entführt.«
»Ich weiß, Killian«, rief ich ihm entgegen, dann wurde mein Ton sanft. »Wir sprechen nicht mehr miteinander.«15
Er nickte und senkte den Blick. »Tut mir leid.« Tat es wirklich, das war ihm anzusehen. »Du brauchst ein neues Schloss«, sagte er dann und zeigte auf die Tür.
Ich kniff die Lippen zusammen und nickte. »Dann rufe ich also einfach einen Schlüsseldienst?«
»Ich mach das schon«, sagte er schnell. Unsere Blicke trafen sich, und er wandte seinen nicht ab.
Ich schüttelte nur den Kopf und schenkte ihm ein dankbares Lächeln. »Das gehört nicht unbedingt zu deinem Job.«16
Er verzog den Mund, als amüsierte er sich. »Stimmt, das hier aber auch nicht, von daher …« Er machte eine die Wohnung umfassende Handbewegung.
»Dann warst du wohl einfach gerade in der Nähe?«, fragte ich mit hochgezogenen Brauen.
»Ja.« Er nickte unbeeindruckt. »So was in der Art.«17
Müsste ich es in einem Bild ausdrücken, ist dieser Augenblick für mich bis heute ein kleiner Setzling, der den Kopf durch die Erde streckt.
In jener Nacht schlief ich bei Jack18 – Tiller hat mich zu ihm gefahren, und am nächsten Tag stand er am späten Nachmittag mit einem neuen Schloss und einem Werkzeugkoffer vor meiner Wohnung.
Sobald er eintraf, machte Jack, der den gesamten Tag mit mir verbracht hatte,19 große Augen und formte von der anderen Seite des Zimmers mit den Lippen die Worte: Fuck, ist er heiß.
Halt’s Maul, formten meine Lippen zur Antwort.
Jack bildete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis und stieß dann den Zeigefinger seiner anderen Hand mehrmals hindurch.20
»Raus hier!« Ich zeigte zur Tür, und mein bester Freund kicherte, als er vor mich trat und meine Wange küsste. »Ruf mich an.«
»Wir haben Streit!«, rief ich ihm hinterher.
»Worüber habt ihr Streit?«, fragte Tiller und blickte von seinem Werkzeugkoffer auf.
Ich lächelte ihn kurz an. »Ach, nichts.«
Ich ging zu ihm hinüber und stellte mich neben die Tür, die er reparierte, denn – wir und Türschwellen, ihr wisst schon. Mein Herz war am Arsch. Ich vermisste meinen Bruder, ich vermisste Christian. Ich war allein und hatte Angst, und Tiller kniete in meiner Wohnung und reparierte etwas, das er gar nicht kaputt gemacht hatte.
Er wusste, was er tat. Ich meine – natürlich wusste er das, schließlich hatte er es angeboten, aber ich hatte bis dahin noch nie einem Mann dabei zugesehen, wie er etwas reparierte.21
Das Bohren, das Meißeln, das Schrauben – o mein Gott –, die reinste Folter. Ich biss mir auf den Daumen, denn ohne auf irgendetwas zu beißen, hätte ich nur dagestanden und ihn mit offenem Mund angeglotzt, weil Tiller einfach – er ist Tiller, okay? Er ist himmlisch mit seinen blonden Haaren, diesen blauen Augen, mit seinen Schultern und diesem Akzent. Schon seit ich sechzehn war, brachte mich seine Gegenwart zum Schmelzen, und dasselbe geschah auch jetzt wieder hier in meinem Flur.
Sein Blick huschte hoch zu mir.
»Also …« Er hustete total lässig. »Datest du zurzeit jemanden?«
»Nein.« Ich streckte die Arme über den Kopf und ließ meinen Rücken knacken. Zum Teil, weil er wehtat, und zum Teil, weil der gesamte Rest von mir auf eine Weise wehtat, der ich nicht allein beikommen konnte. Ich hasste es, allein zu sein. Mein gesamtes Leben lang habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, und nun war ich komplett allein, wie ich es immer gewollt hatte, und konnte nicht damit umgehen.
»Und du?«, fragte ich leichthin. »Hast du jemanden?«
Tiller sah mich einen Sekundenbruchteil länger an, als er wahrscheinlich gesollt hätte, bevor er den Kopf schüttelte. »Nein.«
»Oh.« Ich nickte ein Mal. Räusperte mich. »Hey, willst du einen Drink?« Ich stieß mich von der Wand ab und ging Richtung Küche, ohne auf seine Antwort zu warten. Tiller sah mir mit seinem süßen ernsten Gesicht hinterher, das ich so sexy fand22 – sein Blick huschte von mir zur Küchentür und zurück zu mir. Dann nickte er kurz und konzentrierte sich wieder viel zu intensiv auf die kaputte Wohnungstür.
Ich schenkte uns zwei übergroße Gläser Wein ein und konnte sehen, dass er mich durchschaute, weil sich unsere Blicke kurz trafen, als ich ihm sein Glas in die Hand drückte, und er machte den Eindruck, als wappnete er sich – als stände er am Rand eines Abhangs und redete sich Mut zu, zu springen.
Tiller nahm einen großen Schluck, gab mir das Glas zurück und machte sich wieder an der Tür zu schaffen, und ich weiß noch genau, dass ich seine völlige Unaufmerksamkeit mir gegenüber echt heiß und sexy fand und mich plötzlich fragte, ob er es mit Absicht machte. Dass er mich nicht ansah. Er hatte die Augenbrauen so konzentriert zusammengezogen, dass er die Tür regelrecht anstierte …
Nach einer kurzen Weile stand er auf. Verriegelte die Tür und entriegelte sie wieder.
»Alles repariert.« Er warf mir ein kurzes Lächeln zu. Er sah nervös aus. Süß.
Ich griff an ihm vorbei, ließ das Schloss einschnappen, und das Geräusch des Bolzens hallte laut nach und riss die alte Fallgrube in mir auf.
»Danke«, sagte ich leise.
Tiller wandte den Blick nicht von mir ab. »Gern geschehen.«
Dann nickte er, kniete sich wieder auf den Boden und begann, sein Werkzeug zusammenzupacken.
Ungefähr in diesem Augenblick fing ich an, mich zu fragen, ob die ganze sexuelle Spannung, die ich zwischen uns spürte, ausschließlich in meinem Kopf existierte. War sein Bohren gar nicht mehr als Bohren? War das Verlangen, das ich zwischen uns wahrzunehmen glaubte, nur einseitig? Ich weiß nicht, warum, aber in diesem Moment überkam mich dieses altbekannte Gefühl, das ich zum ersten Mal gehabt hatte, als meine Eltern starben. Dass ich ein kleines hilfloses Mädchen war, ganz allein auf der Welt. Ich habe mich nur einige Monate lang so gefühlt, nachdem es passiert war, nach jenem Tag am Strand, aber fast jede Nacht hatte ich einen Traum, manchmal habe ich ihn immer noch: Ich auf dem Sand, während sie sterben, aber Julian stirbt ebenfalls, und nur ich bleibe übrig – am Leben –, aber jetzt bin ich wirklich ein Waisenkind und wirklich allein. Ich bin alles, was mein Bruder gesagt hat.
Dasselbe Gefühl hatte ich auch, als mein Bruder aus dem Krankenhauszimmer ging, und es überkam mich erneut, als ich zusah, wie Tiller dort vor mir sein Werkzeug zusammenpackte. Als ich es merkte, wollte ich, dass er sofort ging – er musste gehen. Ich wollte nicht, dass er mein Gesicht sah, wollte nicht, dass er bemerkte, dass ich traurig war – dass ich mich überhaupt nicht verändert hatte, dass ich hier auf der Stelle mit ihm schlafen würde, genauso wie mit Jago oder dem Barista gegenüber, dass ich ihre Körper als Sperrholzplatte benutzen würde, die ich über die Fallgrube lege, um nicht wieder hineinzufallen.
Ich kniete mich neben ihn und half ihm, schneller zusammenzupacken, griff nach einem Bohrer und blies darauf, um ihn vom Sägemehl zu befreien, als …
»Au! Scheiße!« Meine Hand flog an mein Auge.
»Alles in Ordnung?« Tiller runzelte besorgt die Stirn.
Ich stand vorsichtig auf und ertastete mir den Weg zum Gäste-WC. Er eilte mir hinterher, und ich erinnere mich, dass in seinem Gesicht größere Besorgnis geschrieben stand, als für ein Sägemehlkorn angebracht.
Ich spritzte mir etwas Wasser ins Auge und versuchte, es rauszuspülen. Und dann legte sich eine Hand auf meine Hüfte und drehte mich um.
»Lass mich sehen.« Er nahm mein Gesicht in beide Hände und zog vorsichtig mit dem Daumen mein geschlossenes Lid auf.
Unsere Gesichter waren so dicht beieinander, dass ich die Wärme spüren konnte, die von seinem Körper ausging.
Wenn ich an jenen Abend zurückdenke, ist das der Teil, an den ich mich am klarsten erinnere. Er gab mir ein Gefühl von Wärme.
»Ich glaube, da ist es«, sagte er, aber es klang etwas heiser.
Sein Blick huschte an mir hinab, er presste die Zunge gegen die Unterlippe, sah mir tief in die Augen und beugte sich vor … langsam … so ein bedächtiges Vorbeugen.23 Und dabei sah er mich unverwandt an, um sicherzugehen, dass ich meine Meinung nicht änderte.
Als würde ich das je tun, wo endlich dieses Gesicht auf mich zukam, wie ich es mir immer gewünscht hatte.
Ich schlang die Arme um ihn und zog ihn zu mir ran, unsere Lippen berührten sich, und dann war all seine Bedächtigkeit passé.
Hier ist die Wahrheit: Ich habe mir unzählige Male ausgemalt, mit Killian Tiller zu schlafen, seit ich ungefähr sechzehn war. Auf dem, was passierte – dann und dort –, türmten sich jahrelange Erwartungen, und Tills enttäuschte nicht.
Er wurde für keine Sekunde langsamer, ließ keine Sekunde nach. Er hob mich auf seine Hüfte, und wir trieben es auf meinem Waschbecken unter unglaublich furchtbarem Licht – die Art Licht, das jeden Makel offenbart, und ich konnte keinen einzigen an ihm entdecken.
Hinterher lehnte er sich sitzend gegen die Wand meines winzigen Gäste-WCs und starrte mit nachdenklichem Gesicht zur Decke, wieder ganz besorgt.
»Fuck …« Er schüttelte den Kopf.
»Was?« Ich setzte mich auf und zog mein Oberteil wieder an.
»Tut mir leid.« Er verzog das Gesicht. »Das hätte ich nicht machen sollen.«
»Was genau?«
Er deutete vage mit dem Finger auf mich.
»Du meinst, du hättest es mir nicht machen sollen?« Ich blinzelte.
Er nickte schnell und fuhr sich angespannt mit den Händen übers Gesicht. Er streifte sein T-Shirt über und stand auf. »Ich wollte dich nicht, ähm, ausnutzen oder so …«
Ich sah ihn verwirrt an. »Tiller, ich habe dir ungefähr die dreifache Portion Wein eingeschenkt, weil ich wollte, dass das hier passiert.«
Er warf mir einen unbeeindruckten Blick zu.
»Ich versuch schon seit Jahren, dich flachzulegen, Tills …«, sagte ich in dem Versuch, der Sache Leichtigkeit zu verleihen. Ich mochte nicht, wie angespannt er aussah.
»Tiller!« Ich lachte, weil er sich so süß verhielt. »Es war nur Sex.«
Da sah er mich argwöhnisch an, als wäre ich eine Vollidiotin. »So etwas gibt es nicht.«
»O doch!« Ich schüttelte lachend den Kopf. »Natürlich gibt es das! Wir hatten gerade welchen!«
Er stieß Luft aus, als hätte er den Atem angehalten. »Ich schwöre hoch und heilig, dass ich nur hergekommen bin, um dein Schloss auszutauschen.«
Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Ich glaube dir.«
Kurz danach ging er, und später schrieb er mir, dass es ihm leidtäte und dass ich ihm nur schreiben müsse, falls ich Hilfe mit irgendetwas anderem brauchte.
Und ist es zu glauben? Ein paar Tage später war mein Abwasserrohr verstopft.
So fing es an. Zuerst das Türschloss, dann das verstopfte Rohr. Dann begann mein Kühlschrank zu tropfen, und ich brauchte einen neuen. Dann hatte mein Auto kein Benzin mehr … absichtlich.
Und dann fing ich mit Sachen an, wie die Glühbirne zu schütteln, bis der Wolframfaden riss, und sie dann wieder in die Fassung zu drehen und so zu tun, als wüsste ich nicht, wie man sie wechselt.
»Du weißt schon, dass du mich einfach fragen kannst, ob ich für Sex vorbeikomme, oder?«, fragte er an jenem Abend und zupfte mir neckisch an einer Haarsträhne. Was ich dann auch etwa eine Woche lang getan habe. Denn wenn ich es nicht tat, vermisste ich … ihn.24 Und es war eine tolle Woche. Tiller kam fast jeden Abend nach der Arbeit zu mir, um »mich durchzunudeln«, wie Julian sagen würde. Und für mich war das in Ordnung, denn ich hatte Uni und keine Freunde außer Jack,25 und ich war Single und allein, und allein zu sein erinnerte mich daran, dass ich in Wahrheit sehr allein war. Keine Familie, zwei Freunde und ein Bodyguard, der sich nicht feuern ließ.26
Und dann klopfte es eines Abends unangekündigt an der Tür.
»Was machst du hier?« Ich blinzelte Tiller an und beäugte skeptisch den Wein und die Blumen in seinen Händen.
»Es ist Valentinstag«, sagte er und zuckte mit den Schultern.
Ich zuckte ebenfalls mit den Schultern. »Ich weiß.«
»Ich würde dich gern ausführen«, sagte er und schob sich an mir vorbei nach drinnen.
Ich schloss die Tür. »Wie bitte?«
»Wie bitte?« Er schnaubte belustigt. »Tu nicht so überrascht – wir haben fast jede Nacht miteinander geschlafen in den letzten … zwei Wochen.«
»Ich weiß.« Ich verdrehte die Augen. »Aber das mit uns ist doch – nichts Ernstes, oder?«
Sein süßes Gesicht sah etwas verletzt aus. »Für mich schon.«
»Tills …« Ich seufzte. »Ich habe … Mit dir, weißt du, ich …«27 Ich wedelte mit der Hand in seine Richtung und schluckte, weil er so gut aussah. »Du weißt das, aber ich bin immer noch nicht richtig hinweg über …« Ich konnte seinen Namen nicht aussprechen, kann es bis heute nicht. Er bleibt mir immer im Hals stecken, als würde ich zulassen, dass ein Teil von ihm meinen Körper verlässt,28 wenn ich seinen Namen laut ausspreche, also machte ich nur eine diffuse Handbewegung zu dem Geist von Christian Hemmes, der mir überallhin folgt.
Tiller legte den Kopf schief und schenkte mir den Ansatz eines Lächelns. »Ich frage dich nicht, ob du mich heiraten willst, Dais. Es ist nur ein Date.«
Also gingen wir aus. Und dann ist das Allerseltsamste passiert – ich hatte ungelogen eine echt schöne Zeit. Den größten Spaß seit Monaten. Und wir haben nicht mal was Besonderes unternommen – wir waren bei Nando’s, weil jedes Restaurant in London ausgebucht war und er nirgends einen Tisch reserviert hatte, weil er nicht erwartet hatte, dass ich tatsächlich Ja sagen würde. Also gingen wir zu Nando’s29. Anschließend machten wir einen Spaziergang und haben uns Countrymusik angehört, die ich damals, im Februar, noch furchtbar fand, und ich hab ihn damit aufgezogen, dass er sie so sehr mochte, aber inzwischen ist es fast November, und ich kann die Texte zu jedem Lied von Thomas Rhett auswendig, von Dan + Shay ganz zu schweigen …
Hinterher kam er mit zu mir, und wir haben uns The Sixth Sense angesehen – ich hab mir absichtlich einen Thriller ausgesucht, in der Hoffnung, dass er dann über Nacht blieb, und während wir uns den Film ansahen, legte er den Arm um mich und wirkte dabei nervös – er hat nicht mich angesehen, sondern immer weiter auf den Bildschirm gestarrt, und dann ist er über Nacht geblieben.
Tiller hat keine Probleme mit dem Einschlafen, das habe ich inzwischen kapiert – ich glaube, es liegt daran, dass er von Grund auf gut ist. Er hat keine Sorgen, ist sozusagen die menschliche Version von Hakuna Matata –, er ist einfach tiefenentspannt, und nur um ihn zu provozieren, sage ich immer, dass das meiner Meinung nach daran liegt, dass er die Sommer immer mit seinem Großvater in Venedig verbracht und in der Zeit zu viel Gras geraucht hat, woraufhin er erwidert, dass ich das nicht ständig so herumschreien soll und dass er mir die Geschichte unter Nötigung erzählt habe, woraufhin ich entgegne, dass man das wohl kaum Nötigung nennen könne, und er sagt, dass Handschellen im Spiel gewesen seien, von daher … Und mehr müsst ihr über die Geschichte nicht wissen. Tiller hat keine Probleme mit dem Einschlafen, will ich damit sagen.
Und in genau jener Valentinsnacht, als ich ihn ansah – ihn, den womöglich bestaussehenden Mann, den ich je gesehen habe –, traf ich eine Entscheidung: Ich würde Christian Hemmes abhaken. Soweit ich eben konnte, denn ich glaube nicht, dass ich ihn jemals vollständig abhaken kann, aber Christian stand dort in der Ecke, diese turmhohe Statue, als hätte ich aus ihm oder für ihn in meinem Wohnzimmer einen Altar errichtet, und er war omnipräsent – warf einen Schatten auf alles und entzog allem die Farbe, was mich ohne ihn möglicherweise hätte glücklich sein lassen –, weil ich nicht ohne ihn sein will. Ich will mit ihm sein. Zumindest war es so, und es ist immer noch so, natürlich ist es immer noch so, aber es kann nicht sein. Wir wollen unterschiedliche Dinge. Er will dort sein, mittendrin in allem, und ich … Na ja, ich vermisse es schon, wenn ich ehrlich bin. Aber das liegt daran, dass mein Bruder darin verwickelt ist, und irgendwie glaube ich, dass ich mein altes Leben vielleicht hauptsächlich auf eine Stockholm-Syndrom-Art vermisse, weil ich eben nie etwas anderes gekannt und ohne das alles Angst habe, von daher zählt das nicht. Und von daher ist es auch egal, dass ich Christian liebe, was ich tue,30 weil Liebe nicht ausreicht und nicht alles ist, was man braucht, und dafür sind wir der beste Beweis.
Also beschloss ich in jener Valentinsnacht, dass ich Christian wegpacken würde. Er konnte nicht mehr in meinem Wohnzimmer wohnen. Ich wusste nicht, wie ich seine Statue abreißen, wie ich meine Liebe zu ihm auseinanderbauen konnte31 – ich glaube nicht, dass es überhaupt möglich ist. Vermutlich habe ich ihn versehentlich auf eine Art geliebt, die ihn für immer zu meinem Schwachpunkt macht, von daher war er vielleicht eine Statue, die ich nicht abbauen konnte und die ich immer anbeten und in einem heiligen Licht sehen würde, aber vielleicht war er eine Statue, die ich auf eine Sackkarre packen und raus aus dem Haupt- und ins Nebenzimmer bugsieren konnte – dasselbe Zimmer, in dem sich auch all meine Gedanken an meinen Bruder befinden und die Gedanken daran, wie sehr ich ihn vermisse und wie viel Angst ich ohne ihn habe und dass ich mir wünschte, er würde einfach kommen und mich nach Hause holen, aber das wird er nicht tun, also werde ich es auch nicht. War doch egal, wenn Christian eine weitere Sache war, die ich niemals würde auseinandernehmen können. Zumindest konnte ich ihn in ein anderes Zimmer verfrachten, die Tür verriegeln und den Schlüssel an einer Kette um den Hals tragen. Ich konnte ihn besuchen, wenn nötig – wenn ich musste –, aber anschließend würde ich die Tür einfach wieder zuziehen. Genau das habe ich in jener Nacht getan, ich habe die Tür zugezogen und nach vorn geblickt, und vor mir war Tiller.
Das war vor fast neun Monaten.
Ich kaufe zwei Kaffee in dem Café im Erdgeschoss, nehme aber meine selbst gemachten Muffins mit, weil sie besser sind, und gehe über die Straße zu dem schwarzen Escalade, der immer gegenüber meiner Wohnung parkt.
Klopfe ans Fenster, woraufhin es runtergefahren wird.
»Hör auf, mir zu folgen«, sage ich zu Miguel und gebe ihm einen Kaffee und einen Muffin.
»Hör auf, da immer Chiasamen reinzumachen, ich hab dir gesagt, dass ich die nicht mag.«
»Nein.« Ich schüttle den Kopf. »Du brauchst das Kalium.«
»Dann gib mir ’ne Banane«, sagt er stirnrunzelnd, beißt aber trotzdem in den Muffin. »Und nein.« Er lächelt mich breit an, und ich verdrehe nur die Augen, drücke ihm wortlos meinen Kaffee in die Hand und bücke mich, um meinen Schuh zu binden.
»Wohin fahren wir heute?«, fragt er, als ich mich wieder aufrichte und er mir den Kaffee zurückgibt.
»Wir fahren nirgendwohin.« Ich sehe ihn eindringlich an, bevor ich auf mich zeige. »Ich fahre mit Jack zum Markt.«
Er nickt. »Welchen Weg nimmst du?«
»Oh, den Geht-dich-nichts-an-Weg. Sehr malerisch.« Ich lächle ihn kurz an.
»Sag schon.«
»Nein.«
»Sag’s einfach.«
»Verpiss dich …« Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu, bevor ich davongehe.
»Über den Misty Way?«, ruft er mir hinterher.32
Ich zeige ihm den Mittelfinger, während ich die Tür meines Autos öffne.
»Ist das ein Ja?«, ruft er gereizt.
»Ja«, grummle ich.
»Weiß dein Bruder, dass er dir immer noch folgt?«, fragt Jack wenige Stunden später und nickt Miguel zu, der sich hinter uns an einen Tisch gesetzt hat.
»Ich schätze schon«, sage ich schulterzuckend. »Falls nicht, würde Julian hinnehmen, dass Miguel plötzlich ein miserabler Mitarbeiter geworden ist – der den Großteil des Tages einfach verschwindet.«
»Irgendwie süß«, sagte Jack, um zu helfen, und zuckt mit den Schultern.
»Irgendwie unnötig«, sage ich laut genug für Miguels Ohren. »Ich brauche keinen Bodyguard, mein Freund ist bei der Polizei! Ich bin jetzt normal!«
»Du klingst normal! Schreist hier im Café herum, idiota louco«, ruft Miguel zurück, und ich ziehe einen Schmollmund.
Jack greift nach meiner Hand und drückt sie.
»Wie geht es dir heute eigentlich?«
»Heute?« Ich blinzle und zucke mit den Schultern, als wüsste ich nicht, was er meint.
Jack verdreht die Augen.
»Was soll heute sein?« Ich spiele weiter Theater.
Er sieht mich von der Seite an und deutet mit dem Kinn auf meinen Teller. Bratkartoffeln zum Frühstück.
Ich schiebe den Teller von mir. Sie sind eh nicht so gut wie die, die ich immer gemacht habe.
Der 30. Oktober. Der Geburtstag meines Bruders.33
»Schickst du ihm irgendwas?«
»Natürlich nicht.« Ich schüttle den Kopf.
Jack zuckt leicht mit den Schultern. »Könnte ein gutes Friedensangebot sein …«
»Ich will kein Friedensangebot«, lüge ich. Außerdem weiß ich, dass es nicht funktionieren würde. Wenn es irgendwas gäbe, das dazu führen würde, dass mein Bruder und ich uns wieder vertragen, dann ist es bereits passiert, und es hat nichts verändert.34
»Komm.« Ich klatsche in die Hände. »Ich muss los und anfangen, das Abendessen zu kochen.«
»Sie ist echt gut«, verkündet Tiller, zieht mich auf seinen Schoß und lehnt sich im Stuhl zurück.
»Es war nur Brathähnchen.« Ich verdrehe die Augen, und er schlingt die Arme noch fester um mich.
»Wie läuft’s mit diesem Typen35, Jacko?«, fragt Tiller ihn.
»Joa, gut …« Jack versucht, sein Lächeln nicht zu breit werden zu lassen. »Wir sind jetzt seit einem Monat zusammen, bisschen länger …«
»Wie heißt er noch mal?« Tiller sieht zwischen Jack und mir hin und her.
»August Waterhouse«, sage ich.
»Produzent.« Tiller nickt. »Kapiert. Ich erinnere mich. Cool, Mann – ich bin froh, dass es gut läuft.«
Jack lächelt immer noch und öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch dann wandert sein Blick durch die Wohnung.
»Warum stehen hier eigentlich überall so viele Rosen?«
Ich folge seinem Blick. Allein im Esszimmer stehen sechs Sträuße.
»Oh …« Ich zucke mit den Schultern. »Tiller schickt mir ständig Blumen.«
Tiller schnaubt. »Nein, tu ich nicht.«
Ich drehe mich zu ihm. »Wie bitte?«
»Ich schicke dir keine Blumen.« Er zeigt auf die Sträuße. »Die sind nicht von mir.«
»Bist du sicher?« Ich runzle die Stirn.
»Ob ich sicher bin, dass ich dir keine Blumen schicke?« Er sieht mich schief an. »Ja.«
»Aber manchmal bringst du welche mit …«
»Ja«, sagt er schulterzuckend. »Die stehen jedes Mal vor der Tür.«
Ich blinzle. »Du hast mir nie Rosen geschickt?«
»Du dachtest die ganze Zeit, dass ich dir Blumen schicke, und hast dich kein einziges Mal erkenntlich gezeigt?« Er setzt sich auf.
»O mein Gott.« Ich verdrehe die Augen und verlagere das Gewicht auf seinem Schoß. »Es sind Rosen, nicht der Hope-Diamant – du schenkst sie mir, ich sage Danke, ein völlig akzeptabler Austausch.«
Jack steht auf und schiebt in einem der Sträuße ein paar Blumen auseinander.
»Keine Karten«, sage ich. Nie eine Karte. Ich drehe mich wieder zu Tiller. »Ich bin einfach davon ausgegangen, dass sie von dir sind.«
Tiller verlagert das Gewicht und verkrampft sich leicht unter mir. Hält mich ein bisschen anders. Auf sein Gesicht legt sich dieser besorgte Ausdruck, und sein Blick huscht von mir zu Jack.
»Hemmes?«, fragt er.
Ich schüttle den Kopf. »Wir haben kein Wort miteinander gesprochen, seit …«36 Ich bleibe in meinen Gedanken hängen und suche Tillers Blick, um mich zu fangen. »Seit jener Nacht hier.«
Ihm entgleiten die Gesichtszüge – das war eine schwierige Nacht für ihn –, aber er nickt.
»Romeo?«, wirft Jack ein.
»Hasst mich.« Ich lächle die beiden tapfer an.37
Tiller legt mir seufzend die Hand auf den Rücken. »Dein Bruder?«
Ich schüttle den Kopf. »Hasst mich auch.«38
Es ist, als hätte sich eine Wolke über das Zimmer gelegt, die ich verscheuchen muss, also springe ich auf und fange an, den Tisch abzuräumen.
»Wahrscheinlich ist es einfach ein Missverständnis …«, sage ich schulterzuckend.
»Was für eins?«, fragen Jack und Tiller gleichzeitig mit hochgezogenen Brauen.
»Vielleicht hat jemand die Adresse falsch aufgeschrieben, und die Blumen sind in Wirklichkeit für die heiße Frau von oben.«
Jack verdreht die Augen. »Dais, du bist die heiße Frau von oben.«
Ich beuge mich zu Tiller hinab und berühre sein besorgtes Gesicht. »Es ist nichts, Tills. Nur ein armer Legastheniker, der seine Knete zum Fenster rauswirft.« Ich zucke unbekümmert mit den Schultern. »Sie sind nicht für mich.«
Christian
Ich habe lange darüber nachgedacht, warum ich getan habe, was ich getan habe … Warum ich sie verlassen habe und aus ihrer Wohnung gegangen bin, als wäre sie nicht das Einzige, woran ich denken kann, seit wir uns bei Julians Geburtstagsparty das erste Mal getrennt haben. Als wäre sie nicht immer noch das Einzige, woran ich denken kann.
Es ist zu spät. Sie hat jetzt jemand Neuen.
Inzwischen kommt es mir ziemlich bescheuert vor, wenn ich darüber nachdenke, also versuche ich, es zu vermeiden.
Daisy war für mich der reinste Trip – ich hab mich aus Versehen in sie verliebt, und ich hab sie aus Versehen verloren. Ich war nicht bereit. Ich war nicht bereit, jemanden so zu lieben, wie ich, wie sich herausstellte, sie liebe.
Es hat mich kalt erwischt. Nie im Leben hätte ich mir ausgesucht, mich ausgerechnet in sie zu verlieben, doch als es passiert war, gab es nichts anderes mehr für mich: Sie war mein erster und letzter Gedanke und jeder dazwischen, der Name, den ich im Schlaf sagte, der Körper, an den ich dachte, wenn ich mit anderen Körpern zusammen war, der Geruch, dem ich immer hinterherjage, wenn ich durch einen Selfridges gehe, nur damit ich etwas einatmen kann, das riecht wie sie, um mich ihr nahe zu fühlen, aber fündig werde ich nie.
Als sie mich bat, gemeinsam mit ihr allem den Rücken zu kehren, dem ganzen Scheißhaufen von einem Leben, in das wir hineingeboren wurden … Keine Ahnung, warum ich’s nicht getan habe – es kam einfach unerwartet. Das, und ich habe nichts anderes? Ich habe keinen Lebensentwurf. Meine Zukunft ist in Stein gemeißelt, seit ich fünfzehn war.
Jo und ich ziehen dieses verfickte Ding zusammen durch.
Weniger »er die Eins, ich die Zwei«, mehr gleichberechtigte Partnerschaft, allerdings ist er in letzter Zeit ganz schön großspurig …
Ist mir aber eigentlich egal, wenn ich ehrlich bin. Es ist ein Geschäft, und ich bin dabei, weil ich dabei sein muss.
Ein bisschen wünschte ich, ich könnte sein wie Onkel Harv, der sich nach Australien verpisst hat, um Profisportler zu werden, aber Mum würde das umbringen, und sie hatte in ihrem Leben weiß Gott schon genug Mord und Totschlag.
Also bin ich beim Altbekannten geblieben, auch wenn es mich ein Stück kaputtgemacht hat. Bin in London geblieben, ein paar Straßen entfernt von dem Haus, in dem Daisy gewohnt hat, aber nicht mehr wohnt, weil sie ihren Worten Taten hat folgen lassen. Sie sagte, sie würde alles zurücklassen, und genau das hat sie getan. Sie ist durch mit allem. Ist aus diesem Leben verschwunden wie ein Licht, und wahrscheinlich macht sie das zu einem besseren Menschen. Wir wären alle bessere Menschen, wenn wir nur unser verficktes Leben auf die Reihe kriegen würden, aber das können wir nicht, weil es verdammt schwer ist, das Einzige zurückzulassen, was man kennt, selbst wenn man will, und bei einem könnt ihr euch sicher sein: An manchen Tagen will ich es absolut.
Ich bin froh, dass es ihr gut zu gehen scheint. Ich meine, ich bin völlig am Boden zerstört. Ich hab echt ’ne Menge vermasselt, seit wir uns getrennt haben, aber ich bin glücklich für sie. Solange sie glücklich ist.
Sie scheint glücklich zu sein.
Zumindest behauptet das Taura.
Nach allem, was passiert ist, hat sie Glücklichsein verdient.
Und ich? Ich starre die Gänseblümchen auf den Bürgersteigen an, wenn sie mir ins Auge fallen, abends schaue ich zum Einschlafen The Great British Bake Off, und jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihr Gesicht vor mir, obwohl ich schon seit etwa zwei Monaten mehr oder weniger mit Vanna Ripley zusammen bin.
Es ist schwierig, sie ist eine echte Strafe, und ich sollte es besser wissen, aber sie ist heiß und kompliziert auf eine Weise, die mich davon ablenkt, in wen ich eigentlich verliebt bin.
Davor war ich ziemlich unstet. Hätte in New York fast eine Nacht mit Parks verbracht, aber wir haben es am Ende nicht getrieben – ich war es, der abgebrochen hat, falls ihr es glauben könnt –, hab an Daisy gedacht, und wie verletzt sie wäre, falls sie es erfuhr, was nicht passieren würde. Wie sollte sie es erfahren? Und als ob es sie überhaupt kümmern würde, sie datet jetzt diesen Cop, der immer in ihrer Nähe aufgetaucht ist. Aber ich hab trotzdem an sie gedacht, und es hat mir den Wind aus den Segeln genommen.
Ich lasse mich in einen der roten Samtstühle im The Lecture Room & Library des Sketch fallen; wir sind spät dran. Wurden von den Paparazzi überfallen, als wir aus meiner Wohnung kamen, und dann noch mal vor dem Restaurant, und es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass sie sie nicht vermutlich selbst gerufen hat.
Nicht ganz einfach, die gute Vanna, wenn ich ehrlich bin, aber wie zur Hölle soll man sich sonst die Zeit in seiner Heimatstadt vertreiben, wenn die Frau deiner Träume nicht mit dir redet und mit jemand anderem angebandelt hat?
Ich bin mit ihrem Bruder zum Abendessen verabredet, das ist dieser Tage einer meiner Zeitvertreibe. Ich nicke Jules zu, als er und ich einschlagen.
»Happy Birthday nachträglich, Kumpel.«
Vanna gibt ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich neben mich setzt und die Frau ihr gegenüber, die mit Julian gekommen ist, frostig anlächelt.
»Das ist Josette Balaska«, stellt Julian sie mir vor und deutet vage zu ihr.
Wunderschöne Frau. Klein, fast weißblondes Haar, blasse Haut, und ihre Augen schimmern lila, aber es sieht nicht aus, als trage sie Kontaktlinsen.
»Du bist also der berühmte Christian Hemmes.« Mit einem wissenden Lächeln streckt sie die Hand über den Tisch und schüttelt meine. »Ich habe gehört, du hast ihm das Leben gerettet.«
Ich zucke mit den Schultern. »So was in der Art.«
Julian verdreht wegen meiner falschen Bescheidenheit die Augen, und Vanna verlagert das Gewicht in ihrem Stuhl, weil sie es nicht gewohnt ist, nicht das Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein.
»Das ist Vanna.« Ich deute mit dem Kopf auf sie.
»Freut mich …« Josette streckt die Hand aus, und Vanna starrt sie an, bevor sie sie zögerlich schüttelt.
Josette lächelt unbekümmert. »Wie lange seid ihr zwei schon zusammen?«
»Oh, wir sind n…«, setze ich an, doch Vanna fällt mir ins Wort.
»Zwei Monate.« Sie wirft sich das Haar über die Schulter.
Julians und mein Blick treffen sich, bevor er belustigt wegsieht und eine Kellnerin heranwinkt, um eine Flasche des teuersten Rotweins zu bestellen.
»Ich trinke keinen Rotwein«, sagt Vanna unverhohlen gelangweilt zu Julian.
»Dann trink was anderes.« Er gähnt, ohne sie anzusehen.
Ich lege den Arm um ihren Stuhl. »Was möchtest du?«
»Überrasch mich«, sagt sie, ohne von ihrem Handy aufzublicken.
Ich bestelle ihr eine Flasche Champagner, und sie greift nach meinem Gesicht und küsst mich, als müsse sie etwas beweisen. Dann sieht sie zu Josette, zu Julian und zurück zu mir.
»Wie hast du ihm das Leben gerettet?«
Ich verkneife mir ein Lächeln und verdrehe die Augen.
»Er hat mir geholfen, etwas zu finden«, sagt Julian.
»Und was?«, fragt Vanna und legt ihr Handy auf den Tisch.
»Ein Gemälde«, sagte er und schenkt sich noch etwas Wein ein.
Vanna atmet durch die Nase aus und greift wieder nach ihrem Handy. »Klingt langweilig.«
Josettes Blick trifft meinen. Ich vermute, sie weiß Bescheid.
»Ja.« Ich zucke mit den Schultern. »Keine große Sache …«
Nur ein Gemälde im Wert von 45000000 Pfund, das zwölf Jahre lang als verschollen galt und für das Scotland Yard bereit war, Julians Freiheit einzutauschen.
Echt ein paar verrückte Monate.
Jules hat sich im Januar verpisst. Hat es in die Dominikanische Republik geschafft und dort sein Lager aufgeschlagen, bis er sich einen Plan zurechtgeschustert hatte.
Die Jungs und ich sind zum Surfen nach Hawaii geflogen, und auf dem Rückweg hatte ich einen Stopover in Playa Rincón. Jules erzählte, dass er auf der Suche nach einem van Gogh war, um sich zu erkaufen, dass alle Anschuldigungen gegen ihn fallen gelassen wurden und er nach London zurückkehren konnte.
Ich hatte gerade nicht sonderlich viel zu tun, und ich vermisste seine Schwester. Wollte einen Weg finden, mich ihr nahe zu fühlen, ohne sie in das zurückzuziehen, was sie hinter sich gelassen hatte.
Also hab ich ihm geholfen.
Hab den van Gogh schließlich gefunden, deshalb ist Jules wieder hier – mit reingewaschenem Namen.
Irgendwann steht Vanna auf und geht zur Toilette. Julian wartet, bis sie außer Hörweite ist, und sieht mich schief an.
»Sorry, Bro – aber der Sex kann unmöglich gut genug sein, dass du dich mit ihr abgibst.«
Ich lache schnaubend. »Sie ist nicht übel.«
Josette schüttelt den Kopf. »Sie ist die furchtbarste Gestalt, mit der ich je zu Abend gegessen habe – und ich war mal unbeabsichtigt beim Dinner mit einem Neonazi.«
Ich deute mit dem Kinn zu ihr. »Das klingt nach einer guten Geschichte …«
»Inzwischen klingen bestimmt alle Geschichten gut für dich, Bro«, wirft Julian ein. »Die Konzentration, mit der sie vorhin überlegt hat, welches Lippendings sie auftragen soll. Hat diese beiden Tuben hochgehalten, als hätten sie nicht die genau gleiche Farbe – bist du auf krassen Drogen, um mit der Situation fertigzuwerden?«
»Wenn sie dich gegen deinen Willen festhält«, sagte Josette, »blinzle zweimal.«
»Okay …« Ich verdrehe die Augen. »Dann erzählt mal, wie habt ihr euch kennengelernt?«
»Oh«, Julian ruckt den Kopf in ihre Richtung, »wir sind alte Freunde.«
»Freunde ist ein weitläufiger Begriff.« Josettes Augen blitzen. »Ich pendle meistens zwischen Berlin und New York hin und her und fliege oft über London. Wir versuchen, das Beste aus der Zeit zu machen.«
Sie sticht ihm in die Rippen, und er schiebt ihre Hand mit dem Ellbogen weg. Steht nicht sonderlich auf körperliche Nähe, das gilt sogar bei Frauen, die er vögelt.
Die einzige Frau, die ich ihn je habe umarmen sehen, ist seine Schwester, daher umarmt er derzeit wohl niemanden. Sie fehlt ihm – das sehe ich ihm an.
Und das sage ich, weil ich ihn kenne – inzwischen sogar ziemlich gut. Und je besser ich Julian kennengelernt habe, desto klarer wurde es mir: Er hat nicht nur Daisys Regeln gebrochen, sondern sie auch seine.
Ich merke, dass er vermeidet, ihren Namen auszusprechen, er verlässt den Raum, wenn ich mich nach ihr erkundige. Was ich tue, ich frage Miguel immerzu nach ihr, stalke sie auf Instagram, versuche, Tausie auszuquetschen – keiner verrät mir viel, sie werfen mir höchstens ein paar Krumen hin. Aber damit komme ich klar. Doch Julian verletzt es. Er blinzelt jedes Mal, wenn ihr Name fällt. Sieht weg, atmet tief durch.
Ich versteh das. Mich verletzt es auch, aber vor allem bin ich froh, dass es ihr gut geht. Ich weiß, dass das auch für ihn gilt, obwohl er es nicht zugeben würde, weil er eben manchmal scheiße sein kann.
Er bezahlt Miguel weiterhin, drückt aber beide Augen zu, was seine Tagesbeschäftigung angeht, weil er eben auch so sein kann.
Ich frage mich, wie Daisy das findet. Wahrscheinlich ist sie genervt. Bodyguards sind nicht normal – das hat sie früher oft gesagt.
Aber das ist vermutlich Teil des Problems. Sie hat diesem Leben den Rücken gekehrt, um normal zu sein, aber sie ist nun mal sie. Die heißeste Frau der Welt, Honigtöpfe als Augen, die Klügste in jedem Raum. Sie wird nie normal sein, selbst wenn sie es versucht.
Julian
Ich denke jeden Tag daran, was damals im Krankenhaus zwischen uns passiert ist. Trage es mit mir herum wie ein Joch, das jeden meiner Schritte beschwert und mich daran erinnert, was ich verfickt noch mal bin – dass meine bescheuerte Schwester unrecht hat, sie einen Scheißdreck weiß und ich genauso schlecht bin, wie alle sagen –, der Beweis liegt in jedem einzelnen Satz, den ich ihr an jenem Tag an den Kopf geworfen habe, denn es war nicht nur im Streit gesagt. Ich wollte ihr den Rest geben.
Dais und ich kennen einander zu gut und wissen genau, wie wir uns gegenseitig zerstören können. Meine Worte waren nicht einfach beschissen unglücklich und dahingesagt – ich wusste genau, was ich tat. Wusste genau, dass sie sich durch meine Worte nicht nur traurig und allein fühlen würde, sondern dass sie ihr möglicherweise jedes Gefühl von Sicherheit rauben würden, das ich jahrelang versucht habe, in ihr aufzubauen.
Von daher weiß ich, dass sie unrecht hat. Ich habe keinen Funken Gutes in mir, das hat nur sie, und deshalb habe ich auch keinen Streit vom Zaun gebrochen, als sie sagte, dass sie normal sein will, was immer zur Hölle das sein soll …
Sie wollte aussteigen? Schön. Scheiß auf sie. Sie ist raus, ich brauche sie nicht. Selbst wenn sie meine beste Freundin ist und es sich anfühlte, als hätte ich mich in zwei Teile gehackt, als ich an jenem Tag von ihr wegging.
Danach musste ich London ziemlich schnell verlassen, ich konnte den Atem des beschissenen Scotland Yard im Nacken spüren und so.
Am Ende war es wahrscheinlich gut so. Keine Ahnung, was ich, wo ich so dermaßen wütend war, hier für ’ne Scheiße gebaut hätte ohne Daisy, die mich in Schach hält.
Ich war auf dem Heimweg vom Krankenhaus, als Declan mich anrief und sagte, ich solle nicht zurück zum Anwesen kommen, weil die Polizei dort mit einem Haftbefehl auf mich wartete.
Koa und ich haben das Auto stehen lassen und sind zu Fuß zum Hangar der Bambrillas draußen in Clavering gelaufen.
Bin auf dem Flugplatz der Onassis-Familie in Upstate New York gelandet. Eine heiße Minute lang hab ich überlegt, jemandem einen Besuch abzustatten, aber es schien mir zu riskant. Wir sind nach Florida gefahren. Haben einen Typen in Key Largo angeheuert, uns nach Nassau zu fliegen, dann von Nassau nach Cayo Romano. Von Cayo Romano nach Baracoa, von Baracoa nach Haiti – in Cap-Haïtien haben sie mich fast geschnappt, aber wir konnten entkommen und haben es zum verfickten Glück über die Grenze in die Dominikanische Republik geschafft. Kein Auslieferungsabkommen mit Großbritannien. Also haben wir unser Lager in Playa Rincón aufgeschlagen.
Und wisst ihr was? Obwohl ich mich immer über meine Schwester mit ihrem Traum vom normalen Leben lustig mache, war es gar nicht so übel.
Bin surfen gegangen, hab meinen eigenen Fisch gefangen. Hab ’nen Welpen vor dem Tod bewahrt. Süßes Kerlchen, echt. Ein Rhodesian Ridgeback, aber ohne Kamm auf dem Rücken. Der Züchter wollte ihn einschläfern lassen, also hab ich ihn genommen. Jetzt ist er ein erstklassiger Wachhund, nicht ganz ohne, würde mich vor allem beschützen – genau das, was man braucht, wenn man auf der Flucht ist.
Das Schwerste in der ganzen Zeit? Nicht zu wissen, ob es Dais gut ging.
Ich hasse sie, okay? Tu ich. Aber ich hab mein ganzes Leben lang auf sie aufgepasst. Mein ganzes Leben war darauf ausgerichtet, sie am Leben zu halten, von daher ist es egal – und zur Hölle mit ihr deshalb! –, es ist egal, ob sie ausgestiegen ist, weil sie nicht aussteigen kann. Sie ist mein Kind, auch wenn sie es nicht mehr sein will. Sie ist es trotzdem.
Aber wir hatten keinen Kontakt – es waren nur Koa und ich da draußen. Er hat die Hälfte aller Frauenherzen auf der Insel gebrochen, und ich hab versucht, den Hund stubenrein zu bekommen. Von meiner Schwester hab ich nichts gehört, bis Christian vorbeischneite und mir erzählte, dass sie diesen Cop datet.
Ich hab so getan, als brächte mich das zur Weißglut, aber in Wahrheit war ich ein bisschen erleichtert. Ohne mich oder Christian an ihrer Seite bei ihrem Streben nach einen beschissenen normalen Leben … Ich weiß, dass Miguel sie immer noch im Auge behält, aber aus einer größeren Entfernung als früher. Dass sie jetzt Tiller im Bett hat, setzt ihrem Verrat eigentlich noch eins drauf und hätte mich wütend machen sollen, aber ehrlich gesagt war ich einfach froh, dass sie in Sicherheit ist.
Es gibt da eine große Geschichte, aber die Kurzversion ist, dass Christian und Koa das Gemälde gefunden haben – ausgerechnet in Rotterdam. Bei der Beschaffung gab’s eine kleine Komplikation. Aber ich hab’s bekommen. Hab es Interpol überreicht, nachdem ich einen Deal ausgehandelt habe, dass alle Anschuldigungen gegen mich fallen gelassen werden, und voilà, ich bin zurück in London. Hab es Tiller übergeben, um genau zu sein. Er arbeitet nicht für Interpol, aber ich wusste, dass er es weitergeben würde. Hab außerdem gehofft, dass er meiner Schwester die Nachricht überbringt, dass ich zurück bin, aber ob er es getan hat, weiß ich nicht. Sie ist nicht nach Hause gekommen, um nach mir zu sehen. Nicht dass es nötig gewesen wäre, ehrlich gesagt wollte ich es nicht mal.
Wie auch immer, als erste Amtshandlung musste ich diesen verfickten Eamon Brown aus der Stadt jagen, aber er hat wohl gehört, dass ich auf dem Heimweg war, und sich ziemlich schnell verpisst. Ist wie vom Erdboden verschluckt. Hab seither kein Wort über ihn gehört, darum kümmern wir uns also zu gegebener Zeit.
Bin jetzt seit fast drei Monaten zurück, und so langsam hab ich das Gefühl, dass wir uns eine Aufgabe suchen sollten. Hab echt lange die Füße stillgehalten. Mir ist ein bisschen langweilig.
Keine Ahnung, ob Scotland Yard mich immer noch beobachtet, aber ich hab nichts gegen eine kleine Herausforderung. Selbst wenn sie mich schnappen, es gibt immer irgendein unbezahlbares Gemälde, das aufgespürt werden muss. Wenn ich darüber nachdenke, könnte es sogar sein, dass ich ein paar in meinem Keller habe …
Daisy
Das dritte Jahr im Medizinstudium ist ein Witz.
Meine praktische Zeit absolviere ich im Mary St. Angela.
Je nach Station sind die Praktika unterschiedlich lang – zuerst habe ich ein sechswöchiges Praktikum in der Psychiatrie gemacht, und das war anstrengender, als ich euch sagen kann. Dann ein vierwöchiges in der Familienmedizin – nicht viel besser.
Im Moment bin ich in der fünften Woche des sechswöchigen Blocks in der Geburtshilfe und Gynäkologie.
Die Tage sind lang und die Aufgaben undankbar, aber ich trage einen weißen Kittel und habe einen Piepser, das ist also ziemlich cool.
»Du hattest Sex«, sagt Eleanor Wells zu mir und mustert mich argwöhnisch mit ihren klugen saphirblauen Augen.
Ich verdrehe die Augen und lasse meine Tasche auf die Bank fallen, um nach einem Haargummi zu kramen. »Ich habe einen Freund, der quasi bei mir wohnt, es dürfte also keine große Überraschung sein.«
»Wie hast du momentan Zeit für Sex?«, schnaubt sie laut. »Als ich Studentin im dritten Jahr war, bin ich pausenlos mit einem intravenös mit mir verbundenen Bananenbeutel herumgelaufen. Die einzige Beziehung, die ich hatte, war die mit meinem Vibrator …« Sie nimmt mir den selbst gemachten Müsliriegel39 aus der Hand, den ich gerade esse, und isst ihn mit zwei Bissen auf. »Wie hast du Zeit für Sex?«
»Wie hast du keine Zeit dafür, El?«, fragt Warner (der typische Oberschichts-WPM40. Keine Ahnung, ob Warner sein Vor- oder Nachname ist. Hat sehr volles Haar, Augen wie Schwimmbecken, ist ein gewandter Gesprächspartner, und ich bin recht sicher – obwohl ich es nicht aus persönlicher Erfahrung bestätigen kann –, dass sein Penis erheblich kleiner ist, als sein Ego vermuten lässt.) »Es ist der wichtigste Teil des Lebens. Ohne würden wir alle sterben.«
»Kann es sein, dass du Sex mit Luft verwechselst?«, wirft Alfie Farran41 ein.
»Was ist dann mit Eunuchen?«, fragt Grace Pal42 und verschränkt die Arme vor der Brust.
Das sind meine Kollegen. Wir sind alle derselben F2-Ärztin zugeteilt, was mir zugutekommt, weil besagte Ärztin Eleanor Wells ist.
Die anderen mögen mich nicht sonderlich, weil ich eindeutig ihr Liebling bin. Unsere Beziehung wäre in akademischer Hinsicht höchstwahrscheinlich äußerst unangebracht. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie wir Freundinnen geworden sind – ich glaube, sie hat mitbekommen, wie ich mich im Treppenhaus mit Miguel gestritten habe, woraufhin sie mich fragte, ob er mich stalkt und ob ich Hilfe bräuchte, was ich lustig und irgendwie nett fand, und ihre unheilbare Schwäche für Süßigkeiten43 ließ sie mir liebenswert und deutlich weniger bedrohlich erscheinen, als man von einer Frau mit dem Aussehen von Olivia Munn erwarten dürfte.
Ich beschloss, was meine Familiengeschichte angeht, in dieser kleinen Gruppe die Karten auf den Tisch zu legen. Das gilt hauptsächlich für Wells, aber die anderen schnappen hier und da was auf, weil wir uns unterhalten, als wären sie nicht da.
»Ohne würden wir natürlich nicht buchstäblich sterben«, schnaubt Warner. »Offensichtlich.«
»Nur metaphorisch?«, frage ich und werfe Warner einen schiefen Blick zu, während ich nach meiner Tasche greife, um sie einzuschließen. Öffne meinen Spind, und etwas fällt mir entgegen.
Ich blicke auf meine Füße.
Ein Strauß Gänseblümchen.
»Oh!«, gurrt Eleanor. »Jemand hat dir Blumen geschenkt! Das ist aber süß …«
Ich runzle die Stirn. Gänseblümchen. Das ist neu.
»Was ist?«, fragt sie. »Magst du sie nicht?«
»Sind sie von dir?« Die Frage sprudelt wahrscheinlich zu schnell aus meinem Mund.
»Nein?« Sie lacht und hebt den Strauß auf. »Keine Karte.«
Sie zuckt leichthin mit den Schultern, so wie es normale Leute eben tun, weil für normale Leute Blumen einfach nur Blumen sind, aber mir erscheinen sie unheilvoll.
Ich blicke zum Rest der Gruppe. »Habt ihr irgendjemanden hier drin gesehen?«
Sie schütteln alle die Köpfe und sehen mich verwirrt an, weil sie normal sind, und ich habe die Befürchtung, dass ich es nie richtig sein werde.
Ich nehme Wells die Blumen ab und stopfe sie zurück in den Spind, hole mein Handy hervor und rufe Tiller an.
Die Mailbox geht dran.
»Hey, ich bin’s. Heute im Krankenhaus waren Gänseblümchen in meinem Spind. Hast du – ich weiß, du hast Nein gesagt, aber hast du? Weil – egal, ist wahrscheinlich ein Zufall. Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Ich wollte nur … Hab einen schönen Tag, ich liebe dich, tschüss.«
Ich lächle Wells an, um ihr zu beweisen, dass ich ruhig bin44, und sie lächelt zurück, ihr Mund ganz verschmiert von dem Dip Dab, das sie um neun Uhr morgens isst.
Zucker ist ihr Bewältigungsmechanismus für dieses Leben. Kein Schlaf.
Reiner Zucker und Koffein.
Wells greift nach den Kurvenblättern, die auf dem Tisch der Krankenpfleger liegen, wirft einen prüfenden Blick auf ihr Handy und vergewissert sich mit einem Blick über die Schulter, dass wir ihr alle folgen.
Sie muss Ende zwanzig sein. Aus einer wohlhabenden Familie. Das erkennt man an ihrer Körperhaltung. Gute Erziehung, tolle Eltern. Sie hat so viel Vertrauen zu sich und ihren Fähigkeiten, nicht nur als Medizinerin, sondern auch als Frau und Mensch, dass sie tolle Eltern gehabt haben muss. Keine Mutterkomplexe.
»Warum hast du so seltsam auf die Blumen reagiert?«, fragt sie, als sie den Kaffee entgegennimmt, den Alfie ihr hinhält. Ihn mag ich am liebsten aus der Gruppe. Er ist süß und ohne Witz sehr gut aussehend. Braune warme Augen, die sein Gesicht dominieren, klug, aber still, ein bisschen kriecherisch manchmal, bringt Wells ständig Kaffee und so, aber manchmal bringt er mir auch einen mit, deshalb will ich mich nicht beschweren. An Wells’ Stelle würde ich mit ihm ins Bett steigen. Aber kann sein, dass das verboten ist, keine Ahnung.
»Ich habe nicht seltsam auf die Blumen reagiert – aber sie waren einfach in meinem Spind. Wie sind sie da reingekommen?«
»Du hast also einen geheimen Verehrer.« Sie zuckt mit den Schultern. Vielleicht sind sie von dieser Patientin letzte Woche, mit der Eiterbeule an der Schamlippe, die du drainiert hast …«
»Fuck, ja.« Warner schüttelt den Kopf. »Dafür wollte ich dir selbst Blumen schenken.«
Ich starre sie beide finster an. »Das war verdammt ekelig, und dafür verdiene ich mehr als Gänseblümchen.«
»Ich meine, wir arbeiten eigentlich nicht für Ruhm und Ehre, aber – ja, nein. In dem Fall stimme ich dir zu.« Wells schenkt mir einen mitleidigen Blick und schnippt dann zweimal mit dem Finger. »Grace …«
Grace Pol sieht auf, ihr Blick aus den dunklen Schokoladenaugen wie immer etwas verwirrt. Ihr Gesicht erinnert mich an einen Zeichentrickfuchs, und ich kann mich nicht entscheiden, ob das nett ist oder nicht.
Wells wartet mit ausgestreckter Hand. Grace drückt ihr eine frisch geöffnete Tüte Jelly Tots in die Hand.
»Danke …« Wells bleibt vor dem Bett einer Ms Green stehen und nickt zu Grace. »Schieß los.«
»Ms Green, weiblich, 37 Jahre, wurde in der 36. Woche wegen Dehydration aufgrund einer Gastroenteritis vorstellig; in ihrer Geburtsgeschichte ist eine normale, spontane vaginale Entbindung im Jahr 2015 vermerkt. Ihre gynäkologische Anamnese …«
Für eine Zwölfstundenschicht vergeht der Tag relativ schnell. Ich liebe das Gefühl, meine Krankenhauskleidung auszuziehen, einerseits, weil sie am Ende des Tages meist echt ekelig ist und ich in saubere Klamotten schlüpfen kann, aber vor allem, weil es sich anfühlt, als hätte ich etwas Gutes und Lohnenswertes mit meinem Tag angestellt.
Ich hole meine Tasche aus dem Spind, schmeiße die Gänseblümchen in den Mülleimer und gehe raus Richtung Lobby. Ich krame gerade nach meinem Autoschlüssel, als ich mit meinem Freund zusammenstoße.
»Tills.« Ich blinzle ihn an. »Was machst du denn hier?«
Er hat diesen gestressten Gesichtsausdruck. »Das hier stand vor der Tür, als ich nach Hause gekommen bin.«
Er hält mir eine Schachtel hin und öffnet den Deckel.
Ein Haufen geschredderter Gänseblümchen.
Mir sinkt das Herz in die Hose.
»Kein Zufall.«
Tiller schüttelt den Kopf.
»Komm.« Er nickt zu seinem Auto. »Wir müssen gehen.«
»Wohin?« Ich runzle die Stirn, obwohl ich die Antwort bereits kenne.
Er sieht mich lange an. »Zu deinem Bruder.«
Julian
Unsere gemeinsamen Abendessen sind echt armselig geworden, seit meine Schwester sich aus dem Staub gemacht hat.
Wir bestellen uns jeden Abend was, aber es ist einfach nicht dasselbe wie ein selbst gekochtes Essen.
Heute Abend gibt’s Indisch, gut genug, schätze ich.
Ich musste nie ein Abendessen für irgendjemanden planen, deshalb tendiere ich dazu, zu viel zu bestellen.
»Hast du uns durchgezählt, bevor du bestellt hast?« Christian sieht mich an, und ich lasse den Blick durch den Raum wandern.
Christian holt die zehn Essenskartons mit Butter Chicken aus der Tüte.
»Wir sind zu acht«, sagt er, als er zudem fünf Lamm-Saagwala und vier Chicken-Korma auspackt.
Ich verdrehe die Augen, zucke mit den Schultern und setze mich.
Und dann geht dieser komische Ruck durch den Raum, und alle sind plötzlich still. Romeo versetzt mir unter dem Tisch einen Tritt.
In der Tür zum Esszimmer stehen meine kleine Schwester und ihr Bullenfreund.
»Ach was«, sage ich und lege meine Pistole auf den Tisch. Hoffe, dass sie es als echte Drohung aufnimmt, nicht als die leere, die es in Wahrheit ist. »Sieh an, was die Katze angeschleppt hat.«
Daisys Blick huscht durch den Raum, und sie zieht die Augenbrauen hoch. »Wie viel Essen hast du denn bestellt?«
Nervensäge.
»Die perfekte Menge.« Ich verschränke die Arme vor der Brust.
»Für wen? Ganz Kambodscha?«
Christian verkneift sich ein Lächeln.
Sie geht auf den Tisch zu – alle sind mehr oder weniger wie versteinert, als sähen sie einen Geist.
Rome weigert sich, ihr in die Augen zu sehen. Hasst sie noch mehr als ich. Also möglicherweise gar nicht.
Sie sieht sich das Essen auf dem Tisch genauer an. »Ist das von Karma Marsala?« Sie klingt schockiert.
»Ja.« Ich ziehe die Augenbrauen hoch.
»Warum bestellst du nicht bei Khan’s?«
»Weil Karma Marsala völlig in Ordnung ist.« Ich zucke mit den Schultern.
»Aber Khan’s ist besser«, wirft Kekoa ein.
»Stimmt.« TK nickt.
Ich verdrehe die Augen, und fuck, ich nehm’s zurück – ich hasse sie doch.
»Was machst du hier?«, frage ich und stehe auf.
Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, bemerkt dann aber LJ, der an meinen Füßen liegt.
»Hast du dir einen Hund angeschafft?« Sie eilt auf ihn zu.
»Nicht!«, warne ich. »Er ist ein Wachhund, Daisy. Er kann ziemlich aggressiv sein – hat’s nicht so mit Frem…«
Sie lässt sich auf den Boden fallen, um ihn zu streicheln, und er – der verfickte Verräter – rollt sich auf den Rücken, damit sie seinen beschissenen Bauch kraueln kann.
(»Das ist peinlich für dich«, flüstert Koa.)
»Er ist so süß!«, gurrt Daisy. »Wie heißt er?«
»LJ«, grunze ich und sehe finster auf die zwei hinab.
»Oh. Warum?«, sagt sie, ohne aufzublicken.
»Little Julian.« Klein Julian.
Jetzt blickt sie doch auf und runzelt die Stirn. »Du bist so ein verschissener Narzisst.«
»Bin ich nicht …«
»Warum gibst du ihm dann keinen richtigen Namen?«
»Das ist ein richtiger Name!«
»Nicht alles muss sich immer um dich drehen …«
»Er ist mein verfickter Hund!«, rufe ich lauter als nötig.
Sie steht auf und geht zurück zu Tiller, und dann – könnt ihr es glauben – trottet ihr dieser Bastard von einem Hund hinterher, mit wedelndem Schwanz und allem.
Ich hab mal gesehen, wie er einem korrupten Cop in Brasilien ein Ohr abgebissen hat.
»Was zur Hölle willst du hier?«, frage ich laut – ignoriere die Blicke, die mir von der Hälfte der Jungs zugeworfen werden, weil ich in diesem Ton mit ihr rede.
Sie stellt sich vor Tiller, schützt ihn mit ihrem Körper.
Wahrscheinlich klug. Ich weiß, dass Rome ihn sofort kaltmachen würde, wenn ich ihm die Möglichkeit gäbe.
»Schickst du mir Blumen?«, fragt sie.