Nina und Walentina - Monika Theil - E-Book

Nina und Walentina E-Book

Monika Theil

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Beschreibung

Russland 1943: Ein kleines Mädchen an der Hand seiner Mutter. Sie laufen den Soldaten geradewegs in die Arme. Man verfrachtet sie in ein Auto und bringt sie zum Bahnhof. Von dort geht es mit dem Zug nach Deutschland. In das Zwangsarbeiterlager einer Rüstungsfirma. Fünf Tage nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion hatte Nina ihre Tochter Walentina zur Welt gebracht. Als man die beiden ins Deutsche Reich verschleppte, war das kleine Mädchen zwei Jahre alt. Nach dem Ende des Krieges 1945 kehrten sie nach Russland zurück und das Kind konnte sich in Frieden entfalten. Heute ist Walentina 82 Jahre alt und betrachtet ihr langes Leben mit dem schwierigen Start. Vieles von dem, was aus ihrer Kindheit in Deutschland berichtet wird, wusste sie nicht. Ihre Mutter sprach nicht gern über die Vergangenheit und sie selbst war damals noch zu klein. Die Autorin nimmt sich ihrer Geschichte an und erforscht die konkreten Erlebnisse und deren Hintergründe während der deutschen Besetzung der Sowjetunion und während der Zeit der Zwangsarbeit in Deutschland. Damit eröffnet sie eine Möglichkeit, ein unerfreuliches Kapitel in der gemeinsamen Geschichte Russlands und Deutschlands besser zu verstehen.

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INHALTSVERZEICHNIS

V

ORWORT

Aufbau der Biografie

Forschungsmethode

Quellen

Kommunikation

E

RSTES

B

UCH

: I

M

K

RIEG

Erster Teil 1941 – 1943: Krieg gegen die Sowjetunion

1. Unternehmen Barbarossa

Die Rote Armee in den Augen der Wehrmacht

Propagandalüge

Überfall

Heeresgruppe Nord

2. Ninas und Walentinas Heimat

Hinterland von Leningrad

Walentinas Familie

Walentinas Geburt

3. Beginn des Krieges im Umland von Gdov

Eroberung von Gdov

Leningrad im Sommer 1941

Armeegebiet der 18. Armee

Rückwärtiges Heeresgebiet

Besatzung im rückwärtigen Heeresgebiet

4. Leben unter deutscher Besatzung

Kooperation der Bevölkerung

Ziviler Arbeitseinsatz

Plünderungen

Vertreibungen

Hungerpolitik

Zwangsarbeit

Partisanen

5. Die Familien in Uschowo und Lugi

Nina

Semjon und seine Brüder

Opa Iwan

Oma Elena

6. Zuspitzung der Kriegslage Ende 1943

Politik der verbrannten Erde

Exodus

7. Situation im Umland von Gdov

Zuständigkeiten

Gefahrenzone im Raum Dobrutschi

Nina und Walentina auf Wanderschaft

Gefahrenzone östlich von Gdov

Brand in Lugi

Gefangennahme

Zurückgebliebene

Zweiter Teil 1943 - 1945: Zwangsarbeit in Deutschland

1. Sowjetische Zivilarbeiter 1941/42

Arbeitskräftemangel

Rassistische Stufenleiter

Entscheidung für den Russeneinsatz

Rekrutierungen in Russland

Maßnahmen zur Disziplinierung

Unterbringung in den Lagern

Bekleidung

Arbeitsbedingungen

Entlohnung

Ernährung

2. Ideologischer Umschwung im Sommer 1942

Handlungsbedarf

Widersprüche innerhalb des Regimes

Neues Entlohnungssystem

Russische Frauen

3. Nina und Walentina in Deutschland

Dachau

Außenlager Burgau

Leipheim

Ninas Arbeitskarte

Datum der Ankunft

4. Firma Messerschmitt

Flugzeugbau

Standorte

Fliegerhorst Leipheim

5. Wohnen auf dem Fliegerhorst

Deutsche Mitarbeiter

Kleines Ukrainerlager

Großes Russenlager

Bauweise der Baracken

Ausstattung der Baracken

6. Unterhaltungsabend

Einladungsschreiben

Zuschauer

Veranstaltung

7. Alltag im Zwangsarbeiterlager

Ninas Arbeitsplatz

Kinder im Zwangsarbeiterlager

Hunger

8. Fliegerhorst als militärisches Angriffsziel

Unter Beobachtung

Bombenangriffe

Fehlender Schutz

Folgen für Nina und Walentina

9. Befreiung

Amerikanische Bodentruppen

Verbleib der Zwangsarbeiter

Letzte Kriegstage

Befreiung

Neue Nutzung des Fliegerhorstes

Frage der Rückkehr

Heimfahrt

Z

WEITES

B

UCH

: N

ACH DEM

K

RIEG

1. Walentinas Kindheit in Russland

1945 – Wiedersehen

1945 – Verhör

1945 – Tschernjewa

1948 – Grundschule

1952 – Weiterführende Schule

2. Lehr- und Wanderjahre

1955 – Zeit der Ausbildung

1959 – Arthur

1961 – Umzüge

1963 – Oleg

3. Studentin

1965 - Studium der Biochemie

1970 – Semjon

1974 – Doktorandin

4. Aufarbeitung der Vergangenheit

1989 – Rehabilitierung des Großvaters

1989 – Vergangenheitsbewältigung in Deutschland

1993 – Museum für die Opfer des Faschismus

5. Familienleben

1991 – Walentina wird Oma

1993 - Pensionierung

1993 - Ninas Tod

2011 - Goldene Hochzeit

2013 - Olegs Tod

2014 – Arthurs Tod

2023 – Walentina heute

L

ITERATURVERZEICHNIS

VORWORT

Ich lerne Walentina im Sommer 2021 kennen. Eigentlich bin ich in Russland auf den Spuren meines Vaters unterwegs. Aber dann läuft mir Walentina über den Weg und mit ihr die Geschichte der russischen Zwangsarbeiter in Deutschland. Ich mag die alte Dame sofort, auch ohne Worte, denn meine Russischkenntnisse stecken noch in den Kinderschuhen. An eine freie Unterhaltung ist nicht zu denken.

Aber Katja ist dabei. Sie betreut eine Gruppe von betagten Menschen, die zusammen mit ihren Eltern während des Zweiten Weltkriegs von der Wehrmacht nach Deutschland verschleppt worden waren. Damals waren sie noch Kinder oder Jugendliche gewesen, und den Deutschen ging es nicht um sie, sondern um die Arbeitskraft ihrer Eltern. Heute sind die Eltern längst verstorben, und die Kinder von damals sind alle über achtzig Jahre alt. Sie haben Erinnerungen, eigene und überlieferte. Sie treffen sich ab und zu und halten ihre Geschichte lebendig. Katja, die Unermüdliche, kümmert sich um alles Notwendige. Sie ist mit Deutschland eng verbunden, kennt sich gut aus in deutscher Geschichte und deutscher Kultur und spricht hervorragend unsere Sprache. Sie baut für mich die nötigen Brücken.

Walentina lebt in Petrosawodsk. Die Stadt liegt in Karelien, etwa 400 Kilometer nördlich von Sankt Petersburg. Walentina ist 82 Jahre alt, geboren im Sommer 1941, wenige Tage nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Sie war gerade einmal zwei Jahre alt, als sie und ihre Mutter Nina ins Deutsche Reich transportiert wurden. Walentina erzählt mir von ihrer Mutter, von der Firma Messerschmitt bei Augsburg und vom Hunger. Sie zeigt Dokumente und Bilder. Einige undeutliche Erinnerungen hat sie in ihrem Gedächtnis aufbewahrt. Was sie darüber hinaus von dieser Zeit weiß, hat sie von ihrer Mutter erzählt bekommen.

Ich fange bald Feuer und biete an, für sie in Deutschland zu recherchieren. Diese Geschichte möchte ich aufschreiben. Sie ist einverstanden und freut sich. „Es ist mein Leben“, sagt sie. „Man sollte darüber Bescheid wissen.“1 Das ist der Anfang zu diesem Buch. Dann beginnen für mich die Herausforderungen.

AUFBAU DER BIOGRAFIE

Wie soll ich die Biografie gliedern? Ich entscheide mich für eine Dreiteilung. Der erste Teil umfasst die ersten beiden Lebensjahre von Walentina in ihrer russischen Heimat. Der zweite Teil beschäftigt sich mit ihrem dritten und vierten Lebensjahr im Zwangsarbeiterlager in Deutschland. Und der dritte Teil umspannt den ganzen langen Rest ihres Lebens bis heute.

FORSCHUNGSMETHODE

Wie soll ich eine Biografie schreiben über die ersten vier Lebensjahre eines Kindes, das sich an diese Zeit kaum erinnert, weil es zu klein war und dessen Mutter es vorzog, über das Erlebte zu schweigen, weil das Denken daran ihr nicht guttat und sie quälte? Ich versuche es auf folgende Weise: Der lebendige Kern der Biografie besteht aus den spärlichen Erinnerungsschnipseln. Sie sind oft undeutlich und nicht immer stringent. Es sind unzuverlässige Boten aus einer längst vergangenen Zeit, die sich möglicherweise verwandelt haben und vielleicht überlagert werden von späteren Erfahrungen und Interpretationen. Aber sie sind Eigentum der Person, um die es geht. Um diesen Kern herum gruppiere ich die Fakten, die ich den aufgefundenen Dokumenten, der wissenschaftlichen Fachliteratur und dem Archivgut entnehme. Auf diese Weise versuche ich, einen authentischen Rahmen, ein anschauliches Drumherum zu gestalten, mit dessen Hilfe ich mich der fraglichen Situation so weit wie möglich annähere. Es entsteht eine Bühne aus historischem Wissen, auf der sich die Erinnerung als unsicherer Spieler bewegen kann. Wo die Erinnerung fehlt, lade ich die Fantasie ein, meine eigene und die des Lesers, Fragen zu stellen, Vermutungen zu äußern, Hypothesen zu bilden, Möglichkeiten auszuloten und auf diese Weise die Leerstelle auszufüllen.

QUELLEN

Zunächst fahre ich nach Süddeutschland und beginne im Staatsarchiv Augsburg. Weiter geht es nach Günzburg und Leipheim in die dortigen Archive. In Leipheim, so viel ist bald klar, hat Walentinas Mutter in einem ehemaligen Fliegerhorst für die Firma Messerschmitt Flugzeuge zusammengeschweißt. Heute ist von dem Gelände nicht mehr viel übriggeblieben. Ein modernes Gewerbegebiet hat sich darübergelegt.

Ein kleines Fliegerhorstmuseum versucht, die Vergangenheit wach zu halten. Dort wie auch in der einschlägigen Literatur geht es jedoch in erster Linie um die Fliegerei, die berühmten Flugzeuge, ihre Erfinder und ihre Piloten, nicht um die Zwangsarbeiter. Dabei waren allein in Leipheim über Tausend Zwangsarbeiter anwesend. Noch gibt es keine Gedenkstätte, keine Informationstafeln, keine Stele für sie. Es dauert ein ganzes Jahr, bis es mir gelingt, mir auch nur eine annähernde Vorstellung davon zu machen, wie das Gelände damals für meine beiden Protagonistinnen ausgesehen haben mochte. Mein weit entfernter Wohnort macht die Sache nicht einfacher. Schließlich helfen gute Geister aus verschiedenen Geschichtsforen, und auch im Leipheimer Stadtarchiv lassen sich einige hilfreiche Dokumente finden.

Die Berichterstattung über die Kriegsereignisse in der Sowjetunion, die die ersten beiden Lebensjahre des kleinen Mädchens überschatteten, ist eine weitere Herausforderung. Walentinas Heimat liegt fernab der markanten Kriegsschauplätze. Entsprechend dünn ist die Quellenlage bei den Wehrmachtsunterlagen. Gott sei Dank gibt es die gut digitalisierten NARA-Archives, die Nationalarchive der Vereinigten Staaten, in denen unter anderem die in Deutschland beschlagnahmten Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg zu finden sind. Allein die Beschäftigung mit der Frage, welche deutschen Einheiten zu welchem Zeitpunkt in diesem Gebiet das Sagen hatten, erfordert ein erhebliches Maß an Geduld. Und so wühle ich mich auf der Suche nach relevanten Informationen durch Berge von Akten. Schließlich finde ich die Stecknadeln im Heuhaufen, zumindest einige, und kann sie zu Walentinas Familiengeschichte in Beziehung setzen.

Sollten Sie, lieber Leser, Informationen haben, die meine Recherchen bestätigen, ergänzen, korrigieren oder widerlegen, wäre ich sehr dankbar für eine Mitteilung an: [email protected]

KOMMUNIKATION

2.700 Kilometer liegen zwischen mir und Walentinas heutigem Wohnort in Karelien. Die gegenwärtige politische Lage macht das Reisen nicht gerade einfach. Wir verlegen uns auf elektronische Textnachrichten. Sie kann mit dem Handy gut umgehen. Geduldig beantwortet sie meine vielen Fragen. Aber die Kleinigkeiten des Alltags, die Beziehungen zu ihren Lieben, die Gefühle, sie kommen nur schemenhaft durch den Äther bei mir an. Sie bleiben in den Kommunikationskanälen stecken wegen der Sprachbarrieren, wegen der Unvollkommenheiten der elektronischen Übersetzungssoftware, wegen der räumlichen Ferne und wegen der fehlenden Wärme in der digitalen Welt. Also fahre ich ein zweites Mal hin, trotz Corona und trotz der politischen Schwierigkeiten. Umwege sind nötig. Entsprechend groß ist die Freude, als wir uns wiedersehen und mit Katjas Hilfe persönlich unterhalten können. Ich hoffe, es wird nicht der letzte Besuch gewesen sein, denn die alte Dame ist mir ans Herz gewachsen.

ERSTES BUCH: IM KRIEG

ERSTER TEIL 1941 – 1943: KRIEG GEGEN DIE SOWJETUNION

Walentina wurde in der Nähe von Gdov geboren. Die kleine Stadt mit damals nicht einmal 5000 Einwohnern befindet sich am östlichen Ufer des Peipus-Sees. Dieses große Binnengewässer trennt Russland vom benachbarten Estland.

Ich möchte herausfinden, wie die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Gegend von Gdov verlaufen sind, während Walentina dort ihre ersten Lebensjahre verbracht hat. Diesen Krieg, der jede menschliche Vorstellungskraft übersteigt, der am Schluss mehr als 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete,2 dessen Geschichte bei uns wohlbekannt ist, was die deutsche Wahrnehmung angeht, von dem in Deutschland jedoch nur wenige wissen, wie er in der Sowjetunion erlebt wurde, diesen Krieg an einem ganz konkreten, wenn auch abgelegenen Ort zu beleuchten, das scheint mir eine lohnende Aufgabe zu sein.

1. UNTERNEHMEN BARBAROSSA

Die Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Russland hatte eine lange Tradition. Viele Deutsche, die den Ersten Weltkrieg erlebt hatten, waren traumatisiert von der Niederlage. Die sogenannte Dolchstoßlegende, die die Verantwortung für den verlorenen Krieg auf Sozialdemokraten und das sogenannte bolschewistische Judentum abwälzte, war in aller Munde. Daher glaubten viele Deutsche der Idee Hitlers, dass nur ein neuer Krieg die Schande überwinden könne,3 dass man innerdeutsche Feinde – vor allem Kommunisten, Bolschewisten und Juden – strikt bekämpfen müsse und dass das von Feinden umgebene Deutschland einen wirtschaftsautarken und blockadefreien Großraum brauche, um seinen Wiederaufstieg zu einer Macht von Weltgeltung absichern zu können. Die Eroberung der Ostgebiete mit ihren reichen Ressourcen wurde als eine Möglichkeit betrachtet, diese Ziele zu erreichen.4

Offenbar war es nicht schwer, mit Hilfe der politische Propaganda, die in Zeitungsberichten, Büchern und in der Wochenschau zu vernehmen war, die deutsche Bevölkerung von der Idee zu überzeugen, dass der Überfall auf die Sowjetunion richtig und notwendig sei, dass man also als loyaler, gehorsamer und pflichtbewusster Deutscher an einer überaus wichtigen Mission beteiligt wäre, wenn man diesen Überfall unterstütze, ja, dass man damit die geliebte Heimat retten würde.5

DIE ROTE ARMEE IN DEN AUGEN DER WEHRMACHT

Die Entourage um Hitler, der sich 1938 zum obersten Befehlshaber der Wehrmacht ernannt hatte, schätzte den militärischen Wert der sowjetischen Armee gering ein und war von der eigenen Überlegenheit fest überzeugt. Die Rote Armee galt als ein Gegner, den man nicht ernst zu nehmen brauchte.6 Von den russischen Soldaten wurde ein ambivalentes Bild verbreitet. Sie seien primitiv und anspruchslos, aber stark, mutig und tapfer. Sie würden täuschen und betrügen. Goebbels nannte sie „rote Horden“ und „halbasiatische Wilde, die Europas Lebensart bedrohen.“7

PROPAGANDALÜGE

Hitler rechtfertigte den Angriff auf die Sowjetunion mit einer Verdrehung. Die Rede war von einem Präventivschlag, der nötig geworden sei, weil die Sowjetunion ihrerseits einen Krieg gegen Deutschland vorbereiten würde. Stalin habe seit Monaten Truppen an der Grenze zusammengezogen. Die gesamte russische Streitmacht sei bereits aufgezogen und habe durch Grenzverletzungen aggressive Absichten bekundet. Damit sei der noch geltende Nichtangriffspakt zwischen Russland und Deutschland zunichtegemacht worden. Der Bolschewismus habe sich als Todfeind entlarvt. Dieser Bedrohung sei mit allen Mitteln entgegenzutreten.8

Heute wissen wir, dass diese Propaganda eine bewusste Täuschung war. Zwar waren sowjetische Truppenbewegungen beobachtet worden. Übereinstimmend wurden sie jedoch von den deutschen Militärexperten als reine Defensivmaßnahmen zur Sicherung der Grenzen gewertet.9 Stalin war zwar nervös und befürchtete, dass die Westmächte ihn in einen Krieg verwickeln würden. Er wollte sich jedoch zumindest vorerst lieber heraushalten. Trotz mehrfacher Hinweise hatte er nicht mit dem Überraschungsangriff Deutschlands gerechnet. Die Initiative ging ausschließlich von Deutschland aus.10

ÜBERFALL

Am 22. Juni 1941 überschritt die deutsche Wehrmacht die Grenzen zur Sowjetunion. 157 Infanteriedivisionen, 16 motorisierte Divisionen und 17 Panzerdivisionen sowie mehr als drei Millionen Wehrmachtssoldaten zogen los. Mit 600.000 Kraftfahrzeugen, 625.000 Pferden, 3.350 Panzern und 7.200 Geschützen war dies eine riesige Streitmacht.11 Eine Front von nahezu 2.000 Kilometern Länge wurde zwischen der Ostsee im Norden und dem Schwarzen Meer im Süden errichtet,12 für den einzelnen Soldaten eine schier unüberschaubare Strecke.

HEERESGRUPPE NORD

Es gab drei Heeresgruppen, die Heeresgruppe Nord, die Heeresgruppe Mitte und die Heeresgruppe Süd. Ich fokussiere mich in diesem Buch auf die Heeresgruppe Nord. Ihr unterstanden die 16. und die 18. Armee sowie die 4. Panzergruppe mit rund 600.000 Soldaten. Die Panzerverbände der 4. Panzergruppe sprengten durch Litauen, Lettland und Estland voraus. Die Infanteriedivisionen der beiden Armeen folgten ihnen nach.13 Vor allem von der 18. Armee wird im Folgenden die Rede sein. Zu Beginn bestand sie aus sieben Infanteriedivisionen,14 darunter die 58. Infanteriedivision, die in Walentinas Heimat eine wichtige Rolle spielen sollte. Der Kommandeur der 18. Armee war Generaloberst Georg von Küchler. Ziel war es, mit dieser Armee so schnell wie möglich in den Raum Leningrad vorzustoßen. Der Widerstand der sowjetischen Soldaten war erbittert, aber es war in den ersten Monaten sehr schwer, die deutschen Angreifer in ihrem Vormarsch zu stoppen.15

Abb. 1: Deutsche Panzer fahren über ein Feld, Juni 1941 (Bundesarchiv Bilddatenbank) BArch 101I-185-0135-38/Pistorius

Abb. 2: Ninas und Walentinas Heimat am nordwestlichen Rand der UdSSR, 1955 (Oberkommando des Heeres 1944) S. 96

2. NINAS UND WALENTINAS HEIMAT

HINTERLAND VON LENINGRAD

Auf ihrem Weg nach Leningrad kam die 18. Armee durch Walentinas Heimat. Bis nach Leningrad waren es von Gdov aus noch mehr als 200 Kilometer. Dieses Hinterland von Leningrad war ein landwirtschaftlich armes Gebiet. Es war geprägt von großen Kiefern- und Fichtenwäldern, Sümpfen und Mooren sowie zahlreichen Wasserläufen und Seen. Nur ein kleiner Teil konnte landwirtschaftlich genutzt werden. Roggen, Gemüse und Flachs wurde angebaut und es gab etwas Viehwirtschaft. Nur vereinzelt fand man größere Betriebe.16

Die Bevölkerungsdichte war mit etwa 20 Personen pro Quadratkilometer gering. Schon vor dem Krieg waren viele Menschen abgewandert und hatten den kargen Ackerboden nicht mehr bearbeitet. Durch die Einberufung der wehrfähigen Männer während des Krieges schrumpfte die Bevölkerung weiter und dezimierte die wertvollen Arbeitskräfte. Für die Deutschen, die vornehmlich an der Ausbeutung des Landes interessiert waren, gab es in dieser Gegend nicht sehr viel zu holen.17

WALENTINAS FAMILIE

Zehn Kilometer östlich von Gdov lag das kleine Dorf Lugi. Es bestand aus zwei Dorfhälften, Welikije Lugi und Partilowy Lugi. Urgroßmutter Pelagea und Urgroßvater Michail waren dort zu Hause. Sie hatten im Laufe ihres Lebens zwölf Kindern das Leben geschenkt, von denen sechs das Erwachsenenalter erreichten. Eine der Töchter war Kiwi Elena Michailowna, genannt Elena, das Herz der Familie, die sich um alle kümmerte und die Familie zusammenhielt. Elena und ihr Mann Iwan hatten ein wenig außerhalb von Lugi ein Gehöft mit dem Namen Egoriewskie Lugi errichtet.18 Von dort aus waren es bis Gdov nur noch etwa acht Kilometer. Elena und Iwan mochten sich sehr. Iwan kam aus Estland und war ein freundlicher Mensch. Seine Frau nannte er zärtlich „Elena, mein Schatz!“19

Abb. 3: Die Kleinstadt Gdov und das Dorf Lugi östlich des Peipus-Sees, Deutsche Heereskarte O-35-44-D (Oberstes Kommando des Heeres20) Bearbeitung Theil

Zwei Söhne und eine Tochter gingen aus ihrer Ehe hervor. Die Tochter Nina Iwanowna (Нина Ивановна) kam am 22. Januar 1918 zur Welt und wuchs zusammen mit ihren beiden Brüdern auf dem Hof in Lugi auf.21 Mit Nina sind wir fast bei Walentina angekommen. Sie absolvierte in Gdov eine Ausbildung als Laborantin in der Molkereiwirtschaft und fand dort auch eine Arbeitsstelle.

Dann lernte sie Semjon kennen. Mit vollem Namen hieß er Semjon Sergejewitsch Wiktorow (Семён Сергеевич Викторов) und war sechs Jahre älter als Nina. Er arbeitete als Buchhalter bei der Eisenbahn. Semjon stammte aus Uschowo, einem Dorf, das etwa 20 km nordöstlich von Gdov an der Pljussa lag, einem Nebenfluss der Narva. Dort war Semjon mit seinen Eltern Irina und Sergej, seiner Schwester und seinen beiden Brüdern aufgewachsen.22

Abb. 4: Walentinas Mutter Nina mit 19 Jahren, 1937 (Michkijewa)

WALENTINAS GEBURT

Am 22. Juni 1941 hatte das deutsche Heer die russischen Landesgrenzen überschritten. Noch war es in Gdov ruhig. Die 4. Panzergruppe raste gerade durchs Baltikum, als Nina am 27. Juni 1941 ihre Tochter Walentina zur Welt brachte. Mit vollem Namen nannte man das kleine Mädchen Walentina Semjonowna Wiktorowa (Валентина Семёновна Викторова). Die Geburt im Kreiskrankenhaus von Gdov verlief glücklich. Das Baby war gesund und munter. Semjon, der zwei Tage zuvor zur Roten Armee eingezogen worden war und sich auf seinen Abmarsch vorbereitete, wollte die beiden im Krankenhaus besuchen. Aber man ließ ihn aus hygienischen Gründen nicht hinein. So stand er unten auf der Straße und winkte seiner Frau zu. Sie winkte vom Fenster aus zurück.23

Abb. 5: Walentinas Vater Semjon mit 28 Jahren, 1941 (Michkijewa)

Am 28. Juli 1941 tauchte eine Abordnung der deutschen Luftwaffe in Gdov auf. Jedenfalls berichtete Nina später, dass am Tag nach Walentinas Geburt Bomben in Gdov niedergegangen seien. Nina und die anderen jungen Mütter seien mit ihren Säuglingen aus der Geburtsklinik in den Wald geflohen, um sich und ihre Neugeborenen in Sicherheit zu bringen. Belege für diese Bombenabwürfe fand ich in den historischen Dokumenten nicht. Das bedeutet jedoch nicht, dass es sie nicht gegeben hat.