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Der gute Mensch von Kopenhagen - Niels Bohr und die Entfesselung des Atoms
Der Physiker und Nobelpreisträger Niels Bohr (1885–1962) veränderte durch seine Forschung unseren Blick auf die Welt. Mit seinem Atommodell konnte erstmals die Stabilität von Materie erklärt werden, doch zugleich machten die darauf aufbauende Atomphysik und Nukleartechnik unsere Welt so unsicher wie nie zuvor. Ernst Peter Fischer beleuchtet Leben und Werk dieses faszinierenden Mannes, dessen Erkenntnisse uns bis heute beschäftigen.
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Seitenzahl: 348
Niels Bohr in frühen Jahren
Für Thomas Rathnow,der die andere Bildung schätzt
Bohrs tiefes Verständnis menschlicher Probleme und sein gewichtiger Einfluss auf die Mitmenschen geben uns die Gewissheit, dass Männer wie Jesus, Laotse, Konfuzius und Buddha wirklich gelebt haben.
JOHN ARCHIBALD WHEELER
Wer Freude an den Einsichten und Fragen der Wissenschaft hat, gewinnt in diesem Buch Einblick in das Leben und Wirken des dänischen Physikers und Nobelpreisträgers Niels Bohr (1885–1962). Hier geht es um seine Erforschung der Struktur der Atome, der Grundbausteine der Materie, deren Vorstellung sich auf die spielerischen Spekulationen der antiken Philosophie beschränkte, die jedoch bislang nicht Gegenstand empirisch-experimenteller Untersuchung war. Ferner geht es um den durch Bohrs Erkenntnisse ermöglichten Weg in das Atomzeitalter und die Frage, wie die Physiker, die diesen Weg zunächst ohne Auftrag gefunden haben und nach dem politischen Willen von demokratisch gewählten Regierungen gegangen sind, dabei agiert und veran twortlich – oder auch nicht – gehandelt haben.
2012 jährt sich nicht nur der Todestag von Niels Bohr zum fünfzigsten Mal, es kann auch der hundertste Jahrestag seiner Einsichten in den Aufbau der Atome gefeiert werden. Veröffentlicht wurde Bohrs Trilogie Über den Bau der Atome, die ihn berühmt gemacht hat, allerdings erst 1913, da es ein wenig dauerte, bis er seine anfangs als verrückt eingestuften Ideen so formulieren konnte, dass seine skeptischen Kollegen einer Publikation zustimmten. 1922 erhielt er den Nobelpreis für die Trilogie.
Meiner Überzeugung nach vollzog Bohr den entscheidenden Schritt zum Verständnis der Atome im Jahr 1912, und ihm ist dabei in zweierlei Weise etwas Besonderes gelungen: In wissenschaftlicher Hinsicht eröffnete er die Möglichkeit, sich die Atome physikalisch widerspruchsfrei vorzustellen und ein Verständnis der Elemente und der Materie zu entwickeln, aus der die Welt und die Menschen bestehen. Aus dem philosophischen Blickwinkel führte Bohr vor, dass man das Atom erfinden muss, um es zu begreifen. Die Form, die ein Atom nach den experimentellen Beobachtungen haben musste, passte nicht zu den Gesetzen der Physik, die allen bekannt waren. Bohr entschied, dass man in einem solchen Fall eben die Gesetze ändern – neu erfinden – müsse, wie es in den folgenden Jahren dann auch geschehen ist. Der kreative Mut des dänischen Wissenschaftlers wird in dem vorliegenden Buch besonders gewürdigt.
Bohrs Leben und Werk sind seit 1985 – dem Jahr seines hundertsten Geburtstags – von Wissenschaftshistorikern ausführlich dokumentiert und beschrieben worden. Dieses Buch möchte den entscheidenden Schritt, den Bohr zur Erklärung der Atome vollzog, nicht nur dokumentieren, sondern auch begreiflich machen.
Ernst Peter Fischer
Heidelberg, im Frühjahr 2012
Bohr ist zweifellos einer der größten Erfinder unserer Zeit auf dem Gebiet der Wissenschaft. Er ist ein wahrhaft genialer Mensch, ein Glück, dass es so etwas überhaupt gibt.
ALBERT EINSTEIN
Niels Bohr war ein Glücksfall für die Welt, und einer wie er fehlt uns heute in der Wissenschaft ebenso wie in der Politik. Alle, die ihn persönlich kannten, haben Bohr zutiefst verehrt und im höchsten Maße bewundert – auch und gerade Albert Einstein (1879–1955), obwohl sich die beiden selbst nach beträchtlichem gedanklichen Ringen nicht über tiefreichende philosophische Fragen einigen konnten, die sich ihnen als Physiker stellten. Wie ist die Wirklichkeit zu verstehen, in der die Atome eine Rolle spielen? Welche Freiheit bleibt den Menschen, von einem Gott und seiner Schöpfung zu sprechen, wenn sie die Gesetze der Natur sowohl in der kleinen Welt der Atome als auch in der großen Welt des Kosmos kennen? »Gott würfelt nicht«, bestimmte Einstein in der Mitte der 1920er Jahre kühn, was Bohr arg verwunderte. Ihm schien es allzu vermessen, Gott vorzuschreiben, wie er zu handeln und die Welt in ihrem Lauf zu ermöglichen habe. Das könne doch selbst Einstein nicht.
Doch trotz ihrer bis zuletzt unvereinbaren Ansichten schwärmte der selbstbewusst und souverän auftretende Einstein von dem liebenswürdigen und stets versöhnlichen Menschen Bohr. Seinen physikalischen Ideen und Ableitungen, die nicht selten verrückt erschienen, bescheinigte Einstein wiederholt, »höchste Musikalität auf dem Gebiet des Gedankens« zu sein, wobei sich Bohr gerade durch diese kreative Art der Anleihe bei der Kunst in die Lage zu versetzen schien, die stabile Ordnung der Materie erklärbar zu machen und das periodische System der chemischen Elemente zu erfassen, aus dem das Universum besteht.
Bohr war und bleibt der gute Mensch von Kopenhagen, der uns staunenden Mitmenschen sowohl durch sein Leben als auch durch sein Denken gezeigt hat, wie die bessere Welt sein könnte, von der wir alle träumen. Der stets um jedes Wort ringende und sich unentwegt auf Kosten von Klarheit um Wahrheit mühende Bohr muss vor allem im persönlichen Umgang eindrucksvoll und einnehmend gewirkt haben, wie der amerikanische Physiker John A. Wheeler einmal ausgedrückt hat: »Man kann über Buddha, Jesus, Moses oder Konfuzius wie über Menschen sprechen, aber was mich überzeugt hat, dass es solche Figuren als Menschen tatsächlich einmal gegeben haben kann, das waren meine Gespräche mit Bohr.« Wheelers Eindrücke zeigen einmal mehr, welche Wirkung Bohr bei ihm und anderen hinterlassen haben muss.
»Bohr war der nicht ruhende Meister des Fragens«, wie etwa Carl Friedrich von Weizsäcker noch als junger Physiker bei zahlreichen Gelegenheiten erleben konnte. Weizsäcker schwärmte von Bohr als dem »Sokrates unter den Physikern«, der zwar unter seinem Denken zu leiden hatte, aber auch zum Lehrer für jene Generation der Naturforscher wurde, die in den 1920er und 1930er Jahren das neue, bis heute gültige wissenschaftliche Weltbild entwarf und im Zweiten Weltkrieg eindrücklich zu zeigen in der Lage war, welche ungeheure Energie die Spaltung von Atomkernen freisetzen kann.
Bohr selbst erzählte gern folgende Geschichte über den griechischen Philosophen: Nachdem Sokrates mit einem anderen Philosophen – einem Sophisten, der hier ungenannt bleiben soll – gesprochen hatte, brach sein Gesprächspartner zu einer längeren Reise durch Kleinasien auf. Nach der Rückkehr spazierte der Sophist erneut durch die Straßen Athens und traf dabei Sokrates im Gespräch mit anderen. »Meine Güte«, rief der Philosoph aus, »da bist du ja immer noch, Sokrates, und sagst dasselbe über dieselben Dinge.« »Natürlich«, erwiderte der Angesprochene, »das mache ich, während du, als schlauer Mann, sicher niemals dasselbe über dieselben Dinge sagst.«
Wenn sich Menschen treffen, die Bohr gekannt haben und von ihm erzählen wollen, oder wenn sich Wissenschaftler über seinen Rang und seine Bedeutung verständigen, dann kommen unvermeidlich Anekdoten zur Sprache, die Bohrs eigentümlich dialektischen Witz und wachsame Menschlichkeit zeigen. Eine besonders eindrucksvolle Geschichte erzählt Werner Heisenberg (1901–1976) in seiner Autobiographie Der Teil und das Ganze. Das Geschehen spielt im Jahr 1933 auf einer Almhütte am Ende eines anstrengenden Skitags. Nach dem Essen muss Ordnung gemacht werden, und Bohr wird die Aufgabe zugeteilt, in der Küche das Geschirr zu spülen. Bei dieser für ihn ungewohnten Tätigkeit fällt dem Physiker plötzlich etwas Wunderbares auf – und es ist anzunehmen, dass Bohr seine Gedanken tatsächlich in der deutschen Sprache ausgedrückt hat, da er sie ebenso beherrschte und liebte wie seine dänische Muttersprache: »Mit dem Geschirrwaschen ist es doch genau wie mit der Sprache. Wir haben schmutziges Spülwasser und schmutzige Küchentücher, und doch gelingt es, damit die Teller und Gläser schließlich sauber zu machen. So haben wir in der Sprache unklare Begriffe und eine in ihrem Anwendungsbereich in unbekannter Weise eingeschränkte Logik, und doch gelingt es, damit Klarheit in unser Verständnis der Natur zu bringen.«
Carl Friedrich von Weizsäcker, der mit von der Partie war, erinnert sich, dass diese Geschichte damit noch nicht zu Ende war. Als Bohr voller Stolz sein Werk – die gereinigten Teller und blitzblanken Gläser – betrachtete, meinte er noch mit seinem verschmitzten Lächeln: »Dass man mit schmutzigem Wasser und einem schmutzigen Tuch schmutzige Gläser sauber machen kann, wenn man das einem Philosophen sagen würde, er würde es nicht glauben.«
Der Vergleich mit dem Spülen erhellt, wie Wissenschaft funktioniert und zu neuen Erkenntnissen führt: Eine unklare Idee wird in einem unklaren Experiment geprüft und das Ergebnis in unklaren Worten ausgedrückt. Es ist das Zusammenspiel von allen drei Komponenten – beim Spülen das Geschirr, das Wasser und der Lappen –, mit dessen Hilfe die erwünschte Klarheit entsteht. Der Versuch, Einsichten in die Natur unter Verzicht auf Experimente zu gewinnen, erscheint dann wie Spülen ohne Wasser.
Bohr liebte es, mit der Sprache zu spielen. Diese Neigung erlaubte es ihm etwa, seinen Kindern und anderen Zuhörern zu beweisen, dass eine Katze drei Schwänze hat. Seine Argumentation lautete: Bekanntlich hat keine Katze zwei Schwänze, wie er augenzwinkernd meinte. Keine plus eine Katze sind dann die eine Katze, die zwei plus eins, also drei Schwänze hat. Manchmal wird auch erzählt, dass eines der Kinder in das fröhliche Gelächter hinein seine leeren Hände ausgestreckt und gerufen hat: »Hier ist keine Katze, Papa. Wo sind die beiden Schwänze?«
Einmal ging es bei den Sprachspielen auch um ein Hufeisen, das ein Bekannter in der Nachbarschaft der Bohrs über der Eingangstür seines Hauses angebracht hatte, weil dies nach altem Volksglauben Glück bringen soll. Bohr erzählte, dass er den betreffenden Mann gefragt habe, ob er wirklich abergläubisch sei und an den Glücksbringer glaube. »Natürlich nicht«, habe der Angesprochene daraufhin geantwortet, »aber ich habe gehört, dass es auch dann hilft, wenn man nicht daran glaubt.«
Immer wieder erzählt wird auch die Anekdote vom Studenten Bohr, der in einer Prüfung gebeten wurde, der Kommission zu erklären, wie man mit einem Barometer die Höhe eines Gebäudes ermittelt, zum Beispiel die des Gebäudes, in dem die Prüfung stattfindet. Dabei soll sich folgender Dialog abgespielt haben:
»Herr Bohr, wie bestimmen Sie die Höhe eines Gebäudes mit einem Barometer?«
»Ganz einfach. Nehmen wir zum Beispiel dieses Institut. Ich nehme das Barometer, klettere auf das Dach, werfe es nach unten und bestimme die Falldauer, aus der man mit einer einfachen Gleichung die Höhe berechnen kann.«
»Herr Bohr, etwas weniger zerstörerisch und eleganter, bitte.«
»Ganz einfach. Ich klettere wieder auf das Dach, nehme ein Seil mit, binde das Barometer daran fest, lasse es auf die Straße herunter und messe die Seillänge.«
»Herr Bohr, es geht hier um Physik, und davon müssen Sie etwas mehr einsetzen, bitte.«
»Ganz einfach. Ich bleibe bei dem Seil und lasse das Barometer als Pendel schwingen, bestimme die Schwingungsdauer bei gegebener Pendellänge und berechne daraus mit der bekannten Formel...«
»Herr Bohr, das geht doch genauer und einfacher mit etwas mehr Mathematik, bitte.«
»Ganz einfach. Ich warte auf Sonnenschein, bestimme die Länge des Schattens, den das Barometer wirft, bestimme zugleich die Länge des Schattens, den das Gebäude wirft, und kann durch ein wenig Trigonometrie ausrechnen, was Sie wissen wollen, wenn ich die mir bekannten Maße des Barometers dabei einsetze.«
»Herr Bohr, das klingt alles nicht undurchführbar, aber geht es nicht einfacher und direkter, und zwar mit der besonderen Qualität und Funktionsweise des Geräts, mit dem Sie hantieren?«
»Doch. Ich gehe zum Hausmeister und frage ihn, ob er weiß, wie hoch das Gebäude ist. Wenn er es weiß und mir sagt, schenke ich ihm das Barometer.«
Als die Anwesenden sich vor Lachen nicht mehr halten konnten und die Prüfungskommission nur noch mit dem Kopf schüttelte, soll Bohr mit seinem verschmitzten Lächeln hinzugefügt haben: »Natürlich kann man mit dem Barometer auch den Unterschied im Luftdruck zwischen dem Parterre und dem Dachgeschoss ermitteln, ihre Differenz bilden und mithilfe dieser gemessenen und berechneten Zahlen und dank der barometrischen Höhenformel die gestellte Frage beantworten, aber das steht doch bereits im Lehrbuch, und dann wissen Sie das ja schon.«
Der russische Physiker George Gamow, der in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren ein umtriebiger Gast in Kopenhagen war, hat erzählt, dass Bohr nach einem Arbeitstag gern ins Kino ging, wobei er vor allem die Wildwestfilme liebte, die in Hollywood produziert wurden. Natürlich mangelte es dabei nicht an besonderen Kommentaren Bohrs, zu denen etwa die folgende Bemerkung gehört:
»Ich glaube ja gerne, dass sich ein Mädchen allein auf eine schwierige Wanderung durch die Rocky Mountains begibt. Ich verstehe auch, dass sie auf den engen Pfaden ins Stolpern gerät, auf dem dazugehörigen Hang abrutscht und sich gerade noch an dem letzten Kiefernast festhalten kann, und dadurch verhindert, dass sie in die Tiefe eines Canyons abstürzt und ihr Leben verliert. Ich akzeptiere zudem, dass ein hübscher Cowboy genau in dem Moment fröhlich pfeifend und frisch gekämmt denselben Weg wie das Mädchen entlangkommt, sofort ihre Notlage erkennt und zielgenau sein Lasso wirft, das zum Glück die richtige Länge hat und von dem unglücklichen Mädchen ergriffen wird. Ich halte es auch nicht für ausgeschlossen, dass ihre Kraft ausreicht, um sich frei schwebend daran festzuhalten und in die rettende Höhe ziehen zu lassen. Was mir nur extrem unwahrscheinlich erscheint, ist die Tatsache, dass zur selben Zeit, in der dies alles passiert, sich zusätzlich ein Kamerateam am Ort des Geschehens eingefunden hat, das die ganze Aufregung auch noch auf Film festhält.«
Im Anschluss an die Kinobesuche machte sich Bohr zumeist Gedanken über die Frage, wie es kommt, dass in den Wildwestfilmen zwar stets der Bösewicht zuerst zur Waffe greift, es aber letztlich dem Guten gelingt, als Sieger aus dem Wettkampf hervorzugehen. Solch ein permanentes Happy End könne Hollywood doch nur zeigen, wenn es wenigstens halbwegs überzeugend wirkt. Bohrs Erklärung basierte auf der Beobachtung, dass viele Abläufe in der Natur deshalb so gut gelingen, weil die beteiligten Organismen nicht über ihr Tun nachdenken und sie einfach instinktiv und intuitiv beherrschen, und zwar fehlerfrei. Dies trifft auch für den Filmhelden zu, der automatisch seinen Colt zieht, wenn der Bösewicht zur Waffe greift; jener musste zuvor über den passenden Zeitpunkt nachdenken und agiert daher im Moment der Entscheidung langsamer.
Um Bohrs Theorie des instinktiven Wahrnehmens von Absichten auszuprobieren, kaufte Gamow übrigens zwei Spielzeugpistolen, die sich die Kontrahenten – Gamow und Bohr – umbanden und tatsächlich auch im Seminar trugen. Der Russe übernahm die Rolle des Ganoven, der, wie sich herausstellte, tatsächlich keine Chance gegen den Helden Bohr hatte, selbst wenn während des Duells gerade heftig über schwierigste Physik argumentiert wurde und die Umlagerungen von Atomkernen zur Debatte standen.
Bohr war also für jeden Spaß zugänglich und im Umgang mit Menschen äußerst neugierig. Dies kam vor allem im Gespräch zum Vorschein, wenn es um die Fragen ging, die ihn als Physiker fesselten. Dann verspürte Bohr keine Müdigkeit mehr, er hörte ungeheuer konzentriert zu und versuchte, alle ihm gegebenen Erklärungen im Detail zu verstehen – was zunächst einmal bedeutete, dass er mit wachsendem Vergnügen in seinen Gedanken mit dem Gegenteil des gerade Gehörten experimentierte und zu erkunden versuchte, ob die entsprechende Position eventuell stimmig sein könnte. Seinen oft verzweifelten und bald erschöpften Gesprächspartner beruhigte Bohr dann mit den legendären Worten: »Wir sind viel mehr einig, als Sie denken.« Schließlich setzte er seine bohrende Skepsis in Gang, »nicht um zu kritisieren«, wie er ebenfalls wiederholt betonte, sondern »nur um zu lernen«. Letztendlich hatte er in der Physik oft die Erfahrung gemacht, dass die Annahme einer anderen Sicht tatsächlich dazu führen kann, dass von diesem entgegengesetzten Standpunkt aus betrachtet die Dinge an Klarheit gewinnen. Dass zwei gegenteilige Ansichten im Wechselspiel mehr bringen als eine einseitige Festlegung, wie es etwa auch die Richter handhaben, die erst nach Anhören von Rede (Anklage) und Gegenrede (Verteidigung) Recht sprechen.
Unangenehm wurde es im Gespräch mit Bohr, wenn die einzigen Worte, die er äußerte, »sehr interessant« lauteten. Bald sagte er dann nur noch »sehr, sehr«, und spätestens jetzt musste sein Gegenüber merken, dass er wenig gesagt hatte, das Bohr tatsächlich interessant genug fand, um sich weiter damit zu befassen.
Bohr sah den Menschen in solch einem Spannungsfeld. Für ihn agiert der Mensch sowohl als Zuschauer als auch als Mitspieler in dem Theater, in dem unser Leben spielt. Dabei lässt er offen, wer für ihn als Autor des Dramas infrage kommt, das unsere Existenz darlegt. Vermutlich bereitet ihm selbst die Antwort darauf keine Mühe. Der Autor – die poetische Kraft – steckt in jedem von uns. Wir schreiben unser Leben selbst. Deshalb können wir auch davon erzählen.
Im 19. Jahrhundert finden viele Territorien den Weg zur nationalstaatlichen Einigung, die zur Entstehung des Nationalbewusstseins führt – so auch Dänemark; hier etablierte sich nach Gebietsabtrennungen an Großbritannien und Schweden im Frieden von Kiel 1814 und nach dem Schleswig-Holsteinischen Krieg (1848–1851) eine konstitutionelle Monarchie, die eine erste Verfassung, das Grundgesetz des Königreichs Dänemark, festschrieb (wobei die Entwicklung des dänischen Nationalbewusstseins durch die Niederlage im Krieg gegen den Deutschen Bund 1864 wieder arge Einschnitte hinnehmen musste). Im Verlauf der Industrialisierung werden neue Konzepte in der Sphäre der Arbeit und Wirtschaft entwickelt und alte Vorstellungen bis zur Unkenntlichkeit verändert: zum einen die Energie und deren Verteilung – sie muss für den Maschinenverbrauch berechnet und geliefert werden –, zum anderen die Gesundheitsvorsorge, um die sich vor 1800 noch jeder Einzelne mühsam selbst kümmern musste, die aber nun durch eine zunehmende Zahl von Chemieunternehmen mit ihren pharmazeutischen Angeboten allgemein erleichtert wird; das Zeitalter von Aspirin und anderen Tabletten bricht ab 1900 an.
Im 19. Jahrhundert wird das Versprechen erfüllt, das von dem nachhaltigen Geschehen zu Beginn des 17. Jahrhunderts – die »Geburt der modernen Wissenschaft in Europa« – gegeben wurde. Die Art, wie Menschen leben und Gemeinschaften sich entwickeln, wird seit dieser Zeit verstärkt durch die Fortschritte von Wissenschaft und Technik bestimmt. Wenn der Philosoph Hegel zu Beginn des 19. Jahrhunderts lehrt, dass Geschichte nicht mehr etwas ist, das Menschen zustößt und sich als Chronik fassen lässt, sondern etwas, das von ihnen selbst geschaffen wird, dann stellt er dies auch vor dem Hintergrund des wachsenden Einflusses von Wissenschaft und Technik fest, mit dem sie nicht nur den Alltag umgestalten, sondern auch in die soziale und politische Praxis eingreifen.
Zwei Beispiele zur Erläuterung: Zum einen gibt es seit 1800 Batterien und damit zum ersten Mal den Strom, der bald aus einem Elektrizitätswerk kommt, Maschinen betreibt und die Nacht erleuchtet. Ohne diese Form der Energie könnten heutige europäische Gesellschaften keinen Tag überleben, weil etwa all ihre Pumpen und sämtliche Kommunikationssysteme stillstünden. Zum anderen lernen Mathematiker vor zweihundert Jahren, wie mit dem Zufall und den dazugehörigen Wahrscheinlichkeiten umzugehen ist, was viele Wirklichkeiten in Statistiken verwandelt, mit denen nicht nur die Bürger ganz selbstverständlich umzugehen gelernt haben, sondern erst recht die Versicherungsgesellschaften, die sich in diesen Tagen gründen. »Die Verwandlung der Welt«, die im 19. Jahrhundert tatsächlich vonstattengeht, in dem unter anderem die weltweiten Verkehrsnetze gespannt und die dazugehörigen globalen Zeitzonen eingerichtet werden, geschieht auf dem fruchtbaren Boden von kulturellen Entwicklungen, zu denen zwei Traditionen maßgeblich beitragen, die zwar völlig verschieden sind, jedoch sehr eng zusammengehören und sich sogar gegenseitig bedingen: die politischen, philosophischen, literarischen und wissenschaftlichen Denkweisen, die als Aufklärung und Romantik bezeichnet werden.
In der Schule lernen wir, dass es vor allem der Gedanke der Aufklärung ist, wie er etwa in den Schriften von Immanuel Kant im Verlauf des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt, dem wir unser politisches und kulturelles Denken und Handeln verdanken. Und stimmt das etwa nicht? Haben viele Menschen heute nicht genau den Mut, den der Philosoph in seinen Schriften gefordert hat und der sich darin zeigt, dass sie erfolgreich ihrer als ursprünglich eingestuften Unmündigkeit entkommen sind und souverän den eigenen Verstand benutzen?
Zweifellos treffen wir viele Entscheidungen selbst, bilden uns gern eine eigene Meinung, kritisieren die Herrschenden und wollen bei allen Zukunftsthemen mitbestimmen. Diesen aufgeklärten Zustand unseres demokratischen Gemeinwesens lassen wir uns hoffentlich von niemandem mehr nehmen oder streitig machen. Wer braucht da noch die »Revolution der Romantik«, wie der Ideenhistoriker Isaiah Berlin die Gegenbewegung zur Rationalität der Aufklärung nennt, die um 1800 in Gang gekommen ist? Deren schwärmerische Vertreter sind anfangs belächelt worden, weil sie sich scheinbar in dunkle Traumwelten flüchteten und als Taugenichtse der bürgerlichen Wirklichkeit den Rücken kehrten.
Wer so denkt, hat weder erfahren noch bemerkt, dass »die von uns Romantik genannte Bewegung die Ethik und die Politik der Neuzeit in einem viel größeren Ausmaß [veränderte], als uns bisher bewusst geworden ist«, wie Isaiah Berlin 1996 in seinen Untersuchungen zum Wirklichkeitssinn darlegte. Die Vertreter der Romantik produzieren dabei keinen »himmelblauen Klingklang« (Peter von Matt). Sie vollziehen vielmehr tatsächlich eine »Revolution«, indem sie den damals unerhörten Standpunkt begründen und verteidigen, dass es für die Menschen »im Grunde kein endgültiges, objektives Kriterium für ihre Entscheidungen geben könne«, wie die Verkünder der Rationalität uns vorgegaukelt haben.
Die Wegbereiter der Romantik und ihre Nachfolger machen auf vielen Ebenen und an vielen Beispielen deutlich, an welcher Stelle das sonst so überzeugende und nach wie vor lebensnotwendige Programm der Aufklärung seine Grenzen findet und durch etwas anderes ergänzt werden muss und kann. Bei Isaiah Berlin ist das folgendermaßen nachzulesen: Das rationale Grundgerüst der Aufklärung macht einerseits Mut, vernünftige Fragen – über die Natur der Dinge oder des Menschen – zu stellen, zum anderen stellt es auch eine Reihe von (oftmals wissenschaftlichen) Methoden bereit, um diese Fragen mit vernünftigen Antworten abzuarbeiten. Man kann zum Beispiel wissen wollen: »Wie fließt Strom durch einen Draht?«, »Wie viele Sterne stehen am Himmel?«, »Wie weit sind die Planeten von uns entfernt?«, »Woraus besteht Wasser?« , »Was macht Zucker süß?«. Das alles kann man verstandesmäßig erklären und naturwissenschaftlich-experimentelle Befunde dabei zu Hilfe nehmen. Man kann aber auch wissen wollen: »Was ist Gerechtigkeit?«, »Wie erfahren Menschen Glück?«, »Soll man dem Ratschlag eines Lehrers folgen?«, »Gibt es einen gütigen Gott?«, »Wie erziehe ich meine Kinder?«, ohne jemals mit einer Antwort aus rationalen Gründen allein zufriedengestellt zu werden. Die Romantiker entdecken und akzeptieren, dass es zwar vernünftige Antworten auf vernünftige Fragen gibt. Sie sehen aber zugleich auch, dass sich diese vernünftigen Antworten ins Gehege kommen und sogar widersprechen können. Damit kommen Menschen in eine Situation, die sie durch keine weitere von ihrem Verstand betriebene Analyse auflösen können, die ihnen vielmehr eine Entscheidung aus anderen Quellen abverlangt. Romantisches Denken unterscheidet zum ersten Mal deutlich und konsequent zwischen Fragen nach Tatsachen und Fragen nach Werten und betont, dass nur Ersteres etwas für die Wissenschaft und systematisch zu entscheiden sei, während sich Zweiteres einem rationalen Zugriff entziehe und andere Instrumente aus dem Repertoire der men schlichen Verhaltensweisen verlange.
Über Tatsachen kann man sich (objektiv) einigen, Werte bedeuten für jeden Einzelnen (subjektiv) etwas anderes. Sie werden im Verständnis der Romantik von autonomen Personen hervorgebracht, und zwar in Form einer freien kreativen Entscheidung, die im Gegensatz zu der Bewertung eines anderen stehen kann. In diesem Denken der Romantik kommt letztlich einem Menschen keine eindeutige Natur zu, da er sich selbst erfindet, und die Werte, die er dabei aus seinem Inneren hervorbringt und anstrebt, lassen sich auf keinen Fall durch objektive Aussagen von außen beschreiben oder ableiten.
Die Romantik steht der Aufklärung gegenüber, sie ist vor allem als Gegenbewegung verständlich und wirkungsvoll und geht dabei mit der Rationalität das ertragreiche Wechselspiel ein, das in diesem Buch als Vorgabe der großen wissenschaftlichen Leistungen Niels Bohrs betrachtet wird. Der für seine Biographie und die damit erfasste Zeit entscheidende Punkt besteht darin, dass sich die Menschen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus beiden genannten Traditionen bedienen können und dies in vielen Fällen auch tun.
Dieser Standpunkt von romantischen Elementen in der Geschichte der Wissenschaft wird traditionell denkenden Theoretikern, die sich stets auf der Suche nach einer Logik in der Forschung befinden, Mühe machen. Die Schwierigkeiten rühren daher, dass die Romantik »noch immer ihrer Historiker« harrt, wie Isaiah Berlin bitter beklagt, obwohl keine Bewegung in der menschlichen Geistesgeschichte eine der Romantik vergleichbare Wirkung gehabt habe. »Wer diese Revolution nicht begriffen hat, wird letztlich keine der modernen politischen Bewegungen verstehen können«, lautet Berlins Anklage an die politische Philosophie und die entsprechende Geschichtsschreibung, die an dieser Stelle aufgenommen und fortgeschrieben wird. So wird in diesem Buch die Ansicht vertreten, dass auch keine der modernen wissenschaftlichen Bewegungen verstanden werden kann, wenn dem aufgeklärt-rationalen Vorgehen nicht der Beitrag des romantischen Denkens ebenbürtig an die Seite gestellt wird. Aufklärung allein bringt vieles, nur keine Erfindungen oder Kreationen wie Bohrs Atommodell zustande, dessen Schöpfer sogar wiederholt versucht hat, sich tiefer in wissenschaftliche Wechselspiele »hineinzuträumen« (»drømme mig dybere«), wie er einmal in einem Brief geschrieben hat. Bohr hoffte auf diese Weise ein Gefühl (»føler«) für die Annäherung an die Wahrheit zu bekommen. (Im Internet findet sich seit Kurzem der Hinweis, Bohr habe sein Atommodel mühelos im Traum gefunden; das wird hier bestritten. Wenn bei Bohr von der Tätigkeit des Träumens die Rede ist, dann ist damit gemeint, dass er sich auf die Gedanken einlässt, die sich in seinem Bewusstsein melden, nachdem er ausführlich über ein Thema nachgedacht hat.)
In diesem Buch wird sogar zu zeigen versucht, was auf den ersten Blick abwegig erscheint, dass nämlich schon die zumeist mathematisch betriebene und entsprechend nüchtern dargestellte Physik der Quanten ihre eigenen romantischen Elemente enthält, selbst wenn sie auf den ersten Blick kalt und in ihrer kalkulierten Exaktheit leblos wirkt. Darüber hinaus ist es aber vor allem die philosophisch gemeinte Lektion der Atome – die Niels Bohr »Komplementarität« nennt und im Lauf seines Lebens zu lernen versucht –, die ohne die romantische Tradition der europäischen Kultur unverständlich bleiben würde.
Bohr konnte wie kein Zweiter unter den Physikern mit gegensätzlich wirkenden Gedanken umgehen, die dazugehörigen Oppositionen in sich zusammenführen und mit ihnen leben und kreativ werden. Es war Albert Einstein, der diese Fähigkeit aufspürte und für bedeutsam erachtete. In einem Schreiben an die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus dem Jahr 1922 charakterisierte Einstein seinen großen Gegenspieler wie folgt: »Was an Bohr als Forscher so wunderbar anmutet, das ist eine seltsame Vereinigung von Kühnheit und vorsichtigem Abwägen; selten hat ein Forscher in solchem Maße wie er die Fähigkeit intuitiven Erfassens verborgener Dinge mit scharfer Kritik besessen. Bei aller Kenntnis des Einzelnen ist sein Blick unverrückbar auf das Prinzipielle gerichtet. Er ist zweifellos einer der größten Erfinder unserer Zeit auf dem Gebiete der Wissenschaft.«
Bohr lebte und liebte das Wechselspiel der Widersprüche. Er war geradezu versessen auf Paradoxien und erfreute sich an der Analyse, die sein Verstand dabei mit den möglichen Denkfiguren vornehmen konnte, auch oder gerade wenn er wusste, nie eine Auflösung liefern zu können. Selbstverständlich nahmen er und die anderen Physiker den Begriff »Romantik« ebenso wenig in den Mund wie die späteren Biographen und Historiker, wenn sie ihr jeweiliges Bild von der atomaren Wirklichkeit vorstellten.
Niels Bohr ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Er kommt im Oktober 1885 als erster Sohn der Familie nach seiner Schwester Jenny (1883–1933) und vor seinem Bruder Harald (1887–1951) zur Welt. Die Eltern sind großzügige und großartige Menschen. Die Mutter, Ellen Adler, wird als liberal und intelligent bezeichnet, wobei die Tatsache, dass sie Jüdin ist, ihre Kinder zu Mitgliedern dieser Religion werden lässt, ohne dass dies für sie etwas bedeutet. Über Glaubenszugehörigkeit wird in der Familie nicht einmal am Rande gesprochen. Niels bleibt sein Leben lang unberührt von religiösen Gedanken und Gefühlen, und er orientiert sich am Leben seiner Eltern, die nicht kirchlich getraut worden sind und ihren Alltag säkular und sachlich bestreiten. Sein späterer Dialogpartner Einstein hingegen, der ebenfalls aus einem jüdischen Elternhaus stammt, betont immer wieder, dass er sich auch oder gerade als Wissenschaftler von den religiösen Ideen mit den entsprechenden Empfindungen nicht lösen könne.
Ellen Adlers Vater gehörte als Bankier und Politiker zu den wohlhabenden Männern in Dänemark. Die Familie Bohr bewohnte deshalb anfangs in Kopenhagen ein schönes Haus in der Ved Stranden 14, das zu den eleganten Gebäuden der Stadt zählte und dem Sitz des dänischen Parlaments gegenüberlag. Die Kinder wuchsen also unter bevorzugten Umständen auf, und zu ihrer behüteten Kindheit gehörten stets auch Kindermädchen und Dienstpersonal – sie genossen einen Lebensstandard, der vor der Industriellen Revolution und dem damit zusammenhängenden Wirtschaftswachstum undenkbar gewesen wäre.
Vater Christian arbeitete als Wissenschaftler auf dem Gebiet der Physiologie, bei dem es darum geht, die Lebensfunktionen des menschlichen Körpers zu verstehen, etwa den Transport von Sauerstoff durch das Blut und die damit gewährleistete Versorgung der Organe mit dem gasförmigen Element. Als Professor an der Universität Kopenhagen lernte er seine künftige Frau kennen, die als Studentin seine Vorlesungen besuchte. In seiner Funktion als Lehrstuhlinhaber war Christian Bohr berechtigt, eine große Wohnung in den Räumen der Chirurgischen Akademie zu beziehen. 1886 zog die Familie mit dem neugeborenen Niels dort ein, wobei dieser Wechsel langfristig angelegt war, da die Kinder von dort aus nur einen kurzen Weg zur Schule zurücklegen mussten.
Christian Bohr steht heute natürlich im Schatten seiner Söhne Niels und Harald (der als Mathematiker berühmt wurde). Wer aber im Lexikon das Stichwort »Bohr-Effekt« nachschlägt, findet auch einen Hinweis auf den Vater. Christian Bohr hatte bei seinen Messungen und Beobachtungen mit Patienten bemerkt, dass die Neigung von Sauerstoff, sich an den roten Blutfarbstoff, das Hämoglobin, zu binden, von der Anwesenheit von Kohlendioxid (CO2) im Blut abhängt. Der Bohr-Effekt sorgt letzten Endes dafür, dass Sauerstoff vor allem in den Geweben freikommt, in denen er gebraucht wird, weil dort große Aktivität (Stoffwechsel) herrscht. Seinem Entdecker ist für diese physiologisch relevante Einsicht in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts sogar eine besondere Ehre zuteilgeworden. Als einer der ersten Physiologen wurde Christian Bohr für den damals neu eingerichteten Nobelpreis für Medizin vorgeschlagen. Sein früher Tod im Jahr 1911 hat ihm jedoch die Chance genommen, von der Schwedischen Akademie ausgewählt zu werden – was auch deshalb zu bedauern ist, weil es uns heute daran hindert, ein Bohr-Trio vom Vater über den Sohn zum Enkel als Laureaten vorzustellen.
Zu den Nebentätigkeiten von Christian Bohr gehörte die Gründung des Fußballvereins Akademisk Boldklub an der Universität, in dem sich seine Söhne gern und erfolgreich sportlich betätigten. Niels’ Bruder Harald hat es dabei sogar zu großen Ehren gebracht, da er zu dem Team gehörte, das 1908 bei den Olympischen Spielen die Silbermedaille für sein Land gewinnen konnte – was den Ruhm der Familie Bohr in Dänemark noch mehrte.
Weiteren Einfluss auf seine Söhne – vor allem auf Niels – übte Vater Christian mit der Verehrung für die Werke Goethes aus. Es war vor allem der Faust, von dem Christian Bohr zahlreiche Passagen auswendig aufzusagen wusste, und zwar in der deutschen Sprache, die er neben der englischen auch seinen Söhnen ans Herz legte. Er ermöglichte ihnen, beide Sprachen zu lernen und zugleich die dazugehörigen Kulturen besser kennenzulernen – ein Umstand, der die Physiker später verzweifeln ließ, wenn Niels Bohr in den Seminaren um die Worte rang, mit denen er seine Einsichten in den Aufbau der Atome ausdrücken wollte. Bohrs Gedanken entstanden tatsächlich beim Reden, um alle möglichen Sichtweisen zu erfassen, sprach er »minutenlang in einer traumartigen, visionären und wirklich sehr unklaren Weise«. Bei diesem zugleich rücksichtsvollen wie rücksichtslosen Vorgehen machte Bohr hemmungslos von allen drei Sprachen Gebrauch, die ihm zur Verfügung standen, was konkret bedeutete, dass er einen dänisch-deutsch-englischen Mischmasch produzierte, wobei er zumeist noch nuschelte und manchmal sogar mit der Pfeife im Mund sprach.
Klarheit beim Reden war Bohrs Sache leider nicht, was ihn aber nicht daran hinderte, ab und an überraschende Wendungen in Worte zu fassen, in denen so etwas wie Wahrheit aufschimmerte. Als sein Vater dem gerade schulpflichtigen Niels die Schönheit der Natur erklären wollte und dazu die Aufmerksamkeit auf einen Baum lenkte, um von den großen Ästen und kleinen Zweigen zu schwärmen, an deren verzweigten Enden die Knospen zu blühen begannen, hörte der Sohn andächtig zu, wunderte sich dann allerdings: »Aber wenn das nicht so wäre, dann wäre das da doch kein Baum.«
Niels Bohrs Vortragsstil wurde selbst von seinem Bruder Harald kritisiert, der ihm vorwarf, über Dinge zu sprechen, von denen er behauptete, sie später noch erklären zu wollen. Er, Harald, bemühe sich umgekehrt, über Dinge zu sprechen, die er zuvor erklärt habe. Niels Bohr wusste, dass er kein brillanter Redner war. Wenn jemand ihn allerdings auf seine Vortragsweise ansprach, pflegte er die Geschichte von einem Rabbi zu erzählen, der für seine geheimnisvollen Reden berühmt war: »Ich habe den Rabbi dreimal gehört. Beim ersten Mal war es phantastisch. Alles war für mich verständlich, und der Rabbi drückte sich klar aus. Beim zweiten Mal wurde es unheimlicher. Der Rabbi blieb souverän, aber ich kam nicht mehr so einfach mit. Und beim dritten Mal war es höchst sonderbar und bemerkenswert. Nicht nur ich, der Rabbi selbst verstand nicht mehr, was er sagte.«
Niels und sein Bruder hatten vielfach Gelegenheit, sich Gedanken beim Zuhören zu machen, da ihr Vater es liebte, mit Philosophen wie Harald Høffding und anderen Kollegen von der Universität zu diskutieren. Die Professoren trafen sich an Freitagabenden in den jeweiligen Wohnhäusern, um sich auszutauschen, wobei Christian Bohr vermutlich das Rätsel ansprach, das ihn als Physiologen beschäftigte und das man auf die Frage reduzieren kann: »Was ist Leben?«
Bereits im 19. Jahrhundert standen sich die beiden Ansichten gegenüber, die heute noch als Top-down- und Bottom-up-Erklärungen unterschieden werden. Die erste Ansicht geht vom Ganzen des lebenden Organismus aus und erörtert seine Funktionen und Fähigkeiten wie das Vermögen der Erinnerung oder die Freude am Leben selbst. Die zweite Ansicht beginnt mit der Aufzählung von Zellen, Molekülen und anderen Teilen und erklärt ihren physikalisch-chemischen Zusammenhang, der als Gedächtnis oder Erregung von Neuronen überprüft werden kann, durch die sich dann besondere Nervenbahnen bilden. Christian Bohr glaubte zum einen fest an die materielle Basis aller Lebensvorgänge, zeigte sich aber zugleich überzeugt, dass sich nicht alles – und erst recht nicht vollständig – durch Physik und Chemie erklären lassen würde. Diese abwägend duale und offen bleibende – rational keinesfalls zu entscheidende – Haltung wird sich seinen Söhnen mitgeteilt haben; Niels wird in den frühen 1930er Jahren damit gar ein eigenes Forschungsprogramm begründen, über das er in dem Vortrag mit dem Titel »Licht und Leben« spricht und wodurch er der kurz darauf sich explosionsartig aufstrebenden Molekularbiologie den Weg bahnt.
Es fällt auf, dass in den meisten biographischen Schriften über Niels Bohr die Schwester Jenny kaum erwähnt wird. Sie war auf jeden Fall eine talentierte Frau, die in Kopenhagen und Oxford studierte und als hochgeschätzte Lehrerin arbeitete – bis sie psychisch erkrankte und manisch-depressive Phasen erlebte. Jenny Bohr starb bereits 1933 an den Folgen ihrer Psychosen. Möglicherweise hat sie den Tod ihrer Mutter drei Jahre zuvor nicht verkraftet, wie ihr Bruder Harald gemutmaßt hat, der in seiner Rede an Jennys Grab die Schwester trotz ihres labilen Zustands als stark und gesund bezeichnet und in Erinnerung behalten hat.
Der Abschied von Jenny lenkt den Blick zurück auf die beiden Bohr-Söhne, die unter vielfältigen Erziehungseinflüssen geraten sind, wobei die ältere Schwester ihrer Mutter, Hanna Adler, eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Die Gründerin einer Kopenhagener Schule für Koedukation nahm die beiden Knaben gern am Wochenende und in den Sommerferien unter ihre Fittiche, um mit ihnen radelnd die dänische Landschaft zu erkunden oder Naturkundemuseen zu besuchen.
Niels war zwar der ältere, aber offenbar nicht der begabtere oder zielstrebigere der Bohr-Söhne. Der achtzehn Monate jüngere Harald, mit dem Niels gerne Zeit verbrachte, schaffte es, die Schul- und Studienzeit rascher als sein etwas schwerfälliger Bruder zu durchlaufen und zuerst – im Jahr 1910 – seine Promotion in Mathematik abzuschließen (Niels wurde ein Jahr später promoviert). Er beschäftigte sich mit der Theorie der Zahlen, die vor allem in Deutschland erforscht wurde, weshalb er nach der Doktorarbeit einige Zeit in Göttingen arbeitete. Dass Niels sich später in der gleichen Phase seiner wissenschaftlichen Entwicklung nach England orientierte, hängt zweifellos mit dem damaligen Renommee der britischen Physik zusammen.
In Göttingen traf Harald Bohr auf das Erbe von Bernhard Riemann, der Mitte des 19. Jahrhunderts eine spezielle Funktion gefunden hatte, mit deren Hilfe man der Verteilung von Primzahlen – einem uralten und ungelösten Problem der Mathematik – auf die Spur zu kommen hoffte. Bohr beschäftigte sich – in Zusammenarbeit mit dem Zahlentheoretiker Edmund Landau – mit der sogenannten Riemann’schen Zetafunktion, die bis heute großes Interesse in der Wissenschaft findet, und zwar aus einem praktischen Grund mit globalen Auswirkungen. Funktionen stellen letztlich Zahlenwerte dar, und Riemann war aufgefallen, dass spezielle Werte seiner eleganten Konstruktion – ihre Nullstellen – auf einer Linie lagen, was ungewöhnlich war. Seine Bemühungen, diese Vermutung zu beweisen, sind zwar gescheitert, aber die damit gestellte Aufgabe ist dringend geblieben, weil mit Riemanns Idee und mathematischer Vorgabe unter anderem die Sicherheit der Codes verbunden ist, mit denen Banken operieren und unsere Konten freigeben oder sperren. Um Gewissheit hierüber zu erlangen, haben die Mathematiker ein Preisgeld von einer Million US-Dollar für den Beweis der Riemann’schen Hypothese ausgesetzt. Harald Bohr hätte sich über so viel Interesse an seinem Thema gefreut, sich ansonsten aber unabhängig von finanziellen Anreizen der ungestörten Freude des Nachdenkens über mathematische Fragen hingegeben.
Nach Absolvierung der Gammelholm-Schule in Kopenhagen schrieb sich Niels Bohr 1903 zum Studium der Physik an der Universität seiner Heimatstadt ein. Sein Interesse an den Naturwissenschaften kann mit dem väterlichen Vorbild erklärt werden, durch das der junge Niels auch ermutigt wurde, sich mit der englischen Kultur zu beschäftigen, die um 1900 auf dem Gebiet der Physik durch große Namen wie Michael Faraday, James Clerk Maxwell, William Thomson (meist als Lord Kelvin bezeichnet), John William Strutt (bekannt als Lord Rayleigh), Ernest Rutherford und Josef John (J. J.) Thomson von sich reden gemacht hatte; der zuletzt Genannte etwa konnte 1897 nachweisen, dass es in Atomen eigenständige Elektronen gab. Die englische Physik war natürlich nur ein Teil der insgesamt sich dramatisch entwickelnden Naturwissenschaft, der es im ausgehenden 19. Jahrhundert gelungen war, die Röntgenstrahlen zu entdecken, mit der Radioaktivität umzugehen und elektromagnetische Radiowellen herzustellen.
Vielfältig waren damals also die Gründe, sich mit Physik zu befassen, doch bevor Bohr sich in dieses Fach vertiefte, blieb ihm noch Zeit für die Lektüre von philosophischen und literarischen Werken. Mit den weitgehend religiösen und zur Verteidigung des Christentums verfassten Schriften seines Landsmann Søren Kierkegaard wusste Bohr allerdings herzlich wenig anzufangen. Die Überlegungen des erwähnten väterlichen Freundes Harald Høffding lagen ihm näher, vor allem wenn sie sich mit dem »Humor als Lebensgefühl« beschäftigten und so optimistisch klangen, wie Bohr sich fühlte.
Was den Studenten der Physik neben seinem Fach wohl sehr beeindruckt und ausführlich beschäftigt hat, ist in dem unvollendeten Roman En dansk students eventyr (»Das Abenteuer eines dänischen Studenten«) des Philosophen Poul Martin Møller enthalten, der großen Einfluss auf Kierkegaard ausübte und 1843 mit der Niederschrift begann. Niels Bohr schwärmte von diesem Büchlein, in dem sich die Hauptfigur, der fiktive Student, unter anderem mit der Frage nach der Herkunft der Gedanken quält. Wo, wann, wie und woraus entstehen sie? Bei Møller findet sich eine Stelle, die Bohr wohl fasziniert haben muss: »Wenn du einen Satz schreibst, musst du ihn vor dem Aufschreiben im Kopf haben, bevor du ihn aber im Kopf hast, musst du ihn gedacht haben, wie willst du denn sonst wissen, dass ein Satz formuliert werden kann? Und bevor du daran denkst, musst du doch eine Idee davon gehabt haben, wie wäre es dir sonst eingefallen, ihn zu denken?«
Beim Verfertigen seiner Gedanken ließ diese Vorstellung Bohr nicht los, was natürlich nur dazu führte, dass er sich beim Sprechen dauernd verhaspelte. Wie konnte man konkret von ihm verlangen, einen Satz schon im Kopf zu Ende gedacht zu haben, bevor er ihn formulierte? Wie konnte er praktisch wissen, was er sagen wollte, solange er nicht hörte, wie weit seine Gedanken waren? Wie kann jemand – allgemein gesehen – auch nur versuchen, Beobachter und Beobachtetes zugleich zu sein, um das Subjekt, das man selbst ist, zu dessen Objekt zu machen?
Auch auf diese Dilemmata geht Møllers Student ein, wenn er einem freundlichen Gesprächspartner namens Fritz gegenüber offenbart: »Bei vielen Gelegenheiten teilt sich ein Mann in zwei Personen auf, von denen der eine versucht, den anderen zu hintergehen, während ein dritter, der in Wahrheit derselbe wie die ersten beiden ist, sich über diese Konfusion wundert. Kurzum, Denken wird ein dramatischer Vorgang, der die kompliziertesten Abläufe mit sich selbst hervorbringt, und der Zuschauer wird immer wieder zum Schauspieler.«
Das ist offenbar die Quelle eines der Lieblingssätze von Niels Bohr, der bei vielen Gelegenheiten seine Zuhörer daran erinnerte, dass wir zwar kurz am gesamten Geschehen teilhaben, dass wir dabei aber doch immer zugleich als Zuschauer und Mitspieler im großen Drama des Lebens in Erscheinung treten. Wir sind das Stück und das Gegenstück zugleich, und es ist nicht zu übersehen, dass hier aufgeklärt (analytisch) und romantisch (kreativ) gedacht wird und Bohr sich von diesem Wechselspiel sein Leben lang beeindruckt zeigt.