Nonbinär ist die Rettung - Michael Ebmeyer - E-Book

Nonbinär ist die Rettung E-Book

Michael Ebmeyer

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Beschreibung

Das Denken in Oppositionen hilft, die Welt zu erfassen. Der Haken daran ist, dass es Hierarchien begünstigt: zwischen Mann und Frau, Vorgesetzten und Untergebenen, Regierenden und Regierten usw. Mit der Genderdebatte kam das Nonbinäre auf die gesellschaftliche Tagesordnung, und sie brachte eine Emanzipationsbewegung hervor, die den einen Anlass für wüste Kontroversen bietet, den anderen Hoffnung auf einen sozialen Umbruch macht. Um solche Hoffnungen geht es in Michael Ebmeyers rasantem Essay. Er nimmt die Genderdebatte zum Ausgangspunkt, von dem aus er das binäre Schema als Ordnungsprinzip grundlegend hinterfragt. Ebmeyer verknüpft dabei verschiedene Strategien für subversives Denken und Handeln: die Verfahren der Dekonstruktion auf erkenntnistheoretischer Ebene; die Abkehr vom Prinzip Herrschaft als politische Praxis; Feminismus und LGBTQ+-Bewegung als Modelle zur Erschütterung autoritärer Gewohnheiten. Angesichts der akuten Bedrohung unserer Lebensgrundlagen wird deutlicher denn je: Wir hängen im binären Schema fest, müssen uns aber dringend bewegen. Wenn es eine Rettung gibt, dann ist sie nonbinär.

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Michael Ebmeyer

NONBINÄR IST DIE RETTUNG

Ein Plädoyer für subversives Denken

2023

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Reihe »update gesellschaft«

hrsg. von Matthias Eckoldt

Umschlagentwurf: B. Charlotte Ulrich

Layout und Satz: Heinrich Eiermann

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0507-7 (Printversion)

ISBN 978-3-8497-8467-6 (ePUB)

© 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 · 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 · Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Einleitung

Ausgangspunkte

Gespenster

Troublemakers

Wer hat Angst vor dem A-Wort?

Schlusslichter

Einleitung

Dieses Büchlein feiert das Nonbinäre, es verteidigt das Nonbinäre, es pocht auf das Nonbinäre – das, was sich in kein Entweder-oder zwängen lässt. Dabei will es eher kein Beitrag zur Genderdebatte sein. Falls es einer ist, dann vermutlich kein relevanter. Die Genderdebatte braucht dieses Büchlein nicht. Aber dieses Büchlein braucht die Genderdebatte.

Indem sie volle gesellschaftliche Anerkennung für Transpersonen, für queere und fluide Geschlechtsidentitäten einfordert, hat die Genderdebatte das Nonbinäre auf die gesellschaftliche Tagesordnung gesetzt. Sie hat es zum Gegenstand einer Emanzipationsbewegung gemacht, zum Anlass für schrille Kontroversen – und für Hoffnungen auf einen sozialen Umbruch.

Um solche Hoffnungen soll es in diesem Essay gehen. Zu einer Debatte beitragen will er nämlich durchaus. Zu einer Debatte, die zurzeit aus diversen Gründen auf das Reizthema Gender oder Geschlechtsidentitäten verengt wird: die Debatte über das binäre Schema. Über das Denken in Oppositionen, in Dichotomien, in festen Gegensatzpaaren. Frau/Mann, ja/nein, hell/dunkel, Tod/Leben, Sommer/Winter, gut/böse. All die Entweder-oder-Einteilungen, in die wir uns die Welt ordnen oder ordnen lassen. Grundlagen unserer Wahrnehmung, Leitplanken unseres Denkens. Lauter Selbstverständlichkeiten. Lauter Zwanghaftigkeiten.

Ich werde nicht behaupten, dass es diese Gegensätze nicht gebe. Vielmehr gibt es sie zu sehr. Gegensätze ziehen uns an. Ihre Dominanz in unserem Denken ist zugleich Voraussetzung für und Folge von Dominanz in einem viel weiteren Sinn: im Sinn des Prinzips vom Herrschen und Beherrschtwerden.

Das Denken in Oppositionen macht Hierarchien, wie wir sie gewohnt oder auch gründlich leid sind, erst möglich. So werden aus dem Gegensatz Mann/Frau ein »starkes« und ein »schwaches« Geschlecht gebaut, wird ein Muster von Herrschaft und Unterordnung gestrickt und ein paranoider Unterdrückungsapparat, bekannt als Patriarchat, errichtet.

Mit nicht immer so fatalen Folgen, aber in strukturell ähnlicher Weise werden Ansprüche auf Macht und Deutungshoheit auf fast jeder Ebene des menschlichen Miteinanders und seiner Überbauten erhoben. Sei es eine Aufteilung in Vorgesetzte und Untergebene im Erwerbsleben. Seien es Regierende und Regierte in der Politik. Sei es ein, wie auch immer umstrittenes, Oben und Unten in der Gesellschaft. Oder sei es Religion als Urform der Obrigkeitshörigkeit – die ausgerechnet in Diversitätsdebatten heute oft in Schutz genommen und unter dem Deckmantel der Identitätspolitik selbst in gewaltsam reaktionären Spielarten verhätschelt wird.

Das binäre Schema prägt und trägt die Zusammenhänge, in denen wir zu denken, zu sprechen und zu handeln gelernt haben. Es begründet, ein bisschen hochtrabend ausgedrückt, die Metaphysik, in der wir uns selbst verorten und in deren Gewand die Welt uns entgegenzutreten scheint. Das binäre Schema bildet den gängigen Rahmen für unsere Haltungen und Überzeugungen, für die meisten unserer Fixpunkte im Leben. Die Idee, dieses Schema in Frage zu stellen, ist dementsprechend alles andere als neu. Sie war nur in den letzten Jahrzehnten einmal mehr verdrängt oder wegsortiert worden. Bis die Genderdebatte sie wieder ausgemottet hat.

Ansätze zur Überwindung des Denkens in Gegensätzen gibt es wahrscheinlich ebenso lange, wie die Dominanz des Denkens in Gegensätzen schon wärt. Viele dieser Ansätze sind mystisch oder spirituell grundiert. Sie zielen darauf ab, den schmerzhaftesten aller Gegensätze, den von Leben und Tod, außer Kraft zu setzen. Ein höherer Bewusstseinszustand soll uns aus dem Entweder-Oder erlösen. Um solche Sehnsüchte wird es hier aber nicht gehen. Mein Essay möchte ganz von dieser Welt sein.

Dennoch wird er nicht so tun, als ließe sich das Nonbinäre als feste Größe behandeln. Die Gestalten, die es annimmt, sind wandelbar, fließend. Mal erscheint es als ein Raum, der sich zwischen Entweder und Oder öffnet und die Dichotomie verschwinden lässt. Mal tritt es als das vom binären Denken Verleugnete auf, dessen Anblick, und sei er noch so flüchtig, die Willkür einer herrschenden Ordnung zum Vorschein bringt. Das Nonbinäre verkündet selbst keine Herrschaft. Wenn es etwas verkündet, dann: Keine Herrschaft.

Einigen Raum werden in diesem Büchlein deshalb politische Versuche einnehmen, das binäre Schema zu sprengen. Die Absage an das Prinzip Herrschaft hat eine vielfältige und vielfach verteufelte ideologische Strömung hervorgebracht, die gerade in ihrer Ambivalenz inspirieren kann. Ich spreche von antiautoritären Bewegungen. Ich spreche vom Anarchismus als Wunschtraum und Experiment, als Schreckgespenst und Unwort. Zumindest für einige anarchistische Ansätze im Denken und im sozialen Handeln möchte ich eine Lanze brechen.

Eine weitere Variante von Vorstößen ins Jenseits von Entweder-oder spielt sich auf epistemologischer Ebene ab. Aus der Beobachtung heraus, dass keine unserer Gewissheiten fraglos ist, sondern jeglicher Anspruch auf absolute Autorität oder unhintergehbare Wahrheit nur gewaltsam durchgesetzt werden kann – womit die Autorität oder Wahrheit eben nicht absolut ist, weil sie in Relation zur Gewalt steht –, spross ein blühendes Theoriegestrüpp. Diese Verfahren wollten die unablässige Subversion, die unsere Bedürfnisse nach festem Halt durchkreuzt, nicht verleugnen, sondern sie zum Vorschein bringen und sie für eine neue Art des kritischen Denkens nutzen.

Ich habe die beiden letzten Sätze im Präteritum geschrieben, weil die besagten Methoden, meist zusammengefasst unter dem Schlagwort Dekonstruktion, im jungen 21. Jahrhundert aus der Mode kamen und auf eine Reihe mehr oder weniger verächtlicher Zerrbilder reduziert wurden. In Gestalt der Genderdebatte erleben sie zurzeit jedoch ein Revival. Das ist einer der Gründe, aus denen die Genderdebatte zwar nicht das Hauptthema dieses Essays ist, wohl aber sein Leitfaden. Sie hat die Fragen, um die es hier gehen soll, unter dem Teppich hervorgeholt.

Und es sind dringliche Fragen. Wohin das binäre Schema mit seinen verfestigten Auswüchsen – Patriarchat, religiöse und quasireligiöse Dogmatismen (zu denen auch die Marktgläubigkeit zählt), Herrschaftsverhältnisse, die als unabänderlich behandelt werden – uns und die Welt zuletzt gebracht hat, wissen wir. An den Rand der Klimakatastrophe, als Extremfolge von Macht euch die Erde untertan. Zur Wiederkehr von Kriegsordnungen und Rüstungsspiralen, inklusive eines vermeintlich anachronistischen Aggressor-Typen, wie ihn der Präsident der Russischen Föderation verkörpert; aber auch, zum Beispiel, mit einer »Zeitenwende«, die der deutsche Bundeskanzler ausruft und die sich bisher vor allem als Trend zu einem lange überwunden geglaubten Militarismus äußert. Zu einem Rückfall in die Dichotomie des Kalten Krieges, diesmal zwischen den USA und China. Zu »Gottesstaaten«, in denen der Hass gegen Frauen offizielle Doktrin ist – unverhohlen brutal im Afghanistan der Taliban oder im Iran der Ayatollahs, etwas weniger grell bei WM-Gastgebern und anderen Öldiktaturen. Zum social-media-befeuerten Boom der Verschwörungserzählungen, von »Pizzagate« bis »Corona-Diktatur«. Zu neuen Gesetzen, mit denen die Dämonisierung und Verfolgung homosexueller und queerer Menschen vorgeschrieben wird, wie im Frühjahr 2023 in Uganda, aber in den letzten Jahren schon in Dutzenden anderer Staaten. Zum Aufstieg der Horrorclowns, die demokratische Systeme kapern und zerrütten; dass dieser Spuk mit der Abwahl eines US-amerikanischen und eines brasilianischen und dem Rückzug eines britischen Exemplars vorbei sein soll, ist leider kaum zu glauben. Und so weiter.

Wenn wir in den Grenzen des nationalstaatlichen Tellerrands bleiben wollen, könnte neben der »Zeitenwende« und den »Querdenkern« etwa die Einstufung mancher Unternehmen und Banken als »systemrelevant« mit auf die Liste. Oder die Präsenz einer aus besonders schlichten Dichotomien gestrickten rechtsextremen Partei in deutschen Parlamenten. Oder auch der politische Umgang mit Fetischen wie dem Verbrennungsmotor, mit Tabus wie dem Tempolimit oder mit Angstgegnern wie den »Klimaklebern«.

Heißt das, ich will das binäre Schema für jedes Übel in der Welt verantwortlich machen? Nein. Nicht unbedingt. Aber alle Elemente der Aufzählung von eben lassen sich auf das Wirken des binären Schemas in seiner aggressivsten Version – des autoritären Wir gegen die – zurückführen. Und je bedrohlicher, je monströser ein Problem wirkt, desto heftiger anscheinend der binäre Reflex, den es auslöst.

Gegen diesen Hang ist mein Büchlein angeschrieben. Es will seinerseits aber keine Heilsbotschaft verkünden, kein Hören wir auf, das Nonbinäre zu verdrängen, dann wird alles gut. Es soll skeptisch bleiben, auch gegenüber seinen eigenen Wahrheiten. Es ist ein unordentliches Plädoyer für antiautoritäre Denk- und Handlungsweisen. Eine kleine, hoffentlich anregende Reise in nichtbinäre Gefilde. Und es möchte dabei vor allem für das emanzipatorische Potenzial der Subversion werben.

Oder weniger feuilletonistisch, dafür in metaphysischer Strenge ausgedrückt: Im binären Schema hängen wir fest. Wir müssen uns aber dringend bewegen. Die Hoffnung ist nicht binär.

Ausgangspunkte

Wo es um die Anfänge der binären Denktradition geht, wird meist eine männlich-griechisch-antike Schule genannt, verbunden mit den Namen Sokrates, Platon und Aristoteles. Trat Sokrates zu Lebzeiten noch als Unruhestifter auf und musste den Giftbecher leeren, weil er angeblich die Athener Jugend verdarb und die Götter nicht achtete, so hält er in Platons Politeia als Advokat für einen ständisch organisierten Staat her, in dem jedem Menschen eine »naturgemäße« Aufgabe zukommt.