Nie allein - Kurt Scharf - E-Book

Nie allein E-Book

Kurt Scharf

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Mir entgeht, ich vergesse: nichts.

Inhalt

Wandlung

Was über Grahl

Zeitungsmeldungen 1995

Unsere Straße

Licht-Raum

Tagebuch

Tierisch

Nachtschicht

Ab Dezember

Später

Wandlung

Dazwischen Land

Während Wellenbrecher

Gischt

verschäumen

bei Windstärke Sechs

in der Mecklenburger

Bucht,

liegt

hingegen

der Saaler Bodden

sonnig silberglatt.

Wandlung

Ich bin das Blatt

am Winterbaum,

ich schwebe matt

aus deinem Traum

und liege dort

für lange Zeit

an diesem Ort

solang es schneit.

Wenn Sommer wird

und alles hell

in Wärme flirrt,

eventuell

entdeckst du mich

im Waldgeschatt.

Da warte ich,

als neues Blatt.

Oktober-Okto

Viel Braun, kein Grün, und etwas Rot,

und Gelb; naja, ein Farbenangebot

vom Herbst im schönen deutschen Wald,

und ist es auch ein wenig kalt,

ich wandre gerne hin und wandre her.

Zwar, der Mantel (weil zu schwer) stört mich sehr,

doch kommt ja bald die Zeit der kurzen Hemden

im Frühling wieder. Mein Befremden:

dass ich nicht weiß, ob er auch mich erreicht.

Storch

Nach langem Zug

die letzte Phase –

in flachem Flug

über die Straße.

Zum alten Nest

mit müden Schwingen –

die Sonne lässt

es ihn gelingen.

Gruß vom Worte-Finder!

Er heimst die Zeilen ein,

sendet sie geschwinder

als je zuvor ins Sein.

Gruß vom Wort-Entferner!

Er streicht die Zeilen aus,

macht das noch viel gerner,

wird ein Gedicht daraus.

1992, Deutschland

Wir können nichts begreifen.

Das Leid der Fremden hier

kann uns nur wenig streifen

und ist nicht unser Bier.

Wir sind es nicht, die fliehen.

Wir haben unser Haus,

ein Bett, das wir beziehen,

und sehen glücklich aus.

Und wenn wir uns mal streiten

(auch das kommt manchmal vor),

geht es um Kleinigkeiten,

so zwischen Tür und Tor.

Wir stehen voll im Leben,

und leben gut dabei.

Die andern, die daneben,

die sind uns einerlei.

Der Würfel fällt verschieden,

so wird es immer sein.

Wir wollen unsern Frieden.

Und den für uns allein.

Seitwärts

Ich bitte dich, lies dieses hier,

lies dieses hier, ich bitte dich,

bei hellem Licht, bei hellem Licht.

Und seitwärts soll die Sonne sein,

die Schatten wirft, die Schatten wirft,

bei hellem Licht die Schatten wirft

auf dieses hier.

Ich bitte dich.

Heute

Das Boot verließ den Hafen,

erzeugte Wellenschlag.

Die Wellen aber trafen

im Wassergrenzbereich

gleich

auf dünnes Eis.

Und leis

zwitscherte der Fluss.

Ein Berber erzählt

Ich war zum Wasser

grade runter

und wusch mir das Gesicht

im Fluss. Kommt da

ein Kerl daher

so früh am Morgen

und fragt mich doch,

ob ich es auch

trinken täte

zur Not.

Ich sag ihm drauf

(und trockne meine Hände),

ich wäre gewiss

ein Freund der Natur,

doch so weit nun wieder

ginge meine Liebe

nicht.

Tod

Mir werden fehlen

die windgeborgnen

Stunden

am Fluss,

der Blick hinaus

wird fehlen.

Mir werden fehlen

die blattverbundnen

Brüder

im Wald,

der stille Baum

wird fehlen.

Mir werden fehlen

die sanfterhobnen

Augen

des Bergs,

der Schattenwurf

wird fehlen.

Turniertanz

Die sich,

Automaten gleich,

mit gefrornem

Grinsen

bewegen

über das Parkett –

ich hoffe,

jene Damen

sind nicht

so angespannt

nachts danach

im Bett.

Trendnotiz

Drauf zu achten künftig:

die steigende Tendenz

der Beischlaf-Frequenz

der Frauen um die Fünfzig,

statistisch erwiesen,

wird etlichen Herrn,

den Fünfzig unfern,

das Leben arg vermiesen.

Es sei denn, sie wählen

die ruhige Natur

jüngrer Damen nur,

die Seelen sich zu stählen.

Gespräch

Wie ist dein Lageplan?

Ich habe keinen.

Woher kommst du?

Ich weiß es nicht.

Wem willst du dich offenbaren?

Vielleicht nur dir.

Wohin gehst du?

Das frag ich dich.

Probe

Hört man sich

mit eines andren Stimme,

wird erst gut,

was man gesagt,

wird erst schlecht,

was man gesagt,

wird erst hörbar,

was man niemals sagte

oder fragte.

Meinungsaustausch

Deine Bilder mag ich nicht,

sagt der Literat.

Dein Lied behagt mir nicht,

sagt der Maler.

Dein Roman gefällt mir nicht,

sagt der Komponist.

Fragt der Komponist:

Mein Lied behagt dir nicht?

Fragt der Maler:

Meine Bilder magst du nicht?

Fragt der Literat:

Mein Roman gefällt dir nicht?

Mein Roman gefällt mir nicht,

klagt der Literat.

Meine Bilder mag ich nicht,

klagt der Maler.

Mein Lied behagt mir nicht,

klagt der Komponist.

Irrtümer

Die Perle war zum Greifen nah,

so nah, dass doppelt sie im roten Licht

des Raums erschien. Zu dicht, zu dicht;

zugleich so weit entfernt wie die

Osterinsel und was sich darauf

sinnend-wartend findet: Gestalten,

hutbestülpt. (Selbst die sind nicht,

was sie uns zu zeigen scheinen:

von ihrem Dasein überzeugt

und frei – ist doch der Steinbruch

ihnen nah, so nah, zum Greifen nah.)

Gott mit uns

Bei Gewitter

lief der Vater

vor das Haus,

in dem wir

achtlos wohnten.

Ringsum war Nacht.

Weinend

stand der Vater,

fluchte

seinem Gott.

Der schlug ihm

das Auge raus,

im längst

vergessenen

Krieg.

Haiku-Training

Lebens Summe bricht

stets in Augenblicken auf –

kälter wird die Nacht.

Großem Willen dient,

unbekannter Weisung nur:

der sich unterwirft.

Jeder der versucht,

Glück zu tauschen gegen Glanz,

stürzt ins Dunkel ab.

Keinem aber winkt

mild getönte Einsamkeit,

noch bevor er stirbt.

Haiku-kolores

Trotz Getümmel rings –

wenn zu lieben er versäumt,

einsam bleibt der Mensch.

Selten überwiegt

aufbegehrenden Genuss

ängstlicher Verzicht.

Wo Woher Wohin –

dümmre Fragen gibt es nicht,

wenn die Zeit nur zählt.

Ähnlich dem Geschwätz

pseudo-schlauer Haikus hier:

stumm verreckt das Wort.

Haiku contracausalis

Das Chaos gebar

gut geordnete Welten,

keine Entropie.

Auch wissen wir längst:

Das Leben ist entwachsen

Mineralien nur.

Es gilt das Prinzip

in fast allen Bereichen:

Das Gegenteil webt.

Immer mehr Leute

verstehen weniger Spaß –

ist das kein Beweis?

Osterbrauch in fremdem Land

Sie ketten die Füße

zu schleppendem Schritt.

Sie nehmen die Kreuze.

Und schleppen sie mit.

Sie greifen nach Klingen,

zerschneiden die Haut.

Sie treiben die Dornen.

Zum Leiden erbaut.

Sie lassen sich schlagen,

verachten den Schmerz.

Sie haben den Herren,

als Strahlung im Herz.

Die neuen Maurer

Kategorisch trennen wir

die Kirche nun vom Staat.

Gott ruht längst, wo Winkelspinnen hausen. Auch

gibt es die Inquisition

nicht mehr. Aus Eigensinn

erbaut sind Kirchenkuppeln.

Trotzen wir dem Trost,

bleiben materiell, trennen

wir, weil nicht genügend

Mauern sind, die Kirche

nun vom Staat.

Tagsüber

Tagsüber, bei der Schicht,

höre ich mir alles an,

begreife es als meine Pflicht.

Doch kommt der Abend dann,

vergeblich trenne ich

vom Tag mich wieder ab.

Die Worte treffen mich

und stoßen in das Grab

der Träume mich hinein.

Ich wache stündlich auf.

Und fühle mich allein.

Ich nehme es in Kauf

und hör am nächsten Tag

erneut den Leuten zu.

Solang ich das ertrag,

bleib ich am Leben, du.

Aus dem Tagebuch

Das Licht so kalt.

Und Schweigen lauert.

Die Decke liegt gebreitet

über längrer Tage Leere.

Manchmal

glaube ich

an Gott.

Dass Vater bei ihm blieb,

mir voran zu helfen,

wenn kaltes Licht

und Schweigen

mich umdauert.

Dienst

Ich bin dem Diesseits ganz verpflichtet.

Und holt mich auch das Jenseits ein,

mit einer Welt die nur erdichtet –

ich werde stets fürs Leben sein.

Götterstarre

Die Krankheit

zeigt sich

in Bewegung erst:

so lebt der Mensch

und stirbt;

aber den gesunden

Göttern

fehlt

zum Glücklichsein

die Zeit.

Karfreitag

Der Gott der Schaben und der Schwaben

hat den Überblick verloren;

die Zukunft liegt schon längst begraben,

Hoffnung wird verwirrt geboren.

Sie stirbt im Kinderbett des Lebens,

zeugend vom Verzicht der Zeit

auf Wichtigkeit des Weiterstrebens.

Übrig bleibt: Benommenheit.

Reichlich Trost

will ich hier spenden

den Fettverfressnen,

den Antibeweglichkeits-Sympathisanten,

die nie von Sport was hielten.

Hört, man hat

gerechnet und herausgefunden,

dass, wer in seinem Leben

regelmäßig Sport betrieb,

zwei Jahre älter

wird als der,

dem Sport bedeutungslos!

Prüfen wir es nach:

pro Tag eine Stunde Sport

(gelaufen, gehüpft, geliegestützt)

sind rund pro Jahr

vierhundert Stunden,

sind pro Jahrzehnt

viertausend,

in fünfzig Jahren

achtzehntausendundpaarhundert

rund.

Dies wären rund zwei Jahre.

Die Zeit erschien geschenkt

den Sportskanonen,

sie war gestundet nur!

Die Bewegungsnichtversessnen,

in aller Ruhe

sparen sie

besagte Zeit.

Überlegung

Mir scheint, wer denkt, er wäre

mit Schuld beladen, der bildet sich

das ein, kramt wohl zu viel

in den Erinnerungen; jede Schuld

wird doch mit andrer Schuld beglichen –

von fremden Leuten übernommen,

kümmert es uns nicht,

woraus die Ängste denn

geboren sind. Wer ständig zögert,

lieber zahlt, wer meint, dass man

ihn dann in Ruhe lässt, wird

mit Ärger wiederum sich zentnerschwer

belasten; keiner nimmt noch

Rücksicht, dem Verlierer glaubt man

nicht, dass er einst siegen konnte.

Bedingt befähigt

Wir leben länger nicht naturbeschützt.

Wie noch vor kurzer Zeit. Wie ehedem.

Vergangenheit: das Mutter-Kind-Prinzip.

Die ältren Brüder hat es auch erwischt,

im frühen Licht der Erdgeschichte. Wir,

nun ebenfalls nicht mehr vernabelt, sind

was Überleben anbelangt bedingt

befähigt. Aber keiner weiß, wie's geht.

(Der Erde macht das Fieber wenig aus;

sie ist flexibel, hat sie oft gezeigt,

benötigt daher keinen Luftgutschein.

Sie schläft. Und ist, wenn sie erwacht, gesund.)

Was ist Leben?

Gedanken haben,

tief vergraben,

oder rabenschwarz nur labern.

Nein!

Sich durch Grauen hauen,

auf Vertrauen

bauen.

Bei Frauen

aufzutauen.

Was ist Leben?

Wie soll es sein?

Nie allein.

Spruch

Die Haut der Milch sei zwischen uns –

die acht ich, weil sie köstlich schmeckt.

Es öffne sich die Rundung unsres Munds

und schließe sich, mit Milch bedeckt.

Moment

Die Schatten warfen