Vier Tage und ein Leben lang - Lydia Preischl - E-Book

Vier Tage und ein Leben lang E-Book

Lydia Preischl

0,0

Beschreibung

Susanne Büchner, eine junge Deutsche, lebt ihren Traum und unternimmt eine lange Reise nach Australien. Obgleich sie sehr geplant und vorsichtig zu Werke geht, strandet sie aufgrund einer Autopanne auf einer einsamen Straße am Rande des australischen Outbacks. Eine zufällig vorbeikommende Gruppe von jungen Leuten hilft ihr aus der misslichen Lage. Doch die vermeintliche Hilfe gerät zur Katastrophe: Ihre Retter – Colin Banks und Cheryll Jenkins, zwei bekannte australische Schauspieler und der ebenso bekannte Tennisspieler Mark Blackwood – werden von der Carlton-Bande entführt. Ein weiterer Zufall führt dazu, dass auch der Farmarbeiter Todd Brooks zu den Entführten stößt. Die Opfer werden in einer einsamen Opalsucherhütte in den Weiten des Outbacks versteckt. Um ihre Forderung nach der Freilassung eines Kumpanen zu untermauern, wenden die Carlton-Brüder massive Gewalt an. Die fünf Verschleppten erleben die schlimmsten Tage ihres Lebens. Und es ist noch nicht zu Ende, genaugenommen ist es ein Leben lang nicht zu Ende. Die dramatische Liebesgeschichte zeigt, wie Zufälle ein Leben bestimmen können und wie das Dasein von so vielen Menschen miteinander verknüpft ist. Auch wenn Dinge sich manchmal auflösen, es ist nie wirklich vorbei...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 570

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Charaktere und Geschehnisse im Roman sind frei erfunden.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 1

Der Flughafen hatte sie ausgespuckt. Endlich! Nach vollen vierundzwanzig Stunden Reisezeit, stand Susanne nun vor dem Sidney Airport und orientierte sich. Ohne darüber nachzudenken, war sie den Exit-Schildern gefolgt und musste nun wieder zurückgehen, um zum Zug zu kommen, der sie in die Innenstadt nach Sidney bringen sollte.

Es erschien ihr, als hätte sie während der gesamten Flugzeit kein Auge zugetan, aber tatsächlich war sie von Zeit zu Zeit, eingeschläfert von den monotonen Motorengeräuschen, ein-gedöst. Trotzdem war sie unendlich müde und froh, bald in ihrem Hotel einchecken zu können und ein wenig zur Ruhe zu kommen.

Susanne hatte seit Jahren auf diese Erfüllung ihres Lebenstraumes hin gespart: einmal nach Australien zu fliegen, es zu bereisen, mit den Menschen in Kontakt zu kommen - vollkommen frei und unabhängig! Früher hatte sie bei der bloßen Erwähnung des Namens Australien heißes Fernweh nach dem roten Erdteil bekommen. Schnell hatte sie erkannt, dass sie erst wirklich zufrieden war, wenn sie sich diese Sehnsucht erfüllen würde.

Genauso lange, wie sie brauchte, um das nötige Geld zusam-menzusparen, plante und feilte sie an der Art der Durchführung. Dabei überließ sie nichts dem Zufall. Sorgfältig hatte sie ihr Reisegepäck zusammengestellt, Listen ent- und wieder verworfen und war erst zufrieden, als wirklich alle Eventualitäten berücksichtigt waren. Die Reiseroute hatte sie fest geplant. Irgendwie würde sie sie quer durch den Kontinent bringen. Sie informierte sich über die Wetterverhältnisse in den unterschiedlichen Landesteilen, Zeiten, an denen bestimmte Sehenswürdigkeiten geschlossen waren, besondere Einschränkungen, die sie zu beachten hatte.

Immerhin konnte sie in unzähligen Telefongesprächen, die sie zu diesem Zweck mit den zuständigen Stellen in Australien geführt hatte, ihr Englisch testen und befand, dass es den Anforderungen wohl genügen würde. So gewappnet hatte sie sich auf die Reise gemacht. Und nun war sie angekommen!

Nachdem sie sich ausgeruht hatte, war sie die ersten Tage mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, fuhr kreuz und quer durch die riesige Stadt und erfreute sich am quirligen Treiben auf den belebten Plätzen Sidneys. Sie kam vom Lande, umso mehr faszinierte sie das bunte Leben in der Metropole. Im Handumdrehen hatte sie die erste Speicherkarte ihrer Digitalkamera gefüllt. Penibel trug sie ihre Erlebnisse in ein stabiles, ledergebundenes Tagebuch ein. Hier würde sie bald für Nachschub sorgen müssen, so viele Gedanken schossen ihr durch den Kopf.

Die Menschen erwiesen sich als überaus freundlich und hilfsbereit. Bemerkten sie, dass es Verständigungsprobleme gab, bemühten sie sich um eine besonders deutliche Aussprache. Es war nicht schwierig, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Fast wehmütig nahm sie nach fünf Tagen Abschied von ihrem Hotel, um den Zug nach Parramatta zu nehmen. Von dort aus würde sie kurze Zeit später die erste große Etappe mit dem Mietwagen starten.

Als sie die Hoteltüre hinter sich geschlossen hatte, konnte sie nicht ahnen, dass sich sehr bald ihr zukünftiges Schicksal mit jemandem, der sich in diesem Augenblick nur wenige Schritte weiter in der Parallelstraße befand, verweben würde.

******

Mark Blackwood legte den Hörer auf die Gabel seines antiken Telefonapparates. Immer wenn er sich zu Hause aufhielt, hatte er unendlich viele Telefongespräche zu führen. Allein mit seinen Eltern redete er stundenlang, denn um sie zu besuchen fehlte meistens die Zeit. Sie lebten weit draußen auf einer riesigen Rinderfarm, zusammen mit einem seiner Brüder und dessen Familie und zwei weiteren unmündigen Geschwistern.

Im Grunde seines Herzens war Mark ein Familienmensch und gerade der Umgang mit Mitgliedern seiner Familie fehlte ihm, während er in der Welt herumjagte.

Er war erfolgreich als Tennisspieler und diese kurze Zeitspanne des großen sportlichen Triumphs musste er nutzen. Die Kehrseite der Medaille war, dass er von einem Hotel zum nächsten reiste und aus dem Koffer lebte. London, Paris, New York, kleinere Turniere in praktisch jedem Erdteil ließen ihn zwar die Welt der Reichen und Schönen kennenlernen, aber auch die Einsamkeit, die man nur empfinden konnte, wenn man nicht allzu viel von diesem Zirkus hielt. Wann immer es ging, entzog er sich dem Trubel oder versuchte, die Eltern oder Geschwister um sich zu haben. Tennis zu spielen machte ihm Spaß. Es wäre ein Frevel gewesen, hätte er dieses außergewöhnliche Talent nicht genutzt. Aber auf das Drumherum konnte er bequem verzichten.

Manchmal begleitete ihn einer seiner Brüder und leistete ihm Gesellschaft während eines langen Turnieres und auch ein wenig moralische Unterstützung in schwierigen Momenten. Natürlich gab es da noch seinen Trainer, aber Marks Verhältnis zu ihm war rein beruflicher Natur. So oft es sich einrichten ließ, gingen sie sich aus dem Weg, besprachen fast nur sportliche Dinge miteinander. Das Arbeitsverhältnis gestaltete sich sehr erfolgreich, wirkliche Freunde aber würden sie nie werden.

Jetzt brauchte er eine Pause. Beim letzten Turnier war er verletzt gewesen, hatte die Zerrung in der Schulter zum Anlass genommen, eine Auszeit einzulegen und sich vorgenommen, Freunde zu treffen. Nun machte er sich daran herauszufinden, wo sie sich aufhielten.

Obgleich er sich keine großen Chancen ausrechnete, seinen besten Freund anzutreffen, rief er bei Colin Banks zu Hause an. Doch er erreichte nur den Anrufbeantworter, einen Apparat, den er jedes Mal aufs Neue verfluchte. Widerstrebend sprach er ein paar Worte auf das Band und bat um einen Rückruf. Während er mit der Maschine referierte, hatte er den Telefonapparat in die Hand genommen und war quer durch das gemütliche Wohnzimmer in dem alten Haus, das er sich im letzten Jahr gekauft hatte, gewandert. Das große Fenster gab durch viele bleiverglaste Elemente den Blick auf den Garten frei, der sich verwildert und mit vielen Bäumen bestanden, vor ihm ausbreitete. Sein Tag war üblicherweise bis aufs Kleinste strukturiert, vom morgendlichen Training über unterschiedlichste Werbeveranstaltungen, bis hin zur unvermeidlichen Players-Party am Abend, dazwischen Spiele, kurze Entspannungsphasen und wieder Training. Er brauchte diese Wildheit seines Gartens und neben der modernen Neonwelt seines Sports die schlichte Einfachheit seines Hauses. Es hier in Sidney zu finden, war ein Glücksfall für ihn gewesen. Der Flughafen war schnell zu erreichen und die Umgebung erschien fast ländlich. Zwar störte ihn, dass sich die Nachbarn hier ebenso aus dem Wege gingen, wie in den Wohnanlagen der Innenstadt, aber für den Moment bedeutete es auch, dass man ihn in Ruhe ließ. Dieser Umstand war auch nicht zu verachten.

Immer noch blickte er auf den verwunschenen Garten, als das alte Telefon schrill einen Anrufer meldete.

Es war Cheryll und Mark wunderte sich, woher sie wusste, dass er zu Hause war. Mark runzelte die Stirn. Im Umgang mit ihr war er von zwiespältigen Gefühlen beseelt. Einerseits mochte er sie und alle Welt war der Meinung, dass sie beide ein Paar wären, was jedoch nie wirklich der Fall war. Cherylls neue Flamme hieß Monica. Das bedeutete, Mark hatte bisher angenommen, dass es noch Monica wäre, aber inzwischen war Cheryll wieder solo. Die Öffentlichkeit wusste weder über Monica, noch über Cherylls Neigungen Bescheid. Man nahm schlicht und ergreifend Notiz von dem Glamourpaar Cheryll Jenkins, der Schauspielerin, die ihren Weg nach Hollywood geschafft hatte, und Mark Blackwood, dem inzwischen recht erfolgreichen Tennisspieler, der aktuellen Nummer zwei in der Welt.

Immerhin erfuhr Mark durch sie Colins Aufenthaltsort und verabredete sich mit ihr. Er wollte sich Colin und Cheryll anschließen bei ihrer Fahrt zu den alten Opalminen, wo die beiden Schauspieler an ihrem neuen Film arbeiteten. Diese Abwechslung kam ihm gerade recht. Sofort packte er eine kleine Reisetasche.

Den restlichen Tag verbrachte er damit, Musik zu hören oder fern zu sehen. Am Abend, als es kühler wurde, ging er in ein Fitness-Studio am Ende der Straße. Auszeit hieß für einen Profi-Sportler nicht, dass er auf der faulen Haut liegen durfte. Ein paar Tage seinen Trainer und den Pulk an Serviceleuten nicht zu sehen, bedeutete schon Luxus für ihn. Und hier in der Abgeschiedenheit seines Zuhauses ließ man ihn in Ruhe. Mark Blackwood war nicht der berühmte Sportprofi, sondern ein ganz normaler Nachbar, der hin und wieder Rasen mähte, sofern ihn das wuchernde Grün störte, oder sich auf der Straße oder eben im Fitness-Studio sehen ließ.

Später an diesem Abend ging er daran, längst überfällige Verträge durchzusehen und wieder einmal Kassensturz zu machen. Wohl hatte er seine Berater, aber Mark wollte über seine finanziellen Dinge auf dem Laufenden sein. Immerhin belief sich sein derzeitiges Vermögen auf einige Millionen australische Dollar und im Grunde genommen hatte er ausgesorgt. Aber einerseits machte ihm sein Sport noch Spaß, zum anderen hatte er seine Finanzen überlegt geregelt. Zur Zeit beschäftigte er sich mit dem Gedanken, sinnvolle soziale Aktionen durchzuführen. Dazu musste er Ideen prüfen und entscheiden, welchen Projekten er wirtschaftlich unter die Arme greifen würde. Die Lektüre der Anträge und Vorschläge nahm den ganzen restlichen Abend in Anspruch, so dass er versäumte, seine Familie anzurufen und ihnen von seinen Reiseplänen zu erzählen.

******

Jack Carlton zog an seiner selbstgedrehten Zigarette und betrachtete seine Brüder, die gespannt um den Tisch saßen. Sein Blick blieb an George hängen, dem jüngsten der vier Carltons. Jener war gerade dabei, mit dem Finger imaginäre Figuren auf die malträtierte Tischplatte zu zeichnen. George war in seinen Bewegungen und seiner Art zu sprechen, einfach in allem, was er tat, unendlich langsam. Manchmal war es regelrecht nervtötend, ihm zuzusehen. Dabei wirkte er – hochaufgeschossen und hager - eher wie einer, der drahtig und wendig war. Andererseits war ihm eine Penibilität zu eigen, die ihn bei diversen Aufgaben, die ihm sein Bruder als Chef der Carlton-Bande zugedacht hatte, sehr zu Gute kam. Er war ein Zahlengenie und damit unübertroffen im Knacken von Zahlencodes. Nicht zuletzt George war es zu verdanken, dass ihr größter Coup derart gut gelang. Nun waren sie Besitzer von stolzen fünf Millionen australischen Dollar – und genau darin bestand das Problem. Nur Joey Higgins, das fünfte Mitglied der Bande, kannte das Versteck des Geldes. Aufgrund eigenartiger Umstände wurden sie bei der Flucht getrennt. Der Haken daran war, dass ausgerechnet Joey erwischt wurde und für die nächsten zwölf Jahre im Gefängnis landete. Die Beute wurde nie gefunden.

„Wir holen Joey da raus und kommen endlich an unser Geld“, erklärte Jack gerade und sah mit gerunzelter Stirn, wie es in Georges Gehirn offensichtlich auf Hochtouren arbeitete. Prompt mischte der sich ein: „Warum fragen wir Joey nicht einfach?“

William und Tom, die anderen beiden Brüder grinsten, während Jack ungeduldig erklärte: „Denkst du, wir marschieren dahin und sagen: ‚Na, Joey, wo hast du die Moneten?’ und er sagt uns das?“

„Hm!“, brummte George, der durchaus erkannt hatte, dass Jack sich auf seine Kosten lustig machte.

Will drängte: „Nun lass ihn doch und erkläre endlich, was du vorhast!“ Er verlagerte seine gewaltigen Körpermassen von einer Seite des massiven Holzstuhles auf die andere und stützte den Kopf nun träge mit beiden Händen.

Jack nickte. „Also, wir befreien ihn und holen uns dann das Geld.“

Nun wurde auch Tom ungeduldig. „Das sagtest du schon, aber jetzt rück’ endlich damit heraus, wie du das anstellen willst.“

„Also, wir entführen ein paar Leute und pressen ihn damit frei und vielleicht noch ein paar Dollar obendrauf.“ Sechs Augenpaare starrten ihn an. Jack genoss die ungeteilte Aufmerksamkeit. Er stützte sich an der schmuddeligen Tischplatte ab und blickte in die gespannten Mienen seiner Brüder.

Doch Toms Gesichtsausdruck verriet Zweifel: „Eine Bank auszurauben ist eine Sache, aber jemanden zu entführen, eine andere. Ist sehr kompliziert. Können wir nicht doch anders an Joeys Informationen kommen?“

Jack hatte Bewunderung erwartet und wurde nun mürrisch: „Habe ich längst darüber nachgedacht!“ Er klang wie ein Lehrer, der einen seiner Schüler tadelte. Gereizt baute er sich in voller Größe vor den anderen auf und stemmte die Fäuste in die Hüften. Alle Carltons waren großgewachsen, doch während Tom und George wahre Bohnenstangen waren, wirkte der breitschultrige, muskulöse Jack wie ein Boxer in seiner aktivsten Zeit. Einzig Will schlug aus der Art. In Bezug auf die Körpergröße stand er den Brüdern in nichts nach, aber nach dem Gewicht glich er eher einem Sumoringer.

„Denkst du nicht, dass ich das längst versucht habe, Arschgeige? Er rückt das Versteck nicht heraus, wenn wir ihn nicht zuvor aus dem Gefängnis holen“, erklärte Jack ärgerlich.

Tom sah ihn missmutig an: „Klingt nach einem Alleingang. Uns hast du davon jedenfalls nichts gesagt.“

Ein handfester Streit lag in der Luft. Es war die Art, wie Tom die Fäuste ballte und Jack die Schultern hochzog, die Will auf den Plan riefen. Schon in ihrer Kindheit war er derjenige gewesen, der vermittelte, wenn die beiden drauf und dran waren, sich die Köpfe einzuschlagen, was nicht hieß, dass er einer Keilerei aus dem Wege ging. Er war lediglich nicht ganz so jähzornig wie die anderen.

Rasch wandte er sich Jack zu: „Und wen willst du entführen?“

Der straffte sich, überlegte noch einige Sekunden, ob eine Auseinandersetzung mit Tom sich lohnte und antwortete dann, immer noch gereizt: „Auf jeden Fall mindestens zwei, und zwar Leute, die man kennt. Auf diese Weise nimmt die Öffentlichkeit Anteil und die Regierung steht unter Druck.“

„Politiker?“ Es entspann sich ein Zwiegespräch zwischen Will und Jack, während Tom immer noch schmollte und George mit dümmlicher Miene das Gehörte für sich sortierte.

„Ach was. Nach denen kräht doch kein Hahn. Nein! Es muss schon jemand sein, der beliebt ist.“

Jack sah seine Brüder an und bemerkte die Spannung in ihren Gesichtern. Selbst Toms Gesichtsausdruck signalisierte Neugier. „Ich dachte an Schauspieler, beliebte Schauspieler, solche, die sich um Arme oder Kinder oder so was kümmern. Das macht Mitleid. Und Mitleid führt dazu, dass die Leute Anteil nehmen und die Politiker und die Polizei unter Druck setzen, wenn die nicht nachgeben wollen.“

„Nun sag schon, wen du im Auge hast.“ Leichte Ungeduld schwang nun auch in Wills Stimme mit.

„Cheryll Jenkins und Colin Banks!“ Jack sah sich beifallshei-schend um. Die beiden kannte nun wirklich jeder Australier! Befriedigt registrierte Jack, dass seine Brüder einschließlich George nickten.

„Also passt auf!“ Er schob die leergetrunkenen Bierdosen und den seit Tagen ungeleerten Aschenbecher achtlos zur Seite und entblätterte eine zerschlissene Landkarte von New South Wales. „Die drehen gerade einen Film und befinden sich in der Nähe von Wonoogara bei Außenaufnahmen. Ihr wisst schon, die alten Opalminen. Sie fahren mehrmals in der Woche zu den Dreharbeiten und wieder zurück. Ihr wisst auch, dass die Gegend dort sehr einsam ist, so dass es nicht schwer sein wird, eine Panne vorzutäuschen und sie hops zu nehmen.“

„Sind die immer zu zweit unterwegs?“, fragte Will.

„So oft ich sie beobachtet habe, schon.“

Die anderen nickten zustimmend. „Wieso fliegen die nicht dorthin?“ Immer noch stellte nur Will die Fragen.

Jack zuckte die Schultern. „Ich glaube, die Landebahn ist hinüber. Die haben das ganze Zeug mit Trucks hingebracht und sind immer nur mit Fahrzeugen unterwegs. Ich habe mich dort zwei Wochen auf die Lauer gelegt und es geschafft, mir einen Drehplan zu angeln. In ein paar Tagen müssen die beiden wieder anreisen und dann können wir zuschlagen.“

„Und wie soll es nach der Panne weitergehen?“, wollte Will nun wissen.

„Ich habe weit draußen eine Hütte aufgetan. Dort, wo früher ein paar Opalsucher gelebt haben, die außerhalb der üblichen Stellen ihr Glück versucht haben. Die Hütte ist ziemlich massiv gebaut. Es gibt zwei Räume, in denen je eine Wasserpumpe steht. An einen Raum ist ein Plumpsklo angebaut. In diesem Raum könnten wir sie festhalten. Es gibt da kein Funkgerät und keinen Strom. Es weiß kaum jemand von dieser Baracke. Sie steht in der Nähe eines Hügels und ziemlich versteckt unter einem Felsvorsprung. Davor befinden sich ein paar Bäume.“

„So weit, so gut“, nickte nun auch Tom. „Aber wie willst du weiter vorgehen?“

Auch daran hatte Jack seit Wochen gefeilt: „Wir nehmen unsere Forderungen und die Opfer auf Video auf und werfen die Kassette einem Radiosender oder so in den Briefkasten, darüber habe ich noch nicht genau nachgedacht. Die Antwort muss übers Radio durchgegeben werden. Ganz einfach.“

„Hm!“ Tom war nicht zufrieden. „Wie ich bereits sagte: So weit, so gut. Schwierig wird es dann bei der Übergabe. Was hast du dir dazu überlegt?“

Jack grinste siegessicher. „Joey hat einen Pilotenschein. Er fliegt mit einer kleinen Maschine ins Outback. Wir erwarten ihn an einem geheimen Treffpunkt und übernehmen ihn dann in einem Wagen, den wir vorher dort deponiert haben. Joey eine geheime Nachricht zukommen zu lassen, ist relativ einfach. Die Fahrzeuge wechseln wir dann ein paar Mal und die Sache ist erledigt. Das Outback ist groß genug, um ein paar Jahre unterzutauchen und das Äußere zu verändern. Und Pässe zu bekommen, ist ebenfalls ein Kinderspiel.“

Will nickte zögerlich. Man sah ihm an, wie er selbst den Plan durchdachte und nach Schwachpunkten untersuchte. „Ist es nicht gefährlich, so weit draußen ohne Verbindung zur Außenwelt zu sein? Uns wäre die Möglichkeit genommen, schnell zu reagieren.“

„Ich gebe zu, dass das ein Risiko ist. Aber wenn wir ein Funkgerät benutzen, wären wir vielleicht anpeilbar.“

„Wenn sie einen Sender ins Flugzeug setzen, sind wir auch anpeilbar“, gab Tom zu bedenken.

„Aber sie können nicht schnell genug reagieren, weil wir uns mit einem anderen Fahrzeug aus dem Staub machen. Selbst wenn sie innerhalb von ein paar Minuten an Ort und Stelle sind, können sie uns nicht finden, wenn wir es geschickt anstellen, und sie werden nicht in der Lage sein, uns innerhalb von wenigen Minuten zu erreichen.“

Jack wartete auf einen erneuten Einwand, doch überraschenderweise stimmten die Brüder nun zu. „Was ist nun zu tun?“, fragte Tom.

Jack blätterte in einem Packen Papieren, der bisher unbeachtet auf dem Tisch lag. Er übergab Will ein Blatt und wartete, bis er und Tom es sich durchgelesen hatten.

„Es ist ein weiter Weg zur Hütte, deshalb müssen wir zusehen, dass wir mit so wenig Aufwand wie möglich, so viel Material wie nötig dorthin schaffen.“

Tom nickte und Jack erklärte weiter: „Wir müssen Dieselkraftstoff und Lebensmittel dorthin bringen. Außerdem Lampen, Batterien, die Videoausrüstung mit den nötigen Akkus, ein Radio und Decken und so Zeugs. Wasser ist da, das habe ich selbst ausprobiert. Die Pumpen sind einsatzfähig.“

Jack lehnte sich befriedigt zurück. Sein Plan war angekommen und seine Brüder würden nun für ihn, den Denker, die Arbeit tun. Er beobachtete zufrieden, wie Tom bereitwillig die Planung übernahm und die Aufgaben verteilte.

„Wie lange soll es dauern?“, fragte der jüngere Bruder nun und Jack beugte sich wieder über den Tisch. „Wir nehmen es so schnell wie möglich in Angriff. Denn ich weiß nicht, wie lange die Dreharbeiten noch dauern. Ich schätze, dass die Sache innerhalb einer Woche erledigt sein wird. Ich habe nicht vor, da lange herumzufackeln und mich auf großartige Verhandlungen einzulassen.“

Tom schüttelte ganz und gar nicht überzeugt den Kopf.

„Solche Sachen sind nie innerhalb einer Woche erledigt“, gab er zu bedenken. „Das zieht sich oft viele Wochen hin.“

Erstaunlicherweise sann Jack tatsächlich über diesen Einwand nach. Insgeheim hatte er sich selbst schon darüber Gedanken gemacht. „Ich gebe zu, dass eine Woche vielleicht zu knapp ist, also gut, dann gehen wir sicherheitshalber mal von Proviant und Material für drei Wochen aus.“ Ging es um das Gelingen eines Planes konnte Jack durchaus Denkfehler eingestehen. „Also Proviant für drei Wochen oder besser vier, dann können wir noch davon zehren, wenn wir unterwegs sind.“

Will hatte mehr oder weniger aufmerksam zugehört und mischte sich nun wieder ins Gespräch. „Wie willst du eigentlich die Entführung bewerkstelligen?“

„Ich dachte an eine Straße, ungefähr eine halbe Stunde von Wonoogara. Da kommt kaum jemand durch, weil die alle den Highway nehmen. Kurz vorher ist eine erhöhte Stelle mit ein paar dürren Büschen. Dort könnte einer von uns einen Beobachtungsposten beziehen und uns über Walky-Talky Bescheid sagen, wenn sie die Stelle passieren. Dann müssten wir eine Panne provozieren, mit einer Nagellatte oder so. Und dann können wir sie überwältigen.“

„Woher weißt du, dass die diese Straße nehmen und nicht den Highway?“, hakte Tom nach.

„Weil es die kürzeste und beste Verbindung dahin ist, wo die drehen. Der Highway wäre ein Riesenumweg. Und die Straße ist noch ziemlich gut in Schuss, so dass ich sicher bin, dass sie dort lang fahren. Außerdem habe ich sie mal über die alte Straße sprechen hören.“

Alle waren zufrieden. Es klang logisch, gut durchdacht und machbar. Jacks Pläne funktionierten in der Regel, also machten sich alle mit Feuereifer an die Arbeit.

******

Susanne ging generalstabmäßig an die nächste Etappe heran. Sie wollte in den kommenden Tagen jeweils ein Stück fahren, ein wenig wandern, die Naturschönheiten betrachten und in einem Hotel übernachten. So sollte sie die kommende Woche über tausendfünfhundert Kilometer weit zuerst Richtung Melbourne und dann ins Innere des Landes führen.

Bevor sie am Morgen startete, kontrollierte sie das Fahrzeug, packte ein paar Flaschen Mineralwasser und eine Tagesration Lebensmittel mit ein. Sorgfältig legte sie sich die Landkarten zurecht und meldete sich noch einmal bei dem Hotel, an dem sie am Abend Station machen wollte. Tauchte sie dort nicht auf, würde sie als abgängig gemeldet werden. Auf diese Weise würde sie im Falle einer Autopanne auf einsamem Gelände irgendwann gefunden werden. Für den Notfall hatte sie auch ein Handy zur Hand, aber sie bemerkte, dass das nicht immer – eigentlich fast nie - funktionierte, eine Tatsache, an die sie zu Hause nicht gedacht hatte. Darauf konnte sie sich also nicht verlassen.

Ihre Reise verlief ohne Zwischenfälle. Sie war kontaktfreudig, so dass sie einige Etappen sogar zusammen mit anderen Touristen fuhr und deren Gesellschaft genießen konnte. Am Abend ergab sich im Hotel immer eine lustige Runde, so dass sie mit der Zeit sorglos wurde. Sie rief nicht mehr in den Hotels an, in denen sie am Abend übernachten wollte. Auch die morgendlichen Verrichtungen rund um das Fahrzeug wurden zur Routine und so vergaß sie am fünften Tag ihrer Tour das Wichtigste überhaupt: Sie dachte nicht im Mindesten daran zu tanken. Zur Mittagszeit fiel ihr auf, dass sich die Benzinuhr bedrohlich dem Ende zuneigte. Susanne erschrak. Eine derartige Panne zu planen war eines, sie schließlich zu erleben das andere!

Sie hielt an und grub im Kofferraum nach dem Reservekanister. Die zehn Liter brachten sie zwar noch hundert Kilometer weiter, aber ausgerechnet diese Etappe war die längste von allen vorherigen.

Nachdem das Fahrzeug stotternd ausgerollt war, stieg Susanne aus, nicht ohne eine gewisse Beklemmung zu fühlen. Nun musste sie mit Verstand an die Sache herangehen. Seit längerer Zeit war ihr kein Fahrzeug mehr begegnet, außerdem war es brütend heiß. Sie setzte ihren Sonnenhut auf und trank ein paar Schlucke des warmen Mineralwassers. Dann probierte sie ihr Handy aus, das natürlich nicht funktionierte. Sie würde schon warten müssen, bis man nach ihr suchte oder doch noch jemand des Weges kam.

Wütend auf sich selber setzte sie sich, so gut es ging, in den Schatten und hoffte auf baldige Rettung.

******

Colin Banks freute sich, den alten Freund wieder zu sehen. Genaugenommen waren er und Mark mehr als Freunde. Die Blackwoods hatten sich einst um Colin gekümmert, nachdem dessen Eltern bei einem Autounfall getötet worden waren. Colins viel ältere Schwester Elizabeth hatte kein Interesse daran gehabt, ihren jüngeren Bruder nach London zu holen, wo sie mit ihrem Ehemann lebte.

Nun saßen sie ausgelassen im Auto der Filmgesellschaft und scherzten fröhlich miteinander.

„Wir sollten mit dem Regisseur reden“, flachste Colin gerade, „Vielleicht hat er noch eine kleine Rolle für dich, Mark. Was denkst du Cheryll?“

„Das ich vor Hitze nicht denken kann“, seufzte Cheryll. Sie saß auf dem Rücksitz, einen überdimensionalen Hut auf dem Kopf und eine riesige Sonnenbrille vor den Augen. Die übergroßen Gläser ließen ihr schmales, makelloses Gesicht noch zerbrechlicher erscheinen. Ihre Eleganz wirkte selbstverständlich. Mark, der auf dem Beifahrersitz saß, hatte sich nach ihr umgedreht und betrachtete sie mit offenem Blick. Sie ist wirklich eine schöne Frau! dachte er bei sich. Seit längerer Zeit hatten sie sich nicht mehr gesehen.

„Vielleicht kann er Charlies Rolle übernehmen“, beantwortete sie schmunzelnd Colins Frage nun doch, während sie Mark anlächelte.

„Wer ist Charlie? Bestimmt ein kauziger Kerl mit Vollbart und ewig betrunken“, ahnte Mark.

Colin und Cheryll grinsten. „Ein Ganzkörperbart, sozusagen“, neckte Colin ihn. „Charlie ist ein Känguru. Es taucht immer dann auf, wenn irgendetwas passiert.“

„Du liebe Zeit! Wie originell. Was für einen Film dreht ihr denn da?“

„Das Tier ist wohl die heitere Note in dem Schinken“, kommentierte Cheryll schulterzuckend.

„Magst du den Film nicht?“, fragte Mark sie nun ernster.

„Den Film schon, aber Charlie nicht“, gab sie zurück. „Ich muss in einer Szene ziemlich nah mit ihm zusammenarbeiten. Er ... es ... ach – ich hab‘s nicht so mit Tieren.“ Sie verzog angewidert den Mund. „Aber erzähl‘ doch du mal! Wie war dein letztes Turnier? Ich hatte kaum Gelegenheit, etwas darüber in Erfahrung zu bringen“, erkundigte sie sich nun interessiert.

„Ich habe mich in der zweiten Runde verabschiedet. Zerrung in der Schulter.“ Mark drehte sich wieder zurück und zog an seinem Gurt. Die Schulter tat ihm tatsächlich weh, wenn er zu lange nach hinten schaute.

„Schlimm?“, fragte nun auch Colin.

„Ich weiß nicht. Ist wohl eine Verschleißerscheinung. Ich spiele Tennis seit ich denken kann, und bei all den harten Aufschlägen ist es kein Wunder, wenn mal was weh tut.“ Colin musterte ihn fragend, aber Mark wich seinem Blick aus. Er atmete tief durch. „Ehrlich gesagt, denke ich, habe ich einfach eine Auszeit gebraucht. Immer nur aus dem Koffer zu leben, herumzureisen... . Ich bin eben ein Familienmensch und Vic, na, er ist halt nur mein Trainer...“

„Gibt es wieder Probleme?“, bohrte Colin weiter. Er kannte die Schwierigkeiten, die Mark mit seinem Trainer hatte.

„Nicht wirklich. Wir trainieren, legen Strategien fest. Er tut seine Arbeit und ich bezahle ihn. Aber Freunde werden wir wohl nie.“

Cheryll hatte still zugehört, nun meldete sie sich wieder zu Wort: „Wie kannst du die ganze Zeit mit jemanden zusammenarbeiten, den du nicht leiden kannst?“

„Müssen wir das nicht alle mal?“, gab Mark zurück und fügte lächelnd hinzu: „Denk an Charlie!“ Cheryll lächelte zurück und Mark sprach ernster weiter: „Vic ist schon in Ordnung. Er ist knallhart. Er hält mir die Presse vom Leib, beschafft mir Informationen über meine Gegner, plant einfach alles. Wir müssen uns ja nicht täglich umarmen.“ Er zuckte mit den Schultern und wechselte das Thema. „Oh Mann, wie lange dauert das denn noch? Ist irre heiß heute.“ Colin nahm sich vor, noch einmal in einem ruhigen Moment mit ihm über sein offensichtliches Problem zu sprechen.

Sie hingen eine Weile ihren eigenen Gedanken nach. Während Colin seine Aufmerksamkeit der Straße schenken musste, dösten die anderen beiden vor sich hin. Auf der ausgedehnten, baumlosen Ebene konnte man kilometerweit sehen und so wurde Colin recht bald auf ein entferntes Fahrzeug aufmerksam, das am Straßenrand geparkt war.

„Schaut mal dort. Sieht nach einer Autopanne aus.“

„Na, hoffentlich nicht ein Tourist, der sich auf die Socken gemacht hat, mit der Illusion hier irgendwo anzukommen“, murmelte Mark, während Colin das Fahrzeug in die Richtung des anderen Wagens lenkte.

„Ach Touristen! Ein Wunder, dass nicht viel mehr von denen verloren gehen während der Saison“, erwiderte Cheryll müde. „Es ist tatsächlich ein Mietwagen. Schaut mal auf das Nummernschild.“

„Ist doch gar keine Reisesaison. Viel zu heiß dazu.“ Noch während Colin sprach, schälte sich aus dem anderen Wagen eine junge Frau. Sie trug Jeans und T-Shirt und auf dem Kopf einen breitkrempigen Hut in Manier eines Westernreiters, unter dem man kaum ihr Gesicht erkennen konnte. Nun nahm sie den Hut ab und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

Colin hielt an und alle stiegen aus. Susanne war erleichtert, als sie neben den beiden jungen Männern auch die Frau bemerkte, denn ein wenig Angst hatte sie bei dieser einsamen Begegnung, so weit ab von menschlichen Ansiedlungen, schon.

Mark war inzwischen um das Fahrzeug herum gelaufen und bei der Fremden stehen geblieben.

„Was für ein Problem haben Sie denn? Ist das Benzin alle?“, erriet er, da ein anderer Schaden nicht sichtbar war.

Die blonde junge Frau nickte. Sie trug ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der eine Handbreit unter den Schultern endete, und blies jetzt eine vorwitzige Strähne aus ihrem Gesicht.

„Sie haben Recht. Den Kanister habe ich schon eingefüllt. Dummerweise habe ich heute Morgen vergessen zu tanken. Wenn Sie mir vielleicht aushelfen könnten...“ Sie sah die drei mit treuherzigem Blick an. Natürlich wusste sie, wie dämlich sie angesichts dieser Situation wirken musste. „Bis Wonoogara kann es eigentlich nicht mehr weit sein. Ein Kanister müsste reichen, denke ich.“ Ihr Englisch war gepflegt, doch nicht akzentfrei. Susanne musterte die drei ihrerseits mit raschem Blick. Während der eine der beiden Männer hellhaarig und hellhäutig war, war der Größere der beiden dunkel und braungebrannt. Er wirkte sehr athletisch. Erstaunlicherweise hatten beide auffällig dunkle Augen, auch der Blonde.

Susanne hatte sich Gesichter nie gut merken können, und es war praktisch unmöglich, dass sie hier in der australischen Wüste jemanden treffen könnte, den sie schon mal gesehen hatte. Aber bei den beiden jungen Männern hatte sie das eigenartige Gefühl, dass sie sie kannte. Die Frau jedoch war nicht zu bestimmen. Wohl hatte sie eine perfekte Figur und war ebenso perfekt gekleidet, aber die Brille und der Hut überdeckten praktisch ihr ganzes Gesicht. Irgendwie schien sie nicht in die staubige Umgebung zu passen. Susanne fühlte sich neben ihr schmuddelig und farblos – und dick!

„Haben Sie Wasser?“, erkundigte sich Mark zuvorkommend.

„Ja, vielen Dank. Leider fehlt‘s nur am Benzin. An alles andere habe ich schon gedacht.“ Susanne wartete etwas hilflos ab.

Während Mark noch immer neben ihr stand, hatte sich Colin auf die Suche nach seinem eigenen Benzinkanister gemacht und den Kofferraum geöffnet.

„Damned!“, fluchte er. „Auch unser Kanister ist leer. Wer benutzt das Zeug und füllt es nicht wieder auf? Tut mir leid, Miss. Sieht so aus, als ob wir nicht weiterhelfen könnten.“ Er schloss den Kofferraum wieder und kam zu Mark und der Fremden herüber.

„Sie können gerne mit uns nach Wonoogara fahren und Ihren Kanister füllen. Sie finden sicher eine Möglichkeit, zu Ihrem Wagen zurück zu kommen. Ist in jedem Fall besser, als abzu-schleppen. Das geht zu langsam voran“, bot er an.

Susanne blieb nichts anderes übrig, als das Angebot anzunehmen. Dennoch wollte sie zumindest wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Nachdem sie sich gegenseitig vorgestellt hatten, kletterte Susanne endlich auf den Rücksitz zu der jungen Frau und Colin setzte die Fahrt fort. Mark drehte sich halbwegs zu ihr um und verwickelte sie in ein Gespräch.

„Was wollen Sie denn in Wonoogara? Ist nicht gerade eine Touristenmetropole, und staubig dazu um diese Jahreszeit.“

„Oh, ich bin länger hier, vier Monate um genau zu sein. Ich möchte das ganze Land bereisen und mir so viel wie möglich ansehen. Eigentlich wollte ich in Wonoogara nur Station machen, um morgen von Broken Hill aus nach Alice Springs zu fliegen. Aber ganz so einsam hätte ich es mir nicht vorgestellt, ehrlich gesagt.“

„Das liegt nur daran, weil der Highway etwas weiter östlich verläuft. Sie kommen hier zwar auch nach Wonoogara, aber nicht ganz so bequem und schnell. Eigentlich hatten Sie Glück, dass wir Sie aufgegabelt haben.“

Susanne bekam eine Gänsehaut. Offensichtlich hatte sie den Highway verfehlt. Wenn man eine Suchaktion gestartet hätte, wäre es schwierig gewesen, sie zu finden.

„Ja, ich hatte Glück“, murmelte sie gedankenverloren. „Aber was machen Sie denn dann auf dieser Straße?“

Wieder antwortete Mark. „Genaugenommen wollten wir gar nicht nach Wonoogara, sondern waren auf dem Weg zu einer alten Mine weiter westlich. Der Weg ist viel kürzer als über den Highway. Aber wir setzen sie schon im Ort ab, keine Angst.“

„Dann machen Sie wegen mir einen Umweg. Sehr freundlich von Ihnen“, gab Susanne zerknirscht zurück und schwieg nun endgültig.

Nachdem sich ihre Anspannung gelöst hatte, genoss Susanne die Fahrt. Eine kleine Känguru-Herde zog über die weit entfernte Ebene. Die heiße Luft flirrte so sehr, dass man die Tiere kaum erkennen konnte. Da tauchte am Straßenrand ein Reiter auf einem Dromedar auf. Er entfernte sich rasch in östlicher Richtung und war bald in einer riesigen Staubwolke verschwunden.

„Was ist das denn?“, entfuhr es Susanne und schreckte damit Cheryll aus einem leichten Schlaf. Mark dreht sich wieder zu ihr um. „Forscher und Abenteurer haben die Tiere vor vielen Jahrzehnten ins Land gebracht. Sie konnten viele Lasten tragen und hielten das Klima sehr gut aus. Irgendwann brauchte man sie nicht mehr und entließ sie in die Freiheit. Daraus haben sich wildlebende Herden entwickelt. Heutzutage hat man sie wieder entdeckt und veranstaltet Dromedar- und Kamelrennen. Der da trainiert dafür. Die Rennen sind hier in Australien ziemlich bekannt und beliebt.“

Ein heftiger Knall unterbrach Marks Erklärungen. Colin hatte Mühe, den ins Trudeln geratenen Wagen am Straßenrand zum Stehen zu bringen.

„Verdammt!“, schimpfte Colin. „Da muss es einen Reifen erwischt haben!“ Geschickt brachte er das Fahrzeug zum Stehen und alle stiegen aus, um den Schaden zu betrachten.

Der linke hintere Reifen war vollkommen zerfetzt.

„Den hat es aber gründlich zerlegt.“ Colin kratzt sich nachdenklich am Kopf. „Da hatten wir ja direkt Glück.“

„Ja, hätte böse ausgehen können“, bestätigte Mark und zeigte auf die zum Teil recht tiefen Löcher links und rechts der befestigten Fahrbahn.

Cheryll zuckte nur mit den Schultern. „Na, ihr macht das schon, Jungs. Und beeilt euch ein wenig. Hier gibt es keinen Schatten.“

Sie klang eher belustigt als mürrisch und so beschloss auch Susanne, dass das Missgeschick keinen Ärger wert war.

Kapitel 2

Der alte, klapprige Bus der Carlton-Brüder stand gut getarnt hinter einem der spärlichen Büsche, etwa 30 Kilometer vor Wonoogara. Will wischte sich den Schweiß von der Stirn und nippte zum wiederholten Male an seiner Wasserflasche. Ihm war tödlich langweilig. Obgleich der phlegmatische unter seinen Brüdern, mochte er derart geduldsfordernde Aufgaben nicht. Die anderen hatten ihn einige Fahrtminuten vor ihrem Standort abgesetzt. Seine Aufgabe bestand darin, per Funkgerät durchzugeben, wann der Wagen ihrer potentiellen Opfer die Straße passierte. Auf diese Weise würde einer Verwechslung vorgebeugt werden. Es war zwar unwahrscheinlich, dass sich noch mehr Menschen auf diese Straße verirrten, aber ausgeschlossen war es nicht. Also erschlug er die zwanzigste – oder war es die zweihundertste? - Mücke und versuchte so viel Aufmerksamkeit wie möglich für seinen Auftrag aufzubringen. Als sich ein Fahrzeug näherte, duckte er sich hinter den kleinen Hügel, der ihm als Sichtschutz diente.

Tom und Jack warteten im Schatten der Büsche, als Will sie anfunkte: „He, seid ihr da?“

„Ja, wo sollen wir wohl sein!“, meldete Jack sich nervös.

„Sie sind gerade vorbeigefahren. Aber da sitzen vier Leute im Wagen.“

„Bist du sicher, dass sie es sind?“, gab Jack zurück.

„Hundertprozentig! Ich habe die zwei eindeutig erkannt. Die anderen beiden kenne ich nicht.“ Es gab keinen Grund, an Wills Aussage zu zweifeln. Er hatte ein exzellentes Personengedächtnis.

Jack fluchte. Ausgerechnet heute! Er dachte kurz nach, gab seinem Bruder schließlich zu verstehen: „Wir machen es trotzdem!“

Seine Entscheidung wurde klaglos akzeptiert, also bereitete man die Panne professionell vor. Doch der ersehnte Wagen tauchte nicht auf.

Jack funkte Will ungeduldig an. „Die kommen nicht! Was ist da los?“

„Ich glaube, die haben selber eine Panne. Ich kann sie gerade noch so an einer Biegung sehen. Sie stehen da seit ein paar Minuten herum ... warte mal ...“ Will begutachtete die Szene mit dem Fernglas und drückte dann wieder die Taste seines Sprechfunkgerätes: „Die räumen den Kofferraum aus, sieht so aus, als ob sie einen Reifen wechseln müssten.“

Jacks Gehirn arbeitete schnell: „Wir kommen zu dir und überrumpeln sie einfach dort. Vielleicht ist das sogar besser.“

Er jagte Tom ins Auto und setzte sich selber ans Steuer. Tom hörte den Plänen seines Bruders zunächst skeptisch zu.

„Denkst du, es ist gut, uns vier Geiseln aufzuladen?“

„Je mehr, desto besser“, antwortete Jack knapp, während er halsbrecherisch durch die dürre Steppe pflügte.

„Aber die Lebensmittel reichen nicht für so viele Leute“, wandte Tom ein.

Jack blieb erstaunlich ruhig. „Dann sollen sie sich eben einschränken. Außerdem haben wir dann vier Leute, die wir nacheinander kalt machen können, wenn sie nicht auf unsere Forderungen eingehen. Das gibt uns etwas Spielraum.“

Er hielt an, um Will zusteigen zu lassen. „Beeil dich!“, drängte der, „die packen schon wieder zusammen.“

Die vier sahen den alten Transporter kommen. Es stand zu erwarten, dass der Fahrer anhielt, denn es war ein ungeschriebenes Gesetz in den weithin unbewohnten Gebieten, sich gegenseitig zu helfen. Mark hatte seine Sonnenbrille aus seiner Reisetasche geholt und stand nun, die Tasche noch in der Hand, abwartend am Straßenrand. Colin sah nur kurz in die Richtung des herannahenden Fahrzeuges und vertiefte sich dann wieder in seine Arbeit im Kofferraum. Er war fast fertig damit, den kaputten Reifen zu verstauen und das Gepäck darüber zu stapeln, als der Fahrer des anderen Wagens ausstieg. Er kam mit einer Landkarte in der Hand zu ihnen herüber.

„Haben Sie eine Panne?“, fragte Jack freundlich. Tom war inzwischen auch ausgestiegen und gesellte sich dazu.

„Danke, ist schon erledigt. Wir können gleich weiter fahren“, gab Mark zurück.

„Vielleicht können Sie mir helfen.“ Jack wedelte mit der Landkarte und ging zurück zum Transporter, scheinbar um das Papier auf den Fahrersitz zu legen und eine Auskunft zu erbitten. Mark folgte ihm.

Jack fragte nach einem Ort, den er eben erfunden hatte. Daher war Mark ratlos und winkte Cheryll zu sich, während Colin nach wie vor mit Einpacken beschäftigt war.

Susanne, die die Gegend betrachtete, kümmerte sich nicht weiter um das Geschehen. Sie hatte aus ihrem Rucksack eine Wasserflasche gezogen und trank, als sie hinter sich einen Schwall heftiger Worte vernahm. Es wurde so schnell gesprochen, dass sie kein Wort verstand, also drehte sie sich neugierig um. Sie erschrak aufs Heftigste!

Die Schiebetür zum Bauch des Transporters hatte sich unvermittelt geöffnet, und Will hielt eine dickläufige Flinte direkt vor Marks Kopf. Zeitgleich griff Tom nach Cheryll. Colin hob in maßlosem Erstaunen den Kopf und Susanne ahnte, dass er ebenso überrascht wie sie selbst war. Die Flasche fiel ihr aus der Hand, doch ihren Rucksack hielt sie fest, ohne zu wissen, dass und warum sie es tat. Während alles in Windeseile von statten ging, reagierte sie selbst wie in Zeitlupe. Will rief ihr und Colin etwas zu, was so viel wie Kommt rüber! heißen sollte. Als sie zögerte, bedeutete Colin ihr mit einer fahrigen Bewegung, ihm zu folgen. Aus irgendeinem Grunde starrte Susanne Cheryll an, die in Toms eisernem Griff angewidert das Gesicht verzog. Sie hatte Hut und Brille in dem kurzen, chancenlosen Handgemenge verloren, das sie ihrem Angreifer geliefert hatte. Ihre Augen waren schreckgeweitet. In Susanne kroch Panik hoch! Ihr Magen krampfte sich zusammen! Sie fühlte den starken Antrieb, einfach wegzurennen, aber ihre Beine waren wie einbetoniert! Colin dagegen trat ein paar Schritte näher.

„Was wollt ihr von uns?“, fragte er hitzig. Fast sah es so aus, als wolle er mit bloßen Fäusten auf die Bewaffneten losgehen.

Will grinste ungerührt. „Das erfahrt ihr schon früh genug. Komm jetzt rüber, sonst mache ich deinen Kumpel hier kalt!“ Zur Bekräftigung stieß er Mark den Gewehrlauf grob gegen die Brust. Der zuckte zusammen, blieb jedoch stumm.

Tom hatte Cherylls Arme inzwischen mit Jacks Hilfe auf den Rücken gefesselt und sie in den Transporter gestoßen. Mark war der nächste, der gefesselt in das Fahrzeug geschubst wurde. Starr vor Angst musste Susanne dieselbe Prozedur über sich ergehen lassen und stolperte mit dem Schienbein gegen den Steg des Einstieges. Der Schmerz löste wohl ihre Erstarrung, doch die Angst verringerte sich nicht. Colin landete auf ihrem schmerzenden Bein und sie schrie auf. Er fluchte und entschuldigte sich hastig. Doch die Entführer ließen ihnen keine Zeit zur Sammlung. Gepäckstücke landeten mit im Wagen. Stinkende Stofffetzen wurden um ihre Augen gebunden, und nun waren sie in vollkommener Dunkelheit gefangen.

Sie saßen auf dem Boden, die Knie angezogen. Susanne erfühlte die Hände desjenigen, der neben ihr saß. Später erfuhr sie, dass es Mark war. Die Berührung tröstete sie trotz der fatalen Situation. Der Wagen fuhr an. Vom stattgefundenen Verbrechen zeugten lediglich ein Pannenfahrzeug, wie es viele gab, der offene Kofferraum und eine ausgelaufene Wasserflasche, deren Inhalt langsam im heißen Sand des australischen Hinterlandes versickerte.

Stundenlang dauerte die beängstigende Fahrt über holprige Pisten mit tiefen Schlaglöchern. Die drei Australier wussten, dass es keine befestigte Straße mehr sein konnte, über die sie befördert wurden. Nach unendlich langer Zeit hatten sie das Gefühl deutlich langsamer zu fahren.

Will zischte ihnen unfreundlich zu: „Keinen Ton jetzt!“ Zur Bekräftigung ließ er jedem einzelnen seiner Opfer das kühle Metall der Waffe spüren.

Ein Wortwechsel entspann sich zwischen den Brüdern.

„Verdammt, Jack!“, zeterte Will, der durchaus Temperament entwickeln konnte. „Jetzt haben wir schon zwei Leute mehr! Der Raum ist winzig und die Lebensmittel reichen hinten und vorne nicht! Du hast eine Woche für die Aktion veranschlagt, aber man weiß ja, dass so etwas immer verzögert wird. Und nun noch das!“ In ihrem Blickfeld war ein Mann aufgetaucht, der ihnen gefährlich werden konnte.

„Wir haben Lebensmittel für vier Wochen besorgt“, gab Jack zurück. „Und wir müssen ihn mitnehmen. Was wird er wohl der Polizei erzählen, wenn die erst einmal nach uns suchen? Wir sind zu nahe am Ziel.“

„Und wenn wir ihn umlegen?“

„Man würde die Leiche auf jeden Fall finden, selbst wenn wir ihn verscharren. Irgendjemandem wird er fehlen und die würden ihn suchen gehen. Dann ist es egal, ob er tot oder lebendig ist. Nein, wir nehmen ihn mit und wir haben einen mehr, den wir im Falle eines Falles erschießen können!“ An dieser Stelle der Unterhaltung hatte Jack angehalten.

Der junge Mann kam näher. Jack sprach durch das geöffnete Fenster. „Was tun Sie hier in dieser Einöde?“

„Also, ich weiß ja nicht, was Sie hier wollen, aber das ist das Parker-Anwesen und ich glaube nicht, dass Sie hier richtig sind.“ Die Stimme des jungen Mannes klang hilfsbereit.

„Ach ja? Und Sie sind wohl alleine hier draußen?“, fragte Jack freundlich.

Der andere nickte. „Allerdings. Ich soll eine Wasserstelle und die Zäune kontrollieren...“

„Na wunderbar!“ Jack zog die Waffe hervor und hielt sie dem jungen Mann vor die Nase. „Dann dürfen wir dich zu uns einladen!“

Wie die anderen wurde er gefesselt und ebenso unsanft in den Wagen befördert. Für die Ohren der anderen hörte es sich an, als würde er sich wehren, ein deutlicher Schlag, womit auch immer geführt, und ein Schmerzensschrei verrieten, dass die Entführer kurzen Prozess gemacht hatten.

„Verdammt, verdammt, verdammt!“, fluchte Tom lautstark, „Nichts klappt! Willst du ganz Australien einsammeln? Wie soll das enden? Warum schmeißen wir nicht alle einfach aus dem Auto und machen uns aus dem Staub?“

Jack antwortete nicht sofort, sondern stierte aus dem Wagenfenster in die beginnende Dunkelheit. Er musste seine Gedanken neu ordnen und durfte die eigene Nervosität nicht zeigen. Mit fester Stimme, aber nicht ganz so fester innerer Überzeugung, bestimmte er: „Wir machen weiter wie geplant. Außer, dass es nun ein paar Leute mehr sind, ist nichts passiert. Jetzt macht euch nicht in die Hosen. Wir sind Profis, oder etwa nicht?“ Ein Grinsen überzog sein Gesicht, als ihm einfiel: „Ich bin mal gespannt, was uns da alles ins Netz gegangen ist. Das ist besser als Weihnachten!“

Er lenkte den Wagen noch einige Zeit über einen holprigen Weg und hielt vor einer baufälligen Hütte an. Auf den zweiten Blick war zu erkennen, dass das Gebäude aus massiven Holzbalken gebaut war und sogar schweren Unwettern standhalten konnte.

George kam aus der Tür gelaufen: „Na endlich, ich dachte schon, ihr hättet mich vergessen!“

Jack maulte halblaut: „Ja, ja, schon gut“, und befahl rüde: „Kommt jetzt, bringt sie rein!“ Er griff selbst nach einem der Opfer und zerrte es ins Haus.

Es war Colin, den er in eisernem Griff in den dunklen Flur schleppte. Jack war ihm körperlich derart überlegen, dass Colin nicht einmal daran denken konnte, sich zur Wehr zu setzen. Bevor Jack ihn in einen Raum stieß, nahm er ihm die Augenbinde ab und schnitt die Fesseln durch. Die anderen wurden nacheinander hereingebracht. Colin erkannte in dem helleren Licht des Flures, dass einer ihrer Entführer eine Pistole im Anschlag hielt und abwartete, bis die anderen jedem einzelnen ihrer Opfer die Fesseln durchgeschnitten und die Augenbinde abgenommen hatten.

Draußen brannte George darauf, den Wagen im nahen Schuppen zu verstecken, wo bereits ein zweites, kleineres Fahrzeug, das als späteres Fluchtauto geplant war, stand. Jack hatte es ihm erlaubt. Er stieg mit der Inbrunst und dem Vergnügen eines kleinen Kindes auf das Gaspedal. Wohl traf er die Einfahrt zum Schuppen, doch ein hässliches Geräusch ließ Jack kurz drauf zusammenfahren. Es klang wie das Zerquetschen von Blech in der Autopresse. Er dachte sofort an das zweite Auto. Alarmiert hetzte er den kurzen Weg bis zur provisorischen Garage. George empfing ihn mit fröhlichem Gesicht. „Ist nichts passiert, Jack. Ich habe nur ein paar Konserven zu Matsch gefahren.“ Er zog einen triefenden Karton unter dem Wagen hervor und stapelte wenige noch heile Dosen daneben auf. Außer sich vor Wut verabreichte Jack seinem einfältigen Bruder eine schallende Ohrfeige. Vollkommen überrascht hielt sich George die blutende Lippe. Es kam selten vor, dass einer der Brüder den einfältigen Jüngeren schlug, aber Jack musste seiner Erregung Luft verschaffen.

„He, warum schlägst du mich?“, maulte George und hielt sich die schmerzende Backe.

Beinahe zeitgleich trafen Will und Tom ein, aufgeschreckt durch die unangenehmen Geräusche und den heftigen Wortwechsel.

„Ja, warum schlägst du ihn?“, nörgelte Tom, als er die beiden Brüder sah.

„Dieser Blödmann hat einen ganzen Karton Konserven zu Mus gefahren. Was hatte die Schachtel überhaupt hier zu suchen?“, brüllte Jack.

„Ich ... ich habe euch kommen hören und habe die Schachtel hier abgestellt. Ich wollte sie gerade ins Haus schaffen“, rechtfertigte sich George weinerlich.

Tom unterbrach ihn trocken: „Stelle fest, dass wir drei Leute mehr hierhaben, und weniger Lebensmittel als je zuvor. Toll! Ganz, ganz toll!“

„Warum kaufen wir nicht einfach ein?“, wagte sich George erneut dazwischen.

Jack schnaubte verächtlich: „Wir marschieren also in den Laden und holen Lebensmittel für drei Leute für eine Woche und noch mehr dazu. Und du denkst, dass fällt hier im Outback in einem kleinen Nest niemanden auf? Abgesehen davon, dass wir unsere Visagen von der Außenwelt fernhalten sollten, bis alles erledigt ist. Was bin ich doch von Armleuchtern umgeben!“

„Jetzt mach mal halblang. Was George passiert ist, ist doch nur die Spitze des Eisberges. Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Es klappt überhaupt nichts! Wir lassen sie hier und machen uns einfach davon“, beharrte Tom.

„Quatsch! Wir lassen uns doch von ein paar Schwierigkeiten nicht ins Bockshorn jagen! Schafft alles, was noch genießbar ist, ins Haus. Dann machen wir uns endlich an die Arbeit.“

Jack ließ die Brüder stehen und holte die beiden Taschen seiner Opfer, die achtlos mit in den Van befördert wurden, aus dem Inneren des Wagens. Er ging voran ins Haus und die anderen folgten zögernd. Der vordere, größere Raum diente nun als Stützpunkt. Nach und nach stapelten sich die Lebensmittel in einer Ecke, Decken und sonstige Gerätschaften auf den schmalen Pritschen und dem großen, grobgezimmerten Tisch. Jack und Tom verstauten die Utensilien so gut es ging.

Will steckte den Akku in die Videokamera und drückte den Aufnahmeknopf. „Funktioniert prima, das Ding!“ Er liebte technische Spielereien und nervte seine Brüder, indem er sie mit der Kamera verfolgte. George war der einzige, der sich mit ihm amüsierte, während Jack ihn grob abwies. „Jetzt hör endlich auf mit dem Schwachsinn und verfasse lieber den Text, den wir morgen brauchen. Außerdem wird nur der Akku leer dabei.“

Er war gerade dabei, die beiden Taschen auszuräumen und stapelte einige Wertsachen aufeinander. Die Pässe, die er fand, hatte er auf einen Haufen neben sich gelegt. Tom fingerte an den Ausweispapieren herum. „Mark Blackwood..., der Name kommt mir bekannt vor.“

„Wenn mich nicht alles täuscht ist das der Tennisspieler. Ziemlich bekannt und erfolgreich und vor allem enorm reich“, wusste Jack. „Na, was habe ich gesagt: prima Fang!“

Tom nahm den zweiten Pass: „Susanne Büchner. Ein deutscher Pass. Was hat die mit denen zu tun?“

„Ich glaube kaum, dass sie zu ihnen gehört. Wer weiß, vielleicht ist sie per Anhalter unterwegs.“

„Und schließlich noch der Farmarbeiter. Müssen wir noch heraus bekommen, wie der heißt“, vollendete Tom die Aufzählung.

„Wenn uns der mal nicht zum Verhängnis wird!“, unkte Will, während er die letzten Worte seines Textes zu Papier brachte.

„Wieso das?“, fragte Jack ohne wirkliches Interesse dazwischen. Er hantierte am Wasserkanister herum und genehmigte sich einen großen Schluck der lauwarmen Brühe.

Tom zuckte die Schultern, immer noch mit dem Inhalt der Taschen beschäftigt.

„Will könnte Recht haben. Der Bursche kennt sich hier aus. Ohne ihn wären die anderen verloren, wenn wir sie hier zurückließen. Er aber ist imstande, einen Weg hier heraus zu finden.“

Jack ging nun mit drohender Gebärde auf seinen Bruder zu. „Wir lassen hier niemanden zurück, jedenfalls nicht lebend. Und außerdem werden wir das durchziehen! Haben wir uns endlich verstanden?“

Tom zuckte erneut – scheinbar gelangweilt – die Schultern. „Durchaus. Aber es gibt noch einen Grund, warum es nicht gut war, dem Jungen zu begegnen: Es ist zu nahe am Versteck gewesen. Und man wird dort anfangen zu suchen, wenn er erst einmal vermisst wird.“

„Ja, wenn er vermisst wird! Aber er hat doch selbst gesagt, dass er unterwegs war, um Zäune zu flicken. Das dauert Tage, bis überhaupt jemand auf die Idee kommt, nach ihm zu sehen“, erklärte Jack in versöhnlichem Tonfall.

Nachdem Tom nun endlich Ruhe gab, arbeiteten sie verbissen an der Ausführung ihres Planes weiter. Jack jedenfalls weigerte sich, über die Probleme nachzudenken, die sich in den letzten Stunden aufgetan hatten.

******

Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, löste sich die Erstarrung der fünf Menschen. Vorsichtig sahen sie sich um. Es war dunkel im Raum. Nur durch eine schmale Ritze in der fensterlosen Wand schimmerte das fahle Licht des eben aufgegangenen Mondes. Unter der Tür erriet man durch einen Spalt die dämmerige Beleuchtung des Flures. Es war ein winziges schmutzstarrendes Kämmerchen, das weder Möbel noch eine Lichtquelle hatte. Sie standen bewegungslos herum. Endlich rührte sich jemand. Es war der junge Bursche, vielleicht 17 oder 18 Jahre alt, der zuletzt zu ihnen gestoßen war. Er drehte sich um die eigene Achse, um sich ein so genaues Bild wie möglich von der Lage zu machen. Dabei entdeckte er eine schmale Tür im hinteren Bereich des Raumes.

Vorsichtig bewegte den Knauf der Tür und tatsächlich gaben die Scharniere ächzend nach.

„Oh Mann!“, murmelte der Bursche. Neugierig geworden gafften die anderen über seine Schulter in den zweiten Raum. Auch dort fiel spärliches Mondlicht durch eine schmale Fuge im oberen Teil der Wand. Cheryll stieß einen spitzen Schrei aus und machte blitzartig kehrt. Susanne erkannte wohl, dass was immer sich in dem Raum befand, nicht angenehm sein würde. Doch ihre Neugierde besiegte ihre Besorgnis und so drängte sie auf Cherylls frei gewordenen Platz. Reflexartig wich sie sofort wieder zurück. Voller Abscheu wandte sie sich um und verzog sich in die entgegengesetzte Ecke zu Cheryll. In dem nur wenig mehr als handtuchgroßen Verschlag befand sich eine überaus primitive Toilette. Es war nicht mehr als ein Loch in einer Holzkonstruktion, die von riesigen Fliegen umschwirrt wurde. Die Tatsache, dass alles nur schemenhaft zu erahnen war, verschlimmerte ihr Grauen noch. Es roch bestialisch und Colin tat allen einen Gefallen, indem er sich vor den Burschen drängte und die Tür geistesgegenwärtig sofort wieder ins Schloss zog.

Todd, der junge Mann, hatte sich inzwischen vorgestellt, erfuhr die Namen der anderen und zuckte dann hilflos mit den Schultern. „Ich schätze, wir sollten uns hier einrichten.“ Kaum hatte er es ausgesprochen, wurde die Tür von außen geöffnet und zwei Gepäckstücke flogen zu ihnen herein.

„Was ist das denn?“ Todd hatte eines der Stücke aufgefangen und untersuchte es nun. „Gehört das einem von euch?“

Mark kam näher. „Sieht wie meine Reisetasche aus. Ich hatte sie gerade in der Hand, als es passierte.“

„Ich meinen Rucksack auch“, fiel nun Susanne ein. „Das hatte ich total vergessen. Ist er das vielleicht?“ Colin, der ihn aufgehoben hatte, gab ihn ihr.

„Tatsächlich! Mal sehen...“ Sie kramte den Rucksack durch und stellte verwundert fest: „Alles da, bis auf die Kamera und meine Papiere.“

Auch Mark bestätigte: „Ja, scheint bei mir auch alles da zu sein, bis auf die Brieftasche mit dem Ausweis. Meine Geldbörse habe ich aber noch. Hat mir keiner abgenommen.“

Nun stellten auch die anderen fest, dass niemand sie durchsucht hatte.

Todd reagierte überrascht. „Wenn sie das tatsächlich vergessen haben, kann es sein, dass sie es noch nachholen. Wartet mal, ich habe hier...“, er senkte die Stimme, „...ich habe hier ein Taschenmesser, und eine Schnur und...“ Er zog eine Batterie an Utensilien aus den Taschen seiner Arbeiterhose. Bis auf das Messer war nichts wirklich Brauchbares dabei. Dennoch verpackten sie die Sachen in Marks Reisetasche, da die von den Entführern bereits begutachtet worden war.

Todd hatte noch etwas entdeckt: „Seht mal hier! Ist mir vorhin gar nicht aufgefallen.“ Er lenkte die Blicke der anderen auf eine altertümliche Wasserpumpe, wie sie in den Küchen früherer Zeiten herumzustehen pflegten.

„Hoffentlich ist das nicht auch so eine Mogelpackung wie das Klo“, raunzte Colin, doch auch er wartete gespannt, als Todd den Pumpenarm ausprobierte.

Kurz darauf plätscherte Wasser in das massive Becken. Vorsichtig probierte er einen kleinen Schluck und wandte sich dann triumphierend um. „Frisches Wasser, schmeckt kein Stück ranzig. Wenigstens scheint die Quelle noch in Ordnung zu sein!“

„Verdursten werden wir also nicht“, sagte Colin trocken.

Susanne war bereits aufgefallen, dass er der Sprecher war, während Mark sich eher zurückhielt und Cheryll praktisch nichts zu sagen wusste. Nun stellte sie die Frage, die alle bedrängte, aber keiner aussprechen wollte: „Hat einer eine Ahnung, was die von uns wollen?“

Todd schüttelte nachdrücklich den Kopf.

„Geld!“, brachte Cheryll es kurz und knapp auf den Punkt.

Colin nickte beklommen. „Sieht so aus! Wenn man genau überlegt, kann es nur so sein. Sie haben es gezielt auf uns abgesehen, genauer gesagt: Auf Cheryll und mich. Es war reiner Zufall, dass ihr beiden mit im Auto wart.“

„Und ich war einfach im Weg. Von dort, wo sie mich aufgegabelt haben bis hierher war es nicht mehr allzu weit. Ich vermute, dass es ihnen einfach zu gefährlich war, mich zurückzulassen, nachdem ich sie gesehen habe“, mutmaßte Todd.

„Oder umzubringen“, ergänzte Mark. „Sie sprachen darüber, bevor sie anhielten. Überhaupt redeten sie ziemlich viel vom Töten.“ Ein beklemmendes Gefühl, das erst einmal alle verstummen ließ, machte sich unter ihnen breit.

Susanne sortierte das eben Gehörte. Ihre Geschäftigkeit hatte sie abgelenkt und nun kehrte die Angst zurück. Sie verstand nicht alles an der hastig geführten Unterhaltung und brach die unangenehme Stille.

„Wieso wollen die von euch Geld? Habt ihr denn so viel?“

„Ja, würde mich auch interessieren“, sagte Todd.

Colin und Mark lachten in einem Anflug von Galgenhumor kurz auf. Selbst Cheryll grinste hörbar.

„Sagen wir es mal so: Geldmangel ist nicht unser vorrangigstes Problem im Leben“, deutete Cheryll düster an.

Susanne ging ein Licht auf. „Wartet mal! Mark Blackwood! Die ganze Zeit über im Auto dachte ich schon, ich würde dein Gesicht von irgendwoher kennen. Tennis, nicht wahr?“

Marks Nicken konnte sie in der Dunkelheit nur ahnen. „Cheryll und Colin sind Schauspieler. Sie waren auf dem Weg zu einem Drehort und ich hatte nichts Besseres zu tun, als sie zu begleiten“, erklärte er.

„War keine gute Idee, wie es aussieht“, wandte Cheryll ein. Sie beugte sich hinunter. „Der Schmutz liegt mindestens eine Handbreit hoch“, übertrieb sie, allerdings nur leicht!

„Im Moment haben wir keine andere Wahl, als diese Nacht irgendwie hier auszuhalten“, sagte Colin, sich mit den Schuhsohlen einen Sitzplatz freischarrend.

Da die Dunkelheit keine groß angelegte Reinigungsaktion zuließ, mussten sich mit einem Schlafplatz auf dem verdreckten Boden, gegen die Wand gelehnt, zufrieden geben.

Susanne fühlte sich elend, elend und einsam. So alleine hatte sie sich in ihrem Leben noch niemals gefühlt, obwohl sie gerne für sich war. Nun hatte sie einen unbändigen Drang nach Freiheit. Der Schock des Erlebten schmerzte sie so sehr, dass sie von einem heftigen Schüttelfrost heimgesucht wurde. In dem Bestreben, sich keine Blöße zu geben, merkte sie nicht, dass sich jemand neben ihr niedergelassen hatte. Er suchte ihre Hand und nahm sie fest in die seine.

„He, du zitterst ja!“ Es war Colin, der ihr nun den Arm um die Schultern legte. Allein seine Nähe trösteten sie.

„Ist gleich wieder vorbei“, wiegelte sie ab, hoffte aber, dass er in ihrer Nähe bleiben würde. Auch die anderen waren mit sich beschäftigt. Mark saß bei Cheryll und Todd lümmelte in der Ecke zwischen dem Wasserbecken und der kleineren Tür. Schemenhaft konnte man erkennen, dass alle die Beine angezogen hatten, in ihrer Haltung verunsichert wirkten. Todd jedoch hatte die Arme verschränkt und die Beine weit von sich gestreckt. Ebenso gut konnte er an einem Baum in freier Wildnis vor sich hindösen.

„Ich fürchte, wir verbringen mehr als eine Nacht hier“, nahm Susanne den Faden von vorhin wieder auf, nachdem sie sich beruhigt hatte. Sie konnte jetzt nicht einfach ihren Gedanken nachhängen, musste reden, um nicht verrückt zu werden vor Angst.

„Wenn wir Glück haben“, murmelte Cheryll, die sich an Mark gekuschelt hatte, als ob sie es gewöhnt wäre, in seinen Armen zu liegen.

Colin schüttelte unwillig den Kopf. „Ich weiß nicht. Wir sind nicht so reich, um für eine Lösegeldforderung interessant genug zu sein. Da kämen doch eher schwerreiche Unternehmer in Frage. Baumagnaten, Fabrikanten, so was eben.“

Mark stimmte ihm zu. „Ich habe mir diesen Gedanken auch schon gemacht. Ich glaube nicht an die Sache mit dem Lösegeld, jedenfalls scheint mir das nicht der Hauptgrund zu sein. Wenn sie Geld wollten, dann hätten sie irgendeinen Industriellensohn entführt und nicht so viele Leute auf einmal. Viel eher scheint mir mehr dahinter zu stecken. Sie sind voll organisiert. Diese Hütte ist optimal als Versteck geeignet. Als sie uns vorhin aus dem Auto zerrten, ist meine Augenbinde verrutscht. Dabei sah ich, dass ein Felsvorsprung über dem Dach hängt. Und dann die Bäume, man kann die Hütte praktisch von außen und von oben kaum einsehen.“

„Aber was steckt dahinter? Sie konnten kaum annehmen, dass wir genau an der Stelle eine Panne haben würden“, dachte Colin laut nach.

„Vielleicht war die Panne nicht so zufällig“, mischte sich nun Susanne ein. „Es erfordert nur ein paar Nägel auf der Fahrbahn, um einen Reifen platzen zu lassen. Das würde auch erklären, warum Todd und ich dabei sind – es war eben reiner Zufall, dass wir gerade zur falschen Zeit am falschen Platz waren.“

„Letztlich ist es egal, was dazu geführt hat, dass wir jetzt hier vergammeln!“, sagte Cheryll seufzend.

Die anderen stimmten ihr zu. Sie unterhielten sich noch eine Weile mit gedämpfter Stimme, doch kamen sie zu keinem befriedigenden Ergebnis mehr. Schließlich versuchten sie trotz der Enge, des Schmutzes und ihrer Angst sich zum Schlafen zu zwingen.

Kapitel 3

„Und Sie sind sich sicher, dass sie niemanden in der Nähe gesehen haben?“, fragte Jerry Fitzgerald, einer der beiden Polizisten in der Polizeistation von Wonoogara. Es war ein außerordentlich heißer Tag und jetzt in der späten Mittagszeit drangen außer dem Gesurre der unvermeidlichen fetten Fliegen kaum Geräusche in die kleine Polizeistation. Jerry wischte sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn und hörte seinem dicken Gegenüber nur mit halbem Ohr zu. Er bedurfte einer Siesta und war in Gedanken bereits bei der Speisekarte im Pub auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Der stämmige Truck-Fahrer, dem die Gleichgültigkeit des Polizisten nicht entgangen war, beugte sich über die Theke und formulierte überdeutlich, jedes einzelne Wort betonend: „Ich habe etwa 30 Kilometer vor Wonoogara, in südlicher Richtung, auf der alten Landstraße ein verlassenes Fahrzeug vorgefunden. Der Kofferraum war offen und darin lag ein kaputter Reifen unter einer Menge von Gepäckstücken. Auf dem Boden lag eine offene Wasserflasche und die Erde unter der Wasserflasche war noch feucht. Außerdem lag noch so Weiberzeug herum, Sonnenbrille, Hut und so. Also Chef, ich glaube kaum, dass jemand freiwillig ein fahrbereites Auto samt Autoschlüssel mit offenen Türen und Kofferraum stehen lässt und so einfach weggeht. Da stimmt etwas nicht. Und außerdem ist das Land dort flach und übersichtlich. Es war kein Mensch zu sehen, und nach den Gepäckstücken zu urteilen waren mindestens zwei Leute im Fahrzeug.“

„Sie scheinen alles genau untersucht zu haben. Wieso fahren Sie eigentlich auf der alten Landstraße?“, misstrauisch beäugte der erfahrene Polizist den Trucker.

Der reagierte genervt: „Ich hatte Eddie Anderson zu beliefern. Das ist der kürzeste Weg. Also, was Sie jetzt machen, ist mir egal. Ich fahre weiter.“