Nicht von dieser Welt - Lydia Preischl - E-Book

Nicht von dieser Welt E-Book

Lydia Preischl

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Beschreibung

Markus Troyer, amisch von Geburt, hat außerhalb seiner Gemeinschaft Karriere gemacht. Von einem Stalker bedroht, sucht er Zuflucht in seiner alten Heimat. Dort begegnet er Lena, einer jungen Deutschen, die ihr ganz eigenes Problem mit nach Pennsylvania County gebracht hat. Markus unterstützt sie bei ihrer Suche nach Verwandten, die sie unter den Amisch vermutet. Die beiden kommen sich näher. Aber dann holt ihn seine Vergangenheit wieder ein. Ruland Becker, der gefährliche Stalker, hat ihn aufgespürt. Wie werden seine amischen Nachbarn, die ihm ablehnend gegenüber stehen, reagieren?

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Lydia Preischl lebt mit ihrem Mann in einem kleinen Dorf im Oberpfälzer Wald. Sie hat zwei erwachsene Töchter. Seit sie denken – und schreiben – kann, widmet sie sich dem Erfinden von Geschichten. Diese sind so unterschiedlich, dass es nicht gelingt, sie auf ein Genre festzulegen. Ihr Ziel ist es, ihre Leserinnen und Leser in eine andere Welt zu entführen, zu unterhalten und zu entspannen.

Besuchen Sie die Website der Autorin:

www.allerlei-leserei.de

Hier erfahren Sie alles über bisherige und kommende Projekte.

Die Charaktere und Geschehnisse im Roman sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Prolog

Als ich den kleinen Esra Fisher im Haselnussstrauch landen sah, wusste ich, dass es nicht seiner üblichen Wildheit zuzuschreiben war, mit der er auf seinen Inline-Skates die Gegend unsicher machte. Nein, diesmal schien er wirklich eine Neuigkeit zu haben, die er mir so dringend mitteilen musste, dass er, der sonst so sicher auf den schmalen Rollen war, die Kurve nicht mehr bekam und in das Gestrüpp gedrückt wurde. Ich stellte meinen Korb mit den gepflückten Heidelbeeren, die spät dran waren in diesem Jahr, beiseite und eilte hinauf zur Einfahrt, wo die Asphaltstraße, die sich durch die Landschaft schlängelte, auf unseren ungeteerten Weg traf.

Esra stand bereits wieder auf seinen Beinen und klopfte sich den Schmutz vom weißen Hemd, dessen Ärmel er hochgestülpt hatte. Ein paar Kratzer auf dem rechten Arm zeugten vom Unfall, doch sonst war ihm nichts weiter passiert. Der kleine zähe Kerl hielt sich auch gar nicht lange mit Gejammer auf.

„Tante Mettie…“, er war zu atemlos, als dass er den Satz hätte in einem Zug beenden können. „Tante Mettie…“, begann er erneut, als er endlich vor mir stand und einige tiefe Atemzüge genommen hatte. „Stell dir vor, wer wieder da ist!“ Es war keine Frage, lediglich eine Einleitung zur sensationellen Eröffnung: „Markus Troyer!“ Nun verschränkte Esra die Arme, machte ein wichtiges Gesicht und wartete darauf, dass mich die Aufregung packte. Doch mit den Jahren hatte ich gelernt, dass umwerfende Neuigkeiten einen nicht umwarfen, wenn man ihnen gelassen begegnete.

„Jetzt komm erst mal auf die Veranda und trink ein Glas kühle Limonade!“, wich ich ihm aus. Tatsächlich wühlte mich diese Neuigkeit mehr auf, als ich in diesem Moment selbst realisierte – oder besser: realisieren wollte.

Markus! Da er nie getauft wurde, konnte er auch nicht gebannt werden. Die Leute redeten über ihn. Mal mehr, mal weniger. Aber ich konnte gut verstehen, dass gerade die Jüngeren, vor allem die, die ihre Erfahrungen in der Welt draußen machten, von einem Mann wie Markus Troyer fasziniert waren. Mich selber beeindruckte nicht sein Werdegang und das, was er erreicht hatte. Es war Schall und Rauch, unwichtig. Nein, es war Markus selbst, den ich immer schon mochte. Der Sohn meiner besten Freundin, die weit weg lebte und die ich nur sehen würde, wenn eine von uns die weite Reise auf sich nahm, die aber doch nie zustande kommen würde. Wir schrieben uns, doch selbst die Briefe waren selten, hatten wir doch so viel zu tun mit unseren Familien und all der Arbeit, die das Leben uns auferlegte. Markus‘ Schicksal lag mir am Herzen und dass er für unsere Welt verloren war, tat mir weh.

Von all dem ahnte der Kleine neben mir nichts. Ein Blick auf ihn zeigte mir, dass er von meiner nach außen hin zurückhaltenden Reaktion enttäuscht war. „Wo ist er denn jetzt?“, fragte ich also, und nicht nur, um ihn zufriedenzustellen, sondern auch meine Neugier.

„Im alten Troyer-Haus!“ Esra hatte das Glas im Nu geleert und stellte es nun auf den kleinen Verandatisch ab. Links und rechts davon standen zwei einfach gezimmerte Stühle, auf denen wir beide saßen.

Markus war also im alten Troyer-Haus. Nun, es gehörte ihm. Warum also auch nicht? Ich sagte es Esra.

„Kann einem Englischen ein Amisch-Haus gehören?“, fragte er mit großen Augen.

„Markus ist amisch geboren! Er wurde nur nie getauft!“ Esra war ein typisches Amisch-Kind, das gewohnt war, still zu sein, wenn sich Erwachsene unterhielten, was es aber nicht davon abhielt, genau zuzuhören. Verstand es etwas nicht, fand es bestimmt einen Weg, ältere Geschwister, die Eltern oder Großeltern danach zu fragen. Und bekam es nicht die gewünschte Antwort, fragte es eben weiter. Es ging dabei gar nicht um Neugierde. Es war vielmehr der Wunsch, alles zu wissen, was auch die Großen wussten. Und so kannte Esra mit seinen immerhin schon acht Jahren natürlich den Umstand, dass Amische sich erst als Erwachsene zur Taufe bereit erklärten – oder eben nicht. Zuvor, im Teenager-Alter, erkundeten die Jugendlichen die englische Welt. Sie lernten das Leben außerhalb der engen amischen Grenzen kennen. Und das war gut so, um später einmal vorbehaltlos und mit innerer Überzeugung den Schritt zur eigenen Taufe zu gehen und dann für immer Amisch zu sein.

Diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich mit Esra sprach. Er war der jüngste Sohn meines Bruders Daniel. „Weiß deine Mama, dass du bei mir bist?“, fragte ich nun.

„Sie hat mich hierhergeschickt und mir aufgetragen, dir das zu erzählen“, nickte Esra eifrig. „Und dann soll ich zurückkommen, um Mama beim Marmelade-Kochen zu helfen!“

Ja! Ich entdeckte blaurote Spuren in seinem Gesicht. Auch Maria Fisher schien eine reiche Heidelbeeren-Ernte zu haben. Sie wuchsen nicht jedes Jahr so reichlich, daher lohnte es sich, aus den leckeren Früchten so viele wie möglich zu konservieren. Und auch meine Familie liebte Heidelbeermarmelade, die sich aber nicht selber zubereitete. Ich seufzte und stand auf. „Na, dann fährst du besser wieder zurück, Esra. Aber bitte etwas langsamer! Bei der Einfahrt zu deinen Eltern stehen keine Haselnuss-Sträucher!“, sagte ich ernst und er nickte mit ebensolcher Mine.

Ich sah ihn noch um die Ecke biegen und wandte mich dann wieder meiner Arbeit zu. Markus Troyer! Er war also wieder da!

Kapitel 1

Markus Troyer fuhr langsam hinter dem mit dem großen roten Dreieck gekennzeichneten Pferdebuggy her. Noch gut erinnerte er sich an die Zeit, in der er selbst in so einem Gefährt saß. Zu Beginn, als er noch ein Kind war, dachte er über die Autofahrer nach, die hinter dem Buggy seines Vaters herschleichen mussten und ungeduldig immer wieder zum Überholen ansetzten. Später jedoch machte er sich keinerlei Gedanken mehr über die Leute, die sich in ihrem Leben abhetzten, nur um an der nächsten Kurve wieder aufgehalten zu werden. Nun war er der Gehetzte, der einzig und allein der Zeit unterworfen war und niemals alles erledigen konnte, was erledigt werden sollte. Er überholte nicht, selbst, als auf der geraden schmalen Straße kein entgegenkommendes Fahrzeug zu sehen war. Hinter ihm hupte jemand. Er scherte sich nicht darum. Stattdessen legte er beide Arme über das Lenkrad und genoss es, durch den Buggy Gelegenheit zu haben, nach links und rechts zu schauen und zu erkennen, dass sich kaum etwas verändert hatte. Der Drängler hinter ihm rauschte vorbei und tippte an seine Stirn. Markus grinste. Wieder wanderte sein Blick über die Landschaft. Er war bereits geraume Zeit von der Interstate abgefahren und in das ländliche Gebiet von Lancaster County eingetaucht. Wunderschöne, gepflegte Farmen säumten den Horizont. Hier, am Straßenrand, standen in größeren Abständen aus grauem Stein erbaute schmucke Häuser, zu denen elektrische Leitungen führten. Sie gehörten Mennoniten oder zugewanderten Englischen, wie die Amisch die übrigen Amerikaner nannten. Diese Leute nutzten Strom und alle Annehmlichkeiten der modernen Welt, während die Mitglieder seines Heimatbezirkes jegliche Technik ablehnten. Nun lebten seine Eltern bei seiner Schwester, die nach Ohio geheiratet hatte. Mit ihnen war er in guter Verbindung geblieben. Hierher, in die Gegend zwischen Intercourse, Paradise und Bird-In-Hand, hatte er keinerlei Verbindungen mehr gepflegt, obwohl einige seiner Geschwister hier lebten und sich sein Elternhaus hier befand, das ihm sein Vater überlassen hatte.

Der Buggy und Markus fuhren am Ortsschild von Intercourse vorbei hinein in den malerischen Ort, der gewachsen war, seit seinem letzten Besuch. Er musste aufpassen, um die Abfahrt in die Queen Road nicht zu versäumen, blinkte dann links und fuhr ab. Kurz darauf bog er in den Harvest Drive ein. In der Ferne näherte sich ein Güterzug, der endlos zu sein schien. Markus hielt an, um den Zug zu beobachten und um sich zu wappnen. Er hatte keinen Schlüssel für sein Haus. Das hieß, er musste bei Daniel Fisher vorbeifahren, um ihn abzuholen. Die Fishers hatten sich um das Haus gekümmert und sicherlich dafür gesorgt, dass es für ihre Nachbarn gut erhalten blieb. Sie hatten auch die Wiesen und Felder mit bewirtschaftet, die seit dem Wegzug der Troyers brach lagen. Daniel Fisher war – wie wohl alle in ihrem Distrikt – der Meinung, dass die Troyers zurückkommen könnten. Doch Markus wusste, dass dies nicht passieren würde. Deshalb hatte er das Haus auch übernommen. Was er damit anstellen würde, wusste er noch nicht. Wohl aber wusste er, dass er sich hier erst einmal erholen wollte, so gut man sich in einem amischen Haus ohne Elektrizität, Heizung und warmem Wasser erholen konnte. Aber vielleicht war es genau das, was er gerade jetzt benötigte.

Er fühlte eine Erschöpfung, die er nie vorher wahrgenommen hatte. Nicht so sehr körperlich – er hielt sich fit, was in seinem Beruf unumgänglich war. Es war die seelische Erschöpfung, all die furchtbaren Dinge, die bis vor wenigen Wochen passiert waren und die er nicht mehr verarbeiten konnte. Markus hatte nie begriffen, warum so viele in der englischen Welt einen Psychiater brauchten. Nun verstand er es. Er hoffte inständig, dass ihn die Flucht hierher zur Ruhe kommen lassen würde, dass er seine Gedanken und Gefühle sortiert bekam und letztendlich wissen würde, wie seine Zukunft aussehen könnte.

******

Ab jenem Moment, an dem er vor dem Haus der Fishers anhielt, schwirrten die Gedanken in seinem Kopf. Er bekam weiche Knie und ein flaues Gefühl im Magen. Rasch und unpersönlich beendete er das kurze Gespräch mit Maria, die nur mit ihrem jüngsten Sohn zu Hause war. Sie stellte ihm Esra vor, der mit ihr auf die Veranda gekommen war, aber er eilte sich, wieder in den Schutz seines Autos zu kommen.

Warum nur nahm ihn die Begegnung mit seiner Vergangenheit so mit? Markus wusste keine Antwort darauf. Nun, da er sich entschieden hatte, ausgerechnet hierher zu kommen, musste er sich dem auch stellen. Noch in Jacksonville sah er die Rückkehr in seine amische Heimat als einzig gangbaren Weg in all dem verfahrenen Elend, in dem er sich unversehens befand. Nun fühlte er die Erleichterung, die er bei seiner Abreise vor einigen Tagen allein durch die Tatsache empfand, dass er den Ort verlassen konnte, nicht mehr. Tatsächlich blieb ihm das flaue, ängstliche Gefühl, das sich seit seiner Begegnung mit Maria Fisher breitgemacht hatte, erhalten.

Er versuchte, seine Gedanken zu bündeln und sich auf die Rückkehr in sein Haus zu konzentrieren. Markus bog in den schmalen, mit tiefen Schlaglöchern versehenen Weg ein, der zu seinem Haus führte. Hinter drei hohen Eichen, die als Vorboten des nahen Waldes einsam auf einem Feldrain thronten, tauchte es auf, halb verdeckt von der mächtigen Scheune. Je näher er kam, desto mehr Mängel fielen ihm auf. Es benötigte einen neuen Anstrich, der Garten, den seine Mutter so gehütet hatte, war vollkommen verwildert und über und über mit Gestrüpp bedeckt. Auch die Farbe an der Scheune war zu einem großen Teil abgeblättert und vom Hühnerstall, der sich gleich daneben befand und weniger stabil gebaut war, als die anderen Gebäude, hatten sich einige Bretter gelöst. Der Rasen vor dem Haus glich einem Feld. Zahlreiche Maulwürfe hatten ihre Hügel hineingesetzt und Gras und Moos überwucherte den einst so feinen, weichen Grund. Um den kleinen Weiher, der sich etwa 20 Meter neben dem Haus befand und mit einem Zaun zum Schutz der kleinen Kinder umgeben war, hatten sich Bäume angesiedelt, deren Same wohl schon vor langer Zeit aus dem nahen Wäldchen angeflogen war.

Daniel Fisher hatte sich gut um die Felder, die rings um das Haus lagen, gekümmert, um die unmittelbare Hofstelle allerdings weniger. Das war überraschend und unüblich. Vielleicht lag es daran, dass ihm das Haus gehörte, nicht mehr seinen Eltern.

Markus kämpfte mit sich. Was sollte er hier? Am besten, er fuhr sofort wieder weg und schickte den Schlüssel per Post zurück an die Fishers. Doch plötzlich tauchte vor seinem inneren Auge seine Mutter an der Eingangstür auf. Sie verabschiedete seine vier kleineren Geschwister in die Schule, während er selber noch im Stall mit Melken beschäftigt war. Er war fast erwachsen und kein Schuljunge mehr. War in den Jahren seiner Orientierung – oder Rumschpringa – wie die Amisch es nannten. Sein Vater war froh, endlich eine vollständige Arbeitskraft zu haben, auch wenn seine Söhne ihm seit geraumer Zeit bereits kräftig halfen - vor allem in der langen Ferienzeit, die in Amischland mit der Erntezeit zusammenfiel. Drei seiner älteren Geschwister waren bereits verheiratet und mussten sich um ihren eigenen Hausstand kümmern.

Ein Zug pfiff und holte ihn aus seinen Gedanken. Endlich stieg er aus und ging langsam auf das Haus zu. Die Tür quietschte, als er sie öffnete, doch im Inneren war alles so, als wäre niemals jemand weg gewesen. Neben der Tür gab es einen kleinen Windfang, gerade groß genug, um die Jacken, Schuhe und Umhänge der großen Familie aufzunehmen. Nur einen Schritt weiter öffnete sich der große Raum, in dem die Familie sich zu den Mahlzeiten und in der spärlichen Freizeit aufhielt. Die Küchenmöbel standen an der einen Frontseite rechts von ihm, eine Kommode und ein Regal im rechten Winkel daneben. Dieser Bereich war durch einen angedeuteten Durchgang vom Wohnbereich optisch getrennt. Die Mitte des Wohnraumes war vollkommen eingenommen von einem großen, massiven Eichenholztisch, der von zehn Stühlen umstanden war. Weitere Stühle standen an der Wand und boten vielen Besuchern Platz, falls es notwendig sein sollte. Der große Holzherd wurde den ganzen Winter über geheizt, um das Zimmer zu erwärmen, im Sommer nur, wenn gekocht wurde. Schmunzelnd erinnerte sich Markus daran, dass dies eigentlich auch immer der Fall war, denn kaum endete das Brotbacken am Morgen, wurde Gemüse und Fleisch für das Mittag- oder Abendessen aufgesetzt. Dazwischen wurde eingekocht, Kuchen gebacken oder Tee gekocht. Er wischte gedankenverloren etwas von der dicken Staubschicht von der Kommode, als er an dem Möbel vorbei auf die rückwärtige Tür zuhielt, die von den früheren Bewohnern mehr frequentiert worden war als die Vordertür. Hier gab es die Möglichkeit, schmutzige Schuhe abzustellen und saubere anzuziehen, um den eben geschrubbten Wohnraum nicht wieder zu verschmutzen. Gleich daneben führte eine Tür in den Waschraum, wo eine pressluftbetriebene Waschmaschine stand, aber auch eine einfache Blechbadewanne und der holzbeheizte Badeofen, in dem das Badewasser erwärmt wurde. Markus schaute nur kurz hinein und schloss die Tür dann wieder. Im geräumigen Vorraum, in dem er sich befand, führte eine weitere Tür hinüber in das Großvaterhaus, einem kleinen Gebäudeflügel, der für die Eltern seines Vaters angebaut worden war. Inzwischen waren sie verstorben und der Anbau stand so leer wie das übrige Haus. Gegenüber dem hinteren Eingang schließlich konnte man über eine schmale Treppe hinauf in das Obergeschoss steigen. Dort befanden sich die Schlafräume der Familie, das größere Schlafzimmer der Eltern und die drei kleineren Schlafräume für ihn und seine Geschwister.

Er öffnete das Elternschlafzimmer. Ihm fiel ein, dass er vergessen hatte, dass die wenige Habe der Familie mit den Eltern umgezogen war, einschließlich der Schlafdecken und Kissen. Er würde sich für einige Nächte ein Zimmer in Intercourse oder Bird-in-Hand nehmen müssen, bis er die nötigen Utensilien eingekauft hatte.

Als er wieder unten im Wohnraum stand, ging plötzlich eine Wandlung in ihm vor. Das Erkunden seines Elternhauses hatte die Zeit seiner Kindheit vor seinem geistigen Auge wieder aufleben lassen und er konnte es gar nicht erwarten, das traurige alte Gebäude wieder zum Leben zu erwecken!

Es war noch früh am Tag. Markus beschloss, zuerst eine Unterkunft zu suchen und fuhr hinüber zu dem mennonitischen Gästehaus, das in der Nähe von Bird-in-Hand lag. Edith, die junge Mennonitin, die am Empfang stand, erkannte ihn nicht, genauso wenig, wie all die anderen Amisch und Mennoniten, die nicht unmittelbar aus seinem Kirchenbezirk stammten. Obgleich die Mennoniten weltzugewandter wie die Amisch lebten, hatte bei ihnen Film und Fernsehen keinen so großen Stellenwert wie in der übrigen Welt. Viele besaßen keinen Fernsehapparat, manche nur, um Nachrichten zu sehen und sich zu freuen, in einem friedlichen Eckchen Erde zu leben. Edith lächelte ihm verbindlich zu und er verschwand in den zweiten Stock, wo ein gemütliches Zimmer auf ihn wartete. Der Raum war zweckmäßig eingerichtet, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Auf dem Bett lag eine jener gemütlichen Quiltdecken, für die die Frauen in der Gegend berühmt waren. Sowohl amische als auch mennonitische Frauen liebten es, sich zum Quilten zu treffen und gemeinsam große Stücke zu fertigen. In den meisten amischen Haushalten waren die Quilts der einzige Schmuck, den man sich im Hause erlaubte. Bilder an den Wänden oder auch nur Schnittblumen oder Zierpflanzen waren in den Bezirken, die er kannte, als weltlich verpönt. Seine Mutter hatte stets darauf geachtet, viele Kräuter in Töpfen auf den Fensterbänken stehen zu haben, um das Pflanzenverbot mit der Hege dieser Nutzpflanzen zu umgehen. Da ein Kalender im bäuerlichen Leben unumgänglich war, suchte sie auch immer besonders hübsche Motive aus, um ein wenig Farbe in die spartanische Stube zu bringen. Beides sorgte stets für Diskussion mit seinem strengen Vater, der die Bilder im Kalender nicht guthieß und der Meinung war, dass Kräuter in den Garten gehörten. Allein die Tatsache, dass der Haushalt die Domäne der Frau war, hielt ihn davon ab, ihr Kräuter und Kalender zu verbieten.

In einer Vase auf dem Tischchen seines Hotelzimmers steckten blassrote kurzstielige Rosen. Nur wenige amische Frauen besaßen überhaupt eine Vase. Blumen abzuschneiden wurde als weltliche Dekadenz betrachtet. Viel lieber erfreute man sich an Gottes erhabener Schöpfung, indem man in der spärlichen Freizeit auf der Veranda saß und die Garten und Feldblumen betrachtete.

Markus trat ans Fenster, das den Blick auf die schmale Straße eröffnete, die direkt vor dem Haus vorbeiführte. Es waren zu dieser Stunde nicht allzu viele Buggys unterwegs, da viele Amisch dazu übergegangen waren, ihre Besorgungen in den Tageszeiten zu erledigen, in denen nicht so viel Autoverkehr herrschte. Auf der anderen Straßenseite entdeckte er ein Restaurant, das den Namen Yoder‘s trug. Nichts Ungewöhnliches, da beinahe jeder Dritte in diesem und den umliegenden Bezirken so hieß. Es war fast Mittag und er war seit Tagen auf Reisen. Gegen Mitternacht hatte er gestern Abend diese letzte Etappe angetreten und seitdem nichts mehr gegessen. Nun quälte ihn der Hunger und auch die Müdigkeit. Er beschloss, sich im Restaurant etwas zu essen zu holen, es auf dem Zimmer zu verspeisen und dann eine kurze Siesta einzulegen.

Kapitel 2

Das monotone Geräusch der Flugzeugmotoren schläferte sie ein, erholsamen Schlaf fand sie dennoch nicht. Dazu fand sie die engen Sitze viel zu unbequem, von den Rückenschmerzen und der immer falschen Temperatur ganz zu schweigen. Fliegen war für Lena Mittel zum Zweck, das sie häufig nutzte, um ein wenig etwas von der Welt zu sehen. Doch Langstreckenflüge absolvierte sie eher selten. Nun war die Entfernung zwischen München und Philadelphia nicht über die Maßen groß, doch auch nur neun Stunden im Flieger abzusitzen, quasi auf einer Pobacke, weil die andere Seite seit Stunden schmerzte, fand sie dann doch etwas lästig. Aber sie wollte sich nicht in diese negative Sichtweise hineinsteigern. Immerhin würde sie am frühen Nachmittag ankommen, was bedeutete, dass sie anschließend bequem Zeit hatte, die gute Stunde Fahrt bis zu ihrem Ziel hinter sich zu bringen. Lena sah sich um. Es würde noch dauern, bis der Bordservice, der gerade begonnen hatte, bei ihnen angekommen wäre. Sie nutzte die Gelegenheit, um die Toilette aufzusuchen, sich zu kämmen und ein wenig frisch zu machen. Die Flugzeugluft machte aus ihren langen blonden Haaren Stroh, so dass sie sich entgegen ihrer ursprünglichen Absicht, die Haare offen zu lassen, dazu entschied, den aufgelösten Zopf neu zu flechten. Ihr Gesicht frisch und munter aussehen zu lassen, schaffte sie jedoch nicht. Die Müdigkeit stand darin geschrieben, was auch keine Make-Up-Schicht ändern konnte. Deshalb versuchte sie erst gar nicht, sich anzumalen, weil sie im Schminken ohnehin nicht gut war. Seufzend kehrte sie zu ihrem Platz zurück, um die Mahlzeit einzunehmen.

Einige Stunden später war sie auf dem Weg in das ländliche Herz Pennsylvanias. Der Flug und vor allem die lange Wartezeit am Einwanderungsschalter hatte sie mehr geschlaucht, als sie gehofft hatte. Der Jetlag machte sich schon jetzt recht heftig bemerkbar. Zumindest ersparte ihr das GPS die mühsame Wegsuche mittels Landkarte. Tatsächlich lag nach etwas mehr als einer Stunde der Ort vor ihr, in dem sich ihr Gästehaus befinden sollte. Schon tauchte es rechter Hand auf: Der Name Schwartz Guesthouse und darunter ein schnörkeliger Pfeil deutete ihr die Richtung zum Parkplatz. Die Anlage war Motel ähnlich aufgebaut, so dass sie in unmittelbarer Nähe der Gebäude parken konnte.

Lena stieg aus. Sie hatte auf einem Rastplatz eine Katzenwäsche eingelegt, doch noch ein wenig Make-Up aufgetragen und das T-Shirt gewechselt. Nun fühlte sie sich zwar alles andere als erfrischt, aber auch nicht so schmuddelig wie noch am Flughafen.

Vier Wochen würde sie bleiben. Zumindest vorerst. Wie es dann weitergehen sollte, wusste sie bisher noch nicht. Deshalb hatte sie sich diese Gegend ausgesucht: Um ihre Zukunft wieder in die Hand zu nehmen. Dazu brauchte sie die Vergangenheit, die sie hoffte, hier zu finden.

Sie stellte ihren Koffer und die Handgepäckstasche in das Zimmer, das ihr recht gut gefiel. Auf den ersten Blick erkannte sie, dass es hier kein Fernsehgerät gab. Sie würde sich also mit sich selber beschäftigen müssen. Ein Blick hinter die farbenfrohe Gardine sagte ihr, dass es wenigstens Strom gab. Ganz sicher war sie sich dessen nicht gewesen, war sie doch in Amischland. Und ihre Vorstellung davon war recht klischeehaft, internetgeprägt. Sie entsann sich, bei der Internet-Buchung gelesen zu haben, dass es sich um ein mennonitisches Haus handelte. Die Mennoniten lehnten Strom nicht grundsätzlich ab, auch nicht Autos und sonstigen Komfort.

Etwas irritiert hatte sie sich auch angelesen, dass es durchaus auch amische Gästehäuser gab, deren Gästezimmer mit Strom versorgt wurden. Ihre eigenen Räume sparten die Besitzer von diesem Luxus jedoch aus.

Lena fühlte sich kraftlos. Die Übermüdung und die schrecklichen Turbulenzen zu Hause hatten eine Erschöpfung bewirkt, die sie so leicht nicht überwinden würde. Selbst jetzt, bei der Herfahrt, hatte sie die Schönheit dieser Gegend kaum wahrgenommen. Sie hoffte auf morgen. Und übermorgen.

Heute brauchte sie nur noch etwas zu essen. Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie beim Blick aus dem Fenster ein Restaurant. Der Name Yoder immerhin war ihr auf der Fahrt häufiger aufgefallen. Yoder’s Shop, Yoder’s Quilt, Yoder’s Fruit & Vegetable…. Lena zuckte die Schultern, holte ihre Geldbörse aus der Jackentasche, rempelte dabei heftig gegen den aus hellem Holz massiv gezimmerten Stuhl und verließ ihr Zimmer, um ihren knurrenden Magen zu besänftigen.

Auf dem Weg hinüber dachte sie darüber nach, ob sie sich einfach etwas mit aufs Zimmer nehmen sollte oder sich lieber ins Restaurant setzte. Da sich der Schlafmangel immer deutlicher bemerkbar machte, entschloss sie sich dazu, einfach eine Kleinigkeit zu kaufen, um es sich auf dem Zimmer gemütlich machen zu können.

Sie betrat das hölzerne, weiß und braun getünchte Gebäude, um sich erst einmal in einer Art Vorraum wiederzufinden. Sie spähte nach links, so dass ihr zuerst ein kleiner Stand mit Büchern auffiel. Gut! Angesichts des fehlenden Fernsehers würde sie Lektüre gut gebrauchen können. Sie schlug also zuerst diese Richtung ein und stöberte die Buchtitel durch. Es waren, wie sie schnell feststellte, amische Liebesgeschichten, wohl auch Krimis, die zuerst ihr Interesse weckten. Sie fand eine Serie aus drei Bänden, die sie schließlich kaufte. Über den Vorraum gelangte sie nach rechts in das Restaurant. Fast alle Tische waren besetzt, was sie angesichts der vielen Autos, die auf dem Parkplatz standen, schon befürchtet hatte, und auch die Verkaufstheke war belagert von Kunden. Lena war nicht besonders groß und so stellte sie sich auf Zehenspitzen, um einen Blick auf das Angebot erhaschen zu können. Kuchen standen da in allen Variationen, süßes und salziges Blätterteig- und Strudelgebäck, Sandwiches und in Plastikschüsselchen verpackter verzehrfertiger Salat. Hinter den vielbeschäftigten Verkäuferinnen, die in typischer Amisch-Tracht mit dunklem Kleid und weißem Häubchen sehr adrett aussahen, standen in den Regalen Marmeladen und Relishes, in einem überdimensionalen Kühlschrank schließlich viele verschiedene Getränke. Sie machte sich im Geiste ein Liste dessen, was sie in der nächsten Zeit vor dem Verhungern und Verdursten retten sollte, und orderte, als sie endlich an die Reihe kam, eine der appetitlichen Salatschüsseln mit einem Sandwich, dazu einen überaus lecker aussehenden Apfelstrudel mit Vanillesoße, die in einem kleinen verschlossenen Plastikbecher dazu gereicht wurde, und noch ein Stück Käsekuchen. Dazu ließ sie sich noch drei Flaschen Mineralwasser und zwei Flaschen Cola einpacken. Sie war hungrig und hungrig einkaufen zu gehen war noch nie ein guter Ratgeber gewesen.

Lena trat schwer bepackt den Rückzug an. Sie rempelte einige Leute an, die jedoch bereitwillig Platz machten und ihre rasch gemurmelte Entschuldigung mit einem freundlichen Lächeln quittierten. Ein jüngerer Mann hob ihr sogar ihren Geldbeutel auf, der hinuntergefallen war, als sie sich umgedreht hatte. Froh, endlich wieder ihr Zimmer erreicht zu haben, legte sie ihre Einkäufe auf das kleine Tischchen. Ihr war ein wenig schwindelig und ihre Knie zitterten. Es mochte der Schlafmangel sein oder auch einfach die Tatsache, dass sie Hunger hatte, wobei die Ursache vollkommen egal war. Lena beschloss, zu essen und den Tag für heute zu beenden. Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihr, dass es kurz nach sieben Uhr abends war, gerade mittags zu Hause, vielleicht auch deshalb der große Hunger. Trotzdem zog sie sich erst aus und marschierte in den winzigen Nebenraum, den sie gerade eben entdeckt hatte, und in dem eine Dusche, ein Waschbecken und eine Toilette untergebracht waren. Sie hatte zuvor schon befürchtet, sich ein Etagenbad mit anderen teilen zu müssen. Nun stellte sie sich erst einmal unter die Dusche. Dann zog sie ihr leichtes Nachthemd an und fühlte sich unglaublich behaglich. Sie öffnete die Plastikbehälter, zog die Lasche von der Salatsoße, die sie im Beutel mitbekommen hatte und tränkte den Salat damit. Aus der anderen Verpackung zog sie ein Schinken-Eier-Sandwich und genoss in aller Ruhe ihre Mahlzeit. Mit angezogenen Beinen saß sie auf dem bequemen Bett, die weichen Quiltdecken unter sich und vor ihr aufgereiht die unterschiedlichen Speisen, von denen sie sich mal diesen, mal jenen Bissen in den Mund steckte. Den ersten Band des Amisch-Romans hatte sie aufgeschlagen neben sich gelegt und angefangen zu schmökern. Ihr Englisch war leidlich gut und die einfache Sprache der Autorin, die – glaubte man dem Cover – früher amisch und jetzt mennonitischen Glaubens war, ließ sie alles recht gut verstehen. Auch wenn die Handlung übermäßig simpel gestrickt war, tat sich ihr dennoch ein wenig die amische Welt auf, die sie hoffte, entdecken zu können.

Hier, in dem einfachen, behaglichen Raum mit seiner ruhigen Ausstrahlung, dem köstlichen Essen und einem unterhaltsamen Buch fühlte sie sich wohl, so wohl, wie sie es seit langem nicht erlebt hatte. Die aufkommende Dämmerung ließ dieses gute Gefühl einer gewissen Wehmut weichen, die sich immer einstellte, wenn sie woanders als zu Hause schlief. Aber die Müdigkeit, die sich mehr und mehr in ihr breitmachte, forderte nur noch, die weichen Decken zurückzuschlagen und sich hineinzukuscheln.

Markus erwachte zwei Stunden nachdem er sich hingelegt hatte, durch den Lärm eines umfallenden Stuhles, der aus dem Nachbarzimmer drang. Es machte ihm nichts aus, da er ohnehin einige Besorgungen machen und dann noch ein paar Stunden zu seinem Haus hinausfahren wollte. Seinen Koffer hatte er erst gar nicht mit hochgenommen. Er würde bestenfalls eine Nacht bleiben, musste nur ein paar Einrichtungsgegenstände und Vorräte zum Troyer-Haus schaffen, um dann endlich die ersehnte Ruhe zu finden, die er nach den letzten aufregenden Jahren so nötig hatte. So zumindest war der Plan.

Er stieg in seine weiße Mittelklasselimousine – Sportwagen oder Cabrios der höheren Preisklassen waren nicht seine Sache – und fuhr die wenigen hundert Meter bis zu einem kleinen Marktplatz. Genaugenommen war es ein Shopping-Areal, vornehmlich für die Touristen, in dem er jedoch die Läden finden würde, deren Waren er fürs erste brauchte. Er parkte auf dem großen Parkgelände in der Mitte des Viertels. Außen herum gruppierten sich kleine, puppige Geschäfte, alles künstlich, nichts ursprünglich gewachsen. Doch er wusste, dass die Aufmachung zwar Touristen anlocken sollte, in den kleinen Geschäften aber durchaus hochwertige Produkte angeboten wurden. Ein wunderschön dekoriertes Haushaltswarengeschäft fiel ihm auf. Auf der Veranda waren prächtige Quiltdecken über Holzgestellte gebreitet, im Schaufenster dahinter dekorierte ein Amisch-Mädchen gerade verschiedene Haushaltswaren auf einen antiken Geschirrschrank. Markus runzelte die Stirn. Erst beim Anblick der reichen Auslage wurde ihm bewusst, dass sein Haus lediglich aus den Holzwänden und einigen großen Möbelstücken bestand, die die Familie nicht mit nach Ohio nehmen konnte. Im Geiste hakte er die Idee bereits wieder ab, nur eine Nacht in dem Gästehaus zu verbringen.

Immerhin war er in der Lage, einen Haushalt zu führen. Bei den Amisch war es eher ungewöhnlich, dass Männer sich für Haushalt und Küche interessierten. Die Lebensweise brachte es mit sich, dass die Männer genug im Stall, auf dem Feld oder ihren jeweiligen Berufen zu tun hatten und die Frauen sich um die meist große Familie kümmerten, indem sie Haus und Garten versorgten. Da elektrische Geräte verpönt waren, gab es von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nicht genug Stunden, in denen man die Arbeit erledigen konnte.

Markus schlenderte durch die Auslagen im Laden. Viele Geräte weckten Erinnerungen in ihm, die er vergraben wähnte. Seit zehn Jahren war er nicht mehr hier gewesen, davor noch einmal fünf Jahre nicht. Insgesamt also fünfzehn Jahre, in denen er mit dem amischen Leben nichts mehr zu tun hatte. Und nun drängte es ihn, genaugenommen sah er eine Notwendigkeit darin, zumindest für kurze Zeit diese Lebensweise wieder aufzunehmen, nein, er verwarf diesen Gedanken gleich wieder. Die amische Lebensweise würde er nicht wieder aufnehmen, aber er würde in dem Haus seiner Kindheit leben und war dazu gezwungen, zumindest die Einfachheit auszuhalten, die es ihm anbot.

„Kann ich Ihnen das abnehmen?“ Das junge Mädchen vom Schaufenster stand plötzlich neben ihm und lächelte ihn verbindlich an. Für ihn war ihre Aufmachung nichts Besonderes, bestenfalls eine weitere Erinnerung an sein früheres Leben. Sie war recht hübsch mit ihren akkurat gescheitelten Haaren, darüber die züchtige weiße Kapp, deren feine Bänder über ihre Schultern fielen. Das dunkelgrüne, einfach geschnittene Kleid, dessen lange Ärmel sie bis zu den Ellbogen zurückgekrempelt hatte, schmeichelte ihrer zierlichen Figur. Was ihm bei jeder amischen Frau besonders in die Augen stach, war aber das ungeschminkte Gesicht, ein Anblick, den er in seinem Metier selten hatte. Es war ihm früh aufgefallen, dass die ungeschminkten Frauen viel interessantere Gesichtszüge hatten, als die mit Make-Up bepinselten. Das Leben spiegelte sich darin, die Freude, aber auch so manche Trauer, meist jedoch große Zufriedenheit mit dem gottgefälligen Leben, das sie führten. Manchmal beneidete Markus die Amisch um ihren tiefen Glauben.

„Ja, gerne. Ich werde noch reichlich mehr brauchen“, antwortete er ihr in dem deutschen Dialekt, den er so lange nicht mehr gesprochen hatte. Er hatte jetzt gerade in diesem Augenblick Lust darauf zu zeigen, dass er eigentlich dazugehörte.

Ihr Lächeln wurde breiter. „Sie kommen von hier?“ Markus wusste, dass sie nicht sicher sein konnte, mit jemanden zu sprechen, der vielleicht vor Urzeiten gebannt worden war. Seine Kleidung war weltlich. Es konnte sich um einen Ausgestoßenen handeln. Doch sie blieb freundlich.

„Ich bin hier aufgewachsen, ja. Es ist schön, wieder den heimischen Dialekt sprechen zu können. Nicht allzu viele Menschen auf der Welt sprechen ihn.“

Sie beließ es bei den wenigen persönlichen Worten, legte die drei Geschirrtücher, den Satz Frotteehandtücher, den Wasserkessel und den mittelgroßen Topf, den Markus inzwischen in der Hand trug, auf eine Ecke des geräumigen Ladentisches.

„Was benötigen Sie noch?“

„Genaugenommen alles, um in einem leeren Haus leben zu können. Also zuerst einmal Bettwäsche. Ich denke, auch eine neue Matratze. Ist es wohl möglich, mir das alles zu liefern?“

„Gerne, wohin denn?“ Sie hatte rasch einen Block parat, auf den sie die Andresse eintrug, die er ihr nannte. Da sie auf seinen Namen nicht reagierte, nahm Markus an, dass sie aus einem entfernteren Bezirk stammen musste. „Wie wäre es mit morgen früh?“, fragte sie ihn nun.

„Morgen früh wäre prima. Dann suchen wir den Rest noch zusammen.“ Markus ging zurück zu dem Regal, wo er zuvor von ihr unterbrochen worden war, und hakte im Geiste einen Gegenstand nach dem anderen ab. Als zum einen ein riesiger Berg Utensilien auf und neben dem Ladentisch lag und eine weitere Liste mit bestellten Waren aufgestellt worden war, ging er hinüber zu den Quilts. Als kleiner Junge fand er es spannend, wie seine Mutter kochte und bakte. Vor allem die Arbeit mit Teig fand er rasend interessant. Seine Mutter achtete darauf, dass jeder ihrer Söhne zumindest die Grundbegriffe des Kochens beherrschte. „Wer weiß!“, pflegte sie zu sagen, „Wer weiß, ob ihr nicht einmal im Haus aushelfen müsst, weil eure Frau im Wochenbett liegt oder, was Gott verhüten möge, ihr früh verwitwet.“

Die zweite Sache, die er als Junge gerne gelernt hätte, war das Quilten. Wie die unscheinbaren Stoffreste zu einem großen Ganzen zusammengefügt wurden, beeindruckte ihn stets aufs Neue. Doch quilten war eindeutig die Sache der Frauen. Kein Mann würde jemals eine Quiltnadel in die Hand nehmen! Er hatte es auch nie getan, was ihn aber nicht davon abhielt, es faszinierend zu finden.

Nun suchte er sich einen großen Überwurf für sein Bett aus, außerdem zwei kleiner dimensionierte Quiltdecken, die er nicht wirklich brauchte und noch einige Kissen, die mit hübschen Bezügen fertig konfektioniert waren, um auch die Sitzmöbel etwas wohnlicher und bequemer zu gestalten.

Schließlich kaufte er noch eine Tischdecke, ein Utensil, das in keinem amischen Haushalt zu finden war. Nur der Schönheit dienliche Sachen waren unnütz und zu weltlich in den Augen der Amisch.

Er hatte keinen Kühlschrank zur Verfügung, an Küchengeräten nur einen Holzherd, der vielleicht nicht mehr funktionierte. Markus musste also darauf achten, dass die Vorräte, die er einkaufte, keine Kühlung benötigten. Also beschränkte er sich auf wenige Trockenvorräte und Konserven. Brot, köstliche eingemachte Leberwurst im Glas und etwas Hartkäse, der auch einmal in einem kühlen Raum lagern konnte, würden später dazu kommen, wenn er wirklich draußen in seinem Haus lebte. Dann fuhr er nach Paradise, wo er ein bestimmtes Geschäft suchte, das er bereits auf der Herfahrt bemerkt hatte. Es war der Werkzeugladen von Johannes Bontrager, den es schon seit einigen Jahrzehnten