Night Church Academy - Sophie Marie Gose - E-Book

Night Church Academy E-Book

Sophie Marie Gose

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Beschreibung

Als Emma von Dijk in einem Kaffee von einem böswilligen Daimon angegriffen wird und dabei fast in den Tod stürzt, stellt sich ihre Welt auf den Kopf. Ihre Retter bringen Sie in die Night Church Academy, ein Institut für Hexen und Pugnator, sogenannten Daimonjägern. Doch immer mehr Geheimnisse kommen ans Licht, die ihr bisheriges Leben in Frage stellen. Als Emma auch noch entführt wird, um Informationen über ihren besten Freund preiszugeben, will sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Emma will das machen, wofür sie geboren wurde: kämpfen.

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Seitenzahl: 372

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Für meine Eltern, die immer für mich da sind. Für meinen Bruder, der mein bester Freund ist. Für Alex, der immer an mich glaubt.

Ich versuche mein Herz zu reparieren, doch ich habe zu viele Teile verloren, an meinem dunkelsten Ort, habe ich mich verloren.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Carpe noctem

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHSZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREISIG

KAPITEL EINUNDDREISIG

PROLOG

Staub rieselte von dem Wandteppich auf mich nieder und kitzelte mich gefährlich in der Nase. Ich atmete durch den Mund und versuchte ein Niesen zu unterdrücken, ich muss die Wächter nicht noch extra auf mich aufmerksam machen. Die ganze Wand war mit aufwendiger Malerei verziert. Sie erzählte Geschichten von längst geschlagenen Schlachten, von Liebe und Tod. Und mittig, direkt auf meiner Augenhöhe, befand sich das kleine Schloss. Auf dem ersten Blick wirkte es wie gemalt, gemalt aus Öl auf Holz, doch wenn man es berührte, verriet das kalte Metall die Illusion. Schnell steckte ich den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn um.

Langsam schob sich die Wand zur Seite. Panisch drehte ich mich um. Warum dauerte das so lange? Die Schritte wurden lauter und lauter.

Endlich war der Spalt groß genug, sodass ich mich durch ihn hindurch quetschen konnte. Sofort wurde ich von der schützenden Dunkelheit umschlossen, geschützt vor den Blicken der nahenden Soldaten.

Ich rannte los. Ich würde gar nicht erst darauf warten, dass sich die Wand schloss. Ich hatte kein Licht. Meine Hände tasteten sich an der kalten Wand entlang-So würde ich zumindest merken, wenn eine Abzweigung kam. Theoretisch kannte ich den Weg: bei der ersten Abzweigung nach rechts, dann die Treppe runter, nach zwei Abzweigung nach links, zwei Stufen hoch. Danach hundert Meter geradeaus, mit den Händen die Decke abtasten, die Falltür finden, öffnen, nach oben ziehen. Das war der Weg in die Freiheit … oder in den sicheren Tod.

Ich kam ins Straucheln und kickte einen kleinen Stein, welcher auf den Boden lag, ein Stück tiefer in den Tunnel. Ich konnte mich noch rechtzeitig abfangen, bevor ich auf den kalten Boden fiel, doch der Stein halte laut in dem Tunnel wieder. Am liebsten hätte ich mich selbst für meine Dummheit geohrfeigt. Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen, dass ich vergessen hatte auf meinen Weg zu achten. Wenn ich mich jetzt nicht konzentrierte, würden mich die Wächter schnappen, noch eher ich auch nur „Freiheit“ sagen konnte, oder ich würde über irgendetwas stolpern, mir das Genick brechen und von Ratten gefressen werden. Ich schüttelte den Kopf, um die düsteren Gedanken zu verjagen. Ich musste mich konzentrieren und da half es nicht gerade über den Tod nachzudenken. Ich kannte den Weg, jetzt muss ich ihn nur noch bewältigen und schauen, dass ich über den Zaun kam. Das war doch gar nicht so schwer? Der Zaun war ja auch nur drei Meter hoch und stand unter Hochspannung. Eine kleine Strähne hatte sich aus meinem Zopf gelöst und kitzelte mich an der Nase, schnell blies ich mir sie aus dem Gesicht. „Ein Tunnel!“ Laut hallte die Stimme eines Wächters im Tunnel wieder und ich zuckte erschrocken zusammen. Sie hatten den Tunnel entdeckt! Ab jetzt durfte mir kein Fehler unterlaufen, ich durfte weder eine falsche Abzweigung nehmen, noch zu langsam laufen.

Es durfte nicht mehr lange bis zur ersten Abzweigung dauern. Laut hallten meine patschenden Schritte von den Wänden wieder und vermischten sich mit meinem keuchenden Atem. Diese Geräusche schienen den gesamten Tunnel zu erfüllen. In diesem Moment griff meine rechte Hand ins Leere. Ich reagierte rechtzeitig und bremste schlitternd ab, um die Kurve zu bekommen. Nun hatte ich einen Vorteil! Sie hatten zwar Licht, doch ich kannte den Weg – zumindest theoretisch. Aber das war besser als nichts. Neu gefundene Hoffnung keimte in mir auf, glühend heiß, wie die Sonne und verdrängte für einen Moment meine Angst. Ich konnte es wirklich schaffen! Allein dieser Gedanke trieb mich voran und ließ mein Herz noch wilder pochen. Das Adrenalin war berauschend und löste ein plötzliches Glücksgefühl in mir aus. Ich verlangsamte meine Schritte etwas, um nicht plötzlich von der Treppe überrascht zu werden.

Plötzlich erklang im Tunnel ein neues Geräusch und passte sich mit meinen Schritten an. Die Schritte der Wächter wurden lauter und hallten bedrohlich von den Wänden wieder. Mein Herz raste wie verrückt und pochte hart gegen meine Brust. Bei jedem Atemzug zog sich meine Lunge schmerzhaft zusammen und schien gegen die eisige Luft im Tunnel zu rebellieren. Ich konnte jeden Muskel in meinem Körper spüren, jede einzelne Faser, spürte, wie sie sich dehnte und wieder zusammenzog, spürte das Pulsieren in meinen Adern. Hundert Messer schienen auf meinen Körper einzustechen, doch ich konnte nicht langsamer werden.

Mein Fuß trat ins Leere. Mein Herz setzte für einen Moment aus und nur mit Mühe konnte ich einen Aufschrei unterdrücken, als ich auf einem Stein aufkam. Die Treppe! Vorsichtig tastete ich mich die Wendeltreppe hinab. Die Stufen waren feucht und mehrmals drohte ich auszurutschen.

„... teilen uns auf!“

Schwach drang das Echo der Wächter zu mir hinab. Sie hatten also die Abzweigung erreicht. Aber warum teilten sie sich auf und orteten mich nicht einfach? Vielleicht war mir das Glück doch hold und das Funksignal war hier unten gestört. Noch hatte ich einen guten Vorsprung, die Wächter hatten in den engen Gängen sichtlich Schwierigkeiten mit ihrer dicken Uniform. Keuchend erreichte ich die nächste Abzweigung. Ich schlitterte elegant um die Kurve, stieß mich mit meiner linken Hand ab und rannte den nächsten Gang entlang. Ich hatte es bald geschafft. Verdammt, ich konnte es wirklich schaffen!

Ich beschleunigte meine Schritte. Meine Lunge drohte zu zerbersten, doch das war mir egal. Ich konnte es wirklich schaffen. Ich konnte vor diesem kranken System fliehen! Wie musste es wohl sein, einen ganzen Tag nichts zu tun? Ich konnte schlafen, den ganzen Tag! Die Gedanken an meine Zukunft berauschten mich und fast hätte ich glücklich aufgelacht.

Im Tunnel wurde es immer kälter. Tausend Eiskristalle schienen beim Einatmen meine Lunge zu zerschlitzen und mit jedem Atemzug, fiel es ihr schwerer, sich mit der Luft vollzusaugen.

Ich wusste nicht, wie lange ich schon rannte, als meine Hände endlich auf Holz stießen. Das Holz der Tür fühlte sich kalt und nass an. Mit einem kräftigen Stoß, stieß ich sie auf. Ich sprintete durch die Öffnung hindurch, bevor diese wieder schallend ins Schloss fiel.

Ich war mir durchaus bewusst, dass das Geräusch im ganzen Tunnel widerhallen würde, doch die Wächter waren mir sowieso schon auf den Fersen. Warum also Rücksicht nehmen?

Die Decke war in diesem Teil des Tunnels deutlich niedriger gebaut worden als im restlichen Teil. Der Boden war von einem feuchten Film überzogen und immer wieder trat ich in eine kleine Pfütze. Das eisige Wasser fraß sich durch meine Schuhe und langsam verlor ich das Gefühl in meinen Zehen.

Ich hatte die grobe Ahnung, dass es noch klappt 200 Meter bis zum Treppenaufgang sein mussten. Das patschende Geräusch meiner Schritte schien immer lauter zu werden und der Geruch im Tunnel immer intensiver. Umso näher ich der Treppe kam, desto verwester roch es. Der Geruch war so intensiv, dass ich mich zusammenreißen musste nicht aufzustoßen. Mich würde es nicht wundern, wenn ich über einen toten Körper stolpern würde, oder mehrere, dem Geruch nach zu schließen. Was roch hier so bestialisch? Wie viele Lebewesen hatten hier unten schon ihr Leben gelassen. Das Glücksgefühl, welches bis eben meine Seele beherrscht hatte, wich zusehends der Angst. Was war hier unten gestorben? Und noch wichtiger, warum?

Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben. Ich wurde verfolgt! Obendrein nicht von irgendwem, sondern von den Gildesoldaten! Und da machte ich mir Sorgen, ob ich über einen toten Körper stolpere? Wenn sie mich schnappten, würde ich der nächste tote Körper auf dem Boden sein, welcher in dem Tunnel langsam vor sich hin verweste!

Wie weit war es noch bis zu den Stufen? Nicht mehr wie fünfzig Schritte. Ich begann jeden Schritt zu zählen um mich abzulenken. Es war ein schreckliches Gefühl, blind

durch die Dunkelheit zu rennen und dabei noch verfolgt zu werden. Ich hatte Angst, schreckliche Angst. Außerdem wollte ich nicht über die Stufen stolpern, was sich dennoch nicht vermeiden lassen würde. Der eigentliche Grund, warum ich meine Schritte zählte, war wohl, dass ich zumindest ein bisschen Kontrolle über das haben wollte, was soeben passierte. Der Gedanke, dass ich abschätzen konnte, wann die Stufen kamen, beruhigte mich ungemein.

Klack!

Mit einem Rumsen stieß mein linker Fuß gegen etwas Hartes. Eine Welle des Schmerzes Überfluttete meinen Fuß und zum zweiten Mal an diesem Abend unterdrückte ich einen Aufschrei. Doch die Welle des Schmerzes wurde zugleich von Erleichterung verdrängt. Ich hatte die Treppe erreicht! Diesmal vorsichtiger als zuvor, tastete ich mich die zehn Stufen hinauf. Die letzte Stufe lag höher wie ihre Vorgänger, etwa kniehoch. Mit den Händen tastete ich vorsichtig danach und hievte mich hinauf. Erleichtert atmete ich ein. Doch schon im nächsten Moment bereute ich mein Handeln und drückte meine Nase in meine Armbeuge. Der ganze Gang war von so einem intensiven Verwesungsgeruch erfüllt, dass ich würgen musste. Der Geruch stieg von meiner Nase hinauf in meinen Kopf und verursachte ein schmerzhaftes Pochen.

Laut hallten die Schritte der Wächter hinter mir wider. Sie kamen immer näher und holten eschreckend schnell auf. Ich musste weiter.

Es war nicht mehr weit bis zur Luke, bis zur Tür in die Freiheit. Hundert Schritte musste ich noch schaffen. Hundert Schritte trennten mich noch vom Ausgang. Ich hielt mir die Nase zu und zwang mich durch den Mund diese widerliche Luft einzuatmen und weiterzugehen. Bedacht setzte ich jeden Schritt, achtete darauf keine Fehler zu machen, mich nicht zu verzählen. Ich lief langsam, zu langsam. Jeder einzelne Schritt schien doppelt so laut in dem Tunnel widerzuhallen. Jedes Platschen, jeder Tropfen, der von der Decke fiel, ließ mich zusammenzucken. Jetzt auf den letzten Metern, jetzt, wo ich mein Ziel näher als in meinen Träumen war, hatte ich mehr Angst als je zuvor geschnappt zu werden. Zu absurd war der bloße Gedanke, dass ich es geschafft haben könnte zu fliehen. Das war einfach so unreal. Doch was sollte ich eigentlich tun, wenn ich es geschafft hatte? Was, wenn ich entkam? Wo sollte ich hin? Wie sollte es weitergehen?

Ein Geräusch ließ mich zusammenzucken. Unwillkürlich blieb ich stehen. Ich hielt für einen Moment die Luft an. Lauschte. Mein Herz klopfte viel zu laut, so laut, dass die Wächter es sicher schlagen hören konnten. Es müssten zehn oder zwanzig Sekunden vergangen sein, ehe ich es wagte mich zu regen. Ich hatte nichts mehr gehört. Keine Schritte, die sich näherten, keine Atemgeräusche - nichts. Was ich gehört hatte, war sicher nur das Echo meiner eigenen Schritte gewesen. 37 Schritte trennten mich noch vom Ausgang.

Mit einem natürlich lauten Planschen landete ein kleiner Wassertropfen auf meiner Nase. Erschrocken zuckte ich zusammen. Da war es wieder! Das leise Pochen, welches immer näher zu kommen schien. Auf mich zu! Ein weiteres Pochen gesellte sich zu dem ersten. Es dauerte nicht lange, dann schienen diese beiden unisono. Ein leises, bedrohliches Klopfen in der Ferne. Sie hatten mich gefunden! Diese Erkenntnis traf mich so plötzlich, dass ich einen Moment keine Luft bekam. Das Gefühl, das Verlangen mich hinzusetzen und zu weinen, überkam mich einen kurzen Moment, drohte mich zu bewältigen. Wie konnte ich nur jemals glauben ich könnte es schaffen? Mein ganzer Körper begann zu zittern. Ich rannte los und achtete darauf, dass meine Schritte weder zu kurz noch zu klein waren. 64, 65, 66 … Ich war zu langsam. Diese Erkenntnis hing über meinem Kopf, wie eine Regenwolke an einem regnerischen Tag. Wie eine stumme Bedrohung, jederzeit bereit ihre Auswirkung zu zeigen. Meine Atmung ging nur noch stoßweiße, die Angst schnürte mir meine Kehle zu. Das Pochen wurde lauter, es schien den gesamten Tunnel zu erfüllen, von den Wänden widerzuhallen. Ich konnte schon förmlich spüren, wie die Gildesoldaten ihre Hände nach mir ausstreckten, mich schnappten und in eines der Labore des Staatenbundes verfrachteten. Ich würde sterben! Keinen würde es interessieren, keiner würde mich vermissen. Unbekannt. Alleine.

91. Ich hatte es fast geschafft.

92, 93, ich verlangsamte mein Tempo und versuchte dabei meine Schrittlänge nicht zu verändern. Ich konnte sie hören, regelrecht spüren, wie sie immer näherkamen.

98, 99, 100. Ich hatte die Stelle erreicht! Ich blieb stehen, holte tief Luft und streckte mich. Meine Fingerkuppen waren gefroren von der Kälte, welche der Tunnel beherbergte. Ich spürte kaum noch den kalten Stein der Decke. Vorsichtig glitten meine Fingerspitzen darüber. Ich musste mich ein wenig strecken, um besser an die Decke zu gelangen. Die Steine waren kalt und feucht. Es schien, als ob sich kleine Wassertropfen durch die Decke gefressen hatten und diese nun mit ihrer Feuchtigkeit tränkten. Jede Unebenheit, jede Kerbe nahm ich war, doch ich spürte keinen Griff. Die Decke schien keine größere Unebenheit vorzuweisen. Was, wenn ich mich verzählt hatte? Selbst wenn nicht, jeder definiert einen Schritt anders, ich konnte genauso gut zu kleine oder zu große gemacht haben. Frustriert biss ich mir auf die Lippen. Vielleicht hatte ich ja doch etwas übersehen. Konzentriert suchte ich noch einmal die Wand über mir ab. Doch auch diesmal fand ich nichts. Nervös knete ich meine Finger. Ich musste etwas tun, die Zeit lief mir davon.

Ich machte einen Schritt nach vorn, tastete die Decke ab - wieder nichts. Mein Herz schlug immer schneller, mein Puls raste. Meine Hoffnung schwand bei jedem weiteren Schritt, doch ich wollte einfach nicht aufgeben. Wieder glitten meine Hände über die Decke, über die Steine, welche so akkurat aneinandergereiht waren. Plötzlich glitten sie ins Leere. Eine schmale Lücke! Vorsichtig tastete ich mit meinen Händen die Öffnung ab, sie schien groß genug zu sein, um mich durch sie hindurch zu hieven. War das die Falltür? Hoffnung keimte in mir auf. Zwar nur eine zarte, schüchterne Flamme, welche sich noch nicht traute zu leuchten. Ich bewegte mich noch ein Stück nach vorne, sodass ich direkt unter der Lücke stand. Geschickt tasteten meine Hände den Stein ab. Stein. Nichts als Stein. Das konnte doch nicht sein? Hier musste doch der Griff sein! Ein plötzlicher Schmerz durchzog meine Finger, als ich gegen etwas Hartes stieß. Der Griff! Ich ignorierte meine pochenden Finger und griff nach dem alten modrigen Holz.

Das Pochen, die Schritte der Wächter, war schon gespenstig nah und ich rechnete jeden Moment damit von einem Lichtstrahl ihrer Taschenlampe geblendet zu werden. Mit einem kräftigen Ruck zog ich an dem alten Griff. Ächzend löste sich die Tür ein Stück aus ihrer Verankerung. Ich keuchte, die Falltür war schwerer als gedacht! Mit meinem ganzen Gewicht hängte ich mich an die Falltür. Meine Hände schmerzten. Ich nahm noch einmal meine ganze Kraft zusammen und zog. Knarrend löste sich die Tür. Ich sprang ein Stück nach hinten, um die schwankende Tür nicht abzubekommen, und kniff geblendet die Augen zusammen.

Warmes Sonnenlicht fiel durch die Öffnung auf dem Tunnelboden. Das Licht liebkoste meine Haut und legte sich wie ein warmer Schleier über meine Haut, um die Kälte abzuhalten. Es dauerte einen Augenblick, bis sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, zu lange war ich durch die Dunkelheit gerannt. Die Falltür bestand auf der Innenseite aus Holz, in welche in gleichmäßigen Abständen Kerben eingeschlagen waren. Eine Treppe! Ich stellte mich vor die Falltür, streckte mich und ertastete den Boden des Gebäudes über mir. Ich stützte mich ab und stieg auf die erste Stufe. Die Falltür war relativ stabil und schwankte nur ganz leicht, während ich nach oben kletterte, wie eine Blume, die sanft im Wind wiegt.

Carpe noctem

„Nutze die Nacht“

EINS

Es ist schon so eine Sache mit dem Träumen. Jede Nacht schlafen wir und gleiten ohne unsere Kontrolle in die tiefen Ebenen unserer selbst. Keine Kontrolle. Keine Regeln. Fremdgesteuert von unserem Körper.“

Ich saß vor meinem Laptop und starrte den Bildschirm an. Vor Wochen hatte ich mir vorgenommen, endlich an meiner Bachelorarbeit zu schreiben, doch bisher hatte ich mich nie dazu durchringen können. 'Träume und der Einfluss auf den menschlichen Organismus' war zu Beginn eigentlich ein Thema gewesen, für das ich mich interessiert hatte. Dennoch war ich nicht über die Literaturrecherche hinausgekommen. Während meiner Schulzeit hatte ich es genossen, zu schreiben. Auf meinem damaligen Blog konnte ich meine Buchrezensionen kaum kurz genug fassen und führte seitenlange Interviews mit Autoren. Doch seitdem ich mit meinem Studium angefangen hatte, fiel mir das Schreiben zusehends schwer. Nicht gerade vorteilhaft, wenn man Literaturwissenschaften studiert. Lustlos spielte ich mit meiner Maus herum, als plötzlich mein Handy vibrierte. Eine Textnachricht von Henrik, meinem besten Freund.

„Heute um 16 Uhr im Kupferstecher?“

Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Der Kupferstecher ist seit Jahren unser Stammcafé. Schon während der Schulzeit hatten wir dort immer gemeinsam gelernt, wenn uns zu Hause die Decke auf den Kopf fiel. Doch am besten waren die Samstage im Kupferstecher. An diesen Abenden verwandelte sich das heimelige Café in einen kleinen Kellerclub, in dem auch stets die besten Abipartys gefeiert wurden. Henrik und ich wohnten zwar nicht weit voneinander entfernt, doch hier bei uns auf dem Dorf gab es keine Cafés, deshalb zogen wir uns immer in die Kleinstadt zurück. Bis 16 Uhr blieb mir theoretisch noch genug Zeit, um mehr als lediglich den Einleitungssatz auf meinen Laptop zu tippen. Ich stand auf und ging zu meiner grünen Tchibo-Kaffeemaschine, um mir einen doppelten Espresso herauszulassen. Vielleicht kommt mit dem Koffein im Blut auch endlich mein lang ersehnter Motivationsschub. Während die Maschine vor sich hin brummte, antwortete ich Henrik schnell, dass ich um 16 Uhr da sein würde. Bevor ich wieder abgelenkt werden konnte, schaltete ich mein Handy schnell in den Flugmodus. Ich musste mich jetzt wirklich auf meine Arbeit konzentrieren.

Um 16 Uhr betrat ich das kleine Café, und sofort schloss mich der Kupferstecher in eine wohlige Umarmung. Der Duft von Kaffee hatte sich über den kleinen Raum gelegt, und sanftes Stimmengewirr durchwebte die Luft. Die Steinwände des Ladens wurden von verschiedensten Bildern regionaler Künstler geziert, welche allesamt eine verruchte Aura umgab. "Hexenschuppen", hatte meine Mama früher oft zum Kupferstecher gesagt. Obwohl es ein normaler Wochentag war, schien das Café proppenvoll zu sein, und an jedem Tisch stapelten sich Menschen. Ein kleines Lächeln huschte auf meine Lippen, als ich Henrik an einem der hintersten Tische entdeckte. Sein roter Schopf war tief in die Speisekarte versunken, die er betrachtete, als wäre er zum ersten Mal hier. Obwohl wir schon seit Jahren in den Kupferstecher gingen und sich die Speisekarte des kleinen Bistros nie geändert hatte, studierte er sie jedes Mal erneut, nur um sich schlussendlich doch das Gleiche zu bestellen. Ich schlängelte mich durch die engen Tischreihen und grüßte hier und da ein bekanntes Gesicht. Alte Klassenkameraden, Freunde meiner Eltern oder Bekannte aus dem Fitnessstudio. Ebersberg war nicht besonders groß, und so kannte man die meisten Gesichter.

„Hej...“

Ich warf meine Tasche auf einen der Stühle und setzte mich auf den leeren Platz gegenüber von ihm. Seine goldbraunen Augen schauten mich tadelnd an: „Du bist zu spät... mal wieder.“

Ich holte mein Handy heraus und blickte auf das Display.

„Zehn Minuten sind nun wirklich nicht zu spät. Außerdem habe ich keinen Parkplatz gefunden“, nuschelte ich in meinen Schal, während ich meine Jacke auszog. Wir hatten September, dennoch waren die letzten Tage überraschend kalt gewesen, und es wehte ein beißender Wind. Eine Kellnerin trat an unseren Tisch, und wir bestellten das Gleiche wie immer: Cappuccino und Zimtschnecken. Kaum war die Kellnerin verschwunden, spürte ich Henriks forschenden Blick auf mir ruhen.

„Na, hast du geschrieben oder deine ganze Zeit wieder mit Netflix verplempert?“

Erwischt zuckte ich mit den Schultern.

„Ein bisschen, aber irgendwie fehlen mir die Ideen, und alles klingt so langweilig.“

Ich nestelte an meiner fliederfarbenen Serviette herum. Es ärgerte mich, dass ich mit meinem Projekt nicht vorankam. Ich wollte, dass es gut wurde, ich war darauf angewiesen, eine gute Bewertung zu bekommen. Doch bei all meinem Ehrgeiz blockierte ich mich selbst. „Du schreibst über ein theoretisches Phänomen in der Psychologie... Hast du erwartet, dass das so spannend wie eine deiner True-Crime-Shows wird?" Henrik lachte: „Komm schon, Emma, du hast noch Zeit, das wird schon.“

Mein bester Freund, der ewige Optimist, strahlte so viel Zuversicht aus, dass ich ihm einfach glauben wollte. Doch ich kannte mich gut genug, wenn ich nicht bald etwas zu Papier brachte, würde ich den Abgabeschluss verpassen.

Die Kellnerin kam zurück an unseren Tisch und stellte einen Teller mit dampfenden Zimtschnecken vor uns ab. Dankend nahm ich meinen Cappuccino entgegen, während Henrik wie immer Tee trank. Die Schnecken verströmten einen verführerischen Duft, der in die Herbststimmung die sanfte Vorfreude auf Weihnachten streute. Automatisch zog sich mein Magen sehnsüchtig zusammen.

Während wir aßen, erzählte Henrik begeistert von seiner neuen Bastelidee. Er wollte aus seiner Abstellkammer in seiner kleinen Wohnung ein kleines Studio einbauen. Henrik war nicht der typische BWL-Student. Er arbeitete nebenher in einer Zimmerei im Dorf und spielte Gitarre. Insgeheim wollte er ein eigenes Album herausbringen und der Finanzwelt den Rücken kehren. Doch egal wie sehr ich ihn dazu ermutigte, zumindest kleine Gigs zu spielen, er glaubte immer, seine Musik sei nicht gut genug. Doch ich liebte sie. Und ich konnte ihm und seiner Gitarre stundenlang zuhören.

Henrik trommelte nervös mit seinen Fingern auf den Tisch.

„Also, möchtest du jetzt von meinem Date gestern hören, oder interessiert dich das nicht?“

„Klar will ich Henrik! Jetzt schieß schon los.“

Henrik erzählte wie er Theo abgeholt hatte und anschließend am See spazieren waren. Abends hatten sie sich noch eine Komödie im Kino angeschaut und sich dann verabschiedet.

„Warte, um das ganze nochmal zu sagen: ihr habt den ganzen Tag miteinander geredet, beide ein bisschen zu viel getrunken, und dann habt ihr euch zum Abschied die Hand gegeben? Ernsthaft?“, fragte ich Henrik ungläubig. Henrik nickt und scheint nicht halb so verunsichert, wie er es sein könnte.

„Du bist unglaublich... ihr Datet euch seit einem halben Jahr und immer noch kein erster Kuss! Das war... du und Theo, das ist…du bist der Geduldigste Mensch den ich kenne.“

„Wir sehen uns am Wochenende schon wieder. Übermorgen, um genau zu sein. Das ist doch sehr bald und wer weiß was da passiert. Da braucht man doch keine Geduld“, erwidert Henry. Wenn man bedenkt, dass das letzte Date knapp eine Woche zurückliegt, ist es immer noch eine relativ zeitnahe Verabredung, die Henrik und Theo getroffen haben. Zumindest, wenn man ihre bisherigen Begegnungen in Betracht zieht.

Ich stöhnte: „Henrik, wenn du diese Verabredung absagst oder verschiebst, dann Gnade dir Gott. Ihr tretet seit Monaten auf der Stelle.“ Ein kleines lächeln huschte über die Lippen meines Freundes und er nahm einen Schluck von diesem widerlichen Brennesel-Zimt-Tee, den es nur in im Kupferstecher gab.

„Wie war die Geburtstagsfeier?“

„Was?“, fragte ich überrascht und schaute auf.

„Naja wieder so richtig aus zu gehen und dann auch noch auf eine Feier wo auch dein Ex ist? Du hast noch nichts erzählt. Ich dachte, du würdest mir gleich erzählen, wie schrecklich es war ihm auszuweichen. Oder dass du Finn am Ende doch nicht erfolgreich ausgewichen bist?“

Der Geburtstag von Julie, einer guten Freundin und Kommilitonin von mir war letzten Samstag gewesen. Eine kleine Feier in ihrem Strandhaus an der Ostsee. Es hätte ein schöner Abend werden können, wenn ich nicht krampfhaft versucht hätte zu übersehen, dass mein Ex nur ein paar Monate nach unserer Trennung schon mit einer neuen rumknutschte. Und das auch noch in der Öffentlichkeit. Doch darüber wollte ich mir jetzt nicht auch noch den Kopf zerbrechen.

„Oh, doch, ich konnte ihm ausweichen.“ Es ist verräterisch und dient hauptsächlich dazu einen Moment nicht über meinen Ex zu reden, aber ich konnte das Bedürfnis nicht unterdrücken, in eine der Zimtschnecken zu beißen, die seit einer halben Stunde vor uns stehen.

„Und ich habe auch jemand netten Kennengelernt.“ Nuschelte ich knapp vor mich hin und beißt direkt wieder in das Gebäckstück in meiner Hand. Zwecklos. Henrik durchschaut das Ablenkungsmanöver sofort. Er kennt mich zu gut.

„Habe ich mich verhört, oder hast du gerade gesagt, dass du jemanden kennengelernt hast?“

Ich gab auf. Schnell schluckte ich das letzte Stück Zimtschnecke hinunter, trank einen Schluck Cappuccino und stellte mich den verhör.

„Nein, du hast dich nicht verhört. Er ist mir nicht auf die Füße getreten und hat mich auch nicht hängen lassen. Ein ganz toller Mensch.“ Henriks Augenbrauen sind ein Stück in Richtung seines Haaransatzes gewandert. Das ist so eine mimische Eigenheit, die er sich in frühester Kindheit irgendwo abgeschaut haben musste. Und die mich immer wieder aus der Fassung brachte.

„Er heißt Sven.“

„Du bist nervös.“

„Ich bin nicht nervös.“

„Doch, du bist nervös. Du wackelst mit deinem Bein. Der ganze Tisch vibriert.“ Sofort stellte ich die unkontrollierte Bewegung ein, Ich hatte nicht einmal bemerkt das ich mein Bein bewege.

„Das machst du nur, wenn du gestresst bist. Und seit wann stresse ich dich?“

„Wer fragt jetzt wen aus? Das waren mindestens zwei Fragen auf einmal, Herr Kommissar.“

„Das war nur eine Beobachtung, Emma.“

„Ja na gut, dann bin ich eben gestresst. Dann stresst es mich eben, über meinen Ex und Sven zu sprechen. Na und?“

Henrik schwieg. Das ist seine absolute Spezialität. Im Gegensatz zu mir hat er nämlich überhaupt kein Problem damit, einfach mal einige Minuten nichts zu sagen. Das sind für ihn normale, tragbare Unterbrechungen des Redeflusses. Er kann das ertragen – und er weiß genau, dass sie immer zuerst den Mund aufmachen wird. Geduldig wartet er darauf, dass ich weiterrede – und es klappt jedes Mal. „Er hat meinen BH.“

„Er hat deinen BH?“

„Ja.“ Ich klang viel kleinlauter als ich beabsichtigt hatte. Henrik starrte mich grinsend an. Natürlich. Das klang jetzt ja auch ganz falsch. „Nicht, was du jetzt denkst. Wir haben irgendwann aufgehört zu tanzen und sind ein bisschen durch den Garten gelaufen. Ich habe doch die kleine Schnittwunde unterhalb meiner Brust und überhaupt war der BH nicht so bequem. Im Garten war es richtig düster, deshalb hab ich dort beschlossen den BH schnell auszuziehen. Danach sind wir wieder weggegangen, wir haben so eine Bank hinten im Garten entdeckt. Na ja, und da habe ich eben meinen BH vergessen, weil Julie mich gesucht und uns dort gefunden hatte. Sie hat mich dann mitgeschleift und Sven und mein BH sind alleine zurückgeblieben.“ Das ist die halbe Wahrheit. Vielleicht sind das sogar drei Viertel der Wahrheit. Aber ich muss ja nicht unbedingt erwähnen, dass ich nur so schnell von Sven wegwollte, weil ich ihn geküsst habe – und absolut nicht wissen will, was nach einem solchen irrationalen und bescheuerten Akt passiert. „Zuhause habe ich natürlich bemerkt, dass ich ihn vergessen habe und am nächsten Morgen hat Sven mir geschrieben.“

„Er hat dir also geschrieben, dass er deinen BH hat.“

„Ja.“, und vielleicht das er den Inhalt vermisst, aber auch das brauchte Henrik nicht wissen. Auf Henriks Gesicht breitete sich ein grinsen aus. „Wie wollen Sie, Frau Kommissarin den Täter überführen?“

„Ich werde wohl heute Abend noch bei ihm vorbeigehen.“ Und hoffen, dass er nicht alleine wohnt, sondern einen Mitbewohner hat. Einen aufmerksamen Bewohner, der mich sofort wieder nach Hause schicken würde.

„Was gibt es da eigentlich zu grinsen? So lustig ist das nun auch nicht.“

„Du hast ihn geküsst oder?“

„Ihm Gegensatz zu dir küsse ich Männer.“

„Vorfreude ist die schönste Freude.“

„Oh bitte, jetzt sei mal nicht so kleinlich.“ Ohne das Grinsen einzustellen, greift Henrik nach einer Zimtschnecke. Damit war das Thema wohl vom Tisch.

„Wir können uns ja nächste Woche den Transporter von meinem Chef aus leihen und dann zum...“ Plötzlich veränderte sich etwas in dem kleinen Café. „Wir können uns ja nächste Woche den Transporter von meinem Chef ausleihen und dann mal wieder an die Ostsee fahren?", schlug Henrik vor und legte sein Handy auf den Tisch. Schnell tippte er etwas auf den Bildschirm, eher er es zu mir umdrehte. Ich beugte mich nach vorne um die Anzeige des Ferienhauses besser lesen zu können, als die Lampen plötzlich aufflackerten und kurz erloschen, ehe sie wieder erstrahlten. Etwas veränderte sich in dem kleinen Kaffee. Auf einmal zog eine Kälte an meinen Füßen auf und stieg langsam nach oben. Es fühlte sich an, als würde sie an meinen Beinen meinen Körper nach oben kriechen. Ich schaute Henrik an, ob er etwas bemerkte, doch er sprach munter weiter. „...zurzeit gute Angebote. „Du hast ja glaub noch frei, dann könnten..."

Wie in Trance stand auf. Der Schaum auf meinem Cappuccino schien sich zu einer bösen Fratze zu verzerren. Ich wusste nicht, was mit meinem Körper geschah. Warum war ich aufgestanden? Ich konnte es nicht sagen. Henriks erschrockener Blick traf mich.

„Ehm Emma, alles okay bei dir? Du siehst so blass aus."

Ich spürte, wie mein Kopf sich hob und Henrik direkt in seine goldenen Augen blickte, doch ich hatte nicht das Gefühl, als würde ich Ihn ansehen. Ohne mein Zutun, kam Leben in meine Beine. Ungeschickt drehte sich mein Körper um und bewegte sich von dem kleinen Tisch weg.

„Nein, nein, nein.“, dachte ich. „Ich will nicht gehen, ich will zurück zu Henrik, zurück und meinen Kaffee trinken.“ Doch mein Körper schien mich nicht zu beachten. Ich steuerte meine Bewegungen nicht, mein Körper schien gegen mich zu arbeiten, mich nicht wahrzunehmen. Wie Wild trommelte mein Herz gegen meinen Brustkorb, pumpte heißes Blut durch meine Venen. Langsam spürte ich Panik in mir hochkriechen, schlängelte sich durch meinen Körper wie eine Schlange. Fühlte es sich so an zu schlafwandeln? Vielleicht war ich ja kurz eingeschlafen, ohne es zu merken? Oder ich träumte noch! Es war als wäre ich für eine Sekunde nicht anwesend gewesen, denn ohne es zu bemerken hatte ich einige Schritte weg von unserem kleinen Tisch gemacht. Ich versuchte meinen Kopf zu drehen, doch mein Körper reagierte nicht. Ich bewegte mich, ging mit schnellen Schritten und starrte starr gerade aus. Kein Blinzeln.

Mein Körper hatte die Tür des kleinen Cafés erreicht. Ich sah entsetzt dabei zu wie meine Hand sich langsam nach dem hölzernen Türknauf ausstreckte und Ihn runterdrückte. Erleichterung durchflutete mich als ich das kalte Holz berührte. Ich konnte noch spüren. War das ein gutes Zeichen?

Ehe ich weiter nachdenken konnte, schlug die Tür hinter mir ins Schloss. Ein kalter Wind schlug mir entgegen und zerrte beißend an meinem dünnen Kleid. Meine Jacke hing noch immer über den Stuhl bei Henrik. Doch mein Körper schien die Kälte nicht zu interessieren, ignorierte die Gänsehaut auf meinen Armen. Ungeschickt bahnte er sich seinen Weg durch die vollgestopften Gassen und patschte durch Pfützen. Der kalte Regen lief mir in Rinnsalen mein Gesicht hinab. Doch ich konnte weder blinzeln, noch meine Hand heben, um mir meine nassen Haare aus dem Gesicht zu streichen. Was geschah mit mir? Wo wollte ich hin?

Ich bog in eine dunkle Gasse ab. Wo waren wir hier? Ich kannte Ebersberg, doch wir waren schon lange nicht mehr in den guten Wohngegenden. Noch nie zuvor war ich in diesem Viertel gewesen. Wo zur Hölle wollte ich denn hin? Ich musste jemanden auf mich aufmerksam machen. Sah den keiner, dass mit mir etwas nicht stimmte?

Trotz der Straßenlaternen war es dunkel in der kleinen Gasse. Das Licht schien über mir zu drohnen, zu fern, um mich zu erreichen. Dunkle Tropfen spiegelten sich in dem schwachen Licht. Tosend pfiff der Wind durch den schmalen Gang, ein bedrohliches Flüstern in der Nacht. Ich schien eine schmale Straße entlangzugehen, die nicht für den öffentlichen Verkehr freigegeben war. Sie führte zwischen alten Backsteinbauten entlang, deren Wände die Straße begrenzten. Die Fenster und Straße waren mit schweren Brätern zugenagelt und verbargen jeden Blick auf mich. Alles in mir sträubte sich weiterzugehen. Doch ich schien jede Kontrolle über meinen Körper verloren zu haben. Nie im Leben würde ich freiwillig in so eine Gasse gehen. So sahen Orte aus, an denen die Polizei verweste Leichen fand. An denen Autoren über grausame Morde und die Rückzugsorte von Mördern schrieben.

Je weiter ich durch die Gasse ging, desto stärker roch es nach abgestandenem Wasser und weniger nach Abgasen. Ich entfernte mich immer weiter vom belebten Herzen der kleinen Stadt und schon bald wehte der Wind nicht mal mehr Stimmfetzen zu mir herüber. Wie schwarze Schatten zogen die Wände der Fabrikgebäude an mir vorbei, mein Blick war starr auf eine aschgraue Tür gerichtet, die am Ende der finsteren Gasse lag. Die Welt schien still zu stehen, alles war aus meinem Fokus verschwunden. Alles außer dieser Tür. Ich hörte nichts, ich roch nichts. Ich spürte lediglich diese fremde Kraft, die meinen Körper immer weiter vorwärtstrieb. Und Angst. Sie wuchs immer weiter in mir, kroch meine Beine empor und schien sich um mein Herz zu schlingen, doch selbst sie konnte mich nicht lähmen. Ich sah, wie meine Hand sich langsam nach dem Türgriff ausstreckte. ihn erfasste und geräuschlos die Tür aufstieß. Vor mir lag nichts außer Dunkelheit. Doch mein Körper schien zu wissen, wo er hinmusste. Ehe ich mich versah, erklomm mein Körper die erste Stufe. Die Treppen waren aus Metall und immer wieder rutschten meine nassen Schuhe ab. Reflexartig wollte ich nach dem Geländer greifen, doch mein Körper ließ das nicht zu. Im Gegenteil, als würde er befürchten, ich könnte ihn von seinem Weg abbringen, beschleunigte ich meine Schritte. Ich erreichte den Treppenabsatz, vor mir eine weitere Tür. Ohne zu zögern zog mein Körper diese auf. Kalte Nachtluft schlug mir entgegen. Wir hatten die Dachterrasse des Gebäudes erreicht. Doch das war meinem Körper nicht genug. „Nein!" Schrie ich aus vollem Hals, doch die Worte verließen nicht meine Lippen. Mit all meiner Kraft versuchte ich gegen meinen Körper anzukämpfen. Versuchte jeden Schritt aufzuhalten. Plötzlich schien es um mich herum heller zu werden. Ein leichtes Glimmen erfüllte die Luft, tauchte die Nacht in ein sanftes Hellblau. Doch ich hatte keine Zeit, mich darauf zu konzentrieren. Ich musste mich aufhalten. Noch immer setzte ich einen Schritt vor den anderen. Kam näher an die Brüstung. Immer näher an den Abgrund. Wollte ich mich runterstürzen?

Das durfte ich nicht zu lassen. Was ist mit meinen Eltern? Meine Familie und Freunden?

„Hör auf! Bleib stehen!" Ich schrie mich selbst an, sagte die Worte immer und immer wieder. Nur am Rande nahm ich war, dass das Glimmen immer heller wurde. Tatsächlich schienen meine Schritte sich zu verlangsamen. Die Schrittfolge verlängerte sich, schien schwerfälliger zu werden. Doch ich ging immer noch weiter. Ich hatte bald den Abgang erreicht. Doch ich konnte nicht aufhören. Konnte mich nicht stoppen.

Plötzlich durchzog ein Ruck meinen Körper, wie ein einziger starker Stromschlag. Wie versteinert blieb mein Körper stehen.

Ich stand am Rand der Brüstung. Unter mir erstreckte sich der kalte Asphalt. Die Laternen warfen gespenstige Schatten auf den Boden. Es war vollkommen still um mich herum, in dem kleinen Industriegebiet knarzten nur die Baukräne im beizenden Wind. Im spürte die kalte Brüstung, die ich mit meinen Händen umklammert hielt. Durch meinen Körper ging ein Ruck und ich spürte, wie mein Bein sich langsam auf die Brüstung legte. Meine Hände drückten sich ab und mein Körper schob sich nach oben. Ich wollte über die Brüstung klettern, oder viel mehr mein Körper. Ich versuchte gegen den Drang anzukämpfen, jede Faser meines Körpers kämpfte. Doch das schien meinen Körper nicht zu interessieren. Zielsicher kletterte ich über die Brüstung, jeder tritt saß und ich rutschte nicht einmal von dem nassen Metall ab. Dann stand ich hinter ihr und vor mir erstreckte sich der Abgrund. Locker hielten sich meine Hände am nassen Geländer fest, ich wollte klammern, doch meine Finger rührten sich keinen Zentimeter. Ich spürte, wie mein Kopf sich auf die Brust legte und in die Tiefe blickte. Von hier sah es schrecklich weit bis zum Boden aus. Und plötzlich wusste ich, warum ich hier stand, warum meine Hände sich nicht an das Geländer klammerten, sondern sich nur locker festhielten. Ich würde springen! Panik schwappte in mir auf und da war wieder dieses Gefühl. Kälte kroch meine Füße hinauf und ich hatte das Gefühl, von ihr eingeschlossen zu werden. Ein eiskaltes Lachen erfüllte meinen Kopf. Ich schrie, doch kein Ton kam heraus. Wie konnte ich ein Lachen hören, ein Lachen, welches nicht zu mir gehörte und nur in meinem Kopf erklang. Schlagartig ging wieder ein Ruck durch meinen Körper. Quälend langsam löste sich mein kleiner Finger von der Brüstung. Ich sah nach unten. Ich konnte nichts machen, ich konnte nicht gegen meinen Körper ankämpfen. Ich war wie ein willenloses Opfer, das keinen Einfluss auf ihren Peiniger nehmen konnte. Ich wusste, dass ich springen würde. Es war wie kurz vor einer Ohnmacht, wenn man spürt, wie die Übelkeit in einem emporklimmt. Doch egal wie schlecht dir wird, du weißt, dass du dich nicht übergeben wirst. Die Übelkeit ist nur ein Vorbote auf das, was dich erwarten wird: Schwärze. Mein Körper würde springen und ich konnte ihn nicht aufhalten. Ich konnte nur hoffen. Vielleicht hatte ich Glück und würde mir nur meine Beine brechen? Bestenfalls. Doch von der Höhe war es wahrscheinlicher, dass ich meine Augen nie wieder öffnen würde. Die Schwärze würde mich einnehmen. Wir waren im fünften Stock, dass konnte ich nicht überleben. Und wenn, würde ich wohl bewusstlos in einem Krankenbett enden. Meine Hände hatten sich komplett gelöst. Freihändig stand ich auf dem kleinen Sims. Plötzlich setzte sich mein Körper in Bewegung, machte einen kleinen Schritt nach vorne. Staub rieselte auf die Straße hinab. Niemand war da. Niemand, der mich hätte aufhalten können. Ich war alleine. Morgen würde irgendjemand auf dem Weg zur Arbeit meine Leiche finden. Alle würden denken, ich wäre einer dieser junky Teenager gewesen, die sich im Rausch in die Tiefe gestürzt hatte. Niemand würde je erfahren, dass irgendetwas die Beherrschung über meinen Körper übernommen hatte. Das ich keine Wahl hatte! Niemals hätte ich das gewollt. Doch wer schenkte einer Toten schon Glauben?

Noch ein Schritt und ich würde in den Tod stürzen. Ich konnte nicht klar denken. Ob es wohl wie in den Filmen war? Das dass Leben an einem vorbeizieht, bis man auf dem harten Asphalt aufkommt? Dann hob sich mein linkes Bein und schob sich nach vorne, Ich versuchte mein Gleichgewicht nach hinten zu verlagern, doch mein Körper hörte nicht auf mich. Ich spürte das nichts unter mir. Mein Oberkörper lehnte sich nach vorne. Ich konnte nicht einmal die Augen schließen. Und dann viel ich.

Plötzlich packte mich etwas am rechten Oberarm. Ein Knacksen ertönte, gefolgt von einem brennenden Schmerz. Tränen schossen mir in die Augen. Erschrocken wollte ich nach oben Blicken, doch mein Körper hing steif an meinem Oberarm hinab. Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Arm wie tausende Nadelstiche. Sterne erschienen vor meinem inneren Auge. Ließen mein Blickfeld verschwammen. Ich wünschte mir nichts Sehnlicher, als das endlich aufhörte. Starr blickte ich gerade aus in die Dunkelheit, fast als wäre mein Körper erbost, dass er noch immer lebte und nicht schon Tod auf dem kalten Asphalt lag.

„Bitte...", flüsterte ich immer wieder in meinem Kopf: „Rette mich."

Mit einem Ruck wurde ich nach oben gezogen, als hätte mein Retter meine Gebete erhört. Schlaff hing mein Körper über der Brüstung, als mich sanfte Hände auf den kalten Boden legten. Kaum berührte mein Körper den Boden, durchfuhr mich ein Zucken. Ich keuchte auf und setzte mich ruckartig auf. Panisch schnappte ich immer wieder nach Luft und presste meine Hände gegen die Brust. Ich konnte mich wieder bewegen! Ich hatte die Kontrolle über meinen Körper wiedergewonnen. Dicke Tränen kullerten über meine Wangen und ich bebte vor Schluchzern.

„Hey, jetzt ist alles gut!" Ich spürte einen Arm um meine Schulter und eine freundliche weibliche Stimme sprach auf mich ein. Ich schaute auf und blickte in die Augen meines Retters. Ein Stück von mir entfernt stand ein junger Mann. Er war groß und ganz in dunkel gekleidet, schwarzes Haar wehte ihm leicht ins Gesicht und umspielten hohe Wangenknochen. Seine blauen Augen musterten mich interessiert.

„Das war ganz schön knapp, Laiko.!", murmelte er, ehe er sanft über die Schneide seines Messers strich und es in seine Jackentasche steckte.

„Wer seid ihr?", keuchte ich, immer noch nach Luft schnappend. „Was ist mit mir passiert?" Ich wand meinen Kopf zu der Frau, welche noch immer einen Arm beruhigend um mich gelegt hatte. Sie hatte eisblonde Haare und feine Gesichtszüge. Auch sie erinnerte mich auf bizarre Weise an einen Engel. Was wahrscheinlich daran lag, dass die beiden mich gerettet hatten. Sie war, ebenso wie der Mann, in dunkle Ledersachen gehüllt. „Nicht hier..." setzte sie an, doch wurde von dem Dunkelhaarigen unterbrochen. „Ein Daimon hat dich besessen und wollte deinen Tod.“, sagte er belanglos und blickte an mir vorbei. „Was...?" Ich hatte kein Wort verstanden und starrte den Dunkelhaarigen ungläubig an. Vielleicht lag es an dem was mir gerade passiert war, oder daran, dass jeder Muskel in meinem Körper schmerzte, doch ich konnte seinen Worten nicht folgen. Ich war wie betäubt. Meine Gedanken rasten, versuchten krampfhaft eine Erklärung zu finden, doch das konnten sie nicht.

„Dray!" zischte die Frau böse und funkelte ihn an. Plötzlich ertönten Schritte hinter uns und die Tür zum Turm wurde aufgestoßen. „Emma! Oh Gott zum Glück geht’s dir gut!" Ich drehte mich um. Henrik kam auf mich zu gerannt und schloss mich in seine Arme. Selten war ich so froh gewesen, meinen Freund zu sehen. Ich klammerte mich an seinem Hemd fest und musste schluchzen: „Henrik ich weiß nicht…“, versuchte ich zwischen Schluchzern hervorzubringen, doch Henrik strich mir beruhigend über den Kopf. „Jetzt ist alles gut, du bist in Sicherheit!" Erneut ertönten Schritte auf der Treppe und mit einem Schlag ging die Tür auf. „Sorry Leute, er ließ sich nicht aufhalten." Über Henriks Schulter erkannte ich einen muskulösen Mann, der wie die anderen Beiden um die Zwanzig zu sein schien. Er hatte dunkle Locken und erinnerte mich an Jet aus High-School Musical. Erschrocken stellte ich fest, dass in seiner Hand ein langes Schwert ruhte.

„Wer sind diese Leute?" flüsterte ich ängstlich in Henriks Ohr. Sie hatten mich zwar gerettet, aber ihr bizarrer Eindruck verunsicherte mich. Die junge Frau war mittlerweile aufgestanden und hatte sich zwischen die beiden Männer gestellt. Sie waren alle dunkel gekleidet und trugen schwere Boots. Ihre Gesichter waren von Kapuzen teilweise bedeckt, sodass man ihre Züge nicht genau deuten konnte. Doch was mich am meisten verunsichert war, war, dass sie mit mittelalterlichen Waffen bewaffnet waren. Sie alle trugen Schwerter oder Schusswaffen bei sich, die ich nur aus Serien kannte. War das Cosplays?

„Keine Ahnung, doch wer weiß, was ohne sie passiert wäre." antwortete Henrik. Die Sorge um mich war ihm tief ins Gesicht geschrieben. Wirr hingen im einzelnen Strähnen im Gesicht herum und auf seiner Stirn hatte ich eine tiefe Falte gebildet. "Ich habe versucht dich einzuholen, doch du warst so schnell weg. Ich habe erst gar nicht gecheckt, dass du gegangen bist! Verdammt, ich dachte, dir ist schlecht und du musst aufs Klo oder so!" Was sollte ich darauf sagen? Ich atmete tief ein, versuchte meine Gedanken zuordnen.

„Warum zur Hölle wolltest du springen, Emma!", fuhr mein Freund mich plötzlich an. Ich fuhr unwillkürlich zusammen und löste mich aus seiner Umarmung. „Ich… ich wollte nicht springen! „Irgendwie hat mein Körper das alles von selbst gemacht und ich konnte nicht..." „Sie gehört erstmal untersucht, bevor du dein Verhör startest!" fuhr der Dunkelhaarige, die Frau hatte ihn Dray genannt, dazwischen. „Ich habe Ihre Schulter nicht gerade sanft angepackt, wir lassen unseren Arzt drüber schauen." Henrik drehte sich um und musterte die drei mit zusammengekniffenen Augen. „Euren Arzt? Warum sollte sie mit euch mitkommen? Wir können euch nicht mal!" fuhr Henrik die Drei böse an. "Ich mein klar, danke, dass ihr sie gerettet habt. Das war echt spitze von euch! Aber wir sollten sie in ein Krankenhaus bringen," er schaute mich liebevoll an: "Ich mache mir echt große Sorgen um dich. Wir gehen ins Krankenhaus und lassen dich durchchecken und dann rufe ich deine Eltern an, okay?" „Sie kommt mit uns, weil wir ihr helfen können." erwiderte Dray trocken und strich sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht. „Sie geht