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Russland 1943: Ein kleines Mädchen an der Hand seiner Mutter. Sie laufen den Soldaten geradewegs in die Arme. Man verfrachtet sie in ein Auto und bringt sie zum Bahnhof. Von dort geht es mit dem Zug nach Deutschland. In das Zwangsarbeiterlager einer Rüstungsfirma. Fünf Tage nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion hatte Nina ihre Tochter Walentina zur Welt gebracht. Als man die beiden ins Deutsche Reich verschleppte, war das kleine Mädchen zwei Jahre alt. Nach dem Ende des Krieges 1945 kehrten sie nach Russland zurück und das Kind konnte sich in Frieden entfalten. Heute ist Walentina 82 Jahre alt und betrachtet ihr langes Leben mit dem schwierigen Start. Vieles von dem, was aus ihrer Kindheit in Deutschland berichtet wird, wusste sie nicht. Ihre Mutter sprach nicht gern über die Vergangenheit und sie selbst war damals noch zu klein. Die Autorin nimmt sich ihrer Geschichte an und erforscht die konkreten Erlebnisse und deren Hintergründe während der deutschen Besetzung der Sowjetunion und während der Zeit der Zwangsarbeit in Deutschland. Damit eröffnet sie eine Möglichkeit, ein unerfreuliches Kapitel in der gemeinsamen Geschichte Russlands und Deutschlands besser zu verstehen.
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Seitenzahl: 154
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ORWORT
Aufbau der Biografie
Forschungsmethode
Quellen
Kommunikation
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B
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K
RIEG
Erster Teil 1941 – 1943: Krieg gegen die Sowjetunion
1. Unternehmen Barbarossa
Die Rote Armee in den Augen der Wehrmacht
Propagandalüge
Überfall
Heeresgruppe Nord
2. Ninas und Walentinas Heimat
Hinterland von Leningrad
Walentinas Familie
Walentinas Geburt
3. Beginn des Krieges im Umland von Gdov
Eroberung von Gdov
Leningrad im Sommer 1941
Armeegebiet der 18. Armee
Rückwärtiges Heeresgebiet
Besatzung im rückwärtigen Heeresgebiet
4. Leben unter deutscher Besatzung
Kooperation der Bevölkerung
Ziviler Arbeitseinsatz
Plünderungen
Vertreibungen
Hungerpolitik
Zwangsarbeit
Partisanen
5. Die Familien in Uschowo und Lugi
Nina
Semjon und seine Brüder
Opa Iwan
Oma Elena
6. Zuspitzung der Kriegslage Ende 1943
Politik der verbrannten Erde
Exodus
7. Situation im Umland von Gdov
Zuständigkeiten
Gefahrenzone im Raum Dobrutschi
Nina und Walentina auf Wanderschaft
Gefahrenzone östlich von Gdov
Brand in Lugi
Gefangennahme
Zurückgebliebene
Zweiter Teil 1943 - 1945: Zwangsarbeit in Deutschland
1. Sowjetische Zivilarbeiter 1941/42
Arbeitskräftemangel
Rassistische Stufenleiter
Entscheidung für den Russeneinsatz
Rekrutierungen in Russland
Maßnahmen zur Disziplinierung
Unterbringung in den Lagern
Bekleidung
Arbeitsbedingungen
Entlohnung
Ernährung
2. Ideologischer Umschwung im Sommer 1942
Handlungsbedarf
Widersprüche innerhalb des Regimes
Neues Entlohnungssystem
Russische Frauen
3. Nina und Walentina in Deutschland
Dachau
Außenlager Burgau
Leipheim
Ninas Arbeitskarte
Datum der Ankunft
4. Firma Messerschmitt
Flugzeugbau
Standorte
Fliegerhorst Leipheim
5. Wohnen auf dem Fliegerhorst
Deutsche Mitarbeiter
Kleines Ukrainerlager
Großes Russenlager
Bauweise der Baracken
Ausstattung der Baracken
6. Unterhaltungsabend
Einladungsschreiben
Zuschauer
Veranstaltung
7. Alltag im Zwangsarbeiterlager
Ninas Arbeitsplatz
Kinder im Zwangsarbeiterlager
Hunger
8. Fliegerhorst als militärisches Angriffsziel
Unter Beobachtung
Bombenangriffe
Fehlender Schutz
Folgen für Nina und Walentina
9. Befreiung
Amerikanische Bodentruppen
Verbleib der Zwangsarbeiter
Letzte Kriegstage
Befreiung
Neue Nutzung des Fliegerhorstes
Frage der Rückkehr
Heimfahrt
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RIEG
1. Walentinas Kindheit in Russland
1945 – Wiedersehen
1945 – Verhör
1945 – Tschernjewa
1948 – Grundschule
1952 – Weiterführende Schule
2. Lehr- und Wanderjahre
1955 – Zeit der Ausbildung
1959 – Arthur
1961 – Umzüge
1963 – Oleg
3. Studentin
1965 - Studium der Biochemie
1970 – Semjon
1974 – Doktorandin
4. Aufarbeitung der Vergangenheit
1989 – Rehabilitierung des Großvaters
1989 – Vergangenheitsbewältigung in Deutschland
1993 – Museum für die Opfer des Faschismus
5. Familienleben
1991 – Walentina wird Oma
1993 - Pensionierung
1993 - Ninas Tod
2011 - Goldene Hochzeit
2013 - Olegs Tod
2014 – Arthurs Tod
2023 – Walentina heute
L
ITERATURVERZEICHNIS
Ich lerne Walentina im Sommer 2021 kennen. Eigentlich bin ich in Russland auf den Spuren meines Vaters unterwegs. Aber dann läuft mir Walentina über den Weg und mit ihr die Geschichte der russischen Zwangsarbeiter in Deutschland. Ich mag die alte Dame sofort, auch ohne Worte, denn meine Russischkenntnisse stecken noch in den Kinderschuhen. An eine freie Unterhaltung ist nicht zu denken.
Aber Katja ist dabei. Sie betreut eine Gruppe von betagten Menschen, die zusammen mit ihren Eltern während des Zweiten Weltkriegs von der Wehrmacht nach Deutschland verschleppt worden waren. Damals waren sie noch Kinder oder Jugendliche gewesen, und den Deutschen ging es nicht um sie, sondern um die Arbeitskraft ihrer Eltern. Heute sind die Eltern längst verstorben, und die Kinder von damals sind alle über achtzig Jahre alt. Sie haben Erinnerungen, eigene und überlieferte. Sie treffen sich ab und zu und halten ihre Geschichte lebendig. Katja, die Unermüdliche, kümmert sich um alles Notwendige. Sie ist mit Deutschland eng verbunden, kennt sich gut aus in deutscher Geschichte und deutscher Kultur und spricht hervorragend unsere Sprache. Sie baut für mich die nötigen Brücken.
Walentina lebt in Petrosawodsk. Die Stadt liegt in Karelien, etwa 400 Kilometer nördlich von Sankt Petersburg. Walentina ist 82 Jahre alt, geboren im Sommer 1941, wenige Tage nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Sie war gerade einmal zwei Jahre alt, als sie und ihre Mutter Nina ins Deutsche Reich transportiert wurden. Walentina erzählt mir von ihrer Mutter, von der Firma Messerschmitt bei Augsburg und vom Hunger. Sie zeigt Dokumente und Bilder. Einige undeutliche Erinnerungen hat sie in ihrem Gedächtnis aufbewahrt. Was sie darüber hinaus von dieser Zeit weiß, hat sie von ihrer Mutter erzählt bekommen.
Ich fange bald Feuer und biete an, für sie in Deutschland zu recherchieren. Diese Geschichte möchte ich aufschreiben. Sie ist einverstanden und freut sich. „Es ist mein Leben“, sagt sie. „Man sollte darüber Bescheid wissen.“1 Das ist der Anfang zu diesem Buch. Dann beginnen für mich die Herausforderungen.
Wie soll ich die Biografie gliedern? Ich entscheide mich für eine Dreiteilung. Der erste Teil umfasst die ersten beiden Lebensjahre von Walentina in ihrer russischen Heimat. Der zweite Teil beschäftigt sich mit ihrem dritten und vierten Lebensjahr im Zwangsarbeiterlager in Deutschland. Und der dritte Teil umspannt den ganzen langen Rest ihres Lebens bis heute.
Wie soll ich eine Biografie schreiben über die ersten vier Lebensjahre eines Kindes, das sich an diese Zeit kaum erinnert, weil es zu klein war und dessen Mutter es vorzog, über das Erlebte zu schweigen, weil das Denken daran ihr nicht guttat und sie quälte? Ich versuche es auf folgende Weise: Der lebendige Kern der Biografie besteht aus den spärlichen Erinnerungsschnipseln. Sie sind oft undeutlich und nicht immer stringent. Es sind unzuverlässige Boten aus einer längst vergangenen Zeit, die sich möglicherweise verwandelt haben und vielleicht überlagert werden von späteren Erfahrungen und Interpretationen. Aber sie sind Eigentum der Person, um die es geht. Um diesen Kern herum gruppiere ich die Fakten, die ich den aufgefundenen Dokumenten, der wissenschaftlichen Fachliteratur und dem Archivgut entnehme. Auf diese Weise versuche ich, einen authentischen Rahmen, ein anschauliches Drumherum zu gestalten, mit dessen Hilfe ich mich der fraglichen Situation so weit wie möglich annähere. Es entsteht eine Bühne aus historischem Wissen, auf der sich die Erinnerung als unsicherer Spieler bewegen kann. Wo die Erinnerung fehlt, lade ich die Fantasie ein, meine eigene und die des Lesers, Fragen zu stellen, Vermutungen zu äußern, Hypothesen zu bilden, Möglichkeiten auszuloten und auf diese Weise die Leerstelle auszufüllen.
Zunächst fahre ich nach Süddeutschland und beginne im Staatsarchiv Augsburg. Weiter geht es nach Günzburg und Leipheim in die dortigen Archive. In Leipheim, so viel ist bald klar, hat Walentinas Mutter in einem ehemaligen Fliegerhorst für die Firma Messerschmitt Flugzeuge zusammengeschweißt. Heute ist von dem Gelände nicht mehr viel übriggeblieben. Ein modernes Gewerbegebiet hat sich darübergelegt.
Ein kleines Fliegerhorstmuseum versucht, die Vergangenheit wach zu halten. Dort wie auch in der einschlägigen Literatur geht es jedoch in erster Linie um die Fliegerei, die berühmten Flugzeuge, ihre Erfinder und ihre Piloten, nicht um die Zwangsarbeiter. Dabei waren allein in Leipheim über Tausend Zwangsarbeiter anwesend. Noch gibt es keine Gedenkstätte, keine Informationstafeln, keine Stele für sie. Es dauert ein ganzes Jahr, bis es mir gelingt, mir auch nur eine annähernde Vorstellung davon zu machen, wie das Gelände damals für meine beiden Protagonistinnen ausgesehen haben mochte. Mein weit entfernter Wohnort macht die Sache nicht einfacher. Schließlich helfen gute Geister aus verschiedenen Geschichtsforen, und auch im Leipheimer Stadtarchiv lassen sich einige hilfreiche Dokumente finden.
Die Berichterstattung über die Kriegsereignisse in der Sowjetunion, die die ersten beiden Lebensjahre des kleinen Mädchens überschatteten, ist eine weitere Herausforderung. Walentinas Heimat liegt fernab der markanten Kriegsschauplätze. Entsprechend dünn ist die Quellenlage bei den Wehrmachtsunterlagen. Gott sei Dank gibt es die gut digitalisierten NARA-Archives, die Nationalarchive der Vereinigten Staaten, in denen unter anderem die in Deutschland beschlagnahmten Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg zu finden sind. Allein die Beschäftigung mit der Frage, welche deutschen Einheiten zu welchem Zeitpunkt in diesem Gebiet das Sagen hatten, erfordert ein erhebliches Maß an Geduld. Und so wühle ich mich auf der Suche nach relevanten Informationen durch Berge von Akten. Schließlich finde ich die Stecknadeln im Heuhaufen, zumindest einige, und kann sie zu Walentinas Familiengeschichte in Beziehung setzen.
Sollten Sie, lieber Leser, Informationen haben, die meine Recherchen bestätigen, ergänzen, korrigieren oder widerlegen, wäre ich sehr dankbar für eine Mitteilung an: [email protected]
2.700 Kilometer liegen zwischen mir und Walentinas heutigem Wohnort in Karelien. Die gegenwärtige politische Lage macht das Reisen nicht gerade einfach. Wir verlegen uns auf elektronische Textnachrichten. Sie kann mit dem Handy gut umgehen. Geduldig beantwortet sie meine vielen Fragen. Aber die Kleinigkeiten des Alltags, die Beziehungen zu ihren Lieben, die Gefühle, sie kommen nur schemenhaft durch den Äther bei mir an. Sie bleiben in den Kommunikationskanälen stecken wegen der Sprachbarrieren, wegen der Unvollkommenheiten der elektronischen Übersetzungssoftware, wegen der räumlichen Ferne und wegen der fehlenden Wärme in der digitalen Welt. Also fahre ich ein zweites Mal hin, trotz Corona und trotz der politischen Schwierigkeiten. Umwege sind nötig. Entsprechend groß ist die Freude, als wir uns wiedersehen und mit Katjas Hilfe persönlich unterhalten können. Ich hoffe, es wird nicht der letzte Besuch gewesen sein, denn die alte Dame ist mir ans Herz gewachsen.
Walentina wurde in der Nähe von Gdov geboren. Die kleine Stadt mit damals nicht einmal 5000 Einwohnern befindet sich am östlichen Ufer des Peipus-Sees. Dieses große Binnengewässer trennt Russland vom benachbarten Estland.
Ich möchte herausfinden, wie die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Gegend von Gdov verlaufen sind, während Walentina dort ihre ersten Lebensjahre verbracht hat. Diesen Krieg, der jede menschliche Vorstellungskraft übersteigt, der am Schluss mehr als 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete,2 dessen Geschichte bei uns wohlbekannt ist, was die deutsche Wahrnehmung angeht, von dem in Deutschland jedoch nur wenige wissen, wie er in der Sowjetunion erlebt wurde, diesen Krieg an einem ganz konkreten, wenn auch abgelegenen Ort zu beleuchten, das scheint mir eine lohnende Aufgabe zu sein.
Die Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Russland hatte eine lange Tradition. Viele Deutsche, die den Ersten Weltkrieg erlebt hatten, waren traumatisiert von der Niederlage. Die sogenannte Dolchstoßlegende, die die Verantwortung für den verlorenen Krieg auf Sozialdemokraten und das sogenannte bolschewistische Judentum abwälzte, war in aller Munde. Daher glaubten viele Deutsche der Idee Hitlers, dass nur ein neuer Krieg die Schande überwinden könne,3 dass man innerdeutsche Feinde – vor allem Kommunisten, Bolschewisten und Juden – strikt bekämpfen müsse und dass das von Feinden umgebene Deutschland einen wirtschaftsautarken und blockadefreien Großraum brauche, um seinen Wiederaufstieg zu einer Macht von Weltgeltung absichern zu können. Die Eroberung der Ostgebiete mit ihren reichen Ressourcen wurde als eine Möglichkeit betrachtet, diese Ziele zu erreichen.4
Offenbar war es nicht schwer, mit Hilfe der politische Propaganda, die in Zeitungsberichten, Büchern und in der Wochenschau zu vernehmen war, die deutsche Bevölkerung von der Idee zu überzeugen, dass der Überfall auf die Sowjetunion richtig und notwendig sei, dass man also als loyaler, gehorsamer und pflichtbewusster Deutscher an einer überaus wichtigen Mission beteiligt wäre, wenn man diesen Überfall unterstütze, ja, dass man damit die geliebte Heimat retten würde.5
Die Entourage um Hitler, der sich 1938 zum obersten Befehlshaber der Wehrmacht ernannt hatte, schätzte den militärischen Wert der sowjetischen Armee gering ein und war von der eigenen Überlegenheit fest überzeugt. Die Rote Armee galt als ein Gegner, den man nicht ernst zu nehmen brauchte.6 Von den russischen Soldaten wurde ein ambivalentes Bild verbreitet. Sie seien primitiv und anspruchslos, aber stark, mutig und tapfer. Sie würden täuschen und betrügen. Goebbels nannte sie „rote Horden“ und „halbasiatische Wilde, die Europas Lebensart bedrohen.“7
Hitler rechtfertigte den Angriff auf die Sowjetunion mit einer Verdrehung. Die Rede war von einem Präventivschlag, der nötig geworden sei, weil die Sowjetunion ihrerseits einen Krieg gegen Deutschland vorbereiten würde. Stalin habe seit Monaten Truppen an der Grenze zusammengezogen. Die gesamte russische Streitmacht sei bereits aufgezogen und habe durch Grenzverletzungen aggressive Absichten bekundet. Damit sei der noch geltende Nichtangriffspakt zwischen Russland und Deutschland zunichtegemacht worden. Der Bolschewismus habe sich als Todfeind entlarvt. Dieser Bedrohung sei mit allen Mitteln entgegenzutreten.8
Heute wissen wir, dass diese Propaganda eine bewusste Täuschung war. Zwar waren sowjetische Truppenbewegungen beobachtet worden. Übereinstimmend wurden sie jedoch von den deutschen Militärexperten als reine Defensivmaßnahmen zur Sicherung der Grenzen gewertet.9 Stalin war zwar nervös und befürchtete, dass die Westmächte ihn in einen Krieg verwickeln würden. Er wollte sich jedoch zumindest vorerst lieber heraushalten. Trotz mehrfacher Hinweise hatte er nicht mit dem Überraschungsangriff Deutschlands gerechnet. Die Initiative ging ausschließlich von Deutschland aus.10
Am 22. Juni 1941 überschritt die deutsche Wehrmacht die Grenzen zur Sowjetunion. 157 Infanteriedivisionen, 16 motorisierte Divisionen und 17 Panzerdivisionen sowie mehr als drei Millionen Wehrmachtssoldaten zogen los. Mit 600.000 Kraftfahrzeugen, 625.000 Pferden, 3.350 Panzern und 7.200 Geschützen war dies eine riesige Streitmacht.11 Eine Front von nahezu 2.000 Kilometern Länge wurde zwischen der Ostsee im Norden und dem Schwarzen Meer im Süden errichtet,12 für den einzelnen Soldaten eine schier unüberschaubare Strecke.
Es gab drei Heeresgruppen, die Heeresgruppe Nord, die Heeresgruppe Mitte und die Heeresgruppe Süd. Ich fokussiere mich in diesem Buch auf die Heeresgruppe Nord. Ihr unterstanden die 16. und die 18. Armee sowie die 4. Panzergruppe mit rund 600.000 Soldaten. Die Panzerverbände der 4. Panzergruppe sprengten durch Litauen, Lettland und Estland voraus. Die Infanteriedivisionen der beiden Armeen folgten ihnen nach.13 Vor allem von der 18. Armee wird im Folgenden die Rede sein. Zu Beginn bestand sie aus sieben Infanteriedivisionen,14 darunter die 58. Infanteriedivision, die in Walentinas Heimat eine wichtige Rolle spielen sollte. Der Kommandeur der 18. Armee war Generaloberst Georg von Küchler. Ziel war es, mit dieser Armee so schnell wie möglich in den Raum Leningrad vorzustoßen. Der Widerstand der sowjetischen Soldaten war erbittert, aber es war in den ersten Monaten sehr schwer, die deutschen Angreifer in ihrem Vormarsch zu stoppen.15
Abb. 1: Deutsche Panzer fahren über ein Feld, Juni 1941 (Bundesarchiv Bilddatenbank) BArch 101I-185-0135-38/Pistorius
Abb. 2: Ninas und Walentinas Heimat am nordwestlichen Rand der UdSSR, 1955 (Oberkommando des Heeres 1944) S. 96
Auf ihrem Weg nach Leningrad kam die 18. Armee durch Walentinas Heimat. Bis nach Leningrad waren es von Gdov aus noch mehr als 200 Kilometer. Dieses Hinterland von Leningrad war ein landwirtschaftlich armes Gebiet. Es war geprägt von großen Kiefern- und Fichtenwäldern, Sümpfen und Mooren sowie zahlreichen Wasserläufen und Seen. Nur ein kleiner Teil konnte landwirtschaftlich genutzt werden. Roggen, Gemüse und Flachs wurde angebaut und es gab etwas Viehwirtschaft. Nur vereinzelt fand man größere Betriebe.16
Die Bevölkerungsdichte war mit etwa 20 Personen pro Quadratkilometer gering. Schon vor dem Krieg waren viele Menschen abgewandert und hatten den kargen Ackerboden nicht mehr bearbeitet. Durch die Einberufung der wehrfähigen Männer während des Krieges schrumpfte die Bevölkerung weiter und dezimierte die wertvollen Arbeitskräfte. Für die Deutschen, die vornehmlich an der Ausbeutung des Landes interessiert waren, gab es in dieser Gegend nicht sehr viel zu holen.17
Zehn Kilometer östlich von Gdov lag das kleine Dorf Lugi. Es bestand aus zwei Dorfhälften, Welikije Lugi und Partilowy Lugi. Urgroßmutter Pelagea und Urgroßvater Michail waren dort zu Hause. Sie hatten im Laufe ihres Lebens zwölf Kindern das Leben geschenkt, von denen sechs das Erwachsenenalter erreichten. Eine der Töchter war Kiwi Elena Michailowna, genannt Elena, das Herz der Familie, die sich um alle kümmerte und die Familie zusammenhielt. Elena und ihr Mann Iwan hatten ein wenig außerhalb von Lugi ein Gehöft mit dem Namen Egoriewskie Lugi errichtet.18 Von dort aus waren es bis Gdov nur noch etwa acht Kilometer. Elena und Iwan mochten sich sehr. Iwan kam aus Estland und war ein freundlicher Mensch. Seine Frau nannte er zärtlich „Elena, mein Schatz!“19
Abb. 3: Die Kleinstadt Gdov und das Dorf Lugi östlich des Peipus-Sees, Deutsche Heereskarte O-35-44-D (Oberstes Kommando des Heeres20) Bearbeitung Theil
Zwei Söhne und eine Tochter gingen aus ihrer Ehe hervor. Die Tochter Nina Iwanowna (Нина Ивановна) kam am 22. Januar 1918 zur Welt und wuchs zusammen mit ihren beiden Brüdern auf dem Hof in Lugi auf.21 Mit Nina sind wir fast bei Walentina angekommen. Sie absolvierte in Gdov eine Ausbildung als Laborantin in der Molkereiwirtschaft und fand dort auch eine Arbeitsstelle.
Dann lernte sie Semjon kennen. Mit vollem Namen hieß er Semjon Sergejewitsch Wiktorow (Семён Сергеевич Викторов) und war sechs Jahre älter als Nina. Er arbeitete als Buchhalter bei der Eisenbahn. Semjon stammte aus Uschowo, einem Dorf, das etwa 20 km nordöstlich von Gdov an der Pljussa lag, einem Nebenfluss der Narva. Dort war Semjon mit seinen Eltern Irina und Sergej, seiner Schwester und seinen beiden Brüdern aufgewachsen.22
Abb. 4: Walentinas Mutter Nina mit 19 Jahren, 1937 (Michkijewa)
Am 22. Juni 1941 hatte das deutsche Heer die russischen Landesgrenzen überschritten. Noch war es in Gdov ruhig. Die 4. Panzergruppe raste gerade durchs Baltikum, als Nina am 27. Juni 1941 ihre Tochter Walentina zur Welt brachte. Mit vollem Namen nannte man das kleine Mädchen Walentina Semjonowna Wiktorowa (Валентина Семёновна Викторова). Die Geburt im Kreiskrankenhaus von Gdov verlief glücklich. Das Baby war gesund und munter. Semjon, der zwei Tage zuvor zur Roten Armee eingezogen worden war und sich auf seinen Abmarsch vorbereitete, wollte die beiden im Krankenhaus besuchen. Aber man ließ ihn aus hygienischen Gründen nicht hinein. So stand er unten auf der Straße und winkte seiner Frau zu. Sie winkte vom Fenster aus zurück.23
Abb. 5: Walentinas Vater Semjon mit 28 Jahren, 1941 (Michkijewa)
Am 28. Juli 1941 tauchte eine Abordnung der deutschen Luftwaffe in Gdov auf. Jedenfalls berichtete Nina später, dass am Tag nach Walentinas Geburt Bomben in Gdov niedergegangen seien. Nina und die anderen jungen Mütter seien mit ihren Säuglingen aus der Geburtsklinik in den Wald geflohen, um sich und ihre Neugeborenen in Sicherheit zu bringen. Belege für diese Bombenabwürfe fand ich in den historischen Dokumenten nicht. Das bedeutet jedoch nicht, dass es sie nicht gegeben hat.