Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer - Lise Gast - E-Book

Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

'Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer' ist Lise Gasts letzter großer Roman. Über eine Zeitspanne von mehr als einem halben Jahrhundert und über mehrere Generationen hinweg, erzählt er die vielfältige Geschichte der Familie Haberland. Die Handlung beginnt am Silvesterabend 1899 auf 1900. Es wird von harmonischen und glücklichen Jahren in Schlesien erzählt. Doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus und eine bedrückende Zeit hält Einzug. Hunger und Armut prägen die folgenden Jahre - überschattet von den politischen Wirren der Nachkriegszeit. Die Großmutter – der gute Geist und Mittelpunkt der Familie – vereint durch ihr liebevolles und tröstendes Wesen die Generationen. Die grausamen Jahre des Zweiten Weltkriegs kommen und scheinen die Familie endgültig zu zersplittern. Einige sind im Krieg gefallen, andere auf der Flucht in den Westen getötet worden oder haben sich verloren. Die Schrecken des Krieges überschatten die Nachkriegszeit und es geht nur mühsam voran. Die Überlebenden müssen sich ein neues Leben aufbauen, fernab von Schlesien, und finden dabei vielleicht sogar eine neue Heimat...Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-

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Lise Gast

Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer

Roman

Saga

Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer

German

© 1988 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711509821

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1

Das Doktorhaus in Camenz

1900

»Kinder, seid ihr denn bei Trost! Meine schönste Glasschüssel! Die könnt ihr doch nicht zum Bleigießen nehmen! Wenn die platzt!«

»Die platzt nicht! Die wird doch mit kaltem Wasser gefüllt! Ich hab’s ausprobiert!« prahlte Schorschel.

»Mit der Schüssel? Untersteh dich!«

Regine lachte schadenfroh. Wenn Schorschel mal was auf den Deckel kriegte, freute sie sich. Immer wurde er vorgezogen.

Nun ja, er war erst dreizehn, das war noch kein Alter. Aber er tat, als wäre er der Sohn des Hauses, dabei war er nur der Neffe und der Patensohn.

»Regine, sei so gut und hol eine andere Schüssel!« Immer begannen Mutters Aufträge oder Bitten mit ›Kind, sei so gut!‹. Mutter war so höflich, jedem gegenüber. Manchmal konnte Regine diese Höflichkeit nicht ertragen; meist jedoch fand sie sie liebenswert. Mutter war überhaupt liebenswert, gütig, heiter.

Die Spieluhr zirpte die ›Letzte Rose‹, danach kam die ›Fledermaus‹, Regines Lieblingsstück. Sie rannte aus der Eßstube in die Küche, um wieder zurück zu sein, wenn dieses Stück begann. ›Mein Herr Marquis – ein Mann wie Sie –‹

Heute wurde Blei gegossen, weil Silvester war. Ein besonderes Silvester; nicht nur ein neues Jahr fing an, nicht nur ein neues Jahrzehnt, sondern ein neues Jahrhundert. Morgen war Neunzehnhundert! Vater und Schorschel hatten schon den ganzen Nachmittag gestritten, ob das neue Jahrhundert mit neunzehnhundert oder mit neunzehnhunderteins beginne. Regine wußte genau, daß Vater nur stritt, um Schorschel in Zorn zu bringen.

Schorschel war oft bei ihnen. Seine Mutter, Tante Mieke, wohnte neun Kilometer entfernt in Patschkau. Sie war Witwe, Vater war der Vormund Schorschels und seiner großen Schwester Hanna. Regine mochte sie nicht, sie war so tugendreich. Dann schon lieber der ungezogene Bengel Schorschel.

Regine setzte die große Porzellanschüssel auf den Tisch, und Schorschel goß sofort das Wasser aus der Glasschüssel hinein. Regine wollte helfen, aber sie stieß ihn an, und die Hälfte floß aufs Tischtuch und über Mutters schwarzes Kleid.

»Na, aber Kinder –«, mehr sagte sie nicht. Sie schüttelte den Rock ein wenig. Immer trug sie Schwarz, immer die gleichen schwarzen Kleider; anders angezogen konnte man sie sich nicht vorstellen. Majestätisch, aber stets freundlich saß sie in ihrem Stuhl auf dem Podest am Fenster und strickte oder häkelte, – oder sie saß am Tisch und schrieb Briefe oder teilte das Essen aus. Sie bewegte sich nicht gern, und doch war sie sehr fleißig. So hatte sie einmal unter einen neunzehn Seiten langen Brief geschrieben: ›Gott befohlen, morgen schreibe ich wieder.‹ Die Leute im Dorf schätzten und liebten sie, die ›Frau Rat‹. In Lodz geboren, sprach sie Polnisch wie Deutsch, ihre Muttersprache. Wenn ihr Mann, Dr. Haberland, einen polnischen Patienten betreute und ihn nicht verstand, riß er die Tür zur Eßstube auf und rief: »Mutter, da ist –«, dann erhob sich Frau Rat von ihrem Thron und kam herüber, dolmetschte, half – und schenkte. Schenken war ihr Liebstes. Schenken, Gedichte aufsagen – Regine kannte keinen Menschen, der so viele Gedichte auswendig wußte wie ihre Mutter – und Vorlesen. Die Mutter las sehr gern vor, in einem Winter las sie den gesamten Fritz Reuter vor. Und wie herrlich erzählte sie!

Sie war in einem neunköpfigen Geschwisterkreis aufgewachsen; ihr Vater war früh gestorben, an Typhus. Ihre Mutter mußte sich von Brüdern und Schwägern erhalten lassen. Das war nicht leicht. Aber aus allen Kindern wurde etwas – einer der Brüder war Adjutant des österreichischen Kaisers, Onkel Eugen, ein wahrer Märchenonkel. Er kam selten, doch wenn er kam, brachte er fürstliche Geschenke mit.

Regine hatte als Kind das Ehrenamt inne, darauf zu achten, daß das Tischtuch keinen Flecken bekam. Wenn es geschah, mußte derjenige, der ihn gemacht hatte – im Doktorhaus gab es viele Gäste –, ein Geldstück darauf legen, um den Fleck zu verdecken. Als Onkel Eugen einmal einen winzigen Spritzer machte, rief Regine gleich, er müsse Strafe zahlen. Da legte er ein Goldstück darauf – zwanzig Mark – damals ein Vermögen.

Auch die anderen Onkel waren bemerkenswert: Eines Tages gingen zwei dieser Onkel durch Warschau und trafen einen Freund des einen der beiden. Der stellte den anderen vor: »Das ist mein Bruder Tonda, einst der schönste Mann von Warschau, heute eine Ruine.« Worauf Tonda liebenswürdig hinzusetzte: »Denken Sie an die Akropolis!«

Und was für Streiche spielten die Brüder als Jungen! Regine wollte diese Geschichten immer wieder hören. Wie sich alle Geschwister bei Tisch stets um einen bestimmten Teller zankten, der ein schönes Bild trug. Wilek, der Kleinste, hatte einmal darauf gespuckt, damit die anderen ihm den Teller ließen. Später hieß es dann: »Ach, der Teller ist nun aufgewaschen, jetzt können wir ihn auch einmal haben.« Worauf Wilek eine Laus von seinem Kopf nahm und sie über den Teller laufen ließ. Von da an wurde ihm der Teller nie mehr streitig gemacht.

Regine gefielen diese Geschichten, und sie beneidete ihre Mutter, weil sie so viele Geschwister gehabt hatte. Sie wünschte sich auch welche. Zwar war sie schon siebzehn, aber trotzdem ...

Schorschel brachte ein paar zerbrochene Bleisoldaten an, um sie zu schmelzen. Auch Mutter hatte etwas Blei gesammelt. Regine entzündete die Kerze, über die man den Blechlöffel mit dem Blei halten mußte, als der Vater dazukam. Er knurrte: »Schon jetzt? Es ist erst acht Uhr, noch lange nicht Mitternacht.«

»Bleigießen kann man schon vorher –« Schorschel zappelte vor Ungeduld. Er konnte kaum den Löffel stillhalten.

Das Blei sank in sich zusammen, wurde silbern, bekam eine graue Haut, die wohl von der Farbe der Soldaten herrührte. Regine schob sie vorsichtig mit einem Streichholzende beiseite. Und dann war es soweit.

Zischend ergoß sich das geschmolzene Blei ins Wasser. Es sah aus wie Silber. Regine und Schorschel griffen danach, Schorschel obsiegte. Nun begann das Rätseln, was dieser Klumpen wohl bedeuten könnte.

»Scheffel läßt in seinem ›Ekkehard‹ Praxedis, die reizende junge Griechin, sagen: ›Die Zukunft sieht diesmal aus wie ein Tannenzapfen!‹ – ›Wie eine Träne‹, sagte die Herzogin«, erzählte Mutter.

Regine kannte den Ekkehard und liebte ihn sehr. Einmal dort hinkommen, an den Bodensee, an den Hohentwiel – wie unendlich weit das war! Schorschel drehte das gegossene Bleistück in den Händen.

»Wie ’ne Wiege!« sagte er ablehnend. Mutter blinzelte ein wenig. Vater brummte:

»Quatsch, Wiege. So sieht doch keine Wiege aus!«

»Wie ein Pferd!« sagte Mutter. Jetzt zuckte Vater mit den Augenbrauen.

»Kein Pferd! Rechteckig ist das, ziemlich flach. Und Pferde brauchen wir uns ja nicht zu wünschen, haben ja welche.«

Damals fuhr er noch zweispännig, mit Unkas, dem Fuchs, und dem »Kleinen«. Der hatte keinen richtigen Namen, immer hieß er nur »der Kleine«.

Regine interessierte sich nicht für Pferde. Sie fuhr zwar mit dem Vater auf Praxis in die Dörfer ringsum, aber sie bat nie darum, die Zügel führen zu dürfen. Dazu war der Kutscher da. Der saß auf dem Bock in vorschriftsmäßiger Haltung, die Peitsche, die ihm der Doktor immer erst hinaufreichte, stramm in der Hand.

Dr. Haberland ließ den Wagen nie vor dem Haus warten, sondern an der Hintertür. Wenn Schorschel mitfuhr, durfte er neben dem Kutscher auf dem Bock sitzen, aber auch er bekam die Zügel nicht in die Hand.

Ja, die Peitsche. Der Doktor behauptete immer, kein Kutscher könne mit Peitschen umgehen, er nahm sie stets, wenn er von einem Patientenbesuch heimkam, mit ins Haus, trug sie in die Eßstube und stellte sie hinter den Glasschrank. Seine Frau mochte das nicht leiden.

»Du siehst aus wie ein Pferdehändler«, sagte sie manchmal, wenn er, die Peitsche in der Hand, sich vor ihrem Lehnstuhl verbeugte. Dort blieb er auch stehen, wenn er wieder einmal losgedonnert hatte, was sie gar nicht liebte. Er war ein ausgesprochen aufbrausender Typ.

»Na, Frau Rat?« fragte er dann, seine Augen zu ihr aufgeschlagen, halb ernsthaft und halb lustig. Er hatte friderizianisch blaue Augen, die manchmal dunkel, manchmal blitzend hell waren, mitunter auch veilchenfarben.

»Ist schon gut«, sagte sie dann, von seinem Charme bezwungen. Er hatte einen ungeheuren Charme, der Doktor Haberland, das machte ihn unwiderstehlich. Versöhnt stapfte er hinaus.

Es war eine gute Ehe, so verschieden die beiden Partner auch sein mochten. Sie groß und füllig, er kleiner als sie und beweglich. Von ihr, der Frau Rat, stammte das schöne Wort:

»In den vielen, vielen gemeinsamen Jahren denkt man doch manchmal: Jetzt hat es sich mit der Liebe ausgeliebt. Aber da braucht nur eine große Freude oder ein großer Schmerz zu kommen, und eine Hand greift nach der anderen.«

Noch ein Wort, eine Lebensmaxime, stammte von ihr:

»Ich will nicht unglücklich sein.« Dieses Wort sollte ihren Kindern und Enkeln, die es nie vergaßen, viel und oft helfen.

Sie dachte es auch an diesem Silvesterabend. Der ›kleine Fritz‹, das spät empfangene zweite Kind, wurde schon bald erwartet. Ob sie die Geburt überstehen würde, vierzig Jahre alt jetzt, nach so langer Pause? Sie rechnete nicht damit, sprach es aber nie aus. Er, der Vater, freute sich so kindlich auf den Sohn.

›Fritz‹ sollte er heißen, das stand längst fest. Fritz war ein alter Familienname, es gab viele Fritze in der Haberlandschen Familienreihe. Auch er, der Doktor, stammte aus einem großen Geschwisterkreis; zehn waren sie gewesen, aber nur fünf wurden groß. Sein Vater war Handwerker, ein Färber; er, Rudolf, der erste Akademiker in der Familie. In der Schule sehr gut, machte er ein hervorragendes Abitur. Dann studierte er voller Eifer und Interesse, promovierte mit summa cum laude.

Seine erste Praxis eröffnete er in Reichenstein, dort wurde auch Regine geboren. Die Praxis lief nicht gut, ein alter einheimischer Kollege hatte den größeren Zulauf. Dr. Haberland bezeichnete seine Praxis als die mit der nicht gezogenen Klingel, bis ihm ein glücklicher Zufall eine Patientin zuführte, die er von einem schier unstillbaren Husten befreite. In Reichenstein wurde im Bergwerk gearbeitet; ein Schacht hieß ›der goldene Esel‹. Es ging die Sage, daß man dort einmal einen Esel aus Gold gefunden hätte. Die Kumpels im Schacht brachen eines der goldenen Beine ab, gingen damit in die Stadt, verkauften es und versoffen das Geld. Als sie wiederkamen, um den restlichen Schatz zu holen, war er verschwunden. Seitdem grub und suchte man nach dem goldenen Esel.

Wie in vielen Bergwerksorten ging auch in Reichenstein die Tuberkulose um, damals eine Volksseuche, die kaum zu besiegen war. Nachdem es Dr. Haberland geglückt war, jene Frau gesund zu machen, bekam er plötzlich Zulauf von Patienten. Trotzdem zog er weg. Camenz, das Dorf am Rande der Grafschaft, lockte ihn, nicht zuletzt wegen des kleinen Krankenhauses, das es dort gab. Es hieß das ›Mariannenhaus‹ nach der hohenzollerischen Prinzessin, die im Schloß wohnte, einem breiten Gebäude auf dem Berg, mit vier Türmen an den Ecken und einem Park von fünfhundert Morgen rundherum, in dem es Wasserspiele gab, ähnlich denen in Sanssouci, nur schöner. Das Schloß war nach einem Entwurf von Schinkel gebaut, später jedoch verkauft worden, als man merkte, daß man von den Fenstern nicht über die Stallgebäude ringsum hinübersehen konnte. Aber Schloß ist Schloß. Es wurde geliebt, und der Prinz, ein großer Gärtner vor dem Herrn, ging oft selbst mit der Baumschere umher und ästete aus. Wenn er ein Diner gab, wurde Dr. Haberland oft mit eingeladen, ein großes Fest für die ganze Familie. Einmal zerriß ein Hund ihm die Frackhose, kurz bevor er sie brauchte, und eine neue war im Dorf nicht zu beschaffen. Aber unter Frau Rats geschickten Fingern entstand eine kunstvolle Stopfstelle, niemand sah der Hose die Wunde an, und beim Diner brauchte Dr. Haberland nicht zu fehlen.

Manchmal kam auch der Kaiser. Dann wurde auf dem Bahnhof ein roter Teppich ausgerollt, und alle Bahnbeamten standen stramm.

Dr. Haberland war auch Bahnarzt und durfte erster Klasse fahren, unentgeltlich, was sogar Schorschel imponierte. Einmal fuhr der Doktor in einem Abteil mit einem großen, würdigen Herrn zusammen, den er nicht kannte. Als die Bahnstation nahte, an der er aussteigen mußte, stand der andere Herr auf, nahm einen dunklen Mantel um und schob sich einen ziemlich großen, auffallenden Ring über den Handschuh an den Finger. Dr. Haberland sah es staunend. Noch mehr staunte er, als er aus dem bremsenden Zug schaute und auf dem Bahnsteig eine Gruppe weißgekleideter Mädchen warten sah. Nanu, so ein Empfang? Wie oft war er hier schon aus dem Zug gestiegen, ohne daß er empfangen worden war!

Er war nicht für große Empfänge. Schon stand er an der Tür, die von außen aufgerissen wurde, sprang hinaus – und ein fröhliches Lied erklang. Daß die Gesichter der Wartenden vor Erstaunen erstarrten, sah er noch, dann aber verschwand er mit der ihm eigenen Fixigkeit. Der hohe Herr, der erwartet wurde, war nämlich der Bischof. Schlesien war ein vorwiegend katholisches Land. Auch Haberlands waren katholisch.

Sie waren keine fleißigen Kirchenbesucher. Aber einmal im Jahr wurde die Kutsche eingespannt, nicht, um zu kranken Leuten zu fahren, sondern nach Wartha, dem Wallfahrtsort einer wundertätigen Muttergottes. Dorthin fuhr die Frau Rat und beichtete. Der Doktor nannte das die Sündenfuhre.

Als ob seine Frau einen Wagen gebraucht hätte, um ihre Sünden abzuladen!

Als Regine zur Ersten Kommunion gegangen war, durfte sie mitfahren. In Wartha gab es wundervolle kleine Pfeffernüsse, Warthapusserle genannt, ein Grund mehr, sich auf die Sündenfuhre zu freuen.

»Ich muß noch mal weg«, sagte der Vater, als das Bleigießen beendet war, »dauert nicht lange, ich geh’ zu Fuß.«

»In den Ort?«

»Zum Nentwig-Tischler, Viertelstunde.« Hinaus war er.

»Zum Nentwig-Tischler?« Mutters Gesicht wurde nachdenklich. Sie kannte diese Geschichte, nicht der Vater hatte sie ihr erzählt, sondern die Frau des Patienten. Der hatte sich die rechte Hand verletzt, schlimm, so schlimm, daß man in Erwägung zog, sie zu amputieren. Aber einem Schreiner die rechte Hand abnehmen? Er bat und bettelte, noch zu warten, und der Doktor schwankte. Unterließ er die Operation, wie der Patient es wollte, so befürchtete er eine allgemeine Sepsis. Nahm er die Hand ab, so machte er den Mann arbeitsunfähig.

Er entschied sich schließlich abzuwarten. Und siehe, sie hatten Glück. Es gab keine Sepsis, die Hand heilte. Nentwig war überglücklich und seine Frau auch. Sie brachte ein Körbchen mit herrlich duftenden Walderdbeeren ins Doktorhaus und weinte und küßte der Frau Rat die Hand. Dorthin war der Doktor also gegangen. Sollte etwa ...?

Nein, nichts Gefährliches. Der Doktor ging nicht in die ›gutte Stube‹, wo der Christbaum noch stand und man Gäste von Rang empfing, sondern in die Werkstatt. Er fand Nentwig bei der Arbeit. Es roch gut nach Holz und Leim. Der Schreiner stand sofort auf, als er seinen Gast erkannte.

»Nee, der Herr Duktor, nee nee, a su eene Ehre –«

»Ich komm’ wegen dem Pferdel. Wegen dem Schaukelpferd –«

»’s iees aber no nie fattich –«

Ein etwa drei Spannen hohes Gebilde hielt er dem Doktor entgegen. Man sah schon, daß es ein Pferd werden würde, ein Schaukelpferd für ganz kleine Reiterlein. Gerade war er dabei, den Kopf zu schnitzen.

Wer viel mit Tieren umgeht, weiß, daß auch Tiere Gesichter haben. Wie etwa eine Mutterstute, die gerade gefohlt hat und ihren Kopf dem Fohlen zuwendet, das hinter ihr liegt. Jeder, der dies je erlebt hat, wird nicht abstreiten können, daß ein solches Pferdegesicht einen zärtlichen Blick haben kann, daß ein liebevoller Ausdruck solch ein Tiergesicht erleuchtet. Nentwig, der sonst ganz nüchterne Dinge herstellte oder reparierte, hatte wohl einen glücklichen Moment gehabt. Das Gesicht des kleinen Pferdes hatte einen sprechenden Ausdruck, wenn man so sagen will, der Doktor jedenfalls erkannte es. Und seine vom vielen Waschen gebleichte Arzthand fuhr dem Pferdchen über die Mähne, sacht, zärtlich.

»Daos habt er aber schien hingekriegt«, sagte er halblaut, bewundernd, dankbar. »A su a schienes Feadel –«

»Nu jaja, nu nee«, sagte der Handwerker verlegen, aber auch geschmeichelt, »es ies doch für damals, Herr Rat ...«

Als der Vater heimkam, sah Mutter ihm sofort an, daß er etwas Besonderes erlebt hatte. Sie fragte nicht, aber sie wußte: jetzt kommt was.

»Ich hab’ was gesehen, für den kleinen Fritz –« und nun erzählte er. Alle drei, Mutter, Regine und Schorschel, lauschten atemlos.

»Und was krieg’ ich?« krähte Schorschel, als sein Onkel schwieg. Der fuhr auf ihn los, sich berserkerhaft wütend stellend: »Prügel! Ab morgen ist es dem Vormund verboten, seine Patenkinder durchzuhauen. Komm, wir machen es heute noch ab, auf Vorrat –« Er hatte die Hundepeitsche genommen, die ›neunschwänzige Katze‹, wie sie in der Familie hieß. Sie wurde nie benützt; woher sie stammte, wußte keiner. Schorschel rannte schreiend davon, rund um den Tisch, Vater mit der Peitsche hinterher.

»Jesses, Kinder, muß das sein –« Mutter vertrug keinen Lärm. Sie hielt sich lachend die Ohren zu. Auch Vater, Regine und Schorschel lachten.

Gegen elf setzte sich Schorschel, der zum ersten Mal aufbleiben durfte, in den großen Lehnstuhl, der Uhr gegenüber.

»Bist du müde?« fragte Mutter Haberland.

»Aber nein. Hier sitzt sich’s nur so schön. Eine Stunde noch.«

»Schlaf ja nicht ein!« mahnte Regine. Schorschel grinste.

»Ich werd’ doch das neue Jahrhundert nicht verschlafen!«

Viertel vor zwölf war er noch wach. Als um zwölf die Glocken läuteten – Regine hatte die weißgefaßte Glastür zur Veranda geöffnet, damit man sie gut hörte –, schlief er fest und ließ sich nicht mehr wecken. Die drei andern lachten. Sie küßten einander und wünschten sich ein gutes neues Jahr, Jahrzehnt und Jahrhundert.

Vater und Mutter blieben noch lange wach, als Regine schon schlafen gegangen war. Schorschel ließen sie in seinem Lehnstuhl sitzen. Sie sprachen von früher, von jetzt, von später.

Was würde das neue Jahr bringen?

In dieser Silvesternacht tat Mutter etwas, was keiner bemerkte. Sie behielt das gegossene Stück Blei in der Hand und legte es keinen Augenblick weg. ›Wie eine Wiege‹, hatte Schorschel gesagt und ›wie ein Pferd‹ der Vater. Sie, die Mutter, sah etwas anderes darin. Etwas Großes, Plattes.

Ein Buch.

Bücher gab es genug im Doktorhaus. Neulich aber hatte Gustel, die Botenfrau des Dorfes, die jeden Tag nach Frankenstein fuhr, um Besorgungen zu machen, ein großes, dickes Buch mitgebracht, ein Märchenbuch. Die Märchen der Gebrüder Grimm.

Mutter hatte es betrachtet und sogleich an sich genommen. Sie besaß eine Truhe, in der sie Geschenke sammelte, da hinein tat sie es. Jetzt nahm sie es, als Vater gerade den Punsch ansetzte, unauffällig wieder heraus, schlug es auf und überlegte. Dann schrieb sie mit ihrer ausgeschriebenen und trotzdem leserlichen und schönen Handschrift auf die erste leere Seite:

»Ein gesegnetes Leben denen, die nach uns kommen.

In der Silvesternacht 1899 zu 1900.«

Marie Haberland.

Dr. Haberlands Schlafstube hatte vier Fenster nach der Straße hinaus, auf der noch keine Autos oder gar Laster lärmten. Der Doktor hatte die Lage so gewählt, weil nächtens Hilfesuchende, die sonst hätten läuten müssen, gleich rufen oder ›Steindel schmeißen‹ konnten. Er fluchte oft gottsjämmerlich, wenn er geweckt wurde, ging dann aber doch ans Fenster, rief hinunter, er komme, und machte sich auf. Seine Frau schlief meist nicht mehr ein, bis er wieder zurück war. So ist das in Doktorhäusern.

Eines Tages ereignete sich wegen der Lage der Schlafstube eine etwas peinliche Geschichte, die allerdings auch Grund zum Lachen gab. Dr. Haberland hatte mit einem Kollegen, Dr. Schulz, und dessen Sohn, der gerade das Physikum gemacht hatte, zusammengesessen und gefeiert, und es war etwas spät, besser: früh geworden. Wenn man erst um fünf heimkommt, steht man nicht gern um halb sechs auf, weil ein werdender Vater unterm Fenster steht und um den Besuch des Doktors bittet.

»Der Duktor Haberland is nie ze Hause«, rief Vater aus dem Fenster, »gehnse ock zum Duktor Schulz, der is schon uffe.«

Der Bittende befolgte diesen Ratschlag. Ein paar Tage später half Vater Haberland einem anderen Kind auf die Welt. Die Hebamme sah ihn ein wenig zweifelnd von der Seite an. Vater fragte, was denn los sei.

»Ja, mir hat vorgestern eener, den ich nach Ihnen schickte, erzählt: Der Duktor Haberland is ni dao, aber a fremder Herre war in seinem Schlafzimmer und hat mr Bescheid gegeben, ich sullte zum Duktor Schulz gehen.«

Über diese Geschichte lachte die ganze Verwandtschaft.

In seiner Schlafstube hatte der Doktor eine Dusche einbauen lassen. In der Ecke unter der Stubendecke befand sich ein Wasserkasten, den der Kutscher jeden Tag füllen mußte. Zog man an einer Schnur, so ergoß sich das Wasser auf den Darunterstehenden. Vater empfahl diese Art der Morgenerfrischung seinen Nachkommen, und keiner war da, der widersprach. Es ist allen bestens bekommen.

In dieser nicht sehr hellen Schlafstube kam Haberlands zweites Kind zur Welt, neunzehn Tage nach jenem Silvesterabend, an dem Schorschel ziemlich verächtlich »wie ’ne Wiege« gesagt hatte, als er das prophetische Stück Blei betrachtete, und er schrie, als er es hörte: »Set ersch, ich hoas zuerscht gewußt!«

»Ihr habt ein Schwesterle bekommen«, verkündete Vater ihm und Regine. Keinen kleinen Fritz. Regine sah den Vater an: War er enttäuscht?

O nein. Vaters Augen strahlten. Die Geburt war nicht leicht gewesen, aber Mutter und Kind lebten, und nun war alles gut. Regine fiel dem Vater um den Hals, sie ahnte wohl, daß sie in dieser Nacht hätte mutterlos werden können, und sie freute sich über das Schwesterchen fast noch mehr als über einen Bruder.

»Nur – wir haben ja keinen Namen! Wie wär’ es mit einer kleinen Friederike? Immer haben wir vom kleinen Fritz gesprochen, und jetzt –«

»Jetzt ist es eine Dame, und vielleicht bringt sie uns eines Tages einen Schwiegersohn mit Namen Fritz ins Haus.«

Vater zog die große Tochter ins Schlafzimmer an Mutters Bett. Die dicke Grulichen, die Hebamme, war auch da, räumte im Zimmer auf, begrüßte Regine respektvoll und ließ sie in den Stubenwagen gucken, der neben Mutters Bett stand. Ein Köpfchen, schwarz behaart, und zwei nach oben gerichtete Fäustchen. So klein, so klein ...

Dann beugte sich Regine über ihre Mutter, legte einen Augenblick ihre Wange an deren Gesicht. Ein heißer Tropfen fiel darauf, war’s Glück, war’s Angst, war’s einfach Rührung? Eine kleine Schwester – nun war sie nicht mehr die »Einzige« ihrer Eltern. Das war schön – und schwer, wie alles Große und Wunderbare auf dieser Welt. Regine erfuhr es in jungen Jahren.

Die Mutter erholte sich langsam, Regine pflegte sie treu. Es waren zwei Dienstmädchen im Haus und der Kutscher für die schwere Arbeit, trotzdem war die Siebzehnjährige überfordert. Sie schlief in dem Zimmer neben der elterlichen Schlafstube, und manchmal, wenn der Vater nachts von einem Patientenbesuch heimkam, saß sie in ihrem Bett, hatte ihr Kopfkissen in den Armen und wiegte es wie ein Steckkissen, wobei sie »Pschpsch« machte. Nebenan schlief Friederike tief und fest.

Mutter konnte nicht stillen. So mußte Regine für die Babyflaschen sorgen, mit denen die Kleine gefüttert wurde, mußte Windeln wechseln und Badewasser holen, sich um das Essen kümmern und den Vater beruhigen, wenn er aus dem Mariannenhaus kam. Er hielt früh Sprechstunde daheim, ging dann ins Krankenhaus und kam zu unregelmäßigen Zeiten zurück, verlangte aber, daß das Essen sofort auf den Tisch komme.

»Regine, sei so gut und mach ein bißchen Unruhe«, pflegte Mutter dann zu sagen, und so lief Regine ein und aus, klappte mit der Tür, wedelte das weiße Tischtuch über den Tisch, klirrte mit dem Porzellan und klapperte mit dem Besteck. Dann war Vater zufrieden, denn ›es tat sich was‹, und er verschwand mit der Zeitung in die Sprechstube, bis zu Tisch gerufen wurde.

Solange Mutter lag, ging dies alles nicht ganz ohne Schwierigkeiten über die Bühne. Regine mußte treppauf, treppab laufen, die schöngeschwungene Treppe, die nach oben führte, mit den flachen Stufen und dem glatten Geländer. Die Enkel machten es sich später leicht, sie rutschten das Geländer hinunter, lachend vor Wonne, im Reit- und Damenreitsitz, hui, um die Kurve und unten geschickt abspringend. Regine, die lange Röcke und ›erwachsene‹ Kleider trug, hätte diese Möglichkeit weit von sich gewiesen. So etwas tat man nicht. Sie lief und lief, wurde blaß und dünn dabei und atmete auf, als die Mutter wieder in der Eßstube auf ihrem Platz saß, auf dem Podest am Fenster, im Lehnstuhl, majestätisch und freundlich. Es war wie ein Wunder: sobald sie dort saß, lief alles wie am Schnürchen. Jedes Dienstmädchen wurde von ihr angelernt, sie selbst war eine hervorragende Köchin, und ein Mädchen, das nicht begriff, worauf es ankam, blieb nicht lange. Die aber, die der Frau Rat die Kniffe abguckten, blieben lange und verließen das Haus erst, um zu heiraten, als rundum ausgebildete Hausfrauen.

Die Mutter verstand viel von Pilzen. Oft brachten Patienten Pilze mit, oft auch der Kutscher. Mutter putzte sie immer selbst. Auf der Straße vom Dorf zur Neiße hin kam man am Pilzwald vorbei – der Wald hieß wirklich so. Auf den Wiesen vor dem Wald gab es im Frühling große Mengen von Schneeglöckchen, und die Schulkinder gingen um diese Zeit gern ›ei de Schniegleckla‹ und brachten der Frau Rat riesige Sträuße. Sie verließen das Doktorhaus nie ohne ein Stückchen Schokolade oder eine Handvoll Bonbons. Die Mutter schenkte ja so gern.

In diesem Doktorhaus wuchs Friederike heran. Der Vater verwöhnte sie maßlos, die Mutter erzog sie streng. Sie hing an beiden. Zu einem Vertreter, einem jungen Arzt, der kam, als Vater Urlaub machte, sagte sie einmal: »Hat dich dein Vater auch so lieb wie meiner mich?«

»Ich denke doch«, sagte der junge Mann.

»Küßt er dir auch immer die Hand, wenn du ungezogen warst?«

»Nein«, sagte der junge Kollege etwas konsterniert.

»Aber meiner!« triumphierte Friederike.

Das war so: War sie ungezogen, maulte sie oder war gar frech, so fürchtete der Vater, daß sie krank sei. Er fühlte ihr den Puls und küßte dann das kleine dicke Patschhändchen: »Ist gesund!«

Mit den Vertretern, die kamen, während der Vater Urlaub machte, hatte die Mutter allerlei Schwierigkeiten. Der eine brachte seine Familie mit, Frau und mehrere kleine Kinder; er verlangte, daß in der Eßstube ein Sandhaufen aufgeschüttet werde, damit die Kinder bei Regenwetter dort spielen könnten. Einer war Morphinist. Einer nahm sich das Leben, er erschoß sich auf dem Weg zum Krankenhaus. Aber auch damals bat Mutter ihren Mann nicht heimzukommen, sondern stand alles alleine durch.

Sie selbst machte Urlaub in Bad Gastein; sie nahm Friederike mit, während Regine sie zu Hause vertrat. Doch vorher reiste sie nach Wien, um ihren Bruder Eugen zu besuchen. Als Adjutant des Kaisers war er beim Kaisermanöver in Österreich. Ein Bild, das in der Familie erhalten blieb, zeigte die beiden Kaiser, den deutschen und den österreichischen, und Onkel Eugen lachend auf dem ›Schlachtfeld‹. Sie waren zu Fuß durch das Biwak gegangen. Von einem der Lagerfeuer hatte ein Soldat ihnen zugerufen: »Kommt doch, ihr drei, und setzt euch zu uns, hier ist’s warm!« Natürlich ohne zu ahnen, wen er da aufforderte.

Im selben Jahr, ein paar Wochen nach dem Wiedersehen, starb Onkel Eugen. Die Mutter fuhr mit Friederike sofort nach Wien zur Beerdigung.

Das war ein großes und unvergeßliches Ereignis. Am meisten imponierte der kleinen Friederike, daß des Onkels Reitpferd, mit einer schwarzen Schabracke bedeckt, vor dem Sarg hergeführt wurde. Dahinter kam der Wagen, von vier Rappen gezogen. Oben auf dem Sarg lagen des Onkels Orden. Ein langer, langer Leichenzug folgte. Der Onkel war Generalmajor gewesen. Seine Frau und seine beiden Töchter, Eugenia, genannt Genia, und Christel, folgten in einer schwarzverhangenen Kutsche, in der folgenden saßen Mutter und Friederike. Nach dem Begräbnis fand ein großer Empfang statt.

Friederike war durch die vielen Menschen, die so ernst blickten – die meisten Damen weinten –, verwirrt und eingeschüchtert und wich nicht von der Hand ihrer Mutter. Später, als sie mit Mutters Schwägerin und deren Töchtern zusammensaß und die Mutter von Bad Gastein erzählte, brach Friederike plötzlich in lautes Weinen aus. Sie wollte heim. Sie hatte Sehnsucht nach ihrem ›Feadel‹, so hieß das hölzerne Schaukelpferd auf gut schlesisch. Ihre Mutter versuchte sie zu trösten, schließlich versprach sie heimzufahren und verzichtete auf den Rest der Kur. Sie sah sich reich belohnt, als sie heimkamen und Friederike, getröstet und zufrieden, sogleich ihr Pferdchen suchte, es fand, umarmte und selig küßte.

»Ihr hättet es mitnehmen sollen«, sagte Vater tadelnd. Mutter lachte gerührt über das Töchterchen und über ihren Mann.

Nun saß sie mit ihrer feinen Strickerei am gewohnten Platz, die Welt war wieder in Ordnung. Auch Regine konnte wieder aufatmen. Und schon erschien die Gustel, die Botenfrau des Dorfes, um sich Aufträge zu holen.

Die Gustel kam jeden Tag. Die Mutter mochte sie sehr gern, denn die Botenfrau war ein Original, wenn auch ein ungewaschenes. Kinder, Enkel und Urenkel wuchsen mit dem tadelnden Ruf ihrer Mütter auf: »Wie die Gustel!«, wenn sie einmal sehr schmutzig heimkamen.

Die Gustel besaß einen kleinen Planwagen, den ein Hund zog. Diese jeweiligen Hunde – die Gustel blieb Botenfrau ihr Leben lang – hießen immer Waldi, sie nannte sie zärtlich ›Walderla‹. Sie hatten ihre Hütte im Hof des Doktorhauses, wurden auch dort gefüttert. Gustel liebte ihre Walderlas sehr, brachte sie aber nie mit ins Haus.

Jeden Tag zog sie mit ihrem Hundewagen und den Aufträgen aus dem Dorf nach dem neun Kilometer entfernten Frankenstein und kaufte dort ein. Aufträge bekam sie immer. Einmal sollte sie für die Tochter des Generaldirektors einen Brautschleier mitbringen. Als sie wiederkam, fand sich das Wertstück nicht mehr. Sie schwor darauf, es besorgt zu haben. Ein paar Tage später erschien ein anderer ihrer ›Kunden‹ und brachte ihr ein schwärzliches, zusammengeballtes Etwas, das er aus seinem Stiefel herausgeholt hatte, weil es ihn so drückte. Es war der Schleier.

Für die Frau Rat mußte sie allerlei besorgen, auch manche Sachen auf Vorrat. Da sie so gern schenkte, hielt sie sich immer ein paar Spielsachen für kranke Kinder. Da gab es Puppen und Soldaten, Bilderbücher und andere Herrlichkeiten, die in der Truhe warteten. Manchmal durfte Friederike das aussuchen, was ein weinendes Kind bekommen sollte. Das war ein Ehrenamt.

Die Gustel war äußerst höflich. Sie sprach die Frau des Doktors nur in der dritten Person an. Wenn ihr etwas nicht paßte, begann sie ihre Rede so: »Frau Rat sein ja sehr gietig, aber ...« Dann wußte die Mutter Bescheid. Gustel pflegte Friederike ihr ›Guldschwänzla‹ zu nennen und lobte sie und schmeichelte ihr. Regine hörte es und ärgerte sich oft darüber. Gustels Lobgesänge auf dieses Kind sprengten alle Grenzen. Die Mutter schien es nicht zu merken. Das kränkte Regine.

Für sie war es ganz und gar nicht leicht, die Liebe der Eltern mit der kleinen Schwester zu teilen. Regine hatte die Dorfschule besucht, Friederike brauchte das nicht. Für sie kam der Lehrer Adolf ins Haus und unterrichtete sie. Damit sie nicht allein sei, nahm die Mutter ein Kind aus dem Dorf ins Haus, die Schätz-Martha, die mit Friederike zusammen lernte, spielte und die Mahlzeiten teilte. Zum Schlafen ging die Martha heim. Darin war die Mutter sehr gerecht, ja übergerecht: oft genug gab sie bei einem Streit der Schätz-Martha recht, auch wenn Friederike recht gehabt hätte, um das fremde Kind nur ja nicht als Prügelknabe zu mißbrauchen.

In mancher Beziehung war die Mutter überhaupt altmodisch und entsprechend unbequem. Wie wünschte sich Regine ein Fahrrad! Aber sie bekam keins.

»Das ist zu gefährlich. Du könntest stürzen«, sagte ihre Mutter. Auch Schwimmen lernen durfte sie nicht. Das holte sie später nach, als sie nach Freiburg ins Pensionat kam. Regine war nicht sehr sportlich, und wenn Vater manchmal von dem Beruf sprach, den sie einmal ergreifen müsse, fand Mutter, das solle man abwarten. Krankenschwester, was nahegelegen hätte, sei zu anstrengend. So blieb sie weiterhin zu Hause, Vaters Kamerad bei den Patientenfahrten in die umliegenden Dörfer und Mutters ›Hilfe‹.

Eine Freundin hatte sie. Am Ende des Dorfes, gegenüber dem ›Schwarzen Adler‹, lag der Kaufladen Dempe. Mit der einzigen Tochter des Inhabers war Regine befreundet, und diese Freundschaft sollte bis zum Tode dauern. Kaum ein Tag verging, an dem Regine nicht bei Dempes war. Der Laden war groß und dunkel, die ›aale Dempen‹, Lores Mutter, saß an der Kasse, klein und verhutzelt, und begrüßte Regine jedesmal mit gleicher Herzlichkeit. Dr. Haberlands waren gute Kunden. Im Laden roch es nach Sauerkraut und Bohnerwachs, Kaffee, Hanf und kaltem Porzellan. Denn auch Porzellan kann riechen, wenn es gestapelt in den Regalen steht. Vor Weihnachten gab es auch Spielzeug zu kaufen. Und Christbäume. Vater schimpfte immer, wenn Mutter einen Baum aussuchte, und nannte ihn »een Ladenhüter von der aalen Dempen«. Die Mutter war stets etwas nervös, wenn sie ihn geschmückt hatte – sie mußte sich des Vaters Kritik anhören. Der Vater ruckte den Baum hin und her, weil er, wie er fand, schief stand, und brachte es schließlich zuwege, daß er umfiel. Das war ihm peinlich; nun erinnerte er sich eines Krankenbesuchs und verließ fluchtartig das Haus. Zum Weihnachtsfest war meist Tante Agathe da, eine von Mutters Schwestern, und die beiden Damen mühten sich aufs neue um den Baum, stellten ihn wieder auf, befestigten ihn mit einer Wäscheleine und beschlossen dann, sich etwas auszuruhen, bis Vater wiederkomme. Tante Agathe legte sich aufs Sofa, und Mutter setzte sich in ihren Stuhl. Später entdeckte Regine am Kleid der Tante auf der Rückseite lauter runde braune Flecken. Das waren die Spuren des Christbaums, an den zur damaligen Zeit Näschereien gehängt wurden, so auch Schokoladentaler, die beim Sturz über dem Sofa abgefallen und unter Tante Agathes Gewicht und Wärme beim Erholungsschlaf geschmolzen waren.

Da lachte auch der Vater, als man es ihm erklärte. Aber Dempes machte er weiterhin schlecht, sooft sich die Gelegenheit bot.

2

Der lustige Sachse

1905

Wieder war es Sommer, und der Vater machte mit Regine Ferien in Südtirol. Sie hatten einen langen Wandertag hinter sich. Regine kam die Treppe herunter und stieß die Tür zu dem kleinen Schankraum auf. Ach, wie gemütlich! Niedere Decke und blank gescheuerte Tische; ein Beisl nannte man das wohl. Ihr Vater saß am Fenster und las die Zeitung.

»Hast du schon etwas bestellt?« fragte Regine und setzte sich zu ihm. Er nickte. Regine war so herrlich müde, wie durchmassiert von diesem Wandertag, aber nicht schläfrig. Gerade kam die Suppe.

»Heiß. Verbrenn dich nicht, Väterchen«, warnte sie und nahm den Löffel auf. »Was meinst du, ob wir den lustigen Sachsen morgen wieder treffen?«

Der ›lustige Sachse‹ war heute der Dritte im Bunde gewesen. Er wanderte allein. Der Vater hatte ihn nach dem Weg gefragt, den sie gehen wollten. Da hatte er sich ihnen angeschlossen.

Er war älter als Regine, sah gut aus und sprach sein Sächsisch sehr mild, sozusagen ein höfisches Sächsisch. Während sie wanderten, erzählte er von einer Aufführung der ›Fledermaus‹ in Leipzig, und Regine lachte und sagte, ein Stück aus dieser Operette sei ihr Lieblingsstück auf der Spieluhr. Sie kannte nur das, wann wäre sie je ins Theater oder gar in eine Operette gekommen!

Der lustige Sachse sang ihr sogleich vor, was sie am liebsten hatte: »Mein Herr Marquis, ein Mann wie Sie müßte das besser verstehen ...«

Ihr Vater war so unmusikalisch wie ein Krokodil, auch Regine war nicht sehr begabt für Musik. Aber sie liebte Musik. Mittags waren sie zusammen eingekehrt, hatten gegessen und Tiroler Rotwein getrunken. Der Wanderkamerad hatte sich inzwischen vorgestellt: Dr. Geist aus Leipzig, am Bibliographischen Institut tätig. Nach dem Essen gingen sie zu dritt wieder los.

Jetzt durchfuhr Regine ein kleiner angenehmer Schreck, als die Tür aufging und Dr. Geist hereinkam, sich umsah, sie und ihren Vater am Fenster erblickte und daraufhin die Tür leise hinter sich zuzog. Er trat an ihren Tisch. Der Vater sah auf.

»Wie nett. Setzen Sie sich doch zu uns«, sagte er.

Regine freute sich darüber. Ihr Vater war manchmal etwas schwierig in bezug auf Leute, die er nicht kannte. Siehe Dempes. Dr. Geist aber schien er zu mögen.

So nahmen die Dinge ihren Lauf. Am nächsten Morgen setzte man sich schon wie zusammengehörig an einen Tisch, und Regine konnte vor Aufregung kaum schlucken. Dr. Geist fragte nach ihren Wanderplänen und meinte, er könne den seinen dem ihren vielleicht anpassen, wenn es ihnen recht sei. Regine wandelte wie auf Wolken.

›Ich bin meinem Schicksal begegnet‹, dachte sie im Stil der damaligen Romane, und wenn man es recht betrachtete, so war sie das auch. Diesmal sang Dr. Geist nicht Melodien aus der ›Fledermaus‹, sondern erzählte, von Regines Vater freundlich aufgefordert, von sich.

Er lebte in Leipzig, war aber nicht dort geboren, sondern in Hosterwitz an der Elbe, wo sein Vater Pfarrer war. Diesem zuliebe hatte er zuerst Theologie studiert, seine Examina gemacht, hatte seine Probepredigten gehalten und dann eine Unterredung mit seinem Vater geführt, in der er ihn wissen ließ, daß er nicht Pfarrer werden wolle. Das kränkte seine Eltern tief, da sie einer langen Ahnenreihe von Pastoren entstammten und es als selbstverständlich angenommen hatten, daß Martin die Tradition fortsetzen würde. Er teilte ihnen mit, daß er sich für die Philologie entschieden habe, aber nicht Lehrer werden wolle, sondern ins Bibliographische Institut eintreten würde.

Martin hatte drei Geschwister, er war der Älteste. Eine Schwester war mit einem Landschaftsgärtner verheiratet, der auf der Insel Mainau lebte und genau gesagt – aber Dr. Geist drückte sich bescheiden und sehr vorsichtig aus – die Mainau gestaltete und umgestaltete. Regine mußte sofort an ihr geliebtes Buch Ekkehard denken. Die andere Schwester hatte die Tradition gewahrt und einen Pastor in Sachsen geheiratet, der aus erster Ehe einen Sohn hatte, für den er eine zweite Mutter suchte. Der jüngste Bruder wollte später die Forstkarriere einschlagen und sollte Güterdirektor beim König von Sachsen in Sibyllenort werden. Jetzt war er noch im Studium.

Dies alles erzählte Dr. Geist nach und nach auf Vaters freundliche Fragen hin, und Regine lauschte mit klopfendem Herzen. Sie versuchte herauszubekommen, wie lange sie noch gemeinsam wandern würden, konnte abends nicht einschlafen und heulte vor Glück und Angst um dieses Glück, kurz, sie benahm sich, wie man sich benimmt, wenn man das erste Mal richtig verliebt ist. Als dann der Abschied kam – Dr. Geist mußte seinen Urlaub früher beenden –, feierten sie am Abend mit einem Glas Wein, tauschten ihre Adressen aus, und Dr. Geist ließ sich versprechen, daß Regine am Morgen nicht aufstehen würde, um ihn zu verabschieden, da er zeitig wegmüsse. Sie war natürlich trotzdem auf und erwartete zitternd den ersten Kuß, den Dr. Geist ihr dann doch nicht zu geben wagte. Von nun an wanderten Vater und Tochter wieder allein, aber Regine hatte große Sehnsucht nach daheim und Martins erstem Brief, der auch prompt auf sie wartete. Sie widersprach nicht, als ihr Vater beim Einsetzen schlechten Wetters zeitiger heimfahren wollte. Von nun an wurden Briefe gewechselt, und am dreizehnten Dezember kam der erwartete, der den Heiratsantrag enthielt. Regine war selig.

Für sie war die Welt verändert, es galten nur noch die Tage, an denen sie einen Brief von Martin erwarten konnte. Sie schrieb eifrig wieder, sie träumte, sie lief spazieren, um ungestört an ›ihn‹ denken zu können, und sie weinte am Neujahrstag herzlich und mit Genuß, weil gerade an diesem Tag kein Brief kam. Er kam am nächsten Tag, und dann, ja dann war es eines Tages soweit, daß Martin selbst kam.

In diesem Jahr war es zeitig Frühling geworden. Regine hatte das Gefühl, als schmücke sich die Welt für den Tag ihres Wiedersehens, und wenn der Garten auch nicht viel hergab – Haberlands waren beide keine geschickten Gärtner –, so stand doch der Park im schönsten Frühlingskleid, und Regine brannte darauf, Martin alles zu zeigen.

Um diese Zeit hatte die Familie es schwer mit Friederike. Es war, als ahnte das Kind, daß es nun für einige Zeit die zweite Geige spielen würde, und das gefiel ihm gar nicht. Friederike war gewöhnt, daß Regine ihr abends vorlas, aus dem geliebten schönen Märchenbuch, das Mutter vor Jahren gekauft hatte. Regine tat das gern, doch jetzt waren ihre Gedanken so von Martin erfüllt, daß diese Vorlesestunde manchmal ausfiel, und fiel sie nicht aus, so fühlte das Kind unbewußt, aber deutlich, daß Regines Gedanken woanders waren, auch wenn sie vorlas. Friederike reagierte, wie ein bis dahin im Mittelpunkt der Familie stehendes Kind, das jetzt an den Rand geschoben wurde, reagieren muß: mit Zorn, mit Eifersucht, mit wütender Trauer. Einmal kam Regine dazu, wie die kleine Schwester dabei war, Seiten aus dem Märchenbuch herauszufetzen. Erschrocken nahm sie das geliebte Buch an sich.

»Was fällt dir denn um Himmels willen ein!« rief sie.

»Weil du nur ›Die zertanzten Schuhe‹ gelesen hast!«

›Die zertanzten Schuhe‹ waren ein ziemlich kurzes Märchen, und Friederike wünschte es sich nie, wenn sie ein Märchen aussuchen durfte. Sie erkannte es aber an den Bildern und hatte an dieser Stelle angefangen, die Blätter herauszureißen. Regine war sehr bestürzt, sammelte die Fetzen ein und klebte sie mühevoll wieder zusammen. Der Mutter erzählte sie zunächst nichts.

Aber auch den Eltern war Friederikes Veränderung aufgefallen. Die Mutter meinte, sie sei einfach ungezogen.

»Vielleicht wächst sie«, sagte der Vater, der kein Krankheitssymptom an ihr feststellen konnte. Dann aber geschah etwas, was nicht verborgen bleiben konnte: der Kutscher meldete, daß Fräulein Friederike, wie er sagte, ihm das Beil gestohlen habe. Er brauche es aber zum Holzhacken. Mutter schickte Regine, um nach der kleinen Schwester zu sehen. Sie fand sie im oberen Flur, wo das Kind dabei war, das Pferdel zu zertrümmern. Die Beine waren schon abgeschlagen – eigentlich eine erstaunliche Leistung für ein so junges Kind. Regine erschrak heftig, sammelte die einzelnen Teile ein und trug sie hinunter zur Mutter. Auch die Mutter war entsetzt.

»Das darf Vater nie erfahren«, sagte sie und tupfte sich die Augen aus, »lauf schnell zum Nentwig, er soll herkommen, ich will mit ihm sprechen.«

Regine gehorchte, und Mutters verzweifelte Bitten, hier helfend einzugreifen, rührten den alten Handwerker sehr. Er versprach, alles wieder in Ordnung zu bringen, und nahm mit, was vom Pferdel noch übrig war.

»Keene Sorge, ich mach’s schunt«, beruhigte er Mutter, die ganz verstört war von der Gewalttätigkeit ihrer kleinen Tochter. Als er gegangen war, berieten sich die beiden Frauen.

Daß Vater nichts davon erfahren dürfe, war beiden klar. Regine meinte, man müsse die Kleine tüchtig »aus den Lumpen schütteln«, wie man dort sagt; die Mutter aber war für Geduld.

Vielleicht war das falsch. Wenn eine von ihnen einmal richtig mit dem Kind gesprochen hätte – »sieh mal, Regine freut sich auf ihren Bräutigam (diese Vokabel benutzte man damals noch), sie will mit ihm ein neues Leben anfangen und kennt ihn noch sehr wenig, aber sie denkt immerzu an ihn; das geht einem so, wenn man verlobt ist« oder so ähnlich. Vielleicht hätte das Kind das schon verstanden. Auf diese Idee aber kam keine von ihnen.

Denn es war so: Die kleine Schwester war für Regine an den Rand des Bewußtseins gerutscht, das spürte das Kind und litt darunter. Immerhin unternahm Friederike keine weiteren Handgreiflichkeiten, sah aber blaß und verstört aus und fand sich erst langsam wieder zurecht. Regine lief mit roten Backen und bemehlter Schürze umher, buk Kuchen, stellte Salate zusammen, zählte die Tage und Stunden und befand sich in einem Rausch, als ein Telegramm eintraf: »Ganymed, Zeile zwanzig.«

»Was kann das heißen?« fragte sie. Ihre Mutter wußte es sofort. Sie war eine große Goetheverehrerin, konnte den ersten Teil des Faust fast ganz auswendig, dazu den gesamten Westöstlichen Diwan und sehr viele andere Gedichte.

»Wenn ich mal nach Weimar käme, das wäre, wie wenn ein gläubiger Katholik nach Rom führe«, sagte sie manchmal.

Jetzt wußte sie gleich, was gemeint war.

»Ich komme, ich komm’ –«

Regine riß den Band mit den Goethegedichten aus dem Regal, um sich zu vergewissern. Und siehe, die Mutter hatte recht. Da stand: »Ich komme, ich komm’ –«

Martin war die Nacht durchgefahren und erschien mit dem ersten Zug. Der Vater hatte den Kutscher mit Regine, die sich das nicht nehmen ließ, zur Bahn geschickt. Sie strahlte mit dem Morgen um die Wette.

Unvergeßlich blieb ihr Martins Begegnung mit der Mutter. Er beugte sich tief über ihre Hand, und sie weinte ein bißchen, aber es waren glückliche Tränen.

»Du hast mir ja gar nicht gesagt, wie schön deine Mutter ist«, sagte Martin später. Regine lächelte glücklich. Ihre Mutter und Martin verstanden sich auf den ersten Blick, beim ersten Wort. Sie sah es ohne Eifersucht und mit tiefer Freude. Diese Liebe von Schwiegermutter zu Schwiegersohn blieb gleich stark, solange die Mutter lebte.

Es war ein Sonnabend, an dem Martin kam. Sie frühstückten auf der Veranda, eine unvergeßlich schöne Stunde in der Frühlingssonne. Die Mutter fragte, ob Martin sich nicht hinlegen wolle. Aber er versicherte, er sei gar nicht müde, er habe die ganze Fahrt über geschlafen, und wenn Regine einverstanden sei, wolle er lieber ein Stück mit ihr Spazierengehen.

Und ob sie einverstanden war! Sie trug ein weißes, fußfreies Kleid und einen großen weißen Hut; Martin fotografierte sie darin, es wurde ein reizendes Bild, das jahrelang in einem Rahmen auf dem Klavier des jungen Paares stand. Eine etwas säuerliche, Regine nicht sehr zugetane Tante bedachte es mit dem Ausspruch: »Im günstigsten Moment«, was die Familie lachend übernahm. Regine war damals sehr hübsch.

Sie gingen los. Wohin? Natürlich »aufs Schloß«, wie man dort sagte, es war der schönste Spaziergang. Erst durchs Dorf, an Dempes Laden vorbei – diesmal vorbei und nicht hinein, Regine wollte dieses erste Wiedersehn mit Martin allein erleben –, über die kleine Brücke, die den Mühlengraben überspannte. Am Anfang und Ende der Brücke standen, wie heute noch, die beiden steinernen Heiligen. Einerseits der Florian, der gegen Feuer hilft – »Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andere an –«, hieß es so menschenfreundlich, er stand und goß steinernes Wasser auf ein winziges steinernes Haus. Regine erzählte Martin die alte Geschichte, mit der man die Kinder foppte. Wenn man frühmorgens nichts ißt, danach schweigend dreimal um die Kirche geht und zuletzt vor dem Heiligen niederkniet und sagt: »Heiliger Sankt Florian, was hab’ ich heut gegessen?«, dann sagt er – sie verstellte ihre Stimme, daß sie tief und männlich klang: »Nächts.«

Martin lachte, zog sie im Dämmerlicht des Brauertors, durch das sie jetzt gehen mußten, an sich und drückte ihr schnell einen Kuß auf den Mund, den allerersten. Regine wurde rot vor Freude und Geniertheit.

Auf der anderen Seite der Brücke stand der heilige Nepomuk, kenntlich am Strahlenkranz, den er immer ums Haupt trägt. Dann kam man auf den großen Kirchplatz, wo die alte Kirche steht. Regine zog Martin gleich hinein. Sie liebte, wie jeder in der Familie, diese Kirche über alles. Flüsternd erzählte sie Martin all das, was sich hier zugetragen hatte. Und ging mit ihm, eng eingehakt, von einem Heiligenbild zum andern.

Schlesien ist reich an Barockkirchen, diese aber ist besonders schön. Ein verständnisvoller Geistlicher hatte alles Bunte daraus verbannt und die Figuren in Weiß und Gold gehalten. Da gab es Heilige, die durch ihr Martyrium berühmt geworden waren: einer trug seinen abgeschlagenen Kopf auf einem Buch vor sich her, ein anderer drehte sich mit einem merkwürdigen Instrument den Darm aus dem aufgeschlitzten Bauch.

»Den mußte ich als Kind immer ansehen, es gruselte mich dann so schön«, flüsterte Regine. Die Kanzel hatte ein Dach, auf dem eine Leiter stand, die Jakobsleiter, und auf dieser stiegen kleine steinerne Engel, dikke, überernährte Putten, auf und nieder.

»Der Alte Fritz war oft hier, er war mit dem Abt befreundet«, erzählte Regine eifrig, »einmal fragte er ihn, warum die Engel denn eine Leiter brauchten. Sie hätten doch Flügel. ›Ja, Majestät‹, antwortete der Abt – er hieß Tobias Stusche – ›sie waren damals wahrscheinlich gerade in der Mauser!‹«

An einer der dunklen Bänke aus Holz stand:

»Hier stand und sang Friedrich, der Zweite, der Große, als Mönch verkleidet, während die Österreicher die Kirche nach ihm durchsuchten.« Der Abt hatte ihn schnell in eine Kutte gesteckt und mit den Mönchen in die Kirche ziehen lassen. Wie anders wäre die Geschichte verlaufen, wenn er nicht diese rettende Idee gehabt hätte! Den Adjutanten fanden die Feinde hinter dem Hochaltar. Er hieß von Glasenapp.

»Und draußen an der Prälatur, das sind solche Pfeiler mit kleinen Bänken, dort hat er gesessen und Flöte gespielt.«

»Du kanntest ihn wohl persönlich?« fragte Martin lächelnd.

»Ich glaub’ fast, jedenfalls beinah«, ereiferte sich Regine, »und nachher gehen wir an einem Maulbeerbaum vorbei, den hat er noch gepflanzt oder pflanzen lassen –«, schränkte sie ein. »Er hat die Seidenraupenzucht hier eingeführt.«

Sie gingen über die Himmelbrücke in den Park hinein und stiegen die Terrassen hinauf zum Schloß. Die schön gepflegten Wege schwangen auseinander und wieder zusammen, Bronzefiguren zierten kleine Wasserbecken. Hier ein Knabe mit einem Delphin, dort einer mit einer Schildkröte. Und jetzt der große Platz vor dem Schloß, mitten darauf ein Wasserbecken, auf dessen Rand steinerne Frösche hockten. Laubengänge und verschwiegene Bänke, fast verhüllt, auf stille Besucher wartend. Treppen, die man leicht und beschwingt emporging, der Blick vom Schloß über das Dorf bis zu den Bergen hinüber, die duftblau am Horizont standen. Rings um das Schloß führte ein Weg zum Rosengarten und zur Siegessäule. Martin und Regine schwiegen miteinander, Worte wären zuviel gewesen. Hier sollten einmal ihre Kinder und Enkel gehen, wenn Gott ihnen das gewähren wollte. Martin hatte einen sehr guten Arbeitsvertrag erhalten, den hatte er abgewartet, ehe er Regines Eltern offiziell um die Hand ihrer Tochter bat. Er erzählte jetzt davon, und Regine versteckte ihr Gesicht an seiner Schulter.

Am Sonntag fand das Festessen statt. Der Tisch war aufs schönste geschmückt, Silber und Kristall glänzten, und der Vater hielt eine Rede, zu der er sich erhob. Regine sah vor Verlegenheit in ihren Schoß, Martin entgegnete mit Wärme und Anstand. Kaum hatte er geendet, als es klopfte und Marie, die diesjährige Küchenfee, mit einem Telegramm hereinkam.

»Ich sullts halt glei abgeba, hot er gesaot«, murmelte sie entschuldigend. Der Vater nahm es ihr ab. Aber es war an Martin gerichtet. Martin entfaltete es – las es für sich und dann halblaut vor. Sein Vater war gestorben.

Alle schwiegen.

Später hieß es, dies sei geschehen, weil es dem alten Herrn das Herz gebrochen habe, daß Martin eine Katholikin heiraten wollte. So erzählte man es in Martins Verwandtschaft. Jetzt war davon noch keine Rede.

»Da mußt du wohl gleich wieder fort?« flüsterte Regine, nachdem alle Martin ihr Beileid ausgesprochen hatten. Sie weinte. Martin legte seine Hand auf die ihre.

Die Mutter sprach dann ein paar freundliche Worte. Niemand hatte von ihr eine Tischrede erwartet, aber es tat gut zu hören, wie sie mit dem Herzen mitfühlte. Der Vater stand auf und holte das Kursbuch. Zum Glück ging der nächste Zug erst am Abend.

»Wir können also noch in Ruhe beieinandersitzen bis dahin«, sagte Martin, »laßt euch den schönen Tag nicht verderben.«

Sie gaben sich alle Mühe, einer wie der andere. Regine hatte ihre Kochkünste zeigen wollen und sozusagen künstliche Eier zubereitet. Es waren zwar richtige Hühnereier, aber ausgeblasen und mit einer cremigen Mayonnaise gefüllt. Nun achtete niemand darauf, nur der Vater sagte grimmig, als er das dritte aufschlug: »Wieder eins ohne Dotter!«

Da mußten alle lachen, und der Bann war gebrochen. Beim Kaffee danach wurde schon wieder munter geschwatzt; es wurden Pläne gemacht für die Hochzeit im Mai, es wurde auch gelacht, obwohl man sich dessen ein bißchen schämte. Regine zeigte sich tapfer der raschen Trennung gegenüber, sie tröstete sich damit, daß Martin im Mai nicht ohne sie abfahren würde. Trotz allen Kummers war es ein harmonischer Nachmittag, und Martin fuhr freundlich winkend ab, nachdem er Regine nun richtig und liebend geküßt hatte.

»Jetzt dürfen wir es ja«, sagte er leise, als er merkte, daß Regine verschämt nach dem Bahnbeamten guckte, der mit seiner roten Mütze auf dem Kopf darauf wartete, das Zeichen zur Abfahrt des Zuges zu geben. Er war ein Patient ihres Vaters und kannte sie natürlich. Aber die Verlobung war im Dorf längst bekannt.

»Wie isses denn, richtig verlobt zu sein? Ich meine, so wie du, mit Ring und rumgeschickten Anzeigen und so«, fragte Lore Dempe eines Tages. Sie saßen im Laden, der geschlossen war. Sie hatten noch kein Licht gemacht. Die ›aahle Dempen‹ saß hinter der Kasse, Regine und Lore hockten an der Seite, je auf einem Sack. Die Säcke mit ungebranntem Kaffee, mit Erbsen und Linsen lehnten am Ladentisch. Vorhin war jemand mit einem Brett oder einem Stock an der heruntergelassenen Jalousie entlanggefahren. Das hatte ein schnarrendes Geräusch gegeben – da waren alle drei vor Schreck hochgefahren.

»O diese bösen Bubenhände«, seufzte Frau Dempe. Friederike kroch in den Winkeln des Ladens herum.

»Schön, aber auch nicht schön«, sagte Regine. »Wenn er schreibt, ist’s schön, aber sonst wartet man nur. Und wenn ich denke, ich warte ja darauf, daß ich hier fortmuß, – dann ist es noch schlimmer.«

»Ja, da hab’ ich es besser«, sagte Lore, »ich brauch’ nicht fort. Josef übernimmt den Laden hier.«

Josef Kirchner, ihr Verehrer, war Kaufmann.

Natürlich wußte man im Doktorhaus darüber Bescheid, aber Vater hatte sofort gesagt: »Na, der liebt den Laden und nicht die Lore.«

Regine fand es gräßlich, so zu denken. Und doch verglich sie gleichzeitig in Gedanken Josef mit ihrem Martin. Da tat ihr die Freundin leid. Sie war erleichtert, als Friederike, die sich langweilte, jetzt anfing zu quengeln. Sie wollte nach Hause.

»Bringst du uns noch ein Stück?« fragte sie Lore. Untergehakt bummelten sie die Dorfstraße hinunter.

Es war ein lauer Abend. Sie gingen mitten auf der Straße. Auf dem Fußgängersteg kam ihnen eine kleine Gestalt entgegen, die Gustel, wie sie errieten. Sie ging mit eiligen Schritten, den Kopf vorgebeugt, am Staketenzaun entlang und rannte gegen den Lichtmast, der seit einiger Zeit hier stand. Auch auf die Dörfer kam jetzt Elektrizität, was vor allem Regines Vater sehr freute.

Rums, machte es. Die beiden jungen Mädchen erschraken, mußten aber heftig lachen, als sie hörten, wie die Gustel murmelte: »Ach entschuldigen Sie, Herr Generaldirektor!«

Warum sie den Lichtmast ausgerechnet für diesen hohen Herrn hielt, war unerfindlich. Regine lachte noch, als sie die Messingklingel an der Tür des Doktorhauses zog.

Lore war umgekehrt. Regine trat in die Eßstube, wo ihre Mutter zu sitzen pflegte – nein, nicht allein. Auf dem Stuhl, vor ihrem Platz am Fenster, stand etwas, was Regine lauthals aufjuchzen ließ: Friederikes kleines Schaukelpferd. Da stand es, so gut repariert, daß es kaum auffiel, neue Beine eingeschraubt, tipptopp in Ordnung. Es war nun nicht mehr so hell wie früher, sondern, von liebevollen Kinderhänden glatt gestrichen, dunkler geworden, aber mit dem gleichen ausdrucksvollen Kopf. Die Mutter war sehr gerührt.

»Nun brauchen wir es Vater nicht zu erzählen.«

Aber die beiden Frauen erlebten eine Überraschung. Friederike hatte das kleine Schaukelpferd natürlich auch gesehen, sie stürzte sich aber nicht, wie man hätte annehmen sollen, auf ihr bisher so geliebtes Spielzeug, sondern blieb mit funkelnden Augen davor stehen.

»Das will ich nie mehr haben«, stieß sie hervor, »das könnt ihr behalten. Ich will kein Pferdel mehr – macht damit, was ihr wollt –« Sie drehte sich um und rannte aus dem Zimmer. Als Regine später nach ihr schaute, fand sie die Kleine im Bett liegen, schlafend, das Gesichtchen tränenverschmiert. Merkwürdig. Sie ging zur Mutter zurück.

»Mutter«, sagte sie nach einer kleinen Weile, als sie berichtet und dann geschwiegen hatte. »Wenn wir, Martin und ich, einmal Kinder haben sollten – gibst du es uns dann?«

»Wollt ihr denn Kinder?« fragte die Mutter sacht. Über so etwas sprach man in den Familien nicht. Regine war froh, daß es dunkel war. Kinder. Sich Kinder wünschen, Kinder bekommen – dies alles war ein Kapitel, über das man nicht sprach. Nicht Mutter, nicht Vater, nicht einmal hier, in einem Arzthaus.

»Na ja – Lore sagte –« Regine verstummte.

»Was sagte denn Lore?« fragte Mutter geniert.

»Sie sagte – ich meinte, ob sie glaube, daß sie Kinder bekäme.« Regine brach ab, sich des Unpassenden dieses Satzes bewußt.

»Na? Was –«

»Sie sagte: ›Hach, das wär’ gelacht!‹« gestand Regine und war erleichtert, als sie die Mutter lachen hörte. Mutters halblautes, zärtliches Lachen, das sie so liebte; aber bei solch einem heiklen Thema ...

Sie entfloh, sobald es ging, in ihr Zimmerchen hinauf. Die Mutter blieb zurück. Nachdenklich, auch geniert und mit schlechtem Gewissen. Wäre das nicht eine – ja die Gelegenheit gewesen?

Aber sie hatte sich nicht getraut.

Die Hochzeitsreise des jungen Paares ging nach Wölfelsgrund, einem Luftkurort in der Nähe. Regine hatte, wie es üblich war, weinend am Hals ihrer Mutter gehangen, als sie sich verabschiedeten, und der Abschied vom Vater tat auch weh. Wer würde nun mit ihm auf Praxis fahren? Friederike war noch zu klein.

»Man kann nicht gewinnen, ohne zu verlieren«, hatte Mutter Regine noch zugeraunt. Ob die Tochter es verstanden hatte? Ob sie verstand, daß auch sie, die Mutter, hergeben mußte?

3

Leipzig

1907

Im August des folgenden Jahres kam Regines erstes Kind zur Welt, ein sehr ersehntes Kind, mit Freude und Dankbarkeit begrüßt, der schönste und herrlichste Sohn der Welt.

»Eigentlich müßte er ja Fritz heißen, meinen Eltern zuliebe«, sagte Regine, als sie endlich mit Martin allein war. Sie hatte zu Hause entbunden, in Leipzig-Reudnitz, auf dem Täubchenweg (sprich: Deibschenwech), im dritten Stock, mit Hilfe einer Hebamme und eines Arztes. Es war nicht ohne Zange gegangen. »Aber weil er so ein besonderes Kind ist – er wird bestimmt einmal etwas ganz Großes –, bleiben wir doch bei Alexander.« Alexander der Große – er war fünf Zentimeter länger, als sie selbst bei der Geburt gewesen war, wie sie durch Zufall wußte.

Martin war nach einigem Überlegen einverstanden. Seiner Bescheidenheit stand Regines Begründung ›weil er doch etwas ganz Großes wird‹ zwar absolut entgegen, aber Alexander war gleichzeitig auch ein traditioneller Name in der Familie Geist. So konnte er es vor sich selbst begründen. Regines Mutter kam auf das sofort abgeschickte Telegramm hin angereist, um die Tochter zu pflegen, und Martin fuhr mit dem Schwiegervater in die Alpen. Sie erstiegen die Zugspitze. Das Foto, das dort geknipst wurde, hielt sich generationenlang in der Familie: der Vater mit einem Kopftuch, das über seinen Hut gebunden war. Den Damen wurde diese Besteigung erst hinterher mitgeteilt.

Alexander entwickelte sich normal und bekam, schneller als erwünscht, eine Schwester. Martin war mit einem Kind einverstanden gewesen, er hielt es für seine Pflicht, der Familie einen Erben zu bringen, aber gleich danach ein zweites Kind und noch dazu ein Mädchen? Er sah sehr bedenklich drein und ließ auch ein paar Worte fallen, etwa: dies sei nun genug. Die Mutter und Regine schwiegen.

Der Name für die Tochter machte Schwierigkeiten. Da der Sohn einen so hochtrabenden Namen erhalten hatte, meinte Martin, dürfe man das zweite Kind nicht entgelten lassen, daß es ein wenig zu zeitig und sozusagen ungefragt zur Welt gekommen sei, und stimmte Regine zu, daß es Isolde heißen solle. Isolde Geist, warum nicht?

Das Kind war klein, häßlich und sah einem wenig geliebten Vetter der Familie ähnlich. Dabei war es recht ungebärdig, nicht solch ein pflegeleichtes Baby wie Alexander, der in seinem bisher kurzen Leben noch keine Sorge und keinen Ärger verursacht hatte. Es war gierig und verfressen und wurde vom ›großen‹ Bruder wenig freundlich empfangen.

Auch später entwickelte sich Isolde nicht zu einem hübschen Kind, nicht einmal in der Zeit, in der alle Halbwüchsigen reizend aussehen. Sie hatte etwas zu hellblaue Augen unter einem dunkelblonden Schopf, einen breiten Mund und ziemlich abstehende Ohren. Deshalb flocht Mutter Regine ihr, sobald es möglich war, Zöpfe und rollte sie über den Ohren zu Schnecken auf, eine Frisur, die Isolde haßte. Das Haar kurz zu tragen wie ein Junge, was sie sich heiß wünschte, erlaubten die Eltern ihr nicht. Alexander mochte die Schwester nicht, er faßte sie nie an.