Nicht von dieser Welt - Michael Ebert - E-Book

Nicht von dieser Welt E-Book

Michael Ebert

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Beschreibung

Ein 13-Jähriger, der über den alten Münzfernsprecher in einem Krankenhaus mit den Toten spricht … Michael Eberts warmherzig-humorvolles Romandebüt über eine Kindheit in Armut, den Verlust des Vaters – und die tröstende Kraft der Liebe

„Trauer ist Liebe ohne Zuhause ...“ Seit sein Vater gestorben ist, erhält Mischa geheimnisvolle Anrufe. Über einen alten Münzfernsprecher melden sich die Toten bei ihm und geben ihre letzten Wünsche durch. Egal, wie skurril die Aufgaben sind: Mischa gibt sich alle Mühe, sie zu erfüllen – immer in der Hoffnung, dass sich vielleicht eines Tages auch sein Vater noch einmal meldet. Mischa lebt mit seiner Mutter in der Personalwohnung eines kleinen Krankenhauses im Schwarzwald, sie ist dort Intensivschwester, arbeitet unentwegt, das Geld ist dennoch knapp. Manchmal reicht es nicht einmal mehr für ein Weihnachtsgeschenk. Doch eines Tages tritt die 17-jährige Sola aus Zaïre in Mischas Leben, und mit ihr beginnt ein aufregendes Abenteuer, das ihm hilft, wieder Mut und neue Hoffnung zu schöpfen ... In diesem Roman geht es um die großen Dinge: Um Liebe und Armut. Um Leben und Tod. Und um die Kunst, nicht nur auf das zu schauen, was wir verloren haben. Sondern auch auf das, was uns bleibt.

Feinsinnig, emotional und voller Humor erzählt Michael Ebert, warum sich Hoffnung immer lohnt.

Dieser Roman ist ein Geschenk für alle, die Wärme und Trost suchen – oder jemand anderem schenken möchten.

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Seitenzahl: 246

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In dem Haus, in dem der 13-jährige Mischa wohnt, sterben jeden Tag Menschen. Seit dem Tod des Vaters lebt er mit seiner Mutter in der Personalwohnung eines Krankenhauses, seine Mutter arbeitet unentwegt, das Geld ist knapp. Eigentlich ist das Leben für Mischa eine einzige Zumutung – bis an einem Sommertag im Juli 1991 überraschend nicht sein französischer Austauschschüler vor ihm steht, sondern Sola, 17, aus Zaire, selbstbewusst, geheimnisvoll und klug. Die beiden fassen einen verwegenen Plan, der sie auf eine abenteuerliche Reise quer durch das wiedervereinigte Deutschland führt – vom Schwarzwald bis nach Halberstadt, wo die Staatsbank der DDR mehr als hundert Milliarden Ostmark vergraben hat. Ein Schatz, der für Sola und Mischa ein unwiderstehliches Versprechen ist.

In »Nicht von dieser Welt« geht es um die großen Dinge: um Leben und Tod, um Liebe und die Kunst, nicht nur auf das zu schauen, was man verloren hat, sondern auch auf das, was bleibt. Leichtfüßig und emotional erzählt Michael Ebert davon, wie aus tragischen Umständen der unvergesslichste Sommer eines Lebens wird.

Michael Ebert, 1974 in Freiburg geboren, ist Chefredakteur des Süddeutsche Zeitung Magazin und wurde für seine journalistische Arbeit bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. In seinem Debütroman »Nicht von dieser Welt« führt er uns an den verwunschenen Ort, an dem er selbst aufgewachsen ist: ein Krankenhaus in einer süddeutschen Kleinstadt.

MICHAEL EBERT

Nicht von dieser Welt

ROMAN

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Das dem Roman als Motto vorangestellte Gedicht ist aus Sylvia Plath’ Collected Poems, erschienen bei Faber and Faber Ltd’.

Copyright © 2023 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: FAVORITBUERO

unter Verwendung einer Illustration von Grant Haffner

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30826-1V003

www.penguin-verlag.de

Meiner Mutter, meinem Vater

»Love is a shadow. How you lie and cry after it Listen: these are its hooves: it has gone off, like a horse.«

Sylvia Plath, Elm

Vor 34 Jahren sprach ich zuletzt mit den Toten. Und versprach, es nie wieder zu tun. Ich versprach es Sola, ich versprach es mir selbst, ich versprach es bei allem, was mir heilig war – wobei, was ist einem 13-Jährigen schon heilig, zumal ich nie getauft wurde. Um die Steuer zu sparen, waren meine Eltern längst aus der Kirche ausgetreten. Ich versprach es beim Leben meiner Mutter, bei der Seele meines Vaters, bei meinem Augenlicht, bei Luke Skywalker und bei Yoda, beim Heil aller kranken Kinder der Welt. Für meinen Schwur leckte ich nacheinander an Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger der rechten Hand, schmeckte Erde und meine salzige Ernsthaftigkeit, legte die Finger auf mein Herz und blickte feierlich zwischen den Bäumen hindurch in die Morgendämmerung. Würde ich meinen Schwur je brechen, dürfte ich nie mehr ein Mädchen küssen, sollte die ganze Welt …

»Okay, okay, mein kleiner Affe, schon gut, quel drame! Das reicht mir.«

Sola hatte die Hände hinter sich ins feuchte Moos gestützt; erschöpft, zitternd und wie ich erleichtert darüber, dass wir noch am Leben waren.

Ihre Beine hatte sie gerade nach vorne ausgestreckt, sie saß mir schräg gegenüber wie eine Marionette aus altem Lindenholz, die nach einer Aufführung beiseitegelegt worden war.

»Genug geschworen. Ich glaub dir.«

Das Weiß in ihren dunklen Augen leuchtete hell inmitten ihres Gesichts. Im Licht des anbrechenden Tages konnte ich erkennen, dass Solas dunkelgraue Jeans und ihr schwarzer Pullover ebenso verdreckt waren wie meine Klamotten. In ihren vielen kleinen Locken hatte sich allerlei Ingreisch aus dem Wald verfangen. Nachdem sie mich kurz angesehen hatte, blickte sie wieder nach oben in den Himmel.

»Regarde, mein kleiner Affe, wie schön, Vénus.«

Ich rückte neben sie, und sie zeigte auf einen leuchtenden Punkt nahe der schmalen Mondsichel.

»Alle glauben, der Polarstern ist der hellste Stern am Himmel. Ganz verkehrt. Vénus leuchtet viel besser, zumindest jetzt, im Sommer. Um diese Zeit im Jahr ist sie ziemlich nah.«

»Wie nah?«, fragte ich.

»Nur so ungefähr vierzig Millionen Kilometer weit.«

Ich hatte lange schon aufgegeben zu fragen, woher sie alles wusste, was sie wusste.

»Sie ist immer allein, weißt du?«

»Die Venus?«

»Oui. Sie hat keinen Mond, der um sie kreist. Und sie hüllt sich in Wolken. So bleibt sie geheimnisvoll.«

Sie neigte den Kopf zur Seite, bis er fast auf ihrer eigenen Schulter lag. Eine Wolke ließ sich vor den fallenden Mond und die Venus wehen. Sola wuschelte mit ihrer rechten Hand über ihre Haare, noch immer war von ihr wenig mehr zu sehen als ein Schatten. Die Wolke zog weiter. Letztes Sternenlicht fiel auf uns. Sie bemerkte meinen Blick.

»Nicht verlieben.«

»Was?«

»Du guckst mich so an. Nicht verlieben.«

»Okay, nee, ich …«

»Ich probiere es auch.«

»Dich nicht zu verlieben?«

»Non, mein kleiner Affe«, sie lächelte. »Nicht verlieben ist kein Problem für mich. Nicht mehr mit den Toten sprechen. Das probiere ich auch. Lassen wir die Toten in Ruhe. Vielleicht lassen sie uns dann auch.«

Ich nickte. Sie hatte immer recht.

Fast gleichzeitig blickten wir auf die beiden Rucksäcke neben uns.

»Was meinst du, wie viel ist es?«, fragte ich.

Für den Gedanken, dass wir jetzt reich waren, hatte ich noch gar keine Zeit gehabt.

Sola zuckte mit den Schultern. Die Leuchtstreifen auf dem Nylon der Rucksäcke reflektierten die ersten Sonnenstrahlen des Tages, die zwischen den Birken hindurch flickerten wie eine Belohnung für die Verabredung, die Sola und ich eben getroffen hatten. Auch wenn uns die Wärme des anbrechenden Tages vor allem daran erinnerte, wie kalt uns war.

»Zwei, drei Millionen vielleicht? Bei großen Summen kann ich so schlecht schätzen.« Sie machte eine Pause, als würde sie doch nachrechnen.

»Hat sich jedenfalls gelohnt.« Und stolz fügte sie hinzu: »Ich muss sagen, ich hab das ziemlich gut gemacht.«

Das Morgenlicht stromerte jetzt in diffusen Strahlen durch verbliebene Fetzen des Bodennebels, der Wald war noch still. Es waren kaum Vögel zu hören. Wir standen auf, versuchten, uns den Dreck von den feuchten Jeans zu klopfen, gaben es gleich wieder auf, rieben unsere nackten Oberarme warm und zerstachen uns die Finger, als wir versuchten, den Eingang zum Stollen wieder mit den Brombeersträuchern zu verdecken. Handschuhe standen auch auf der langen Liste von Dingen, die wir nicht mitgenommen hatten. Zusammen mit Jacken oder wenigstens warmen Pullovern. Und einer zweiten Taschenlampe.

Wir schulterten die Rucksäcke mit dem Geld und wanderten zurück Richtung Nachtigallenschlucht. Der Wald roch angenehm verwildert, nach gefallenem Laub, Morgentau, Moos und frei lebenden Tieren, eine harzige, weltliche Süße, aber er bot uns in diesem Teil keine Wege, wir kamen nur langsam voran. Immer wieder blieben wir mit den Schnürsenkeln unserer Turnschuhe in dornigem Gestrüpp hängen. Ich hatte den Geschmack von Blut im Mund, weil ich an meinen Fingerkuppen lutschte, die von den Brombeerstacheln zerstochen waren. Wir sprachen kaum, und seltsamerweise hatte ich jetzt keine Angst mehr, von den Wachsoldaten entdeckt zu werden, die uns vorher noch gejagt hatten. Ich versuchte, nicht an das zu denken, was wir im Stollen erlebt hatten. Sondern daran, dass wir jetzt reich waren. Es gelang mir nicht. Seltsamerweise konnte ich mir auch das Haus nicht mehr vorstellen, das ich von dem Geld in meinem Rucksack für meine Mutter und mich kaufen wollte. Dabei hatte ich es immer so klar vor Augen gehabt.

Irgendwann erreichten wir wieder den Stacheldrahtzaun, der zwischen mürben Betonpfeilern gespannt war. Die Stempen standen in militärischer Regelmäßigkeit zueinander, immer fünf Schritte eines Erwachsenen zwischen ihnen, jeder Pfeiler vielleicht drei Meter hoch. Sie boten die einzige symmetrische Anordnung im vielgrünen Durcheinander des Waldes. Die obersten Kanten ihres Betons waren leicht geneigt – als wollten sie sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, die ihre Gegenwart verursachte. Wir robbten zurück durch die Lücke im Stacheldraht, durch die wir auch schon gekommen waren. Dann verließen wir das militärische Sperrgebiet, ohne noch einmal auf die Warnschilder zu blicken, die am Zaun hingen.

Bald darauf gelangten wir zurück auf den angelegten Waldweg Richtung Grüner Jäger. Hier konnten wir wieder nebeneinander laufen. Einmal kam mir Sola so nahe, dass ich Gänsehaut bekam, diesmal nicht von der Kälte. Im Gehen griff sie mit der linken Hand nach meinem Kopf und zog mich etwas zu sich, ohne stehen zu bleiben. Weil sie größer war, konnte sie sich über mich beugen. Sie roch an mir. Dann roch sie an ihrem Pullover.

»Wir stinken«, stellte sie fest.

»Ja, das kommt aus dem Stollen.«

»Es riecht wie … salpêtre. Es heißt auch so auf Deutsch?«

»Salpeter? Ja.«

»Mein kleiner Affe – du und ich, wir riechen wie die Teufel.«

Später las ich viel über den Tod. In Trauerreden heißt es, die Toten seien entschlafen – sanft, wenn sie Glück hatten. In Gebeten wird behauptet, sie würden in Frieden ruhen, als wäre der Tod nur eine wohlverdiente Pause nach der Plackerei des Lebens. Steinmetze schlagen euphemistische Auftragslügen in Grabplatten: Die Toten hätten ewige Ruhe gefunden, hic pausat, hic requiescit, hic dormit. Die Apostelgeschichte erzählt, dass der heilige Stephanus erst zu Tode gesteinigt wurde – um nach dieser Folter friedlich zu entschlafen, obdormivit in Domino. Im Buch Daniel des Tanach heißt es: »Viele, die unter der Erde schlafend liegen, werden aufwachen.« Die Letzte Ölung hieß im Mittelalter dormentium exercitium – das »Sterbesakrament der Schlafenden«. Bei Homer langweilen sich die ehemaligen Krieger im Hades, die »im Tode schlafen«. Bei Vergil ist die Unterwelt die »Stätte der schlummernden Nacht und des Schlafes«, immer getaucht in das schimmernde Purpur einer unendlichen Dämmerung.

So unerträglich ist den Menschen der Gedanke an den Tod, dass wir ihn zu einem sanften Schlummer zurechtgedichtet haben, aus dem man jederzeit geweckt werden könnte. So wie die sieben Epheser, die 377 Jahre geschlafen haben sollen, ehe Gott die Ungläubigen beeindrucken wollte und entschied, dass es für die Epheser nun Zeit sei aufzuwachen. Als sie vor den römischen Kaiser Theodosius traten, sprach einer von ihnen: »Siehe, wir sind wahrlich auferstanden und leben, und wie das Kind im Mutterleib keinen Schaden spürt und lebt, so lagen auch wir und lebten und schliefen und spürten nichts.« Glaubt man der Geschichte der Epheser, ist es gar nicht so schlimm, gestorben zu sein. Es tut nicht weh und ist ja nicht für immer.

Was Gott angeht: Zu ihm kann ich nichts sagen, wir hatten keinen Kontakt. Aber dass die Toten ruhen, dass sie ihren Frieden gefunden haben, dass sie ewig schlafen – das ist nicht meine Erfahrung. Nein, ich würde sagen: Die Toten sind alle in der Hölle. Aber diese Hölle ist kein Ort lodernder Feuer und schrecklicher Marter. Es ist viel schlimmer. Nach allem, was ich weiß, ist die Hölle ein Ort unendlichen Wartens auf etwas, das nie kommt. Die Toten stehen in einer Schlange vor einem Laden, der nie öffnet. Sie warten an einer Haltestelle auf einen Bus, der nie fährt. Sie hoffen auf das Urteil eines Gerichts, das nie tagt.

Allerdings gibt es in der Hölle ein Telefon.

Freitag, der 5. Juli 1991

In dem Haus, in dem ich aufwuchs, starben jeden Tag Menschen.

Im Herbst wurden die Großmütter eingeliefert, beim Verräumen der Einmachgläser von Trittleitern gefallen, auf nassem Laub mit dem Fahrrad gestürzt, mit gebrochener Hüfte, mit gebrochenem Oberschenkelhals; tapfere Damen, die Schmerzmittel aus Prinzip verweigerten und dennoch keinen Laut gaben, weil sie noch nie in ihrem Leben gejammert hatten und jetzt nicht damit anfangen wollten. Wer zu Großmutter zum Mittagessen kam, ließ nach der Mahlzeit den Teller stehen, sie würde abräumen, wie sie es immer tat. Ihre stille Beflissenheit wurde für selbstverständlich genommen, außer am Muttertag und zum Geburtstag, zu denen man ihr einen Bund schlafender Tulpen aus dem Supermarkt oder eine Packung »Merci« mit einer zurückhaltenden Umarmung überreichte. Die Geschehnisse hatten sich nie um sie gedreht, jedenfalls nicht so wie jetzt, wo sie von zwei Sanitätern aus dem Krankenwagen getragen wurde. Während die Männer versuchten, die Trage möglichst achtsam aus dem Fahrzeug zu schieben, damit sich das Fahrgestell darunter ausklappen konnte, forderte die Großmutter die beiden auf, sie bitte schön in Ruhe zu lassen, »Geht schon wieder!« und »Ich lauf selbst!« – und wollte damit doch nur sagen, dass sie mit all der Aufmerksamkeit nicht umzugehen wusste, man hatte sich schon so lange nicht mehr um sie gekümmert. Eigentlich noch nie.

Fast war ihr der Schmerz diesen kurzen Moment des Gesehenwerdens wert.

Im Winter kamen die Einsamen, denen die kurzen Tage oder die allzu langen Nächte auf ihren alten Höfen im hinteren Sulzbachtal den letzten Lebenswillen genommen hatten, die windhunddürren Junkies, die in einen der eiskalten Bauwagen der Katholischen Jugend im Wald eingestiegen waren und sich da einen Schuss von überraschend reinem Heroin vom Stuttgarter Hauptbahnhof gesetzt hatten, der beim Tox-Screening Fassungslosigkeit bei den Ärzten hinterließ. Es kamen die psychisch Labilen, die sich für ihre Krankheit so sehr schämten, dass sie nach der ersten Diagnose nie mehr beim Arzt waren, und denen jetzt kaum noch zu helfen war. Es kamen jede Menge Fahranfänger, die vom Technischen Hilfswerk oder der Feuerwehr aus zerquetschten Autowracks herausgeschnitten werden mussten, nachdem sie aus einer vereisten Schwarzwaldstraßenkurve geflogen und gegen eine der zahllosen Fichten gerauscht waren.

Im Frühling kamen die Wasserleichen, mit handtellergroßen Löchern im Kopf, auf glitschigem Uferstein ausgerutscht, und die lautlos Ertrunkenen, denen die Kraft ausgegangen war im Waldsee in Sankt Georgen, zur Unkenntlichkeit aufgedunsen, das Schilf in ihrem Haar glich einer schlechten Perücke.

Natürlich starben nicht alle. Es kamen die Allergiker, die rasselnd nach Luft schnappten oder mit ihren angeschwollenen Zungen unverständlich lallten. Aber nach einem Schuss Epinephrin zum richtigen Moment, 300 Mikrogramm, und einem kräftigen Schluck Fenistil waren sie bald wieder auf den Beinen. Dazu die Mountainbikefahrer, die jammerten immer, mit Schürfwunden, gebrochenen Schlüsselbeinen, zerschmetterten Ellenbogenknochen. Die Handwerker mit abgesägten Fingergliedern, die sie in Beuteln voller Eis mit sich trugen. Die Männer mit ausgeschlagenen Zähnen nach Prügeleien vor den Kneipen der Stadt, dem Zodiak oder der Steige 9, Männer mit Leberzirrhosen, die Opfer von Dachlawinen mit zertrümmerten Knien oder Schulterknochen. Dehydrierte Krebskranke, die oft auf den einsamen Bauernhöfen im Umland von ihren Familien versorgt und zwischen den Jahren vergessen worden waren oder die viel zu spät eingeliefert wurden, weil die Angehörigen Angst vor »Weißkitteln« hatten und vor dem technischen Gerät, das sie nicht verstanden und von dem sie fürchteten, dass sein Einsatz unbezahlbar sei. Manchmal liefen Schulkameraden aus den höheren Klassen an mir vorbei, Pärchen, die ich schon auf dem Pausenhof beim Knutschen gesehen hatte. Jetzt kamen sie im Gleichschritt, gebückt vom Gewicht der eigenen Angst auf ihren Schultern, Arm in Arm, in der Hoffnung, hier irgendwo eine »Pille danach« zu kriegen. Das geplatzte Kondom hatten sie in einer kleinen Plastiktüte dabei – als Beweis dafür, dass sie doch zumindest versucht hatten zu verhüten.

Im Sommer, so wie an diesem Tag, kamen die Motorradfahrer. Viele schrien auf dem kurzen Weg aus dem Krankenwagen bis zu einem der Aufzüge, der sie in den OP-Saal im vierten Stock brachte. Sie schrien nicht vor Schmerz, selbst wenn sie unnatürlich verdreht auf der Liege lagen oder nur noch blutige Stümpfe zu sehen waren, wo ihre Beine gewesen waren. Sie schrien, weil sie wissen wollten, ob jemand ihre Maschine gesehen habe, ob ihre Maschine okay sei, wo man ihre Maschine hingebracht habe, sie hätten ein Recht darauf, zu erfahren, wo ihre Maschine sei. »Ist meine Maschine noch ganz?«

Der Notarzt versuchte, die Unfallopfer mit unbeholfenen Lügen zu beruhigen. »Mit Ihrem Motorrad ist alles in Ordnung, Herr, äh …«

Hilfesuchender Blick zu einem der Rettungssanitäter.

»Wittmann«, ergänzte der.

»Bestimmt alles in Ordnung, Herr Wittmann.«

Wieder ein Blick des Notarztes zum Rettungssanitäter, diesmal verschwörerisch: »Oder, Niklas?«

Und Niklas, der Rettungssanitäter, natürlich: »Hab sie da liegen sehen, Ihre Maschine, Herr Wittmann, sah eigentlich noch gut aus für mich.«

Gute Lügner verpacken ihre Unwahrheiten in so herrlich glitzerndes Silberpapier, dass man sie gar nicht auspacken will. Sie lügen in gelassenem Tonfall, mit vertrauensvollem Blickkontakt, mit beiläufigem Achselzucken. Aber der Notarzt und der Rettungssanitäter Niklas hatten keine Zeit für glitzernde Silberpapier-Lügen. Sie waren damit beschäftigt, Herrn Wittmann auf der Trage und am Leben zu halten, einen zweiten Zugang zu legen und die Cervicalstütze korrekt zu platzieren, damit seine Halswirbelsäule stabilisiert war und er möglichst ruhig lag. Sie logen schlecht, und das merkte auch Herr Wittmann, selbst in seinem Zustand. Also schrie er lauter: Er wolle Antworten, ehrliche Antworten!

Die wollte er natürlich nicht.

Er verlangte nach einer anderen Wahrheit als der Wahrheit. Er verlangte nach einem Zugang zu einer Parallelwelt, die ihm einen Ausweg aus seiner Situation versprach. In der er weiterhin gut gelaunt und nur ein klein wenig zu schnell auf der Landstraße unterwegs sein konnte. Er verlangte nach einer Wahrheit, die ihm erträglich war.

Die Wahrheit, so reimte ich sie mir später aus Bruchstücken zusammen, die ich belauschen konnte: Er hatte sein Motorrad zu Schrott gefahren, als er an seinem freien Tag frühmorgens auf der B 462 etwas zu selbstbewusst einen dunkelblauen Mitsubishi Galant in Richtung Auffahrt zur A 81 überholen wollte und gegen einen entgegenkommenden Sattelschlepper gesteuert war.

Seit dem Zusammenprall blendeten der Schock und die Angst seine Sinne mittagssonnengrell, so sehr, dass er noch keinen Schmerz spürte. Wahrscheinlich wusste Herr Wittmann noch gar nicht, dass er bei dem Unfall beide Beine verloren hatte, obwohl es nicht zu übersehen war. Bestimmt ahnte er auch noch nicht, dass er an diesem Tag sterben würde. Aber weil die eine Tatsache ebenso unfassbar für ihn war wie die andere, ließ sein Verstand in diesem Moment nur die Sorge um sein Motorrad zu, sein vollkommen zerstörtes, sein vollkommen unversehrtes Motorrad, seine Maschine, eine BMW R 100 GS mit 60 PS, auf die er fast zwei Jahre lang wesentliche Teile seines Gehalts als Mechatroniker bei Summer+Lüchtle gespart und die er schließlich für 10 400 Mark gebraucht gekauft hatte, oben auf dem Hardt, von einem Landwirt, der die ängstlichen Blicke seiner Frau nicht mehr aushalten mochte, wann immer er auf das Motorrad gestiegen war. Herr Wittmann, noch keine 31 Jahre alt, verlobt, keine Kinder, hatte zu diesem Moment nur noch etwas mehr als elf Stunden zu leben.

Er schrie aus voller Brust: »Fast zwei Jahre hab ich auf meine Maschine gespart!«

Weil Lügen niemandem weiterhelfen würden und die Wahrheit keine Rolle mehr spielte, schwieg der Notarzt und hängte neben die Jono-Lösung einen HAES-Beutel an. »Schnell, in den Schockraum«, wies er den Sanitäter an. »Die anderen warten schon.«

Bei schlechtem Wetter saß ich drinnen bei den Lastenaufzügen auf einem der Plastikstühle, die ich aus der Cafeteria geklaut und so platziert hatte, dass sie genauso beliebig und nutzlos hingestellt aussahen wie Dutzende andere Stühle im Rest des Hauses auch. Außer mir saß nie jemand auf ihnen. So viele Menschen müssen sich jeden Tag in Krankenhäusern hinsetzen, nie sind ausreichend Sitzgelegenheiten da. Das liegt nicht daran, dass es in Krankenhäusern zu wenig Stühle gäbe. Sie stehen nur immer an den falschen Stellen, weil sie irgendwann einmal anderswo gebraucht oder gedankenlos aus dem Weg geräumt, am Ende eines Flures abgestellt worden waren. Und dort hat man sie dann über die Jahre stehen lassen. Nebensächliches wird an einem Ort, an dem Hauptsächliches verhandelt wird, wie das Leben, wie der Tod, oft ignoriert.

Wenn ich auf einem meiner Stühle saß, legte ich die Füße auf einem der drei Pflanzenkübeln ab, in denen gewaltige Gummibäume steckten. Nie fand ich heraus, ob sie Plastikdekoration oder echte Pflanzen waren, nicht einmal, nachdem ich die Blätter zwischen Daumen und Zeigefinger befühlt hatte.

So gut wie immer trug ich Kopfhörer. Menschen sprechen offen, wenn sie das Gefühl haben, dass man sie nicht hören kann. Mit Kopfhörern wurde ich fast unsichtbar, wo ich sonst nur unscheinbar war. Etwas zu groß für einen 13-Jährigen, aber noch immer halbwüchsig. Ein stiller Junge in billigen Turnschuhen, Jeans, Pulli oder T-Shirt, mit kurzem, struppigem blondem Haar, das ihm die Mutter geschnitten hatte, um den Friseur zu sparen, und einem Schulbuch neben sich. Den man schon öfter gesehen hatte, der ehrlich gesagt fast immer irgendwo im Krankenhaus rumlungerte, üblicherweise aber wie verwachsen mit den Gummibäumen in der Eingangshalle saß, fast schon ein Teil der Einrichtung.

Schaute im Vorbeigehen doch mal einer der vorbeieilenden Ärzte skeptisch, war da immer jemand, der Bescheid wusste.

»Das ist der Sohn von Schwester Ursula, von Intensiv.«

Oder: »Die wohnen hier … Doch, bestimmt schon ein paar Monate … ja.«

Manchmal auch: »Der Vater …« – »Ach so.« Mitleidsblick.

Wenn es draußen warm genug war, wie heute, saß ich auf einer kleinen weißen Steinmauer, die das Einfahrtstor des Notarztwagens mit dem Hauptgebäude verband, trank Topstar-Cola von Aldi aus Plastikflaschen, hatte meinen Atlas vor mir aufgeschlagen und wartete auf das nächste Unglück.

Ärzte und Sanitäter waren bei Einsätzen nie so geistesgegenwärtig, das Einfahrtstor nach ihrer Ankunft wieder zu schließen. Und die Stadtverwaltung hatte zwar Milchglasblenden an der Garageneinfahrt anbringen lassen, nicht aber an den Seitenfenstern, auf die ich von meinem Platz gute Sicht hatte. Auch der kurze Weg Richtung Aufzug war einsehbar, die Fenster ganzjährig gekippt, nur ein paar schwarze Schwalbenschatten klebten schief auf dem Glas, um die Vögel davon abzuhalten, gegen die Scheiben zu fliegen und sich die Flügel oder das Genick zu brechen. Ich hatte einen guten Überblick, konnte so gut wie alles mithören und hatte inzwischen auch etwas Erfahrung.

Meine Beobachtungen notierte ich in einem Schreibheft, das ich mit einem der bunten Plastikumschläge aus der Schule eingebunden und mit »Erdkunde« beschriftet hatte – das langweiligste Unterrichtsfach und dadurch fast eine Garantie, dass niemand darin blättern würde. Ich notierte Namen der Patientinnen oder Patienten, soweit ich sie bei der Einlieferung mithören konnte oder unterwegs im Haus aufschnappte, Namen der Angehörigen, der diensthabenden Ärzte und betreuenden Pfleger, Ankunftszeit, Allgemeinzustand, offizielle Diagnose, die Station, auf die die Patienten gebracht werden würden, die Krankenversicherung – privat oder Kasse? –, eine von mir geschätzte Verweildauer im Krankenhaus und die Mortalitätswahrscheinlichkeit.

Ich notierte, was es bislang zu Herrn Wittmann zu notieren gab:

5. Juli 1991 / Wittmann, männlich

Ankunft 7.12 Uhr

Mot.-Unf. /Polytrauma / Schockraum

Dann klappte ich das Schreibheft zu und packte es in meinen Rucksack. Ich musste mich beeilen, um kurz nach halb acht begann die Schule. Außerdem kamen heute die Franzosen.

Ehe wir ins Krankenhaus umziehen mussten, wohnten wir zur Miete in einem gelben Fachwerkhaus mitten in der Stadt, ein Stockwerk über einem Laden für Wolle und Nähbedarf in der Lauterbacher Straße. Aber irgendwann wurde selbst diese günstige Zweizimmerwohnung zu teuer für meine Eltern. Manchmal kam ein Mann in einem dunkelblauen Anzug zu uns, mit polierten Schuhen und einer schwarzen Aktentasche, darin Papiere und Aufkleber, mit denen er bestimmte, welche Gegenstände uns demnächst weggenommen werden würden, weil meine Eltern wieder irgendwas nicht bezahlt hatten. Meine Eltern boten ihm jedes Mal Kaffee an, ihren kostbaren Kaffee, den er stets freundlich nickend annahm, aber nie trank. Während er sprach, blickten meine Eltern auf seine Tasse und sahen dabei zu, wie der dampfende Kaffee kalt wurde. Nachdem er ein paarmal bei uns gewesen war, hatten wir nicht mehr viel, was sich mitzunehmen lohnte. Den alten Fernseher ließ er uns. Jedes Mal wieder sagte er, halb bedauernd, halb großzügige Geste: »Dieses Gerät darf und will ich nicht pfänden.« Jedes Mal antwortete meine Mutter dasselbe: »Der hat auch nur drei Programme.«

Mein Vater starb, wenige Tage ehe wir aus der Lauterbacher Straße in die Feuchtwengerhöfe umziehen sollten, die Sozialwohnungssiedlung der Stadt. Ich war zwölf Jahre alt. Von hier an flackert meine Erinnerung. Schatten bewegten sich wie Menschen und umgekehrt, Stimmen waren nur noch Geräusche, und was sich wie eine Berührung anfühlte, konnte auch nur der Wind gewesen sein. Ob es immer nur mein eigener Kummer war, mit dem ich lebte, oder auch der eines anderen Jungen aus irgendeinem Film oder irgendeinem Buch, weiß ich nicht mehr zu sagen. Einmal stand der einzige Freund meines Vaters in der Tür, Oberst Knispel. Ein großer Mann mit einer Frisur und einem Schnauzer wie der Fußballnationalspieler Uwe Bein, der nur selten zu Besuch kam, sich aber in unserer Wohnung jedes Mal wieder so selbstverständlich bewegte wie ein bestellter Handwerker. Oberst Knispel hatte angeblich in der Armee der DDR gedient und trug stets eine Pistole in einer kleinen dunkelbraunen Herrenhandtasche bei sich – »Meine olle Dienstwaffe« –, die ich bei jedem seiner Besuche in die Hand nehmen durfte. Ob Oberst sein echter Dienstgrad gewesen war und ob er wirklich Knispel hieß oder ob das ein Spitzname war, erfuhr ich nie. Mein Vater hatte ihn an einem Roulettetisch im Casino in Konstanz kennengelernt und nannte ihn bloß Knispel, meine Mutter sprach nur von »dem NVArsch«. Ich weiß noch, dass Oberst Knispel bei seinem letzten Besuch mit meiner Mutter an unserem Küchentisch saß, zwischen halb gepackten Umzugskisten, und dass er immer wieder ihre Hand nehmen wollte, während er von einem »großen Ding« erzählte, das er mit meinem Vater ausgeheckt hatte: »Der Oberst und der Archäologe, wir zwei, das wär’s gewesen!« Er hatte Tränen in den Augen, und es schien, als sei er gekommen, weil er Trost brauchte – nicht um ihn zu spenden. Meine Mutter hörte ihm eine kurze Weile zu und zog wortlos immer wieder ihre Hand zurück, wenn er nach ihr griff. Bis er endlich aufstand und ging und nichts hinterließ als den Geruch von kaltem Rauch.

Was ich sicher noch weiß: Nur einen Tag nach dem Tod meines Vaters wurde meiner Mutter durch Vermittlung eines wohlmeinenden Arztes eine der beiden Hausmeisterwohnungen in dem Krankenhaus angeboten, in dem sie schon seit Jahren arbeitete. Eine freundliche Geste der Verwaltung für Krankenschwester Ursula, die trotz des Unglücks mit ihrem Mann und trotz der Belastung mit ihrem Kind immer pünktlich zur Arbeit erschien.

Als wir dann tatsächlich statt in die Feuchtwengerhöfe ins Krankenhaus umzogen, war mein Vater seit drei Wochen tot. Nachts hatten meine Mutter und ich all unsere Sachen verpackt – auch die meines Vaters. »Solange wir an ihn denken, ist er auch noch da«, sagte meine Mutter, mehr zu sich selbst als zu mir. Wir packten seine Kleidung, auch den grünen Strickpullover mit dem roten Bruststreifen, der noch nach ihm roch, seinen einzigen Anzug, seine ausgetretenen Schuhe, die vielen Bücher, die ich ihn nie hatte lesen sehen, die Feuerzeuge aus seinen Hosentaschen, das alte Schachspiel mit den geschnitzten Figuren und dem gelben Mensch-ärgere-dich-nicht-Männchen, das einen weißen Bauern ersetzte, und auch seinen wertvollsten Besitz, den Totenschädel mit den losen Zähnen, an denen ich manchmal wackelte und von dem er mir nie hatte verraten wollen, wie genau er in seinen Besitz gekommen war.

Lang standen wir ratlos vor seinen vielen Aktenordnern, alle ordentlich beschriftet und in zwei Farben sortiert. Die blauen Ordner waren mit Unterlagen seines einzigen Hobbys gefüllt: »Archäologie 1979«, »Archäologie 1980«, »Projekt Keltengrab«, »Archäologie 1986«, »Projekt Limes«, »Projekt Malachit« und so weiter, darin Ausrisse aus Zeitungen und Kopien von alten Landkarten, auf die er gestrichelte Linien gemalt hatte, die bei großen Fragezeichen endeten. Wochenends waren wir zu zweit diesen Karten und dem Goldgräbergefühl meines Vaters gefolgt, meine Mutter war augenrollend zu Hause geblieben. Wir streiften durch die Wälder der Umgebung, buddelten gelegentlich mit Stöcken und den Hacken unserer Schuhe Löcher in den Waldboden, weil mein Vater »so ein unbestimmtes, gutes Ziehen im Bauch« hatte. Nie fanden wir etwas von Wert. Was mein Vater »Archäologie« nannte, war am Ende nur eine Schatzsuche, deren Grundlage historische Werke über die Römer und Kelten waren, die er sich in der Stadtbibliothek ausgeliehen hatte. Wenn ich an unseren Bemühungen zweifelte, wies er mich darauf hin, dass »Schliemann trotz aller Zweifler Troja gefunden hat, nur weil er die Ilias genau gelesen hatte – und das hat ihn sehr wohlhabend gemacht«.

Die schwarzen Ordner, davon gab es viel weniger, waren ebenso sorgsam gekennzeichnet: »Versicherungen«, »Rechnungen«, »Steuer 1987«, »Steuer 1988«, »Bank«, »Pässe u. a.« – aber viele davon waren so gut wie leer, Verwaltungsassistenten eines ungelebten Lebens.

»Die schwarzen Ordner nehmen wir mit. Die blauen schmeißen wir weg«, entschied meine Mutter.

Alles fand Platz in Umzugskisten, die ich auseinanderzufalten lernte und dabei nicht kaputt machen durfte, weil wir sie nur geliehen hatten. Ich wickelte Teller, Töpfe und unsere beiden Pfannen in altes Zeitungspapier, das uns die Nachbarin vorbeigebracht hatte, während meine Mutter überlegte, wo sie die abgekratzten Butterverpackungen verstauen könnte, die sie im Kühlschrank verwahrt hatte. Ein neues Pfund Butter auszupacken hatte für uns immer etwas Feierliches gehabt, so kostbar war es in unserem Haushalt. Eine Art Ritual: Stets hatte sie die Butter vorsichtig auf einen kleinen Teller gestürzt, um sie dann erst mal außer Reichweite zu stellen. Mein Frühstücksbrot wurde mit den Resten geschmiert, die sie mit einem Messer sorgsam von der beschichteten Innenseite der Verpackung kratzte. Und selbst danach war ihr die Verpackung noch kostbar, also faltete sie das Papier zusammen und sortierte es in das Türfach des Kühlschranks, um bei nächster Gelegenheit damit ein Backblech zu fetten. Die Papiere nun wegzuwerfen, war für sie undenkbar. Wir klemmten sie zwischen zwei Teller und verstauten sie in einer der Kisten.