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Wie ein Vogel im Käfig: Der Schicksalsroman »Nora« von Merete Pryds Helle jetzt als eBook bei dotbooks. Wie lange kann eine Frau es ertragen, von den Männern wie eine Puppe behandelt zu werden, ein dekoratives Spielzeug in ihrem eigenen Heim? Um ihrem herrischen Vater zu entkommen, stürzt sich die junge Nora in eine Ehe mit dem Advokaten Torvad Helmer. Kann sie so die Schatten der Vergangenheit hinter sich lassen? Als Torvald schwer erkrankt, fälscht Nora aus Liebe zu ihm die Unterschrift ihres Vaters, um die rettende Kur in Italien bezahlen zu können – doch je mehr sich Torvad erholt, umso stärker versucht er, Nora in eine Rolle zu zwingen, in der sie sich nie wiederfinden wollte. Wird sie das kleine bisschen Unabhängigkeit verlieren, für das sie bereits so viel aufs Spiel gesetzt hat? »Nora – oder: Ein Puppenheim«, der Theater-Klassiker des norwegischen Autors Henrik Ibsen, provoziert seit seiner Uraufführung 1879 jede Generation aufs Neue – und inspirierte nach vielen Neuinterpretationen für die Bühne nun auch die preisgekrönte Autorin Merete Pryds Helle zu einem Roman, der bewegt und lange in der Erinnerung nachhallen wird. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Das fesselnde Zeit- und Gesellschaftsporträt »Nora« von Merete Pryds Helle wird alle Leserinnen und Leser von zeitlosen Klassikern wie »Madame Bovary« von Gustave Flaubert oder »Anna Karenina« von Lew Tolstoi begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Über dieses Buch:
Wie lange kann eine Frau es ertragen, von den Männern wie eine Puppe behandelt zu werden, ein dekoratives Spielzeug in ihrem eigenen Heim? Um ihrem herrischen Vater zu entkommen, stürzt sich die junge Nora in eine Ehe mit dem Advokaten Torvad Helmer. Kann sie so die Schatten der Vergangenheit hinter sich lassen? Als Torvald schwer erkrankt, fälscht Nora aus Liebe zu ihm die Unterschrift ihres Vaters, um die rettende Kur in Italien bezahlen zu können – doch je mehr sich Torvad erholt, umso stärker versucht er, Nora in eine Rolle zu zwingen, in der sie sich nie wiederfinden wollte. Wird sie das kleine bisschen Unabhängigkeit verlieren, für das sie bereits so viel aufs Spiel gesetzt hat?
»Nora« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.
Über die Autorin:
Merete Pryds Helle ist eine vielfach ausgezeichnete dänische Autorin. Für ihren Roman »Folkets skønhed« erhielt sie 2016 den Politiken-Literaturpreis und die Auszeichnung »Der goldene Lorbeer«.
Bei dotbooks erscheint ihr Roman »Nora« als eBook.
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eBook-Ausgabe Juni 2023
Die dänische Originalausgabe erschien erstmals 2019 unter dem Originaltitel »Nora« bei SAGA Egmont, Kopenhagen.
Copyright © der dänischen Originalausgabe 2019 Merete Pryds Helle und SAGA Egmont
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2022 Merete Pryds Helle und SAGA Egmont
Copyright © der eBook-Ausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Paulina Ochnio unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)
ISBN 978-3-98690-651-1
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Merete Pryds Helle
Nora
Die Neuinterpretation des Klassikers von Henrik Ibsen
Aus dem Dänischen von Inge Wehrmann
dotbooks.
Jetzt, wo Nora zwölf Jahre alt ist, kann sie allein zur Schule gehen. Lehrer Langnes zieht von Hof zu Hof und hält Schulunterricht ab für die Kinder, die kommen können. Er wird zwei Tage bei Kristine sein, und Nora soll dort übernachten. Annemarie hat die Anziehsachen bereitgelegt und hilft Nora ins Unterhemd und in die Wollsocken, die von blauen Schnüren gehalten werden. Annemarie kann sehr gut häkeln und stricken: Wollunterhosen, das lange Wollkleid mit der blau geblümten Borte, die bestickte Jacke, Schal und Halswärmer, den Nora sich über die Nase zieht, und zu guter Letzt die großen Lederstiefel mit dem Lammfellfutter. Vor dem Fenster hängt der dunkle Morgenhimmel mit seinen Sternen und dem hinter den Bergen aufscheinenden Mondlicht.
Bertha bindet die mit Margeriten bemalte blaue Holzkiste auf dem Schlitten fest, den sie in den Windfang gezogen hat.
»Da sind lauter gute Sachen drin«, sagt sie fröhlich.
Sie drückt Nora an sich, und der Geruch nach Fett, Essig, Blaubeermarmelade, Fisch und Zucker, der Bertha umwogt, ist tröstlich. Noras Vater kommt aus seinem Arbeitszimmer, in dem er, wie er sagt, seit fünf Uhr früh gesessen habe, denn Der frühe Vogel fängt den Wurm, betont er.
»Dieser Langnes«, fragt er, »singt der Psalmen mit euch?«
»Selten«, lügt Nora.
Lehrer Langnes beginnt jeden Schultag mit einem Psalm, aber sie möchte am frühen Morgen keinen Ärger riskieren.
»Vor der Sorte muss man sich hüten«, mahnt der Vater. »Ein Lehrer kann seinen Schülern nämlich die Köpfe verdrehen.«
Annemarie knöpft Noras Mantel zu.
»Mit den dicken Sachen sollte sie nicht so lange im Warmen stehen«, erklärt sie.
Noras Vater nickt, geht zurück ins Arbeitszimmer und zieht die Tür hinter sich zu. Bertha schiebt den Schlitten aus dem Windfang. Ein paar tief hängende Wolken sehen aus wie Früchte, die darauf warten, gepflückt zu werden. Die Pferde schnauben im Stall, sonst ist es still. Die Luft ist frisch wie unsichtbarer Schnee. Die Fenster des Lysgård-Hofs sind erleuchtet, und Annemarie zündet die Laterne an, die vorn am Schlitten befestigt ist.
»Hopp, hopp!«, sagt sie, als wäre Nora ein Pferd.
Der Weg über den Schnee erfüllt Nora mit Freude. Sie fühlt sich wie ein Vogel, der durch die frische Luft zwischen den stillen Bergen schwebt, deren Umrisse langsam aus dem Dunkel hervortreten. Sie hört ein Vogelzwitschern, ein Rascheln im Gebüsch, ihren eigenen Atem. Sie nimmt die Stille wahr, die hinter den Geräuschen herrscht, wenn sie selbst nicht da ist. Bergabwärts setzt sie sich auf den Schlitten und kommt schnell voran. Zu ihrer Linken ist der erste Schimmer des Tages zu erahnen, noch immer so schwach, dass er keine Macht über den dunklen Nachthimmel hat. Nora wird ganz traurig beim Anblick der erleuchteten Fenster, als der Weg das letzte Stück nach Molde hinabführt und sie bremsen und anhalten muss. Hinter ihr nähert sich ein Schlitten mit klingelnden Schellen. Das sind die Kinder aus Råkhaugen.
Kristine wohnt in einem weißen Holzhaus, und die einzigen Tiere dort sind ein paar Hühner und ein Schwein, das für Weihnachten fett gefüttert wird. Der Geruch im Haus ist auch anders. Auf Lysgård riecht es nach Essig, Käse, Pferden und Pfeifentabak, aber hier duftet es nach Äpfeln. Auf Lysgård haben sie einen Vorstehhund, mit dem Noras Vater auf die Jagd geht. Kristines Mutter besitzt dagegen ein kleines weißes Hündchen, das ihr auf Schritt und Tritt nachläuft und ziemlich dumm zu sein scheint. Kristines Mutter behauptet, dies habe den Vorteil, dass sich alle im Vergleich zu ihm schlau fühlen würden.
Die Tür zum Haupthaus wird geöffnet, und da stehen Kristines Mutter und Lehrer Langnes und hinter ihnen Kristines Brüder Helge und Frode. Nora denkt, dass Kristines Mutter ein Mann fehlt, der neben ihr in der Tür steht, so wie ihr Vater sagt, dass ihm eine Frau fehlt, die um den Tisch herumläuft, wenn man Gäste hat. Nora hat gehofft, ihr Vater und Kristines Mutter würden vielleicht heiraten, aber er meint, sie sei eine von den Frauen, neben der man sich als Mann klein fühlen würde.
Das Dienstmädchen Oline nimmt die Essenskisten der Kinder entgegen und bringt sie in die Küche. Hinter ihr erscheint Kristine und zieht Nora ins Haus, als wären die Kinder von Råkhaugen Luft für sie. In der Stube hat man Bank und Stühle hintereinander aufgestellt und die Tische des Hauses herbeigeschleppt. Kristine hilft Nora aus dem Mantel und hängt ihn an den knisternden Kamin, der wärmer scheint als der auf Lysgård, während sie Nora zuflüstert, dass Lehrer Langnes ein Nieselpriem sei, der glaube, alles zu wissen, aber als Kristine ihn fragte, wie man Käse macht, habe er keine Ahnung gehabt.
Die letzten Kinder treffen auf dem Hof ein, insgesamt sind sie nun zwölf. Nachdem sie alle ihre Mäntel abgelegt und ihre Schuhe gegen Holzschuhe getauscht haben, kommen sie herein und setzen sich. Lehrer Langnes stellt sich hinter den großen Tisch am Fenster und hebt die Arme, so wie Pastor Hansen es macht, wenn er den Kirchenchor dirigiert. Es folgt Geschniefe und Naseputzen, bis die Kinder langsam warm werden und hinter Lehrer Langnes die ersten Sonnenstrahlen durchs Fenster fallen.
»Wir beginnen mit Singen«, verkündet er und lässt Kristine die Gesangbücher verteilen.
Sie sollen Vater unser im Himmelreich singen. Zum Glück singen Kristine und die beiden Petterson-Brüder neben und hinter Nora kräftig mit, weshalb sie nur die Lippen bewegen muss, um der Missbilligung ihres Vaters und ihres Lehrers zu entgehen.
Nach dem Psalm erzählt Lehrer Langnes von Napoleons Einzug in Ägypten und erklärt, dass sich im Gefolge des Kaisers Wissenschaftler befanden. Sie studierten die örtliche Gesittung, die Geologie und Flora, was Blumen bedeutet.
Von der Vorstellung, dass man eine Expedition nach Ägypten machen kann, rauscht Nora der Kopf. Lehrer Langnes sagt, dass die Berge in Ägypten ausgedörrt und mit Sand bedeckt seien und dass man auf Kamelen statt auf Pferden reiten würde, weil Kamele Wasser in ihren Höckern speichern und deshalb lange Strecken über die sandigen Berge zurücklegen könnten.
»So ähnlich wie die Ammen«, flüstert Kristine Nora zu. »Die speichern Milch in ihren Brüsten.«
Danach sollen sie die Städte an der Westküste auf ihre Tafeln schreiben, ohne miteinander zu tuscheln. Nora sieht, dass Kristine mehr Namen aufschreibt als sie, aber das sind sicher unbekannte Orte, von denen kein Mensch jemals gehört hat. Das Kratzen der Griffel auf den Schiefertafeln erfüllt den Raum. Als die Sonne über das halbe Fenster gewandert ist, erscheint Oline mit Tellern, auf denen sie das mitgebrachte Essen der Kinder angerichtet hat. Nach dem Essen kommt das Rechnen an die Reihe. Nora zaudert vor den Zahlen, die sich auf ihrer Tafel anhäufen, aber viele brauchen Hilfe, und Kristine kann ihr etwas zuflüstern. Als sie später an der großen Tafel rechnen müssen, hat Nora Glück und bekommt die Zwölferreihe, die so schön ordentlich ist, dass sie sie immer im Kopf hat. Die Sonne verschwindet am Fenster, das Licht wird grauer und kündigt die Nachmittagsdunkelheit an. Der große Schlitten kommt zurück, um die Råkhaugen-Kinder heimzubringen, und die anderen Kinder holen ihre kleinen Schlitten. Nur Susanne und Nora bleiben da, und Oline kocht Lammsuppe und deckt für sie und die Jungen den Küchentisch, während Lehrer Langnes und Kristines Mutter es lustig finden, dass jeder an seinem eigenen Tisch in der Stube isst, so als säßen sie in der Schule.
»Denkt daran, dass Gott euer wichtigster Lehrer ist«, sagt Lehrer Langnes, bevor er die Stubentür hinter sich schließt.
Nora hätte am liebsten die Zunge hinter ihm herausgestreckt, aber als sie sieht, dass Susanne mit den Fingern ein Kreuz auf die Tür zeichnet, presst sie die Lippen aufeinander, denn ihr fällt ein, dass Susanne eine Pfarrerstochter ist.
Oline pfeift beim Kochen, der Herd wärmt die Küche, und in der Luft hängt ein leichter Mehlgeruch von dem Teig, den sie vorbereitet hat.
Kurz darauf rennen die Jungen um den Küchentisch, und Frode schreit, Helge sei ein Troll.
»Und jetzt fress ich dich auf«, faucht Helge.
Die Mutter kommt mit dem Stickrahmen in der Hand und dem Hund im Schlepptau in die Küche gerauscht. Sie zeigt mit der Sticknadel auf die Jungen und weist Kristine an, die beiden mit nach oben zu nehmen und im Puppenhaus zu spielen. Kristine verschränkt die Arme vor der Brust.
»Dazu habe ich keine Lust«, erklärt sie.
Nora sieht sie bestürzt an, und Susanne wirkt ebenso verblüfft. Kristines Mutter kneift Kristine ins Ohrläppchen und schickt sie nach oben, und endlich wird Nora das Puppenhaus sehen, von dem alle in Molde sprechen.
Die Jungen stürmen als Erste die dunkle Treppe zum Dachboden hinauf, wo es genauso riecht wie im Rest des Hauses, und hier stehen auch die Körbe voller Äpfel und Birnen. Kristine öffnet die Tür zum Giebelzimmer, und Susanne geht mit der Lampe, deren weicher Schimmer auf den Boden fällt, hinter ihr her, dicht gefolgt von Nora. Über ihren Schultern herrscht Finsternis. Kristine nimmt die Kerze aus dem Leuchter und zündet damit die Lampen des Giebelzimmers an. Aus dem Dunkel erhebt sich das weiße Puppenhaus wie ein Schiff, das in den Fjord segelt. Es füllt den ganzen Raum aus. Es hat zwei hohe Fenster links und rechts von der Tür, die Helge erst öffnet, nachdem er Kristine einen fragenden Blick zugeworfen hat.
»Das ist das Einzige, das uns unser Vater hinterlassen hat«, erklärt sie. »Es ist so leer wie ein hohles Ei, das eine Elster leer gesaugt hat.«
»Wir können es füllen!«, schlägt Nora vor.
Vorsichtig treten sie durch die niedrige Tür und stehen dicht beieinander im Haus. Es fühlt sich an, als würden die Wände sie erdrücken. Die Jungen kriechen auf allen vieren um die Mädchen herum und bellen.
»Ich hasse es«, erklärt Kristine.
In der Nacht, unter dem schweren Federbett neben Kristine, die sich wie ein Tier in seinem Bau zusammengerollt hat, und Susanne, die auf der Klappbank vor sich hin schnarcht, träumt Nora, dass sie auf ihrem Schlitten über die Bergkuppen beim Lysgård-Hof dahingleitet. Über ihr herrscht Nacht, und Raubvögel schweben wie Wolken im Sturm. Doch trotz der Dunkelheit sieht Nora alles ganz klar. Die Schlittenkufen gleiten in der Spur, der Weg wird schmaler, die Felsen drängen sich immer enger zusammen, sodass sie gezwungen ist, weiter vorwärtszufahren. Und zum Schluss tut sich der Abgrund vor ihr auf, und sie muss den Schlitten abbremsen, der bedrohlich auf der Felskante schwankt. Vor ihr schlagen drei große Fischadler mit den Flügeln. Dann weicht Nora Schritt für Schritt zurück zwischen die Felswände, zerrt den Schlitten wieder auf den Weg und kann inmitten der Stille endlich wenden. Vor ihr liegt das Tal im goldenen Morgenlicht unter einer dicken Schneedecke, die wie ein Gewimmel aus weißen Puppenhäusern aussieht, und über allem wölbt sich eine dröhnende Stille.
Nora ist in Richtung Molde unterwegs und pflückt Blaubeeren, die auf der Böschung am Wegesrand wachsen. Sie hat zwei Körbe dabei, und einer ist schon voll. Die Sonne brennt auf ihren Kopf und ihre Schultern nieder, und es ist eine Wohltat, wenn sie zwischendurch hinter einer vorbeiziehenden Wolke verschwindet. Nora schaut den Weg hinunter, denn Großknecht Petter wird einen jungen Studenten herbringen. Es ist der Neffe von einem Angestellten ihres Vaters, der einen ruhigen Ort für seine Studien braucht, da sein Zuhause in Vestnes nach den Worten ihres Vaters wenig förderlich für seine Denktätigkeit sei. Der Student wird den ganzen Sommer bleiben. Nora setzt sich ins hohe Gras und atmet den sommerlichen Duft ein. Eine Biene landet auf dem Saum ihres roten Rockes, und Nora stellt sich vor, sie würde ihren Rüssel in sie hineinschieben wie in eine Blüte und Nektar aus ihrem Knie saugen. Als die Kutsche an der Wegbiegung auftaucht, springt sie auf und pflückt weiter. Die Biene fliegt zu einer Lupine und verschwindet in ihrer Blüte. Die Kutsche nähert sich, und Nora winkt. Petter sagt etwas zu seinem Fahrgast und hebt die Hand zum Gruß. Der Wagen bleibt vor Nora stehen. Die Pferde schwitzen in der Hitze und treten unruhig auf der Stelle.
»Braucht das Fräulein Hilfe?«, fragt der junge Mann.
Er ist groß und schlank und hat fein gelocktes, hellbraunes Haar. Seine Augen blicken freundlich, und nie zuvor hat Nora so einen warmen Grauton gesehen. Sein Mund ist groß und lächelt, er sieht völlig anders aus als die Männer, die sie kennt: Petter und die anderen Knechte mit ihren schweren, kräftigen Körpern, ihr Vater und seine Geschäftsfreunde mit ihren untersetzten Schreibtischfiguren. Der junge Mann ist groß und schlank, und seine Bewegungen haben etwas Tänzerisches.
»Ich bin Student Helmer«, stellt er sich vor, als würde jeden Tag ein fremder Mann mit Petters Pferdewagen auf den Lysgård-Hof kommen.
»Fräulein Nora könnte wohl Hilfe bei den Körben gebrauchen«, sagt Petter, und Student Helmer springt vom Wagen. Sobald er auf dem Boden steht, traben die Pferde weiter.
Nora reicht dem Studenten den vollen Korb und nimmt selbst den leeren.
»Soll ich sie gleich aufessen?«, fragt er und greift mit seiner wohlgeformten Hand nach ein paar Beeren. Nora errötet und weiß nicht, was sie sagen soll. Glaubt er, dass die Beeren alle für ihn sind? Da fängt er an zu lachen und wirft sie zurück in den Korb, bis auf zwei. Eine davon steckt er sich in den Mund, und die andere reicht er Nora.
»Wir wollen lieber maßhalten«, sagt er. »Erlauben Sie mir, Ihren Korb zu füllen, während Sie den Sonnenschein genießen?«
Nora errötet noch mehr und setzt sich ins Gras.
»Was studieren Sie, Student Helmer?«, fragt sie.
»Staatsverwaltung«, erwidert er, während er eifrig Beeren pflückt, die dicht unter den Blättern wachsen. »Wissen Sie, ich liege morgens im Bett und denke mir Zahlenreihen aus, es gibt für mich nichts Schöneres, als mich in die Welt der Zahlen zu versenken.«
»Tatsächlich?«, fragt Nora.
Sie schaut sich um und betrachtet die roten Blütentupfen zwischen den grünen Grashalmen, die zum blauen Himmel aufstrebenden Lupinen, die Bienen, die träge von einem Blütenkelch zum anderen schweben, die dunkelgrünen Kiefern an den Berghängen.
»Die Natur ist auch wunderschön«, stellt sie fest.
Student Helmer zeigt ihr den Korb, der schon zu einem Drittel gefüllt ist. Er erhebt sich aus seiner gebückten Haltung und mustert Nora mit seinen wundervollen, sanften Augen. Sein Blick raubt ihr den Atem, und sie lehnt sich zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
»Sie haben recht«, stimmt er ihr zu. »Vor allem wenn ich mir erlauben darf, Sie in das, was man Natur nennt, mit einzuschließen, Fräulein Nora.«
»Mein Vater liest Rousseau. Was halten Sie von seinen Gedanken?«
»Ich fürchte, dass ich nicht weitergekommen bin als bis zum Verwaltungsrecht«, entgegnet Student Helmer. »Vielleicht sind Sie ja so freundlich, mir vorzulesen? Man hat mir mitgeteilt, dass ich mit der Familie essen werde. Nach dem Abendessen wäre es mir eine Freude, wenn Sie meine Kenntnisse erweitern würden.«
Er geht ein paar Schritte weiter zu einigen Büschen, die noch nicht abgeerntet sind. Nora findet eine Beere im Gras und steckt sie in den Mund. Sie schmeckt süßer als alle anderen Blaubeeren, die sie je gegessen hat. Sie stellt sich vor, wie sie am Esstisch sitzt und ihm etwas vorliest. Wenn sie das doch jeden Tag machen könnte, dann wäre das Leben schön und sie glücklich. Nora versucht, den vorüberziehenden Wolken nachzuschauen, während der Student weiter Beeren pflückt, doch ihr Blick wird magisch von ihm angezogen. Seine Bewegungen wirken elegant und geschmeidig wie die einer Katze, sein Lächeln ist warmherzig und jungenhaft. Das muss das Glück sein, denkt Nora. Wer hätte geglaubt, dass heute der Tag ist, an dem der gute Petter ihr mit seiner Kutsche das Glück bringen würde?
Das Laken ist novemberkalt und das Federbett klamm. Das Stroh in der Matratze ist zu dicht zusammengepresst, und die Feuchtigkeit dringt durch das Steinfundament des Hauses und die Holzdielen und weiter durch die Matratze. Annemarie hat den Kachelofen neben Noras Nähtisch angezündet, doch die Wärme gelangt nicht bis zum Bett und schon gar nicht bis unter die Federdecke. Die Pferde schnauben im Stall, wo Petter alles für die Nacht abschließt. Irgendwo stößt ein Uhu seinen lang gezogenen, wehmütigen Schrei aus. Der Kachelofen wirft sein schwaches Licht an die Wände, und Nora betrachtet die grün gestrichenen Deckenbalken mit den aufgemalten rosa Blüten und die schöne Tapete mit den roten Blumensträußen. Es ist unmöglich zu schlafen. Bertha und Regine sind fertig mit dem Abwasch und sagen Gute Nacht zu Annemarie. Die Außentür klappert, als sie zum Plumpsklo und wieder zurück ins Haus huschen. Auf der anderen Seite der Wand knarren die Treppenstufen, und Nora hört, wie die beiden über ihr in der Mansarde herumgehen. Das Ofenrohr geht hinauf in ihre Kammer, weshalb es oben bei ihnen wärmer ist als bei Nora, und Regine legt immer Steine auf den Ofen, die sie vor dem Abwasch unter die Bettdecke geschoben hat. Nora hat gefragt, ob sie auch einen Stein für ihr Bett bekommen könnte, doch Annemarie meint, dass nur Dienstmädchen so etwas machen. Oben quietscht das Bett, und Berthas Pferdelache ist zu hören. Regine klopft dreimal auf den Fußboden, und Nora schlägt das klamme Federbett zur Seite. Der Boden ist eiskalt. Sie zieht die Strümpfe unter dem Kopfkissen hervor und streift sie über. Die Bettdecke legt sie auf den Schaukelstuhl neben dem Kachelofen. Dann späht sie vorsichtig durch die Zimmertür. Annemarie sitzt, den Nähkorb neben sich, mit dem Rücken zu ihr in der Stube. Vater hat im Esszimmer Gäste. Doktor Relling muss etwas Lustiges erzählt haben, denn Vater und Borkman lachen. Lautlos schließt Nora die Tür hinter sich. So schnell sie kann, huscht sie die Stufen hinauf, denn durchs Dach zieht es eiskalt ins Treppenhaus. Geschwind schlüpft sie in die Mädchenkammer. Das Bett füllt fast den ganzen Raum aus. Nur eine einsame Kerze am Fenster spendet ein wenig Licht. Berthas Stupsnase und ihre braunen Locken und Regines helle Haare und ihr spitzes Näschen schauen unter dem Federbett hervor.
»Schnell rein zu uns«, sagt Regine.
Bertha schlägt die Decke zurück, und Nora krabbelt zwischen die beiden. Sofort zieht Regine das Federbett wieder hoch. Die Besuchsritze zwischen den Mädchen ist weich und warm, und alle drei ziehen ihre Nachthemden hoch. Nora schmiegt sich an Bertha, die vor Lachen losprustet und behauptet, Nora sei so kalt wie ein Dorsch aus dem Nordmeer.
»Dann müssen wir sie wohl besser wärmen«, ordnet Regine an.
Die Mädchen fangen an, Noras Rücken, Bauch und Beine zu rubbeln, während Bertha davon erzählt, wie Noras Vater Doktor Relling dazu bringen wollte, seinen Schnaps zum Abendessen aus eigener Tasche zu zahlen. Während sie über Noras Hinterbacken streicht, meint Regine, es heiße, dass der Teufel in der Flasche wohne und dass Noras Vater sich sowohl gegen Gott als auch gegen den Teufel verschworen habe.
Es ist merkwürdig, wenn sie so über Vater sprechen, als gäbe es eine andere Wirklichkeit als jene, die er selbst darstellt. Wenn Nora so mit ihm sprechen könnte! Der Gedanke macht sie ganz kribbelig, genau wie Regines Finger, der über ihren Oberschenkel streicht. Bertha kichert und sagt: »Sch, sch, lass uns schlafen Regine!«
Regine flüstert: »Sch, sch, schlafen, ja, schlaft gut und träumt was Schönes.«
Sie hören auf zu reden. Bertha stützt sich auf und bläst die Kerze aus. Der Mond muss aufgegangen sein, denn ein weißer Lichtschimmer fällt ins Zimmer. Regine zieht das Federbett über ihre Köpfe und sagt: »Träumen, träumen.« Nora kichert. Sie liegen still da und genießen die Wärme.
»Kleine Pflaume«, flüstert Regine Nora ins Ohr. »Wie geht es Noras kleinem Pfläumchen?«
»Ich glaube, es friert«, sagt Bertha.
Die vier Hände der Mädchen sind wieder auf Noras Körper. Jetzt ist es, als würden sie nach etwas suchen, über ihrem Knie, auf der Innenseite ihrer Schenkel. Bertha presst ihre Brüste an Noras Rücken. Nora liegt reglos da, während Regines Hände zwischen ihre Schenkel gleiten. Das ist es, worauf Nora gewartet hat, weswegen sie hergekommen ist. Sie hat ein lebhaftes, pelziges Tier da unten, ein Tier, das ab und an hervorkommt, um an den Fingern zu lecken, von denen es gestreichelt wird.
»Was für eine schöne saftige Pflaume«, haucht Regine.
Sie bewegt die Hand über dem Tierchen, und Nora erwidert den Druck. Bertha beugt sich über Nora, greift ihre Hand und presst sie auf ihre Brüste. Sie schiebt die Decke beiseite und ein kalter Luftzug streift Nora, als Bertha sich aufsetzt und ihren feuchten Schritt auf Noras Knien kreisen lässt. Regine flüstert Pflaumensaft in Noras Ohr und küsst sie, während sie ihre Hand immer schneller bewegt. Das Tier da unten bekommt Flügel und springt von Regines Fingern in Noras Gehirn. Es nimmt ihren ganzen Körper mit und setzt mit einem wunderbaren bebenden Gefühl zur Landung an.
»Mmmmmm«, flüstert Regine.
Sie zieht ihre Hand zurück. Nora weiß, dass Regine nicht berührt werden will. Bertha verlässt Noras Knie, und Regine schiebt Nora über sich, sodass sie selbst auf Bertha liegt. Nora ist ganz oben und spürt, wie das Tier sich zurückzieht und verschwindet. Bertha stöhnt schwer unter Regines Fingern, dann spannt sich ihr Körper, und sie zieht Nora wieder die Decke weg. Hastig zerrt sie sie wieder in die andere Richtung. Plötzlich sind auf der Treppe Schritte zu hören. Bertha kichert. Sie ziehen ihre Nachthemden herunter und Bertha rollt sich auf die Seite und macht Schnarchgeräusche. Die Tür geht auf, und Annemarie steht vor ihnen, den abgewetzten samtenen Hausmantel von Noras Vater über den Schultern.
»Nora soll doch in ihrem eigenen Bett schlafen«, sagt sie.
»Ich kann in der Kälte nicht schlafen«, klagt Nora.
»Willst du jetzt frech werden?«, fragt Annemarie.
Nora wälzt sich aus dem Bett und eilt ohne sich umzuschauen davon. Zum Glück geht Annemarie als Erste die Treppe hinunter und kann den feuchten Fleck auf Noras Nachthemd nicht sehen.