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Die Geschichte der Zivilisation ist eine Geschichte von Kriegen, Gewalt und Gräueln. Sie ist aber auch eine Geschichte der Religion und der Religionskultur. Wie geht beides zusammen? Hat das eine etwas mit dem anderen zu tun? Ist Gewalt mit (verfasster) Religion untrennbar verknüpft oder ist sie nur ein Vehikel für Macht, die Gewalt anwendet und Kriege führt? Ein Blick in Geschichte und Gegenwart scheint Antworten nahezulegen. Gibt es Wege aus dem Dilemma? Welche Rolle spielt Religion heute? Welche Rolle können Aufklärung und säkulares Denken spielen? Was sagt uns die »Urkatastrophe« des Ersten Weltkriegs und was bedeuten die Konflikte und Kriege der Gegenwart? »Habe Mut zu denken!«, forderte Immanuel Kant. Die Aufforderung ergeht an uns alle.
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Seitenzahl: 144
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Gerd Ossenbrink, geboren 1943,
katholisch sozialisiert, Schüler in einem Ordensinternat und Abitur an einem Jesuitengymnasium, Lehrer und Schulleiter a. D., ehem. Kommunalpolitiker, Öffentliche Interventionen in gesellschaftlichen Diskursen.
Statt eines Vorworts
Sapere aude!
Ein (unfrommer) Wunsch?
Der »kindliche« und der »numinose« Gott
Prägung
Konversion
»Tötet die Ungläubigen!«
Die Letzten?
Rettung?
Religion und Ethnie
Der Krieg
Die Urkatastrophe
Ganz gewöhnlich
Die Erniedrigung
Literaturverzeichnis
Zum Weiterlesen
Abbildungsnachweis
»Bei sozialen Differenzierungen setzt Religion ein Merkmal absolut: Glauben, alle anderen Unterschiede sind daran gemessen unerheblich. Den ›Ungläubigen‹ wird der Status des Menschseins abgesprochen. Religionen können Brücken zwischen den Menschen bauen; zugleich reißen sie neue, religionsbestimmte Abgründe zwischen den Menschen auf, wo keine waren. Weltreligionen überwinden soziale Hierarchien und Grenzen zwischen Nationen und Ethnien. Daraus entsteht allerdings die Gefahr, statt der ethnischen, nationalen und Klassenschranken Barrikaden zwischen Rechtgläubigen und Falschgläubigen bzw. Nichtgläubigen zu errichten.«
Ulrich Beck, Soziologe
»Immanuel Kant war noch davon überzeugt, dass die ihm nachfolgenden Generationen entweder in einem ›aufgeklärten Zeitalter‹ oder zumindest in einem ›Zeitalter der Aufklärung‹ leben würden, es wäre ihm kaum in den Sinn gekommen, dass die Menschheit 200 Jahre nach seinem Tod auf ein ›Zeitalter religiöser Gegenaufklärung‹ zusteuern könnte, in dem Gotteskrieger verschiedener Couleur den Takt vorgeben, nach dem die gesellschaftlichen Verhältnisse zu tanzen haben. Doch genau mit dieser Gefahr sind wir heute konfrontiert.«
Michael Schmidt-Salomon, Philosoph,evolutionärer Humanist und Schriftsteller
Die beiden folgenden Zitate verlangen nach einer kurzen Erklärung. Sie stammen von Andreas Altmann. Er ist erfolgreicher Reiseschriftsteller, leidvoll katholisch sozialisiert in Altötting, heute Humanist und vehementer Gegner der drei monotheistischen Religionsvettern Judentum, Christentum und Islam und aller anderen Religionen. Er hat den klaren Blick für die Absurditäten der beobachteten Religionspraktiken bei den Rechtgläubigen und ihren sektiererischen Ablegern bei seiner Reise durch Palästina, dem »Verfluchten Land«. Es ist zum Heulen und es ist doch so grotesk, dass man schmunzeln muss, für einen kleinen Moment. Zwei Begebenheiten von seiner Reise:
»Als ich Kaffee bestelle, gibt es ihn nur schwarz. Denn, so lerne ich, Fleisch und Milch dürfen nicht zusammen konsumiert werden, dürfen sich nicht im selben Raum aufhalten. So steht es in der Thora, dem ›Wort Gottes‹. Vor dem Restaurant könnte ich den Kaffee mit Milch trinken. Ich wandere mit der Tasse und dem Mac in die Bar. Hier erlaubt es Jehova. Wie sagte es Einstein, der Göttliche, der Jude: ›Jeder Idiot kann die Dinge kompliziert machen. Das Geniale ist es, sie zu vereinfachen.‹«
Über die Begegnung mit einer 26-jährigen Finnin, Angehörige einer amerikanischen evangelikalen Kirche, der »pentacostal christian church« (Pfingstbewegung mit ca. fünfhundert Millionen Mitgliedern) berichtet er:
»Soila hat Krankenschwester gelernt und gerade einen ›bible study course‹ in Jerusalem hinter sich, und redet genau wie jemand, dem frisch das Gehirn gewaschen (beschmutzt?) wurde. Kostproben: Israel ist hier der Meister, weil Gott den Juden das Land (sie meint Gesamtpalästina) geschenkt hat. So steht es geschrieben und so ist es auf ewig wahr. Und wer Jesus nicht als seinen Erlöser anerkennt, der wird in die Hölle fahren. Denn jeder hat heute die Chance, ihn zu erkennen, auch ein Muslim im hintersten Arabien. Denn er sieht ja fern und erfährt somit vom Retter der Welt. Wenn er nur will. Ja, Jesus hat sich für uns geopfert, hing am Kreuz für unsere Sünden, ja, keine andere Religion hat einen so lieben Gott.«
So stelle ich es mir vor: Eine religiöse Kultur der aufgeklärten Moderne ist integraler Bestandteil der europäischen Kultur. Sie ist nicht mehr durch Irrationalität und Inbrunst gekennzeichnet, sondern durch Humanität, intellektuellen Reichtum, Vielstimmigkeit und Ästhetik. Sie löst bei aufgeklärten Menschen kein Befremden aus, da sie nicht dogmatisch, sondern pragmatisch handelt.
Religiöse erscheinen wie Sinnsucher, die mit einem Zauberstab, sagen wir, mit einer spirituellen Wünschelrute unterwegs sind. Sie schlägt sofort aus, wenn sie auf großes Glück oder großes Unglück stoßen. Es zeigt ihnen das Wirken Gottes an. Da diese Wünschelrute aber nicht bei allen Menschen ausschlägt, kann es sich aus ihrer Sicht nur um einen Mangel an Befähigung handeln oder es liegt am falschen Suchinstrument.
Es muss eine Konversion geben, wie immer das geschehen kann: Weg vom irrationalen Denken hin zu aufgeklärtem Wissen und Handeln. Dem steht der weltweit fortschreitende religiöse Fundamentalismus entgegen.
Ohne Totenkult und Jenseits-Erwartung leben wir weiter in unseren Nachkommen und in unseren Werken, seien sie groß oder klein und in freundlichen, gutmenschlichen Erinnerungen.
»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«
Immanuel Kant (1724 – 1804),Philosoph und Aufklärer
Als das erste Fahrzeug auf dem Mond landete, funkte Neil Armstrong den berühmt gewordenen Satz: »Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein riesiger Schritt für die Menschheit.« Das war im Überschwang des Glücksgefühls gesagt, eine technologische Großtat erfolgreich zum Abschluss gebracht zu haben und die Menschheit erstmals von außerhalb auf ihre kleine, blaue Erdenschönheit blicken lassen zu können.
Immanuel Kant, der Philosoph aus Königsberg, der in seinen achtzig Lebensjahren diese Stadt nie verlassen hat, hat der Menschheit einen noch größeren Sprung ermöglicht, den zum uneingeschränkten Gebrauch der Vernunft, des freien Denkens, weg von göttlichen Geboten oder heiligen Schriften, die ihm vorschreiben, was er tun soll. Er hat den Menschen als Selbstgesetzgeber an die erste Stelle gerückt. Das war zu seiner Zeit grundstürzend gedacht und brachte ein religiöses Weltbild zum Einsturz. Die heiligen Schriften oder heiligen Texte sind keine göttlichen Dogmen, denen man bedingungslos zu folgen hat. Erst kommt die Moral, zu der der Mensch kraft seines Verstandes fähig ist, dann kann auch Religion da sein. »Religion ist ein ›Fetischdienst‹, der immer und überall dort anzutreffen ist, wo nicht Prinzipien der Sittlichkeit, sondern Statuten, Gebote, Glaubensregeln, Dogmen und kirchliche Kontrolle die Grundlage und das Wesentliche der Religion bilden und dabei für den Menschen zur Fessel werden.«
Dieses Fazit seines langen Philosophenlebens hat alle Religiösen aufs Höchste aufgebracht, so dass selbst der preußische König Friedrich Wilhelm II., Seine Majestät von Gottes Gnaden, Kant per Edikt das Denken und Schreiben verbieten wollte. Der preußische König war auch Oberhaupt der protestantischen Kirche. Umsonst, Kant ließ sich nicht verbiegen und das Denken ließ sich nicht mehr aufhalten. Es hatte freilich bereits dreihundert Jahre zuvor begonnen, als die großen Denker, Wissenschaftler und Künstler in der Zeit der Renaissance die griechische Antike um 550 v. Chr. wiederentdeckten und ein neues Welt- und Menschenbild ermöglichten. Um 1500 n. Chr. war die katholische Kirche mächtig, ein monolithischer Block, der sich gegen jedes ketzerische Gedankengut mit allen Mitteln zur Wehr setzte. Viele Voraufklärer haben das mit dem Leben bezahlt oder sie wurden aus der Kirche ausgeschlossen, was einem Femeurteil gleich kam. Ein solcher Denker war der Dominikanermönch Giordano Bruno, der sich vom monotheistischen Weltbild einer von Gott bewirkten Schöpfung abwandte und der an das Jenseits der Dogmatiker nicht länger glauben mochte. Ein »Jüngstes Gericht« schloss er aus. »Lachhaft zu sagen, außerhalb des Himmels sei nichts. Es gibt nicht eine einzige Welt, eine einzige Erde, eine einzige Sonne, sondern so viele Welten, wie wir leuchtende Funken über uns sehen.« Man könnte es fast modernes astronomisches Denken nennen, es stellte damals Dogmen und Kirchenmacht in Frage und so wurde er zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt und am 17. Februar 1600 in Rom verbrannt, nicht ohne noch abschreckend zu zeigen, wodurch er »gesündigt« hatte, nämlich durch seine Worte. Also wurde ihm die Zunge festgenäht. In irdischen Strafen waren Gottgläubige immer sehr erfinderisch.
Der Siegeszug der Aufklärung ließ sich nicht aufhalten, der frühe englische Aufklärer John Locke legte seinem König erstmals eine Toleranz in religiösen Fragen nahe, viele weitere sind zu nennen: Jean-Jacques Rousseau, der die Vernunft-, Lern- und Gesellschaftsfähigkeit des Menschen hervorhob, Voltaire, der ein Gegner der »statutarischen« Religionslehre des Monotheismus war und der sich einen »befreiten« Monotheismus vorstellen konnte, Moses Mendelssohn, der für aufgeklärte Menschen Bildung als das Maß und Ziel aller Bestrebungen postulierte, besonders aber auch Thomas Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Erklärung der Menschenrechte. Auch die erste Frau, die die Freiheit der Frauen einforderte, soll hier genannt werden. Sie heißt Olympe de Gouges. 1784 schreibt sie einen Roman, in dem sie ihre eigene Geschichte der Unterdrückung als Frau verarbeitet. Später ergreift sie Partei für schwarze Sklaven, prangert Unmenschlichkeit bei den weißen Kolonialherren an und beruft sich dabei auf die »natürlichen« Rechte jedes Menschen, für ihre Zeit ein unerhörter Gedanke. Sie fordert schließlich die Abschaffung der Sklaverei gegen alle kirchliche Autorität. »Die Menschen sind überall auf der Welt gleich«, schreibt sie. Sie macht sich natürlich die feudalen Kolonialherren zum Feind, gerät in die Wirren der französischen Revolution, bleibt ihrem aufklärerischen Denken treu, widersetzt sich dem düsteren Terror der Jakobiner, die den aufklärerischen Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in sein Gegenteil verkehrten, und wird schließlich verhaftet und zum Tod durch die Guillotine verurteilt. Der gaffenden Menge ruft sie noch zu: »Kinder des Vaterlandes, ihr werdet meinen Tod rächen!«
Ein Geschichtsexkurs in einer solchen Betrachtung? Wenn man verstehen will, wie weit wir sind in unserer Zivilisationsgeschichte und ob die Aufklärung gesiegt hat oder ob es nur eine »halbe« Aufklärung gewesen ist, ist der Rückblick notwendig und hilfreich. Wir sehen, gewonnen ist der »Kampf um die Köpfe«, besser gesagt um den ganzen Menschen mit allen seinen Facetten noch nicht. Es steht vieles dagegen, aber es ist auch vieles möglich, nämlich frei zu denken, zu reden und sogar zu schreiben. Das ist der große Sprung, den Aufklärung möglich gemacht hat. Jemand kann heute im katholischen Milieu sozialisiert worden, durch ein katholisches Ordensinternat und eine Jesuitenschule gegangen sein und als »vom Glauben zum Wissen« gekommener Erwachsener weiterhin Kirchenmitglied und Kirchensteuerzahler sein und, mit Verständnis für alles Religiöse, dennoch religionsfrei leben. Die christlichen Kirchen in Deutschland sind in ihrem heutigen Verständnis, alle dogmatische Engführung einmal beiseite lassend, die letzten Zufluchtsorte für menschliche Not, für praktizierte Nächstenliebe und für emphatische Zuwendung zum Menschen. Sie unterhalten die größten Hilfswerke der Menschheitsgeschichte. Auch der religionsfrei Lebende teilt die Ethik des Humanen, die heute von den Kirchen praktiziert wird. Aller Dogmatismus ist überflüssig, nicht aber eine Spiritualität, die aber auf das Diesseits bezogen sein muss und die eine Sinngebung für das schwierige Leben im Hier und Jetzt ermöglicht. Es geht um die würdevolle Existenz in unserem Biotop Erde.
Bis die durch die Schule der Aufklärung gegangenen christlichen Religionen des Westens sich auch zu dieser Würde bekennen konnten, wurde von den Inhabern der gottverliehenen Macht gekämpft, verketzert, indiziert, ausgeschlossen und verbrannt, in welcher der beiden christlichen Kirchen mehr, möchte ich nicht entscheiden und überlasse das dem kundigen Leser.
Heute gibt es die Mischformen des Religiösen in den westlichen, aufgeklärten, säkular und laizistisch verfassten Gesellschaften. Die moderne Welt ist unübersichtlich und lässt sich kaum noch gedanklich ordnend in den Griff bekommen. Die islamische, buddhistische, hinduistische und sonstige polytheistische Welt mit unzähligen Ablegern und Sekten einmal vereinfachend beiseite lassend, was eigentlich völlig überheblich ist bei ca. drei Milliarden Menschen in diesen Weltreligionen, komme ich zu dem Bild des Religiösen, der religiösen Praktiken in unseren Ländern. Es gibt Kirchen mit dogmatischer, »statutarischer« (Kant) Lehre und einer diese lehrenden Priesterschaft sowie einer sie glaubenden und mehr oder weniger streng praktizierenden Anhängerschaft mit noch intakten, festen Bindungen. Im Westen lässt sie stark nach, in der Bundesrepublik sind jeweils achtundzwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung Mitglied in einer der beiden Großkirchen. Es schwankt in den europäischen Ländern sehr stark, wird aber überkompensiert in den Ländern Südamerikas und den neuen christlichen Ländern Afrikas und Asiens. Hier haben die christlichen Kirchen, vor allem die römisch-katholische Kirche, großen Zulauf. In den »alten« christlichen Ländern Europas, insbesondere in Deutschland, ist der größere Teil der Kirchenmitglieder nicht mehr gläubig im streng orthodoxen Sinne, lebt weitgehend religionsfrei mit lockerer Bindung an die Kirche, festhaltend an den überkommenen Riten bei Taufen, Hochzeiten oder Begräbnissen, also ohne sich vollständig durch Austritt zu lösen. Die Religiösen begeben sich auf die Suche nach dem »eigenen Gott« (Ulrich Beck), der natürlich dem gelernten Bild des monotheistischen christlichen Gottes nicht unähnlich ist, inbegriffen der Glaube an und die Hoffnung auf das Jenseits und einen Gott, der unmittelbar eingreift und regelt. Diese Kirchenmitglieder sind eigentlich ein Widerspruch, aber ein auszuhaltender in der neuen Unübersichtlichkeit. Vielleicht sollte man sie »religionsabstinente Gläubige« nennen. Selbst rechnen sie sich häufig zu den Agnostikern, d. h. sie sind nach vielen Seiten offen; ein Spötter hat das »undicht« genannt.
Religionsfrei ohne Kirchenanbindung leben in Deutschland über dreißig Prozent der Bevölkerung, aber nur etwa 35.000 Menschen bekennen sich auch dazu oder sind als Religionsfreie in irgendeiner Weise organisiert. Sie gehen offensiv gegen orthodoxe Weltbilder und fundamentalistische religiöse Haltungen an und gegen die Indoktrinierung und Einflussnahme der Großreligionen in der demokratischen Gesellschaft.
Ein Blick in unsere Verfassung zeigt indes, dass es nicht ganz unberechtigt ist, von »halber« Aufklärung (Michael Schmidt-Salomon) zu sprechen.
»Im Bewusstsein vor Gott und den Menschen hat sich das Deutsche Volk dieses Grundgesetz gegeben«, so beginnt die Präambel unseres Grundgesetzes. Entsprechende Formeln, die nicht säkular oder aufgeklärt klingen, finden sich in dreizehn Landesverfassungen, beispielhaft zitiere ich aus der Verfassung Baden-Württembergs: »Im Bewusstseinvor Gottund den Menschen…« usw.
Art. 12 Die Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott und im Geiste der christlichen Nächstenliebe zu erziehen.
Art. 15 Die öffentlichen Volksschulen (Grund- und Hauptschulen) haben die Schulform der christlichen Gemeinschaftsschule.
Art. 16 In christlichen Gemeinschaftsschulen werden die Kinder auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte erzogen.
Unsere Verfassung will indes auch religiös und weltanschaulich neutral sein. Der Art. 4 unseres Grundgesetzes definiert die Religionsfreiheit. Darauf berufen sich die Religiösen wie auch die Religionsfreien. Er lautet:
Art. 4.1 Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
Art. 4.2 Die ungestörte Religionsausübung ist gewährleistet.
Das sind die Vorgaben für eine »offene Gesellschaft«, die sich multiethnisch, multikulturell und multireligiös bzw. religionsfrei weiterentwickelt hat. Es muss ein Widerspruch von realitätsfernem Anspruch und Wirklichkeit entstehen, denn wie soll alles christlich vorgegeben sein und gleichzeitig bekenntnisoffen oder gar bekenntnisfrei geregelt werden können? Bizarr allerdings wird es, wenn in Schleswig-Holstein im Jahre 2014 die Christlich Demokratische Union (CDU) eine Initiative gestartet hat, um den Gottesbezug in die Landesverfassung aufzunehmen, in der er bisher nicht steht. Die erforderliche Zweidrittel- Mehrheit wird es nicht geben, aber man hat religiös Flagge gezeigt und hofft auf die Stimmen der Christen. Man muss von Heuchelei sprechen.
Innerhalb dieses Verfassungsrahmens laufen die Auseinandersetzungen zwischen den religiös angedockten Mehrheiten und den religionsfernen Minderheiten um gesetzliche Regelungen, um Sonderregeln für die Kirchen, um große Fragen wie z. B. Abtreibung, Sterbehilfe, Gleichstellung von Homosexuellen und andere mehr. Die Auseinandersetzungen werden sehr ernsthaft, aber auch erbittert geführt. Als 2013 ein Kölner Amtsrichter die Beschneidung eines muslimischen Jungen als eine rechtswidrige Körperverletzung verurteilte, war der Aufschrei der Religiösen groß und wurde erstmalig von den Anhängern der drei Monotheismen synchron vorgetragen: »Angriff auf die Religionsfreiheit«, »Verletzung des Elternrechts auf religiöse Erziehung« und ähnliche Argumente wurden medial ins Feld geführt. Der Gesetzgeber war gefordert und er traf eine Regelung zugunsten der Religionen, vornehmlich der jüdischen und der islamischen, denn hier ist die Beschneidung des Jungen das vorgeschriebene Religionsbeitrittsritual, seit Jahrtausenden so praktiziert. Es ist ein blutiger, schmerzlicher und nicht rückholbarer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes. Meine Hoffnung war es, dass die Vertreter der beiden betroffenen Religionen freiwillig diesen dreitausendjährigen blutigen Akt durch eine symbolische Handlung ersetzt hätten. Es wäre ein Schritt hin zu einer »aufgeklärten« Form der religiösen Praxis, einem säkularen Staat angemessen. Die Orthodoxen haben das weit von sich gewiesen. Der Gesetzgeber hat den Eingriff nunmehr als rechtmäßig erklärt, mit einer deutlichen Mehrheit. Man sagt, der Religionsfrieden wurde als ein hohes Rechtsgut gewahrt. Meine abweichende Meinung habe ich einigen Abgeordneten der Partei, der ich meine Stimme gegeben habe, schriftlich mitgeteilt. Ich schrieb, dass der Abgeordnete B. eine flammende Verteidigungsoder Rechtfertigungsrede für diesen barbarischen tausendjährigen Akt gehalten hat und dass er die »Argumente« der Theisten eins zu eins als richtig und nicht hinterfragbar hinnimmt: Gott habe diesen Bund geschlossen und als Zeichen dafür die Beschneidung am achten Tage »angeordnet« (jüdisch). Welch ein Schlag wider die Vernunft und die Aufklärung! Völlig unbeeindruckt nimmt der Abgeordnete B. eigenmächtig eine Grundrechtsabwägung vor, wie sie nur unserem Verfassungsgericht zusteht. Seiner Meinung nach ist die Religionsfreiheit und das Bestimmungsrecht der Eltern bei dieser Vorhautabtrennung, die er eine Petitesse für das Kind nennt, höher einzustufen als das Kindesrecht auf körperliche Unversehrtheit, auf das Fernhalten von unnötiger Schmerzzufügung und das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen. Allen Kritikern empfiehlt der Abgeordnete die Lektüre der Bibel, so weit, so schlecht.
In den Schulen ist der Einfluss der Kirchen besonders groß und für die »Körperschaften des öffentlichen Rechts«, was sie rechtlich sind, sehr wichtig, findet