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Paul K. will sich an seinem freien Tag überraschen lassen. Bei der Verfolgung einer mysteriösen Frau in Rot gerät er in eine Verschwörung, deren Mitglieder per Nekromantie versuchen, sich in die Geschichte einzumischen. Ein geheimnisvoller englischer Lord und ein deutscher Diktator sind ebenfalls von der Partie. Eins ist sicher, am Ende ist Paul K. überrascht.
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Seitenzahl: 193
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Für meine Eltern.
INDIEN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
ROT
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
DREIUNDDREISSIG
WAS
DREI IM SOMMER
TREFFEN AM ROTEN BAUM
VOR DEM WINTER
ULYSSES
Der Herr im karierten Jackett denkt angestrengt nach. Denkt Asha. Blickt kurz in den Spiegel. Dann Konzentration auf das leicht fettige, schwarze Haar. Schuppen blinken wie Sterne im Kosmos.
»Der Herr. Eine Haarwäsche?«
»FAKIRE! Sitzen auf Nagelbrettern und flöten RIESENKOBRAS aus Körben.« Der Mann im karierten Jackett kichert.
»Der Herr. Eine Haarwäsche?«
»Und GURUS. Waschen sich nur im Ganges. Hab mal gehört, einer dieser Gurus hätte jahrzehntelang nichts gegessen. Und nichts getrunken. Aus medizinischer Sicht völlig unmöglich.«
»Sie sind Mediziner?«
»Nein. Aber das weiß doch jedes Kind. Nach ein paar Tagen ohne Wasser stirbt man. Sonst müsste man in der SAHARA nicht verdursten, wenn man nichts zu trinken bräuchte. Weiß zwar nicht genau, wie das beim Essen ist, aber da ist irgendwann auch Schluss. Wenn man ganz ohne Essen auskommen könnte, würden die Kinder in AFRIKA nicht verhungern. Ist doch logisch. Oder?«
»Hm. So wird’s sein. Und die Haarwäsche?«
Der Herr im karierten Jackett blickt Hilfe suchend zu der älteren Dame zwei Stühle weiter.
Doch die ist in ein Magazin vertieft. Er kommt nicht auf den Namen der jungen Frau auf dem Titelblatt. ›Thronfolgerin spurlos verschwunden‹. Steht dort. Darunter: ›Ist die Liebe schuld?‹
»Die Haarwäsche?«
»Wie viel?«
»23.«
Der Herr im karierten Jackett denkt erneut angestrengt nach. Denkt Asha. Sie hofft, nicht über Indien.
»Warum heißt Bombay eigentlich jetzt Mumbai?«
INDIEN!
»Und warum heißen die Menschen in Indien nicht Indianer.« Die ältere Dame leicht gereizt vom Stuhl zwei weiter. Legt das Magazin beiseite und zupft sich am frisch blondierten Haar.
»Weil die Indianer schon alle in Amerika leben.« Asha schmunzelt über Paul K.s Bemerkung.
»Die Ureinwohner in Amerika heißen deshalb Indianer, weil Columbus dachte, dass er nicht Amerika, sondern Indien entdeckt hätte.« Der Herr im karierten Jackett. »Und außerdem sagt man heute nicht mehr Indianer. Die Ureinwohner in Amerika, also die Indianer, finden, dass das diskriminierend ist.«
»Warum?«, fragt die ältere Dame vom Stuhl zwei weiter. »Ich finde Indianer schön.«
»Das weiß ich nicht. Ich habe das gelesen. Die Indianer von heute finden die Bezeichnung Indianer nicht mehr gut. Man sagt ja heute auch nicht mehr Neger. Die früheren Neger, also die heutigen Schwarzen, fanden Neger auch nicht mehr gut.«
»Als ich jung war, nach dem Krieg, da haben alle Neger gesagt. Meine Mutter hat, als die Margarethe, eine Nachbarin von uns, einen Neger geheiratet hat, also einen amerikanischen Soldaten, der ein Neger war, sie hat gesagt, die hat jetzt einen Neger. Der Neger hieß Ben und war ein schöner Mann. Ein SEHR schöner Mann. Also ich finde Neger nicht schlimm. Ich denke bei Neger immer an Ben.«
»Außerdem sagt man heute auch nicht mehr Schwarzer.«
»Und was sagt man heute?«
»Weiß nicht genau. Ich glaube Farbiger. Aber das kann sich auch schon wieder geändert haben. Heute sagt man zum Beispiel auch nicht mehr Eskimo. Oder Zigeuner.«
»Also ich sage zu den Eskimos Eskimo und zu den Zigeunern Zigeuner. Ich weiß gar nicht, wie ich sie sonst nennen sollte.«
»Und warum heißt denn nun Bombay heute nicht mehr Bombay, sondern Mumbai?«
»Wahrscheinlich, weil die in Bombay nicht mehr gemocht haben, dass ihre Stadt Bombay heißt. Vielleicht ja auch wegen der Diskriminierung.«
»Ist doch egal.« Paul K. mustert sein Spiegelbild. »Namen sind Schall und Rauch. Morgen ändert sich sowieso wieder alles.«
Paul K. zieht seinen Mantel über und geht hinaus auf die Straße. Lass dich überraschen. Denkt er. Er stellt den Kragen seines Mantels auf. Es ist Anfang Oktober und ein kühler Wind weht. Er geht die Straße hinunter zu einer Kreuzung. Autoverkehr strömt an ihm vorüber und er hat Mühe, über die Straße zu kommen. Da keine Ampel in der Nähe ist. Er schafft es. Und. Geht weiter. In seinen Gedanken: Lass dich überraschen. In seinem Innersten, das weiß Paul K. genau, ist er dazu entschlossen. Sich überraschen zu lassen. Auch, wenn er die Gegend kennt. Egal. Er hat einen freien Tag. Er hätte lesen können. Einen Film gucken. Oder einfach nur auf dem Sofa liegen und vor sich hinstarren. Wie er es manchmal tut. Heute aber. Nein. Heute wird er sich überraschen lassen.
Paul K. ist mit seinem bisherigen Leben unzufrieden. Das ist jedenfalls das Gefühl, welches ihn seit einiger Zeit beherrscht. Er ist Anfang 40. Sein Vater hat nicht nur einmal zu ihm gesagt: ›Ein Mann muss in seinem Leben drei Dinge tun: Ein Kind zeugen, einen Baum pflanzen und ein Buch schreiben.‹ Paul K. hat keines dieser Dinge getan. Er hat kein Kind gezeugt. Was er bedauert. Was er WIRKLICH bedauert. Immerhin, so denkt er, er hat ja noch Zeit. Einen Baum hat er auch nicht gepflanzt. Auch kein Buch geschrieben. Er hat eine Menge in seinem Leben geschrieben. Anschreiben, Berichte, Analysen. Aber kein Buch. Paul K. findet: eine ziemlich magere Bilanz. Seines Lebens. Zumindest, wenn man die Lebensregel des Vaters zugrunde legt.
Einen Job hat Paul K. Er arbeitet als Sachbearbeiter bei einer großen Versicherung. Er tut diesen Job gern. Nicht mit Leidenschaft. Aber gern. Dieser Job verleiht Paul K.s Leben Struktur. Wenn er ihn nicht hätte, da ist er sich sicher, hätte sein Leben keine Struktur. Und Struktur ist die Klammer, die sein Innerstes zusammenhält. Wenn er abends aus dem Büro in seine Wohnung zurückkehrt, hält er sich an einen festen Plan. Um Struktur aufrechtzuerhalten. Denn er weiß, wenn er das nicht tut, schließt er die Welt mit dem Wohnungstürschlüssel hinter sich ab. Täglich bringt er seinen Haushalt in Ordnung. Wäsche waschen, Staub wischen. Den Boden von Fusseln befreien. Später Abendbrot. Danach blättert er in Büchern. Sieht einen Film. Denkt nach. Struktur. Auf jeden Fall. Aber auch leicht zerreißbare Oberfläche. Denn hinter der Oberfläche brechen Tagträume wie riesige Betonblöcke durch die Struktur. Seine Welt. Er mag diese Welt. Die Welt seiner Träume. Seiner Fantasie. Er weiß, diese Träume helfen ihm aufrecht zu gehen. Doch ohne Struktur würden sie sein Innerstes zum Einsturz bringen. Ein zweischneidiges Schwert, wenn er diese Metapher anbringen darf. Denn der Zweifel bleibt. Bei ihm. Ob diese eigene Welt gut oder schlecht für ihn ist.
Wenn gut, könnte er dieses Leben bedenkenlos weiterleben. Wenn schlecht, dann sollte er sich langsam Gedanken machen. Aber das macht er ja. Sagt er sich. Deshalb hat er sich einen freien Tag genommen. Um nachzudenken. Und er denkt an den Ausgangspunkt. Also den Punkt, an dem er beschlossen hat, einmal gründlich über alles nachzudenken. Am Abend. Gestern. Er blätterte gerade in einem Buch. Doch. Nach einer Weile verschwammen die Zeilen vor seinen Augen.
Der Grund dafür: eine Idee. Paul K. konnte die Idee zunächst nicht greifen. Er legte das Buch zur Seite und starrte auf ein Bild an der Wand. Ein Turm. Irgendwo in der Wüste des Jemen. Vor blauem Himmel. Eine Wolke wölbt sich über den Zinnen des Turms. Sein (zugegeben) blumiger Gedanke: er, der Turm in der Wüste. Die Wolke, also die Idee, über dem Turm. Und. Die Idee war: Lass dich überraschen. Komische Idee. Na klar. Will man das nicht jeden Tag? Überrascht werden? Er war sich nicht sicher. Egal. Fand (zu diesem Zeitpunkt) Paul K. Er schob die Bedenken beiseite. Denn bei dem Gedanken an diese Idee geriet er in Hochstimmung. In euphorische Hochstimmung.
Zunächst. Am darauffolgenden, also diesem Morgen: Die Realität öffnet sich als Tür in ein Büro. Am Ende des Raumes ein Schreibtisch aus Glas. Aufgeräumt. Dahinter Herr L. auf einem CHEFSESSEL. Entspannt zurückgelehnt, die Beine übereinander geschlagen. Eine Zeitschrift auf dem Schoß, die Lesebrille auf der Nasenspitze. An der Wand hinter ihm ein Bild von Ali Kurt Baumgarten. Ein Frühwerk. Das Telefon klingelt. Blick über die Lesebrille zum Telefon. Herr L. zieht HÖRBAR die Luft ein. Klappt die Zeitschrift zu, zieht den Stuhl an den Schreibtisch, legt die Zeitschrift darauf, ein Finger zwischen den Seiten als Lesezeichen und nimmt den Hörer ab.
L: »L.«.
R.: »Guten Morgen Herr L.«.
L: »Guten Morgen Frau R.«.
R.: »Herr L. Herr K. ist am Telefon und würde Sie gern sprechen. Soll ich durchstellen?«
L: »Herr K.? – Ach der. Ja bitte Frau R.«
L: »Ja L.«
K: »Guten Morgen Herr L. Hier ist K.«.
L: »Guten Morgen Herr K.«.
K: »Herr L., ich würde heute gern einen freien Tag nehmen. Sie können sich’s vielleicht denken. Mein Rücken. Wieder mal plötzlich. Bin kaum aus dem Bett gekommen«.
L: »Hm. Ja. Sie Ärmster. Wieder der Rücken?«
K: »Ja, wieder der Rücken.«
L: »Sie müssen unbedingt deswegen zum Arzt.«
K: »Ja, unbedingt. Muss es mir endlich einmal vornehmen. Ich denke, Montag bin ich aber wieder fit. Wenn nicht, gehe ich dann gleich zum Arzt.«
L: »Gut. Werde Frau R. Bescheid sagen. Dann ein erholsames Wochenende.«
K: »Danke. Ebenfalls.«
L: »Und schonen Sie sich.«
K: »Danke. Werd’ ich beherzigen.«
Ging leichter als gedacht.
Ging wirklich leichter als gedacht. Und jetzt? Da liegt er nun. Vor ihm. Ein unbekannter Tag. Ein Tag ohne Verpflichtungen. Ein Tag am Meer. Aber. Auch ein Tag ohne Struktur. Egal. Jetzt aber mal los. Lass dich überraschen. Paul K. pfiff auf dem Weg in die Küche ein Lied. Aus der duftete es verführerisch nach Kaffee.
Nun. So viel sei verraten. Paul K. wird überrascht sein. Denn dieser Tag veränderte sein Leben. Das Leben, das er kennt und von dem er glaubt, es sei wie immer (trotz der erwarteten Überraschung). Aber dieses Leben ist vorbei. Er wird, doch das weiß er zu diesem Zeitpunkt nicht, er wird tatsächlich überrascht sein.
Doch der Reihe nach. Paul K. biegt in eine Straße, die er gut kennt. Die Straße trägt den Namen: Stephen W. Hawking-Straße. Er liest den Namen und das Universum öffnet sich. Er sieht Galaxien. Und die Sterne darin. Milliarden von Sternen. In diesen Galaxien. Milliarden von Planeten, die um diese Sterne kreisen. Damit logisch: Milliarden von Möglichkeiten. Er sieht den Urknall, Zündfunken im Nichts, der GROSSE FINGERSCHNIPSER. Er denkt an Multiuniversen und die Zeit, die sich nicht verhält, wie er denkt. Aber die Bilder zerstieben wie springendes Glas. Der Gedanke verfliegt.
Denn. Die erste Überraschung. Asha steht vor der Tür. Raucht eine Zigarette. Paul K. denkt sich, dass er nicht gedacht hat, dass Asha raucht. Asha ist Friseurin. In dem Friseursalon, in dem er sich seit Jahren die Haare schneiden lässt. Schnipp-Schnapp Pony ab. Der Name des Friseursalons. Asha kommt aus Indien. Besser: Sie wurde in Indien geboren. Wo genau in Indien weiß Paul K. nicht. Aber er findet, sie sieht schon sehr indisch aus. Nein, nicht wie man sich eine Frau aus Indien so vorstellt. Mit bunten Kleidern und einem gemalten Punkt zwischen den Augen. Das ist es nicht. Aber sie hat dieses schwarze, seidig glänzende Haar. Und einen INDISCHEN Teint. Kakao mit Milch. In seinem Kopf bringt er das alles mit Indien in Verbindung. Wie wohl ein Inder denkt, wenn er einen Europäer sieht?
Nun ja. Asha steht also vor der Tür und raucht eine Zigarette. Je näher Paul K. kommt, umso deutlicher sieht er, wie abwesend sie ist. Sie steht mit verschränkten Armen da. Hin und wieder nimmt sie einen Zug von ihrer Zigarette. Ihr Blick geht ins Leere. Er denkt an NIRGENDWO. Dieser Begriff fällt Paul K. ein, als er Asha so stehen sieht. Asha ist jung. Ihr Alter kann Paul K. nur schätzen. Vielleicht Anfang zwanzig. Er weiß es nicht genau. Vielleicht sogar Anfang dreißig. Paul K. ist sich da absolut nicht sicher. Sicher ist er sich aber, dass er, solange er in diesen Friseursalon geht, um sich die Haare schneiden zu lassen, Asha immer beobachtet hat. Doch so, dass sie es nicht bemerkt. Zumindest glaubt er, dass sie es nicht bemerkt.
Leider. Je näher er also Asha kommt, desto größer werden seine superschweren Bleifüße. Diesen ausgezeichneten Begriff hat er in einem Roman gelesen. Er, also dieser Begriff, beschreibt sehr gut, was mit Paul K. geschieht, wenn er auf Frauen zugeht, zu denen er Zuneigung empfindet. ZUNEIGUNG. Ebenfalls ein schöner Begriff. Aber eigentlich, so denkt er, sollte er sagen: verknallt.
Paul K. geht auf Asha zu. Sie bemerkt ihn nicht. Ganz gut so. Denn superschwere Bleifüße sind extrem anstrengend. Besonders dann, wenn der andere, wegen dem man diese Bleifüße hat, einem dabei zusieht, wie man versucht, sich mit diesen unendlich schweren Füßen auf den anderen, dem diese Füße gelten, zuzubewegen.
Paul K. tritt an Asha heran. JETZT bemerkt sie ihn. Sie lächelt kurz. Zieht an ihrer Zigarette (ihre Finger zittern dabei leicht) und sagt: »Hallo Herr K.« Sie sagt natürlich nicht Herr K. Sie spricht seinen vollen Nachnamen aus. Aber Paul K. will in dieser Geschichte nicht mit seinem vollen Namen genannt werden. Verständlich. Denn diese Geschichte ist schon ein bisschen verrückt. Und Paul K. arbeitet bei einer Versicherung. Da ist verrückt nicht angebracht. Zumindest nicht in den Augen der Versicherung.
Paul K. sagt: »Hallo Asha«. Asha zeigt ein zweites Lächeln. Diesmal zeigt sie dabei ihre makellos weißen Zähne. Und. Ihre Augen lächeln. Diese großen braunen Augen. Paul, hör auf zu schwärmen. Aber Paul K. kann nicht anders. Er schwärmt. Und das ist das Komische in seinem Leben. Paul K. schwärmt für Frauen. Aber er tut es am liebsten aus der Ferne. Er versucht, sich zu erinnern. Das letzte Mal, als er eine Frau berührt hat … Paul K. kann sich nicht erinnern. Blöde. Das ist ihm klar.
»Heute wohl nicht viel los?« Er versucht, eine Konversation zu beginnen.
Asha macht mit dem Kopf eine ausweichende Bewegung. Paul K. weiß nicht genau, ob diese Bewegung JA oder NEIN bedeutet.
»Ich habe heute einen freien Tag.« Paul K. gibt sich entspannt.
Diesmal ist Ashas Kopfbewegung eindeutig. Sie nickt. Gedankenverloren.
»Könnte mir mal wieder die Haare schneiden lassen.« Dieses bezaubernde Lächeln. »Aber ich glaube, sie sind noch ganz okay. Meine Haare.« Dieses bezaubernde Lächeln. Zu seinem Leidwesen: abwesend. Paul K. fragt sich, was könnte eine in Gedanken verlorene Frau zur Aufmerksamkeit bringen. Er denkt nach. Aber wie gesagt. Paul K. kann sich nicht erinnern. Wann er das letzte Mal eine Frau BERÜHRT hat. In vielerlei Hinsicht. Er denkt daran. Mit Melancholie.
Sekunden vergehen. Relativität. Albert Einstein und Stephen W. Hawking sprechen im Hintergrund. Die Zeit verhält sich nicht so wie man denkt. Endlose Sekunden in hilflosem, suchendem und – na klar – peinlichem Schweigen. Paul K. denkt unsicher, aber vor allem angestrengt nach. Was kann eine in Gedanken verlorene Frau zur Aufmerksamkeit bringen?
Und während er nachdenkt …
Rot. Das ist das Wort, welches Paul K. in den Sinn kommt. Rot? Komisch. Wieso dieses Wort? Wieso der Gedanke an diese Farbe? Es ist kein grelles, strahlendes Rot, das Achtung sagt: Halt!; Hier nicht weiter!; Lebensgefahr! Nein. Es ist ein dunkles Rot, ein Rot, wie man es im Herbst bei Blättern sehen kann. Ein Rot, bei dem die Farben Braun und Schwarz durchschimmern. Paul K. denkt an Rotwein, obwohl er Rotwein nicht trinkt.
Rot. Die Farbe der Liebe. Aber. Ist die nicht knallrot? Vielleicht der Vorhang, der oben aus einem Fenster weht? Dunkelrot. Der Oktoberwind ist kühl und heftig. Nein. Das ist es nicht. Es ist das Rot auf der anderen Straßenseite. Rot. Jetzt begreift Paul K. Es ist die Farbe der Haare. Rot auch der Mantel. Bis kurz unter die Knie. Logisch: Rot auch die Schuhe. Dunkelrot.
Das rote Haar. Es fließt gewellt über den roten Mantel. Besser: Es sieht so aus, als fließt es IN den Mantel. Das Gesicht, das sieht er sofort, voller Sommersprossen. Paul K. mag Sommersprossen. Sehr. Das alles sieht er. In einer einzigen Sekunde. Wie diese Sekunde vor einem Augenblick. Diese Sekunde in hilflosem, suchendem, peinlichem Schweigen. Paul K. denkt wieder an Stephen W. Hawking und wie er die Zeit beschreibt. Besser: wie Stephen W. Hawking beschreibt, wie Albert Einstein die Zeit beschreibt. Relativ. Ja, relativ. Das ist jetzt genau das richtige Wort. Paul K. lächelt.
»Ich muss dann mal weiter.« Sagt Paul K.
Asha lässt die Zigarette fallen. Dreht mit einem ihrer schneeweißen Turnschuhe den glimmenden Stummel aus. Nickt. Leuchtende Augen. Paul K. schlendert mit Betonung los. Ein paar Schritte. Ganz ohne Bleifüße. Moment. Noch ein Blick zurück. Doch. Asha ist bereits im Hauseingang dem Blick entschwunden. INDIEN. Denkt Paul K. Das können die dort. Magie. Egal. Gedanken und Schritte wollen in eine andere Richtung. Die Frau in Rot ist bereits außer Sichtweite.
Duftspur. Folgen. Blöder Gedanke zieht sich fest. Peinlich. Ist mir. Nur einmal einen Satz mit Charme. Nur EINEN Satz. Mensch, Paul. Du und deine verdammte Reserve. Klingt immer alles NICHT richtig. Bei dir. Nichts, was zündet. Nichts, was ansteckt. Was warm macht. Innerlich. Blabla in höflicher Verpackung. Du denkst: Ist doch gut gemeint. Aber. Wer will schon immer GUT GEMEINT. Beeil dich. Tatütata, die Feuerwehr ist da. Quatsch. Bestimmt Polizei. Holzkohle. Ein Braten in Ehren … Kinderlachen. Duftspur verloren. Klack, klack, da ist sie ja, die schöne, eulenäugige. Ah. Geht zu Eleonore rein. Betonung auf dem ersten E. Susanna Hannah. Sie verschwindet mit klingender Türglocke. Duftspur wieder aufgenommen. Hihi. Duftspur. Bedrucktes Papier. Flieder. Jasmin. Frühling. Im Oktober.
IN der Buchhandlung. Mit angeschlossenem Antiquariat. Name der Buchhandlung: ›Ulysses‹. (Erklärende Zeile unter dem Namen: ›Eleonores Buchhandlung. Mit angeschlossenem Antiquariat.) Paul K. schmunzelt. Und er schmunzelt JEDESMAL. Jedesmal, wenn er diese Buchhandlung betritt. Buchhandlung ›Ulysses‹. Komischer Name für eine Buchhandlung. Komischer Name deshalb, denkt Paul K., weil ›Ulysses‹ ja der Name eines Romans ist, den die meisten, die ihn begonnen haben, nicht beenden. Also den Roman. Oder sie behaupten, ihn zu Ende gelesen zu haben, haben dann aber doch nur eine ZUSAMMENFASSUNG gelesen. Von jemand, der den Roman gelesen hat. Und. Ganz wichtig, verstanden hat. Natürlich könnte es auch sein, dass derjenige, der die Zusammenfassung geschrieben hat, auch nur eine Zusammenfassung las, von einem, der den Roman (vielleicht) zu Ende gelesen hat. Ganz schön dreist, wenn man bedenkt. Doch derjenige, also der, der die Zusammenfassung auf der Grundlage einer Zusammenfassung geschrieben hat, verstand den Roman nicht. Und dann, weil traurig über sein Unverständnis, vielleicht auch ärgerlich, vielleicht auch einfach nur neugierig, auf eine (erklärende) Zusammenfassung zurückgriff. Um dann, sich dem neuen Verständnis zu vergewissern, selbst eine Zusammenfassung geschrieben hat.
Aber selbst das ist okay. Weil, so denkt Paul K., wir ja in einer Zeit leben, in der wir immer weniger Zeit haben. Zum Beispiel einen Roman zu lesen, der Zeit erfordert. Ist es da nicht ideal, wenn man sich trotzdem interessiert, dann doch nicht die Zeit hat und eine Zusammenfassung liest? Die dann (vielleicht) noch den Vorteil hat, dass sie einem das erklärt, was man (in der Kürze der Zeit) sowieso nicht verstanden hätte, auch wenn man den ganzen Roman gelesen hat. Paul K. (so viel sei verraten) hat den Roman angefangen, ihn aber nach ca. einem Drittel abgebrochen. Er hat sich vorgenommen, das Buch zu einem späteren Zeitpunkt weiterzulesen. Bevor er weiterliest, das hat er sich ebenfalls vorgenommen, würde er eine Zusammenfassung lesen. Aber nur bis dorthin, wo er damals aufgehört hat zu lesen, wenn das die Zusammenfassung zulassen würde.
Wie komme ich da eigentlich jetzt drauf? Ach ja, komischer Name für eine Buchhandlung.
Aber. Paul K. schmunzelt weiterhin und denkt, dass er den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht hat. (Zwar verlangsamt der noch nicht zu Ende gedachte Gedanke das Tempo der Handlung dieser Geschichte in dramaturgisch unzulässiger Weise, denn Paul K. ist ja auf der Suche nach der Frau in Rot, – doch was soll der Autor machen, Paul K. denkt nun mal so.) Paul K. denkt also: DAS wäre doch eine Idee. Einen Roman zu schreiben, der von VORNHEREIN als Zusammenfassung kommt. Die Frage wäre, ob man zunächst den Roman so schreibt, als wäre er keine Zusammenfassung, dann alle Textpassagen streicht, die das Thema, das der Roman behandelt, nicht zusammenfassen würde.
Allerdings: schade um die ganze Arbeit. Und. Um die ZEIT. Und das bei immer weniger Zeit. Also die Zeit, die man dazu aufwendet, den Roman zunächst nicht als Zusammenfassung zu schreiben. Egal.
Paul K. hat also den Buchladen betreten. Keine Überraschung: Eleonore steht auf einer Holzleiter und sortiert Bücher in das Regal für Neuerscheinungen. Auch keine Überraschung. Sie HÄNGT. Das ist ihr Wort dafür. Und ihr Wort dafür ist gar nicht mal so schlecht. Weil. Sie hat eine Neuerscheinung aufgeschlagen und liest darin. Dabei vergessen: das Einräumen weiterer Neuerscheinungen.
Eleonore. Was kann man über Eleonore sagen? (Nachname: Goldstein. Sie hat nichts dagegen, dass man in dieser Geschichte ihren Namen nennt. Denn. Sie ist selbstständig und gegen ein wenig Publicity hat sie nichts.) Eine ältere Dame mit Lesebrille auf wogenden Brüsten. Älter, aber nicht unattraktiv. Graues Haar fällt ihr in eleganten Wellen auf die Schulter. Dunkelblauer Hosenanzug. Gestreift. Weißes Hemd mit spitzem Kragen. Griechisches Gesichtsprofil mit Buckel auf der Nase. Die Brille – jetzt – darauf. Am Band. NATÜRLICH. Und. Jetzt nicht sichtbar aber SEHR einprägsam. Ihre Augen. Eiskristalle.
»Bist früh dran. Genug gesichert?« Sagt Eleonore und schaut Paul K. über die Lesebrille an. Funkelt wie verrückt.
Paul K. denkt an John Franklin, den Polarforscher. Und. Sein Scheitern als solcher. Bei dem Gedanken fröstelt ihn.
»Hab heute einen freien Tag.«
»Schön.«
»Was liest du denn da?«
»Ach, eine Neuerscheinung.«
»Worum geht’s?«
»Schwierig. Ein Mann kommt aus dem Krieg zurück. Völlig verändert. Seine Frau erkennt ihn kaum wieder. Er scheint ein ganz anderer Mensch geworden zu sein.«
»Ein Beziehungsdrama?«
»Fast 'ne Horrorstory. Er macht ihr wohl das Leben zur Hölle. Dabei war sie einmal seine große Liebe. Wenn man bedenkt.«
»So ‘ne Art Dolores?«
»Nee, ich glaub nicht. Soweit ich das sehen kann, nimmt SIE sich das Leben.«
»Deprimierend. Und darum geht es? Er treibt sie in den Tod und das war’s? Kein Happy End?«
»Paul, die Frau nimmt sich das Leben. Da ist kein Platz für ein Happy End. Außerdem habe ich nur ein paar Seiten gelesen. Das Ganze dreht sich wohl um Schuld und Sühne.«
»Titel?«
Eleonore klappt das Buch zu, hält aber den Daumen als Lesezeichen dazwischen. Zeigt den Buchtitel in Richtung Paul K.
»Die Krähe des liebenden Josias.«
»Der Autor sagt mir nichts«, sagt Paul K. mit zusammengekniffenen Augen.
»Debüt.« Sagt Eleonore.
»Merkwürdiger Titel.« Sagt Paul K. mit noch immer zusammengekniffenen Augen.
»Ich find ihn schön. Apropos Happy End. Was machen die Frauen um die 40 in dieser Stadt?«
»Keine Ahnung.«
»Keine Ahnung! DAFÜR solltest du dich interessieren.«
Paul K. denkt an Asha. Doch die ist nicht um die 40.
»Die Arbeit, du weißt doch, da kommt man abends groggy nach Hause …«
Eleonore sieht Paul K. mit einem larmoyanten Grinsen an. Eiskristalle funkeln wie verrückt.
»Man kann sein Leben nicht nur in Fantasie und Tagträumen verbringen. Raus muss man gehen. Das Leben am haarigen Schwanz packen. Und ordentlich hin und her schwingen.«
»Woher ist das noch mal?«
»Drei im Sommer.«
»DREI IM SOMMER.«
»Schönes Buch.«
»Extrem schönes Buch.«