Wider den Unverstand! - Ernst-Peter Fischer - E-Book

Wider den Unverstand! E-Book

Ernst Peter Fischer

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Beschreibung

Unser Leben, unser Alltag ist voll von Wissenschaft. Aber wenn es um Gravitation oder Quantentheorie, DNA oder Schwarze Löcher geht, fühlen sich sehr viele Menschen wie wissenschaftliche Analphabeten – und sind es auch. »Ich verstehe das nicht mehr«, sagen viele. Zu viele, für Ernst Peter Fischer. Sein mitreißendes und herausforderndes Plädoyer dafür, wie wichtig, faszinierend und lebendig Wissenschaft ist, will unsere Neugier wieder wecken. Denn wollen wir wirklich unmündig sein in Bezug auf die Wissenschaft? Fischer kämpft in seinem Buch dafür, dass das Licht der wissenschaftlichen Vernunft endlich hell leuchten kann.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ernst Peter Fischer

Wider den Unverstand

Für eine bessere naturwissenschaftliche Bildung

Auftakt

»Blödem Volke unverständlich« – mit diesen Worten beginnt das Gedicht über den »Galgenberg«, das Christian Morgenstern an den Anfang seiner »Galgenlieder« gestellt hat. Erschienen sind diese in Albert Einsteins Wunderjahr 1905, in jenem Jahr also, in dem der weltberühmte Physiker zunächst »das Licht verdreht« hat, wie es im »Versuch einer Einleitung« zu Morgensterns surrealen Versen heißt,[1] um bald darauf dasselbe mit dem kosmischen Raum zu unternehmen und ihm eine gekrümmte Geometrie mit galaktischer Kraftwirkung zu verpassen.[2] In der Tat bringt die Wissenschaft der Physik in den Tagen der »Galgenlieder« unabhängig von allen technischen Erfolgen etwa bei der Elektrifizierung der Haushalte oder der Entwicklung des ersten Motorflugzeugs vor allem Unverständliches wie Einsteins vierdimensionale Raumzeit, Unbegreifliches wie die absolute Grenze der Lichtgeschwindigkeit, Unwahrscheinliches und Unwirkliches wie unstetige Quantensprünge, Unfassbares wie die unsichtbare Röntgenstrahlung und Unheimliches wie das Leuchten zerfallender radioaktiver Elemente hervor – wobei hier übergangen wird, dass man lange suchen muss, um Personen zu finden, die Laien erklären können, woraus ein elektrischer Strom besteht und wie er zustande kommt, und die sogar zu erläutern vermögen, wie etwa ein überwiegend aus Metall bestehendes Gebilde, das zu allem Überfluss auch noch mit Passagieren befüllt ist, durch die Luft fliegen kann, obwohl es dafür doch augenscheinlich zu schwer ist. Es wirkt bei den aufgezählten und vielen anderen Fortschritten der Wissenschaft für manche Zeitgenossen beängstigend, dass eine den Sinnen unzugänglich bleibende Wirklichkeit, die den auf Wahrnehmung angewiesenen Menschen offenbar nicht zugedacht ist, sowohl im Dasein des Einzelnen als auch im Leben der Gesellschaft eine erhebliche Rolle zu spielen beginnt. Die Wissenschaft[3] schlägt mit voller Wucht im Alltag ein und reißt sämtliche Personen mit, ohne sie zugleich innerlich anzusprechen oder gar zu erreichen. Dabei entsteht in vielen Menschen ein unbehagliches oder befremdendes Gefühl, sie meinen die Welt nicht mehr zu verstehen. Doch diese Welt war nie so einfach und berechenbar, wie der Soziologe Max Weber seinem Publikum in den Jahren des Ersten Weltkriegs einreden wollte, als er den vermeintlich geistlosen Naturwissenschaften vorwarf, sie hätten die Welt entzaubert, was bis heute von Webers ahnungslos bleibenden Adepten nachgebetet wird.[4] Dabei ist das Gegenteil der Fall! Die Wissenschaft hat eine Verzauberung der Welt bewirkt. Sie hat das Geheimnisvolle der Dinge erst erfasst und dann vertieft, und wer Welt und Wissenschaft verstehen will, muss sich mit der einen ebenso anfreunden wie mit der anderen und über ihr Wechselspiel im Bilde sein. Genau da beginnt ein Problem, das bis in die Gegenwart hineinreicht und vermutlich auch in Zukunft sowohl dem persönlichen als auch dem gesellschaftlichen Leben immer mehr Mühe machen wird. Wir leben zwar von der Wissenschaft, aber wir lieben und schätzen sie nicht und verstehen sie deshalb schon längst nicht mehr. Die Menschen des 21. Jahrhunderts sind trotz aller Bemühungen um Aufklärung unmündig geblieben, und deshalb hört man schon Stimmen, die ein neues Zeitalter der Dunkelheit ausrufen, was an das Mittelalter erinnern soll.[5] Dazu muss es nicht kommen, und das Licht der wissenschaftlichen Vernunft kann weiter leuchten, aber nur, wenn sich Menschen angemessen auf ihre historische Rolle einlassen und der dazugehörigen Forschung den Rang einer Kultur geben, mit der sie sich anfreunden wollen und die der Idee des Humanen Nachdruck verleiht. Darum geht es auf den folgenden Seiten.

Ein Problem der Gegenwart

»Ich verstehe die Welt nicht mehr!« Diesen Satz legt der dem Realismus verpflichtete Dramatiker und Lyriker Friedrich Hebbel am Ende seines 1843 uraufgeführten Schauspiels »Maria Magdalena« der Figur Meister Anton in den Mund, und auch wenn der Dichter und seine Figur damit nicht die Wissenschaft ihrer Tage direkt ansprechen wollten, so hätten sie durchaus deren erstaunliche Fortschritte im 19. Jahrhundert meinen können. Denn diese ließen selbst die Philosophie hinter sich, deren sich im reinen Denken verlierende Vertreter nur staunend zuschauen konnten, als Chemiker wie Amedeo Avogadro lernten, die Zahl der Moleküle in Gasen zu bestimmen, als Physiker wie Michael Faraday und James Clerk Maxwell sich daran machten, elektromagnetische Kräfte zu entfesseln, und als sich Mathematiker wie Carl Friedrich Gauß in der Lage zeigten, die Wahrscheinlichkeit von Irrtümern und die Zuverlässigkeit von Rentenzahlungen zu berechnen. Während sich die Philosophen in der »Phänomenologie des Geistes« verhedderten und ohne jeglichen praktischen Nutzen Hegels vertrackt formulierte Ansichten über »dasjenige, was An-sich ist« begrübelten, konnte die Wissenschaft eine Errungenschaft nach der anderen feiern. Dem Astronom Friedrich Wilhelm Bessel war es gelungen, die Entfernung zu einem Stern außerhalb des Sonnensystems in Lichtjahren zu bestimmen. Erfinder und Ingenieure wie David Alter konstruierten erste funktionierende Telegrafen, deren Signale in kaum merklicher Zeit Entfernungen von mehreren Kilometern zu überbrücken vermochten, und dem Chemiker Friedrich Wöhler war der Nachweis gelungen, dass sich organische Substanzen wie Harnstoff ohne Niere im Reagenzglas herstellen lassen – was die Frage aufwarf, die auch den Zeitgenossen Goethe in seinem Faustdrama beschäftigte, ob man bald auch Menschen in der Retorte machen könne. Und schließlich konnte die Physik nach sorgfältigen Himmelsbeobachtungen mit Präzisionsinstrumenten, die von Joseph von Fraunhofer stammten, mit einer weiteren Glanztat auftrumpfen. Durch die Messung einer Parallaxe konnte sie erstmals den Nachweis liefern, dass Kopernikus im 16. Jahrhundert recht gehabt hatte, als er die These formulierte, dass die Erde keineswegs im Mittelpunkt der Welt mit ihren planetaren Sphären steht. Sie bewegt sich stattdessen um die Sonne herum, und zwar ziemlich schnell. Die Erdenmenschen schauen seit dieser Zeit nicht mehr in den Himmel, einige von ihnen haben gelernt, dass sie sich vielmehr am Himmel befinden und in ihm unterwegs sind. Und ihr Heimatplanet kurvt nicht nur auf einer ellipsenförmigen Bahn um das Zentralgestirn herum, sondern er dreht sich zudem um seine eigene Achse und ist mit seinen Bewohnern auch sonst viel im All unterwegs, wie im 19. Jahrhundert allmählich unübersehbar wurde, selbst wenn sich die damit verbundene rasante kosmische Bewegung so vollzieht, dass wir sie im Alltag nicht bemerken, was dazu führt, dass dieser Sachverhalt nicht wenigen Menschen bis heute unfassbar zu sein scheint oder sogar ganz verborgen bleibt.

Dass wir von dieser seit Kopernikus bekannten eigenen Bewegung im Kosmos nichts merken, hat Galileo Galilei im 17. Jahrhundert übrigens zu der Einsicht geführt, dass die Gesetze der Natur, die Bewegungen beschreiben, eine bestimmte Symmetrie aufweisen müssen. Man spricht dabei von der Galilei-Invarianz, und sie war es, von der aus Einstein seine kosmische Sicht zu entfalten vermochte. Es bleibt unbegreiflich, warum so viele Menschen, darunter auch die meisten Philosophen, derlei tiefe Einsichten in das Weltgeschehen bis heute bestenfalls achselzuckend zur Kenntnis nehmen.

Für größte Verunsicherung sorgte die bereits im 16. Jahrhundert vom Domherrn Kopernikus vorgeschlagene Vorstellung eines ungemein rasch bewegten und von einem zentralen Sonnenfeuer erwärmten und bestrahlten Heimatplaneten allerdings bei der Kirche. Diese wollte nichts wissen von der mutigen Erhöhung des Menschen durch die Verlagerung der Erde an den Himmel mit der dazugehörigen Annäherung an Gott, der doch über allem zu schweben hatte. Mit noch größerem Argwohn begegnete die damals mächtige Institution Menschen, die sich mit eigener Geisteskraft aus der bislang eingenommenen tiefliegenden Mitte der Welt – Kant bezeichnete den alten Platz der Erde als Abtritt der Welt, in dem sich ihr Schmutz sammelte – in kosmische Höhen aufschwingen konnten, weshalb sich Galileo Galilei mit einem irritierten Papst und seiner wütenden Inquisition anlegen musste. Doch selbst wenn dieses klerikale Brett vorm Kopf bei einigen kirchlichen Würdenträgern inzwischen dünner geworden ist und in manchen Fällen sogar abmontiert werden konnte, haben selbst viele grundsätzlich säkular orientierte Zeitgenossinnen und Zeitgenossen bis heute weder verstanden, was die Einsicht des Kopernikus allgemein besagt, noch bedacht, was die damit verbundene Wende konkret in ihrem individuellen Dasein bedeutet, das irdisch und kosmisch zugleich ist, auch wenn dies komisch klingt. Wer ist sich schon darüber im Klaren, dass er die Hälfte seines Lebens mit dem Schädel nach unten hängend im Weltall verbringt und ebenso wenig wie ein seine Bahnen ziehender Raumfahrer sagen kann, wo ihm gerade der Kopf steht und ob er nach oben oder unten zeigt?[6] Und wie lange muss man sich noch im Feuilleton der Zeitungen mit Artikeln von naturwissenschaftsfremden Intellektuellen herumschlagen, die immer noch den auf Sigmund Freud zurückgehenden Unsinn verbreiten, dass Kopernikus die Menschen erniedrigt und gekränkt habe, als er sie aus der dunklen Mitte des kosmischen Aborts befreite und dem göttlichen Licht in der Höhe zuführte?

Man würde die an ihren iPhones festklebenden Menschen gerne fragen, ob sie ohne Google wissen, mit welcher Geschwindigkeit sie gerade auf ihrem Planeten unterwegs sind, während sie an einer Straßenecke stehen und gelangweilt mit einem Finger über das Display wischen. Man könnte den gleichgültigen Spaziergängern mit ihren Handys und Hunden begeistert davon erzählen, dass Erdbewohner am Äquator alleine durch die Drehung des Planeten um seine Nord-Süd-Achse mehr als 1500 Kilometer pro Stunde und damit fast 500 Meter pro Sekunde zurücklegen, während zugleich die Erde um die Sonne kreist, die selbst wiederum um das Zentrum der natürlich auch nicht still stehenden Milchstraße herumjagt – und kaum jemand würde aufhorchen oder gar staunend von seinem iPhone aufblicken. Wer würde versuchen, sich eine Vorstellung von der rasenden Bewegung im Weltraum zu machen, an der er selbst teilhat? Wollen die Leute überhaupt etwas wissen von der Eigenrotation der Erde, ihrem Rundlauf um die Sonne und der Dynamik der Milchstraße in einem expandierenden Universum, bei dem das Sonnensystem mit Millionen von Kilometern pro Sekunde mitgerissen wird, während sich Menschen in aller Ruhe auf der Erde die Bilder der Welt anschauen, ohne sich zu fragen, woher die offenbar seit Ewigkeiten wirkende Energie für solch eine Erddynamik und die Welt überhaupt kommt.

Die Beschwerde eines Schriftstellers

Viele verstehen ihre Welt allein in diesen kosmischen Bezügen schon längst nicht mehr, was zu Hebbels von der Bühne aus ins Publikum gesprochenem Satz zurückführt, der sich zu seiner Zeit nur mittelbar auf die Erkenntnisse der Wissenschaft bezog. In diese Richtung stieß dann aber im 20. Jahrhundert gezielt ein anderer Dichter vor, nämlich Alfred Döblin, der in den Jahren der Weimarer Republik versuchte, die damals entstehende Physik von Einstein mit ihren dynamischen Gravitationsfeldern und dem Verschmelzen von Raum und Zeit zu verstehen, wobei er die zeitgleich gemachte Einsicht zu berücksichtigen hatte, die von der Unmöglichkeit handelte, Ereignisse als gleichzeitig zu erfassen.[7] Döblin knüpfte vor hundert Jahren an Hebbels Seufzer aus der Mitte des 19. Jahrhunderts an, nur dass sich der Autor von »BerlinAlexanderplatz« konkret darüber beschwerte, dass er trotz emsigen Bemühens die zu seinen Lebzeiten aufkommende und als Relativitätstheorie bezeichnete wissenschaftliche Beschreibung des Universums nicht mehr verstehen konnte. Die Welt, in der er lebte, war ihm fremd geworden, und schuld daran war ausgerechnet die Wissenschaft selbst, die doch das Verstehen fördern möchte und mit ihren vielfältigen Einsichten und technischen Anwendungen die Lebensbedingungen der Menschen seit dem 19. Jahrhundert immer stärker bestimmt, auch wenn Historiker das nicht ausreichend zur Kenntnis nehmen und sich durch den Sachverhalt eher belästigt fühlen. So konnte noch 2020 ein Buch über »Europa« erscheinen, das sich anschickt, eine »Geschichte seiner Kulturen« zu erzählen[8] und dabei mit keinem Wort auf Einstein eingeht. Der Goethepreisträger Max Planck findet in besagtem Werk nur deshalb Beachtung, weil er 1914 einen unglücklichen und politisch verlogenen »Aufruf an die Kulturwelt« unterschrieben hat, wobei das Buch unerwähnt lässt, dass der große Physiker später dafür ausdrücklich die Kriegsgegner um Verzeihung gebeten hat (und sich nicht einfach nur entschuldigen wollte, was auch keiner kann, der das Wort ernst nimmt). Und wer heutige Geschichtsschreiber – ökonomische wie kulturelle und politische – darüber informieren würde, dass die moderne Welt ihre Entstehung zu einem guten Teil dem gefährlichen Gedanken des Infinitesimalen aus der Mathematik verdankt, müsste bei vielen wohl feststellen, dass sie überhaupt nicht wüssten, wovon die Rede ist.[9] Sie wissen nicht, was sie alles nicht wissen, und was schlimm ist: Es kümmert sie auch nicht, da sie im akademischen Diskurs oder auch sonst unter sich bleiben. An ihren Stammtischen faseln sie dann etwas von der Halbwertszeit des Wissens, ohne zu wissen, was es mit dieser Halbwertszeit auf sich hat, von der die Physik schon mehr als einhundert Jahre Kenntnis hat und die ihre Bedeutung nicht verlieren wird.

Der Dichter Döblin hat immerhin ernsthaft versucht, sich in Einsteins Kosmos und die Physik allgemein hineinzudenken. Er hat sich höchstpersönlich darum bemüht und Bücher zum Thema gewälzt, was heutzutage bei öffentlich agierenden Figuren eher selten der Fall ist. Heute wird weniger nachgelesen und mehr vorgeschwafelt. Leserinnen und Leser brauchen nur die Medien zu konsultieren, um Beispiele zu finden: Führungskräfte kündigen Quantensprünge ihrer Unternehmen an oder behaupten, ihre wohl kalkulierten Vorschläge seien leider in den Schwarzen Löchern verschwunden, die sie im Denken ihrer Mitarbeiter bemerken, und selbst die Zeitung, hinter der sich angeblich immer ein kluger Kopf verbirgt, spricht gerne von der DNA des Außenministeriums oder den Genen eines Fußballvereins, in der Hoffnung, damit etwas verständlich zu machen, obwohl die geneigte Leserschaft größtenteils vermutlich weder weiß, wie es in einem Ministerium zugeht, noch sagen kann, was es mit der DNA auf sich hat. Wo man solchen schiefen Bildern begegnet, kann man sicher sein, dass die feuilletonistischen Schreiberlinge von den wissenschaftlich klingenden Begriffen mit modischem Touch bestenfalls eine oberflächliche Ahnung haben. Sie verstehen davon oft genauso wenig wie jene Soziologen, die die Kälte der sozialen Entropie beklagen oder über die Synergie von Geschäftsmodellen schwadronieren. Auch sie bedienen sich gerne im Arsenal der Physik, wenn sie von einer Atomisierung der Gesellschaft sprechen, deren Teilsysteme in einem wie auch immer gearteten Spannungsfeld stehen. Doch auch wenn sie großzügig aus ihrem terminologischen Fundus schöpfen, wird nie klar, ob die Sozialtheoretiker die Kollegen aus den Naturwissenschaften wegen ihrer gedanklichen Vorgaben beneiden oder im Grunde ihres Herzens verachten.

Vielleicht sollte es Liebhaber des Wissenschaftlichen freuen, wenn sie merken, wie ihr Vokabular in das öffentliche Denken eindringt und es beeinflusst, und vielleicht ergeht es ja den drei Buchstaben DNA für den Stoff, aus dem die Gene sind, wie dem Radar und dem Laserstrahl oder der Abkürzung UKW im Radio, die man wie das Trio GPS einfach hinnimmt und nutzt, ohne sich zu fragen, was die Zeichen bedeuten, wie sie entstanden sind und woher sie kommen. Aber wenn Philosophie das ist, was eine Zeit in Gedanken fasst – so der eigene Anspruch der denkenden Zunft –, dann könnte der Einbau der abgekürzt genannten Ideen in die Sprache bedeuten, dass es das wissenschaftlich begründete Denken ist, das sich als öffentliche Philosophie dieser technisch dominierten Zeit zu erkennen gibt. Dies wiederum sollte dann bewirken, dass Intellektuelle mehr über Herkunft und Bedeutung von Konzepten wie Energie, Feld, Potenzial, Reaktion oder Information nachdenken, auch wenn das höchst unwahrscheinlich erscheint, weil in diesen Kreisen nach wie vor der Irrglaube vorherrscht, dass die Wissenschaft nicht denkt.

Weitere Beispiele für den erwähnten Spracheinfluss als Denkhilfe durch die Naturwissenschaften finden sich in Hülle und Fülle. Allenthalben ist die Rede von Codes, Algorithmen, Rückkopplungen, Atomen, Stress, Schubkräften, Mutationen, Systemen, Signalen, Dimensionen und exponentiellem Wachstum, und den viralen Infektionen wird – in den sozialen Medien – inzwischen ein virales Marketing an die Seite gestellt. Es ist ja schön, wenn die Wissenschaft den Menschen auf diese Weise beim Sprechen und Kommunizieren hilft. Schöner wäre es indes, wenn die Redenden und Schreibenden mehr von den Worten verstehen würden, die sie benutzen, statt nur auf Effekthascherei zu setzen. Es mag gelehrt klingen, wenn man schreibt, dass »die Autonomie in der EU-Sicherheitspolitik nach dem Brexit zu Schrödingers Katze wird«, womit wohl gemeint ist, dass das Tier »gleichzeitig lebendig und tot« ist,[10] aber der Physiker Erwin Schrödinger würde sich über diese Deutung seiner Katze gewiss sehr wundern.[11]

Es kann einen nur freuen, wenn man hin und wieder hört, »dass die Chemie stimmt«, aber warum beginnt man nach dem Gebrauch dieser hübschen Wendung nicht, sich darüber Gedanken zu machen, dass die Chemie unser Leben umfassend bestimmt, angefangen bei den Abläufen in unserem Körper bis hin zu den zahllosen Produkten, die uns die Industrie beschert. Ebenso kann man sich wundern, warum man sich im privaten Bereich freut, wenn die Chemie stimmt, während man vor dieser Wissenschaft im industriellen Maßstab Angst und Abneigung entwickelt, obwohl sie das Alltagsleben paradoxerweise genau dann wunschgemäß erleichtert, wenn sie stimmt. Was macht die Chemie mit uns und was macht »die Chemie« in unseren Köpfen? Und was gibt der erfolgreichen Wissenschaft ein derart schlechtes Image, obwohl sie seit Jahrhunderten den christlichen Auftrag erfüllt, die Nackten zu kleiden, die Hungrigen satt zu machen und die Kranken mit Heilmitteln zu versorgen?[12]

Das Märchen von der Bringschuld

Es ist in europäischen Breiten nicht mehr zu übersehen, dass sich an dem von Döblin geäußerten Unverständnis der Welt nicht nur nichts geändert hat, sondern dass die Distanz zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit seit dem Zweiten Weltkrieg noch viel größer geworden ist und in zunehmendem Tempo weiterwächst. Der Unterschied zu früher liegt darin, dass man sich heute eher weniger traut, seine Unkenntnis öffentlich einzuräumen, um sich aus dieser Position heraus so vehement wie der immerhin lernbereite Döblin über die Schwierigkeiten zu empören, die man überwinden muss, wenn man Wissenschaft verstehen möchte. Und wenn sich Klagen über die allgemeine Ahnungslosigkeit vernehmen lassen, dann beschwert man sich öffentlich bevorzugt durch eine Umkehrung der Aufgabenstellung, indem man die Bildungspflicht und Holschuld der Bürgerinnen und Bürger in eine Bringschuld der Wissenschaft verwandelt, auf deren bequeme Begleichung man wie auf ein schönes Bier am Abend warten kann. So hat es jedenfalls ein kettenrauchender Kanzler mit hohem Ansehen unter dem Beifall seines blöden Volkes verlangt, das seitdem darauf wartet, mit den nötigen Informationen versorgt zu werden und sich ungern an seine Pflicht erinnern lassen möchte, die früher einmal Bildung hieß und eine Zeit lang sogar in hohem Ansehen stand.

Die Menschen leben zwar gut und gerne von der Naturwissenschaft und ihren technischen Früchten, aber von den Erkenntnisprozessen, denen sie diese Hervorbringungen verdanken, wissen sie wenig. Sie beherbergen diese Macht wie einen geheimnisvollen Gott, der seine Arbeit verrichten darf, ihnen dabei aber nur ja nicht zu nah kommen soll. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass viele Menschen nicht nur nichts von Disziplinen wie Physik, Chemie oder Biologie wissen, sondern am liebsten auch nichts von ihnen hören wollen. Ihnen reichen pompöse Schlagworte wie Urknall und Dunkelenergie oder bequeme Behauptungen über die angebliche Entschlüsselung der Gene. Wenn man mit ihnen darüber sprechen will und sich zum Beispiel erkundigt, wer die angeblich entschlüsselten Gene vorher auf welche Weise verschlüsselt habe und ob man den Urknall hören und Dunkelmaterie sehen könne, wehren sie diese Fragen rasch ab und sagen schulterzuckend: »Davon versteh ich doch nichts!«

In den Schulen werden die naturwissenschaftlichen Fächer gerne rasch abgewählt, obwohl »die Naturwissenschaften Kinder faszinieren können«, wie die »Süddeutsche Zeitung« in ihrer Ausgabe vom 14. Dezember 2020 eine Chemie-Didaktikerin mit vernünftigen Worten zitiert. Naturwissenschaften faszinieren Kinder, weil die Natur selbst fasziniert. Kinder sehen und erleben Wolkenbildungen, Blütenfarben, Sonnenuntergänge, Mondphasen und vieles mehr, sie kommen wahrnehmungsbereit – also ästhetisch neugierig – in die Schule, aber nur, um hier erst gehörig mit Begriffen gelangweilt und dann frustriert nach Hause geschickt zu werden. Das glitzernde, funkelnde und wärmende Licht der Sonne am Himmel verwandelt der Physikunterricht in einen Strich auf der Tafel oder im Schulbuch, der Schüler kaltlässt oder ärgert. Es gelingt den Lehrkräften – ein komisches Wort, das an Schwerkräfte erinnert – offenbar im Unterricht spielend leicht, ein natürlich gegebenes Interesse der Kleinen abzutöten, was dann verhindert, sie in der Klassengemeinschaft »anzuregen, über diese Dinge nachzudenken«. All dies führt schließlich dazu, dass sich viele Schüler später in den entsprechenden Stunden langweilen und versuchen, die Naturwissenschaften loszuwerden, bevor sie sich schlechte Noten einhandeln. Dabei werden sie von den Eltern wohl kaum ermutigt, eine andere Richtung einzuschlagen. Ihre Mütter und Väter waren in vielen Fällen selbst bereits schlecht in Physik und Mathematik – manche weisen voller Stolz und zustimmungsheischend auf ihre schlechten Noten in diesen exakten Fächern hin, von denen sie seinerzeit vor allem überfordert waren. Sie haben nie verstanden oder längst vergessen, was zum Beispiel die Energie so bemerkenswert macht, wie der Strom aus der Steckdose kommt, warum Wolken nicht vom Himmel fallen, was Licht- von Schallwellen unterscheidet, warum Zucker süß ist, warum man auf Eis – und nicht auf anderen glatten Oberflächen – Schlittschuh laufen kann und woher man weiß, wie weit die Sterne von der Erde entfernt sind. Das will offenbar niemand wissen, und so entsteht unweigerlich ein wachsendes wissenschaftliches Analphabetentum, was der Zukunft einer Zivilgesellschaft auf keinen Fall zuträglich sein kann. Es könnte sich sogar als höchstgefährlich erweisen. Schließlich verlangt die Gesellschaft ihren Mitgliedern Tag für Tag, Stunde für Stunde und in jeder Minute ab, sich auf das Funktionieren technischer Dinge zu verlassen und also wissenschaftlich entwickelten Abläufen zu vertrauen, von denen sie nicht die geringste Ahnung haben und die ihnen deshalb von Grund auf fremd und unheimlich bleiben. Wohlfühlen geht anders.

Ein Virus im Getriebe

Die Folgen der allgemeinen Blödheit werden in der Corona-Pandemie unübersehbar, in der Menschen vornehmlich über digitale Maschinen miteinander kommunizieren, die wie von Zauberhand funktionieren und Magie in den Alltag bringen, leider ohne das Virus wegzaubern zu können. Selbst die kleine Welt dieses Virus ist nicht so berechenbar, wie sich das die Soziologie in der Nachfolge von Max Weber vorgestellt hat, auch wenn sich viele das wünschen würden. Die Bevölkerung muss zum Schutz vor Covid-19 unwiderruflich die in einem langwierigen, mühsamen Prozess entwickelte Hilfe der medizinischen Wissenschaft in Anspruch nehmen und ihre Hoffnung in Beatmungsgeräte setzen, die die Überlebenschancen der Intensivpatienten deutlich erhöhen. Außerdem betätigen die Menschen unentwegt Knöpfe an ihren Smartphones, ohne auch nur im Ansatz zu verstehen, was sie physikalisch oder elektronisch durch die Berührung auslösen. Und dies alles, ohne dass ihnen medizinische oder kommunikative Alternativen zur Verfügung stünden, auch wenn wahrhaft blöde »Querdenker« den Menschen im ersten Fall solch eine Wahlmöglichkeit vorgaukeln und Hirnforscher im zweiten Fall die drohende digitale Demenz beschwören, die als unvermeidlich verkündet wird.

Inhalt

Auftakt

Ein Problem der Gegenwart

Die Beschwerde eines Schriftstellers

Das Märchen von der Bringschuld

Ein Virus im Getriebe

»Das überspannte Gummituch«

»Blödem Volke unverständlich«

Eine Pandemie im Winter 2020/21

Wissenschaft und Angst

Wir sollten uns alle schämen!

Adorno am Radio

Warum Wissenschaft nicht populär sein kann

Die Aufgaben

Zwei Kulturen

Einsteins Zunge

Herz über Kopf

Das einfachste Beispiel

»Haben wir das jetzt verstanden?«

Das tiefer werdende Geheimnis

Der Lump und das Licht

Das Verschwinden der Allgemeinbildung

Wissenschaft als Geschichte

Die unruhigen 1960er-Jahre

»Der Vater eines Mörders«

Bildung in der digitalen Welt

Eine Ordnung der Wirklichkeit um eine Mitte

Ein Vorschlag für eine neue Allgemeinbildung

Ein Mannheimer Forum

Anfänge

Die Anfänge der Wahrnehmung

Feinde der Wissenschaft

Kein »Public Understanding of Science«

»Wissenschaft kommuniziert«

Ein Programm für eine Minderheit

Inkompetenzkompensationskompetenz

Ein Preis für Kommunikation

Der Sputnik-Schock

Die Wissenschaft und die Öffentlichkeit

Das Public Understanding und die Personen der Wissenschaft

Die Sonette und ein Hauptsatz

Schlusspunkt

Zwei Kulturen, ein Dialog

Mit dem Herzen verstehen

Wissenschaft im Dialog

Anhang

Anmerkungen

Personen- und Sachregister

Verwendete Literatur