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Teetied – und sie haben so viel Zeit.. Als in Sankt Peter Ording das Leben erwacht, stolpert ein sterbender Mann vor die Füße der Passanten. Jede Hilfe kommt zu spät und die Rettungskräfte können nur noch den Tod des Obdachlosen feststellen. Valentine Herzog und ihr Partner Jannis Karlsson werden hinzugezogen, denn schon vor der Obduktion wird klar, dass das ein Fall für die Sondereinheit für besonders schwere Verbrechen und Serienmorde ist. "Wieso sollte ein obdachloser Mann das Risiko eingehen, nachts überfallen zu werden, indem er eine gefälschte Rolex am Handgelenk trägt?" Herzog weiß, dass die teure Fälschung ein Zeichen sein muss – ein Zeichen, welches den Start einer Mordserie markiert. Trotz ihres bedrohten Privatlebens, in dem ein Stalker sie in Angst und Schrecken versetzt, macht sie sich gemeinsam mit ihrem Partner auf die Suche nach dem vermeintlichen Serientäter. Und sie soll recht behalten. Denn der Mann, den sie suchen, stellt bereits die nächste Uhr. Tick, tack – Wenn die Uhr verstummt, wird jemand sterben…. Also worauf warten Sie noch? Klicken Sie nun auf "In den Einkaufswagen" und lassen Sie sich an die Nordseeküste entführen!
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Seitenzahl: 266
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Für Fragen und Anregungen:
Auflage 2023
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Epilog
Valentine Herzog zog ihre Haustür hinter sich zu und lehnte sich mit geschlossenen Augen an die kühle Wand im Flur. Ihr Kollege Jannis Karlsson hatte sie noch gebeten, einen Cocktail mit ihm im Cafe Köm zu trinken, doch sie hatte abgelehnt. Ihr war jetzt nach einem heißen Bad zumute. Sie würde die Musik laut aufdrehen, um ihre Gedanken zu vertreiben und sich die steifen Muskeln vom warmen Wasser lockern zu lassen. Gerade erst hatten sie und Karlsson den Fall der „Nipptide-Morde“ abgeschlossen – der erste Fall, in dem sie gegen einen Serientäter ermittelt hatten. Herzog hielt einen Moment inne, ließ den Kopf mehrmals in der Luft kreisen. Sie spürte die leichten Kopfschmerzen, die in der Nackengegend begannen und sich ihren Weg über den Hinterkopf bis in die Stirn bahnten. Für einen kurzen Augenblick gönnte sie sich die Erinnerung an den Moment, in dem sie und Karlsson sich verabschiedet hatten.
Sie hatten sich umarmt und dabei eine Weile länger in der Umarmung verweilt, als es üblich war. Herzog hatte gespürt, dass dieser Fall sie und ihren Partner für immer miteinander verbinden würde. Er hatte ihr mit der Hand den Rücken entlanggestrichen und ihre Schultern fest gedrückt, bevor er sich mit einem Wangenkuss von ihr verabschiedet hatte.
Herzog ließ das Badewasser einlaufen. Sie drehte den Wasserhahn vollständig nach links, sah, wie der Wasserstrom zu dampfen begann. Herzog griff zu ihrem liebsten Badezusatz. Der Duft von Rosen und Sommer erfüllte den Raum. Für einen Moment schloss sie die Augen, spürte beim Einatmen die Luftfeuchtigkeit in ihrer Nase. Sie holte das Feuerzeug und zündete sich die Teelichter an, die sie für entspannende Abende nach herausfordernden Arbeitstagen stets im Badezimmerschrank bereithielt. Herzog strich die Kleidung ab, warf sie auf einen Haufen auf den Boden.
Für einen Moment überlegte sie, welche Musik sie einstellen sollte, dann griff sie zum Handy, um die entsprechende Playlist herauszusuchen.
In genau diesem Moment begann das Telefon in ihrer Hand, zu vibrieren. Sie sah die unterdrückte Nummer auf dem Display, stöhnte auf, wollte sie doch so schnell wie möglich in die Wanne. „Ja?“, fragte sie, doch am anderen Ende blieb es still.
„Hallo?“, fragte sie erneut. Das Atmen drang wie ein undurchdringbarer Schleier durch den Hörer. „Hören Sie, wer ist denn da?“, dieses Mal klang ihre Stimme genervt.
Die Worte, die der Mann sprach, bevor die Leitung tot war, waren lediglich ein Flüstern: „Ich sehe dich. Ich beobachte dich. Ich weiß, was du tust.“
Der Mann legte seine Jacke auf den Fußboden, strich sie glatt und setzte sich dann mit seinem ganzen Körper darauf – so, wie er es immer tat, wenn es warm genug war, um im Pullover zu schlafen. Denn Jacken mussten beschützt werden.
„Ey Alter, leg‘ dich woanders hin und stink‘ dort die Gegend voll“, hörte er die Stimme des Jugendlichen. Die anderen, die um ihn herum versammelt standen, johlten auf. Doch der Mann reagierte nicht. Er war es gewohnt, dass die Menschen sich über ihn lustig machten. Verstohlen versuchte er, die restlichen Haare, die er noch hatte, auf dem Kopf zu richten. Schon immer hatte er Wert darauf gelegt, nicht allzu sehr zu verwahrlosen. Doch das Leben auf der Straße war hart und kennzeichnend – selbst an dem Urlaubsort Sankt Peter Ording, an den die Menschen reisten, um sich etwas Gutes zu tun.
Ganz ruhig legte der Mann sich in die kleine Lücke zwischen einer Bank und der Hauswand. Wie jeden Abend versuchte er, unsichtbar zu werden, kein Aufsehen zu erregen.
„Entschuldigung?“, hörte er die freundliche Männerstimme. Auch dieses Mal gab er keine Antwort. Er machte sich ganz klein, versuchte, in der Lücke zwischen der Bank und der Hauswand zu verschwinden. Seine Atmung ging flach und er schloss die Augen, in der Hoffnung, nicht gemeint zu sein. „Entschuldigen Sie?“, fragte die Stimme erneut, dieses Mal deutlich näher. Der Mann lugte vorsichtig über die Bank hinweg und erkannte einen jungen Mann, der ihn freundlich ansah: „Möchten Sie noch etwas zu Abend essen, bevor sie schlafen?“
Der ältere Mann sah sein Gegenüber skeptisch an. Die lilagefärbten Haare standen in Stacheln vom Kopf ab, eine silberglänzende Kette zog sich vom geweiteten Ohrloch bis zum Nasenpiercing. Hose und Shirt hingen weit am Körper hinunter und die Füße steckten in schwarzen Tretern.
„Engen die Schuhe deine Füße nicht ein?“, in dem Moment, in dem der Mann den Satz aussprach, schämte er sich bereits dafür. Er hatte so lange nicht mehr mit Menschen gesprochen, dass er offenbar verlernt hatte, wie es funktionierte. Er senkte den Kopf, wollte sich schon entschuldigen, doch der Punk begann, zu lachen.
„Meine Füße haben sich dran gewöhnt“, meinte er schulterzuckend und hakte nach, „Wie ist es nun mit Essen? Haben Sie Hunger oder nicht?“
Noch immer konnte der Mann nicht aus seiner Haut. Er spürte das Zwicken in der Magengegend. Es musste Stunden her sein, dass er zuletzt ein hartgewordenes Brötchen gegessen hatte. Und doch war da das Gefühl, am Boden festzukleben und niemals mehr aufstehen zu können. Freundlichkeit hatte er so lange nicht mehr erlebt, dass es einen Haken geben musste. Je mehr der Mann versuchte, eine Antwort zu geben, desto mehr schien diese in seinem Halse steckenzubleiben. Der Punk zuckte die Schultern: „Ich hole mir jetzt jedenfalls Burger und Pommes. Ich bringe Ihnen einfach was mit, dann können Sie schauen, ob Sie etwas essen wollen.“
Der Mann sah dem Punk hinterher, beobachtete, wie dieser in das Restaurant trat. Er konnte den Blick nicht vom Eingang abwenden, ging fest davon aus, dass er wieder einmal enttäuscht würde – dass der Punk ihm aus der Ferne vielleicht noch lachend mit der Mahlzeit in der Hand zuwinken würde. Als er erkannte, dass der junge Mann Wort hielt, stiegen ihm die Tränen in die Augen. Verstohlen wischte er sie fort, wollte nicht, dass der Punk seine Rührung erkannte. So viel Leid hatte er erfahren – Leid, Schmerzen und Häme. Er zog sein Shirt glatt, richtete seine Haare. Aus der Ferne sah er dem jungen Mann für einen kurzen Moment in die Augen, bevor er den Blick erneut senkte. Der junge Mann stellte Burger, Pommes und Softgetränk vor ihn auf die Bank. Aus dem Augenwinkel nahm der Obdachlose wahr, wie er sich mit einem Kopfnicken verabschieden wollte.
„Ich weiß, wie es ist, wenn jeder so tut, als wäre man nicht da, weil man nicht zur Gesellschaft passt. Irgendwann denkt man, dass man von niemandem mehr gesehen wird“, sagte der Punk und wandte sich von dem älteren Mann ab.
Doch der Mann wurde gesehen – und das schon seit Tagen. Auch in diesem Moment, in dem ein Fremder am anderen Ende des Platzes saß und dem Mann beim Essen zusah.
„Verdammt nochmal, das gibt es doch nicht!“, Valentine Herzog knallte ihr privates Handy auf den Schreibtisch. Sie strich sich die dunklen Strähnen, die sich wieder einmal aus ihrem Zopf gelöst hatten, aus der Stirn und schloss für einen Moment die Augen. Gedankenverloren fasste sie sich über die Stelle an ihrem Ringfinger, an der bis vor Kurzem ihr Ehering gesessen hatte. Sie betrachtete den feinen Strich, der ein wenig heller war als der Rest der Haut. Noch immer verstand sie nicht, wie sehr sich ihr Ehemann in so kurzer Zeit verändert hatte.
„Theo?“, fragte ihr Kollege Jannis Karlsson, der bei dem lauten Knall zusammengezuckt war. Herzog zuckte mit den Schultern: „Ich habe beim besten Willen keine Ahnung, woher die Nachrichten sonst stammen könnten. Aber meine Kontaktpersonen haben Theo im Auge und sind fest davon überzeugt, dass er seit Monaten keinen Zugriff mehr auf ein Smartphone hat.“
Valentine Herzog hatte ihren Ehemann während des vergangenen Falles angezeigt, nachdem er sie eines Abends brutal und heimtückisch beim Betreten der gemeinsamen Wohnung zusammengeschlagen hatte. Theo Herzog war noch nie der charmante Bilderbuchehemann gewesen, von dem die meisten Mädchen in jungen Jahren träumen. Er hatte schon immer eine raue Ader und den Hang zum Cholerischen. Und doch hatte Valentine Herzog sich in ihn verliebt und ihn nach wenigen gemeinsamen Jahren schließlich geheiratet. Ihre Ehe war ein Auf und Ab gewesen, mit den klassischen Höhen und Tiefen, die wohl jede Ehe mit sich bringt. Und dennoch war ihr Mann nie aggressiv gewesen – bis der Umzug nach Sankt Peter Ording anstand. Die Ermittlerin hatte ein Angebot erhalten, welches sie unmöglich hätte ausschlagen können. Mit ihrer besonders feinfühligen Art, die sie ihrer Hochsensibilität verdankte, war sie prädestiniert für den Posten, der in diesem wunderschönen Kurort gerade erst eingeführt worden war. Sie wollte ihn unbedingt haben – den Job als Ermittlerin einer Sondereinheit, die für besonders schwere Mordfälle rund um die Nordseeküste ins Boot geholt wurde.
Anfangs hatte Theo zugestimmt und dem Neubeginn ebenfalls entgegengefiebert. Die Stimmung war jedoch gekippt, als der selbstständige Malermeister in der neuen Heimat keine Aufträge mehr erhielt. Theo Herzog hatte sich mehr und mehr zu einem unzufriedenen und schließlich aggressiven Mann entwickelt. Die Ermittlerin hatte ihn aus der gemeinsamen Wohnung geworfen, als er sie zum ersten Mal körperlich angegangen hatte. Doch das hatte nichts genützt. Als sie eines Abends nach der Arbeit heimgekommen war, hatte der erste Schlag gesessen. Er war so fest gewesen, dass sie keine Chance mehr gehabt hatte, die folgenden Schläge und Tritte abzuwehren. Es war ihr Glück gewesen, dass ihr Partner Jannis Karlsson die Eskalation erwartet und sie unwissend abendlich nach Hause begleitet hatte. Er war es gewesen, der Theo Herzog überwältigt und den Notarzt gerufen hatte. Inzwischen war Herzogs Noch-Ehemann zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und vier Monaten verurteilt worden, von denen er rund sechs Monate bereits abgesessen hatte. Herzog spürte, wie sie bei dem kurzen Flashback errötete. Sie schämte sich für die Verletzlichkeit, die sie an diesem Abend gefangen genommen hatte, ebenso wie für die Tatsache, dass ihr Kollege sie so gesehen hatte.
„Die wievielte Nachricht ist das jetzt?“, fragte Karlsson, doch Valentine Herzog schüttelte den Kopf: „Inzwischen wird es dreistellig sein. Seit dem ersten Anruf vor einem halben Jahr bekomme ich wöchentlich mehrere neue Nachrichten. Ich kann froh sein, dass ich mein privates Handy überhaupt noch nutzen darf. Wenn es nach Hagedorn ginge, hätte ich längst eine neue Nummer. Dabei habe ich wohl schon Schlimmeres erlebt als einen Idioten, der mir Angst machen möchte.“ Herzog spürte, wie sich die Maske ganz automatisch über ihr Gesicht legte. Ohne Pause sprach sie weiter: „Mein Handy musste ich natürlich dennoch prüfen lassen. Allerdings hatte die IT keine Chance, zurückzuverfolgen, von wo aus die Nachrichten gesendet werden. Wie so oft, wenn es sich um Stalking handelt, liegt der Ursprung irgendwo außerhalb von Europa und springt wild zwischen mehreren Orten hin und her. Unser Schreiber ist technisch auf jeden Fall versiert – was im Grunde gegen Theo spricht, weil der schon Probleme hatte, bei den Abrechnungen das Excel-Programm zu bedienen. Ist aber nicht weiter wichtig. Mich schockt so schnell nichts mehr.“
Mit einem Schulterzucken hielt Herzog ihrem Kollegen das Display ihres Telefons hin. Wenn du dich beobachtet fühlst, dann drehe dich ruhig um. Denn ich sehe dich, mein Mädchen! Ich bin immer für dich da.
Der Mann gab ein wohliges Seufzen von sich. Nach den heißen Sommertagen waren die lauen Nächte eine Wohltat. Eine sanfte Brise, die vom Meer herrührte, wehte ihm um die Nase. Der Mann roch das salzige Wasser, mit dem er sich täglich mehrmals erfrischte, um nicht allzu sehr wie das zu wirken, was er nach mehreren Jahren Straße geworden war – ein obdach- und mittelloser, alter Mann. Einen kurzen Moment gestattete er sich, an das „Früher“ zu denken. Sein halbes Leben lang hatte er hart gearbeitet, genügend Geld verdient, um seine Frau und seine Tochter zu ernähren. Der Mann schloss die Augen, als er sich die blonden, im Wind verwehenden Locken seines Kindes in den Sinn rief. Und das Lächeln seiner Frau, es war so ansteckend gewesen. Doch dann war sein Mädchen krank geworden. Sie hatte stumm gelitten und ihr Leid ertragen. Der Mann und seine Frau waren da, so gut sie konnten. Als herkömmliche Medizin nicht griff, hatten sie es mit etlichen, teuren alternativen Heilmethoden versucht. Der Mann spürte den Kloß im Hals, die Verzweiflung, die von ihm Besitz ergriff, als er daran dachte, wie er und seine Frau das kleine Mädchen beim Sterben begleitet hatten. Und wie er dann alleine zurückgeblieben war, nachdem seine Frau sich entschlossen hatte, der gemeinsamen Tochter hinterher zu reisen. Er war gebrochen gewesen und dieser Zustand hatte angehalten. Der Mann hatte nicht das Wertvollste verloren, als er auf der Straße landete – er hatte alles verloren, lange bevor er aus seiner Wohnung auszog.
„Aufwachen Prinzessin!“, es war nicht die Stimme, die ihn weckte. Es war der Eimer Wasser, der über ihm ausgeschüttet wurde. Mit einem Ruck setzte er sich auf, versuchte, zu verstehen, was geschah. Er sah den Fremden mit der schwarzen Skimaske, spürte das Wasser, das durch seine Kleidung hindurchsickerte und ihn erschaudern ließ. Er riss die Augen auf, wusste sofort, dass er sich nicht in der klassischen Situation befand, die er bereits kannte. Es handelte sich keineswegs um einen scherzhaften Angriff halbwüchsiger Jungen, denen er ein Dorn im Auge war. Dieser Mann mit der Maske wollte sich keinen übergriffigen Spaß mit ihm erlauben – er wollte mehr. Der Obdachlose sah es in den Augen, die durch die Maske hindurchblickten. Sie waren eisig, gefühllos und kalt.
„Gut geschlafen, Prinzessin?“, der Maskierte legte den Kopf schief. Der Mann versuchte unbeholfen, aufzustehen, Adrenalin schoss durch seinen Körper und doch war er nicht schnell oder stark genug, um dem Maskierten etwas entgegenzusetzen. Ein brennender, dumpfer Schmerz durchfuhr ihn, als der Fremde sich mit seinem gesamten Gewicht auf sein Bein stellte. Es war das Bein, welches mit offenen Wunden übersät war und dessen Wundflüssigkeit das Hosenbein mehr und mehr verklebt hatte. Der Mann schrie auf, hielt sich die Stelle, die sich wie ein Feuer in ihm ausbreitete, bettelte den Maskierten an, doch es half nichts. Der Obdachlose sah sich zu allen Seiten um, doch mitten in der Nacht unter der Woche war hier keine Hilfe zu erwarten. Schließlich war es die Menschenleere, die ihn diesen Ort als Übernachtungsmöglichkeit hatte auswählen lassen.
„Bitte“, bettelte der Mann, „Bitte. Ich will nicht sterben.“ Ihm war nicht klar, woher er wusste, dass der Fremde ihn umbringen will. Und dennoch hatte er keinen Zweifel, dass das sein Plan war. So oft der Mann auch über die Sinnlosigkeit seines Daseins nachgedacht hatte, wollte er keineswegs sterben. Schon gar nicht, nachdem er nach so vielen Jahren endlich wieder Vertrauen aufgebaut hatte. Inzwischen hatte er sich an den jungen Punk, der ihm nun regelmäßig warme Mahlzeiten brachte, so sehr gewöhnt. Er hätte ihm so gerne noch gesagt, wie dankbar er ihm war.
Doch noch immer erkannte der Mann keine Regung in den Augen des Maskierten. „Keine Sorge“, flüsterte er, der noch immer auf dem schmerzenden Bein des Obdachlosen stand, „Ich werde dich jetzt nicht umbringen.“
Die Worte standen im völligen Gegensatz zu den Augen des Maskierten, um die sich nun kleine Lachfältchen gebildet hatten. Der Obdachlose heulte auf, als der Fremde mit einem letzten Rucken von seinem Bein hinabstieg und sich zu ihm hockte. Er war vollkommen unfähig, etwas anderes zu tun, als sein vor Schmerzen glühendes Bein zu umklammern. Der reißende Schmerz ließ seine Sinne schwinden, die Welt vor seinen Augen verschwamm. Fast ohnmächtig vor Schmerz konnte er die Bewegungen des Mannes kaum noch wahrnehmen. Die Stimme, die nun dicht an seinem Ohr war, hörte er jedoch laut und deutlich:
„Du hast noch eine ganze Nacht als lebender Mann vor dir.“
Valentine Herzog hörte die Stimmen von Jannis Karlsson und Michael Hagedorn bereits, bevor diese das Büro betraten. Der Leiter des Morddezernats klang aufgeregt und sprach einen Hauch schneller als sonst. Seufzend schaltete Herzog ihr privates Handy, auf dem sich bisher noch keine Nachricht eingefunden hatte, aus. Anhand des Tonfalls und der Sprechgeschwindigkeit ihres Chefs konnte sie ausmachen, dass ihre volle Aufmerksamkeit gefordert wurde. Heute würde sie keine Akten bearbeiten, alte Fälle analysieren und recherchieren. Heute würde ein neuer Fall reinkommen.
„Was haben wir?“, fragte sie, als Hagedorn und Karlsson das Büro betraten. Hagedorn blieb für einen Moment stehen, schüttelte den Kopf, nickte, schüttelte den Kopf erneut. Dann hob er den Zeigefinger, deutete auf sie und meinte: „Ich habe immer gesagt, dass es ein Segen sein würde, Sie ins Boot zu holen. Woher wissen Sie, dass Sie einen neuen Fall haben?“
Doch Herzog winkte ab, konnten Außenstehende die feinen Sinne, die ihr ihre besondere Auffassungsgabe verliehen, nur selten als Antwort akzeptieren. Schon als Kind hatte sie die Erfahrung machen müssen, eher als „Sensibelchen“ denn als „feinfühlig“ bezeichnet zu werden. Aus diesem Grund hatte sie sich vor langer Zeit abgewöhnt, ihre Gabe vor anderen zu beschreiben. In Bezug auf Michael Hagedorn hatte sie Glück gehabt. Ihr Ruf, Fälle schnell und präzise zu lösen, war ihr vorausgeeilt, sodass sie ihre hochsensiblen Fähigkeiten nicht hatte beschreiben müssen.
„In Sankt Peter Dorf wurde eine Leiche gefunden“, Hagedorn stutzte, bevor er weitersprach: „Eigentlich müsste man eher sagen, dass der Tote den Passanten direkt vor die Füße gefallen ist.“
Herzog zog erstaunt die Augenbrauen zusammen, hielt sich jedoch zurück, damit ihr Chef weitersprechen konnte: „Bei dem Opfer handelt es sich um einen obdachlosen Mann, der laut erster Zeugenaussagen jede Nacht am selben Ort schläft. Sein Name ist Erik Jansen. Laut Ausweis ist er 62 Jahre alt. Er ist bereits auf dem Weg in unsere Rechtsmedizin. Dr. Alfred Meinert ist informiert und bereit, ihn entgegenzunehmen und zu untersuchen.“
Dieses Mal stellte Herzog die Frage, die noch immer unbeantwortet war: „Und wie kann ein Toter Passanten entgegenfallen?“ Sie schob eine zweite Frage hinterher: „Und warum ist es ein Fall für uns und nicht für die Kollegen?“
Hagedorn verzog mitleidig das Gesicht, sprach in seiner unverkennbar melodiösen Art: „Als unser Opfer aus der Gasse herausgestolpert kam, hat es natürlich noch gelebt. Jansen ist einer jungen Frau vor die Füße gefallen, als die ersten Mitarbeiter der Geschäfte zur Arbeit gingen. Die Kollegen konnten aufgrund des Schocks nur wenige Informationen aus unserer Zeugin herausbekommen. Sie hat jedoch berichtet, dass er sich an den Hals gegriffen und nach Luft gejapst hat. Sie meinte, dass sie zu verstört gewesen sei, um zu handeln. Schließlich ist Jansen zusammengebrochen und hat aufgehört, zu atmen. Ein zweiter Zeuge – Jakob Brunsen – ist auf die Situation zu und hat erfolglos versucht, Jansen wiederzubeleben. Brunsen hat schließlich den Notarzt und die Polizei alarmiert, doch als die eintrafen, war der Mann bereits tot. Die Kollegen waren schon dabei, den Toten in ihre Leichenhalle zu transportieren, haben sich jedoch umentschieden, als sie die Uhr gesehen haben, die der Tote am Handgelenk trug. Es war eine Rolex.“
„Eine Rolex?“, fragten Herzog und Karlsson gleichzeitig und die Ermittlerin schob hinterher: „Deshalb wird er zu uns gebracht.“
Natürlich war allen Beteiligten klar, dass ein obdachloser Mann niemals eine Rolex am Handgelenk tragen würde. Dementsprechend musste der Täter ihm die Uhr umgelegt haben, bevor er ihn ermordet hatte. Damit war die Hoffnung, es könnte sich um einen Unfall oder eine Tat im Affekt gehandelt haben, vom Tisch. Dieser Mord war ganz eindeutig geplant und der Täter hatte mit dem Umbinden der Uhr ein Zeichen hinterlassen. Herzog dachte an die vielen Recherchen, die sie im Laufe ihrer Karriere durchgeführt, die vielen Akten, die sie gelesen hatte.
Unabhängig vom Grund des Tötens hatten die meisten Einzelmorde etwas gemeinsam – in der Regel hinterließen die Täter niemals Zeichen oder Botschaften. Täter, die einen einzelnen Mord im Affekt, aus Rache oder Eifersucht begangen, hatten mit dem Tod ihres Opfers ihre Absicht erfüllt. Es gab vorrangig eine Gruppe von Menschen, die Botschaften hinterließ oder anderweitige Zeichen setzte. Sie hatten etwas zu sagen, wollten der Allgemeinheit oder den Ermittlern zeigen, dass sie noch nicht fertig waren.
„Eine Serie?“ Herzog hörte die Stimme ihres Partners und nickte, hatte sie doch denselben Gedanken: „Wenn die Uhr dem Opfer nicht gehört hat – und davon gehe ich aus – dann will der Täter uns etwas sagen. Und wenn das so ist, dann wird er noch nicht fertig sein.“ Die Blicke von Valentine Herzog und ihrem Partner trafen sich. Sie hatten bisher nur an einem Serienmordfall gearbeitet. Damals hatte der Täter Leichen während der Nipptide im Wasser beschwert. Dieser Fall hatte mehrere unschuldige Leben gefordert. Mehr noch: Herzogs private Probleme mit ihrem Ehemann hatten hier die Grenze zum Beruflichen überschritten. Noch nie zuvor hatte die Ermittlerin Privates und Berufliches miteinander vermischt. Doch hier hatte sie keine Wahl gehabt. Karlsson hatte von Anfang an gemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Dass er sie später vor Theos brutalen Schlägen gerettet hatte, sollte das Vertrauen in ihren Partner gestärkt haben. Und doch spürte sie den Zwiespalt in sich – das Gefühl zwischen Dankbarkeit und Scham, die sie aufzufressen drohte.
Das Klingeln von Hagedorns Handy riss die Ermittlerin aus ihren Gedanken. „Möchten Sie nicht rangehen?“, Herzog schmunzelte über das kurze Zusammenzucken ihres Chefs, der den prägnanten Klingelton von „Highway to hell“ offenbar dennoch nicht seinem eigenen Handy zugeordnet hatte. Hagedorn schnappte sich das Handy, nahm den Anruf mit einem schroffen „Ja?“ entgegen, lauschte und legte wortlos auf, bevor er sich an sein Team wandte: „Das Opfer ist eingetroffen. Dr. Meinert wird in wenigen Minuten mit der Obduktion beginnen.“
Nur wenige Minuten später stand Herzog zusammen mit ihrem Partner in dem Raum, der sie immer ein wenig frösteln ließ. Es mochte an dem kalten Licht liegen, welches als einzige Lichtquelle auf das Opfer gerichtet war. Auch die sterilen Instrumente, die scharfen Klingen und die gezahnten Sägen mochten ihren Teil dazu beitragen, dass sich auf Herzogs Körper eine Gänsehaut ausbreitete. Und trotz der inneren Kälte, die sie in ihren Klauen gefangen hielt, mochte Valentine Herzog keine Obduktion auslassen. Wenn sie die Leichen stumm und verletzlich auf dem metallischen Sektionstisch liegen sah, hatte sie das Gefühl, sich in das Leid, das sie erleiden mussten, hineinfühlen zu können, ihnen ein Stück näherzukommen.
Wie immer nahm Dr. Alfred Meinert sich keine Zeit für eine Begrüßung. „Können Sie mir sagen, warum dieser Mann auf meinem Tisch liegt? Mir erschließt sich bisher nicht, warum ein Opfer, welches offenbar erstickt ist, ein Fall mit hoher Priorität für Ihre Abteilung sein soll. Besondere Brutalität kann ich beim besten Willen noch nicht entdecken. Ehrlicherweise könnte ich momentan sogar noch behaupten, dass es sich bei diesem Fall um einen Unfall handeln könnte. Schließlich könnte sich das Opfer auch einfach verschluckt haben.“
Herzog deutete auf das Handgelenk des Opfers, sah den Moment des Erkennens in den Augen des Rechtsmediziners, die sich einen Bruchteil einer Sekunde weiteten: „Das ändert die Lage.“ Dr. Meinert nickte: „Sie gehen davon aus, dass die Rolex eine Nachricht des Täters ist? Wenn dem so ist, dann können wir nur hoffen, dass Sie den Täter schnell finden, denn dann ist er sicher noch nicht fertig.“ Der Rechtsmediziner lehnte sich so dicht über die Uhr, dass seine Brille das Ziffernblatt fast berührte.
„Wie bitte?“, Valentine Herzog musste nachhaken, was der Kollege in die Hand des Verstorbenen hineingenuschelt hatte. „Ist eine Fälschung“, sprach der Rechtsmediziner nun deutlicher und entfernte das Schmuckstück vom Handgelenk des Opfers. „Sehen Sie?“, schnellen Schrittes durchquerte Dr. Meinert den Sektionssaal, hielt den Ermittlern die Uhr unter die Nase. „Hier unten“, erklärte er und deutete mit den Fingern auf die Sechs im Ziffernblatt, „Hier ist bei einer originalen Rolex-Uhr das Krönchen als Markenzeichen in der Unterseite des Saphirglases eingraviert. Wenn wir die Uhr drehen und der Lichteinfall passt, müsste es aufblitzen.“ Der Rechtsmediziner demonstrierte das Gesagte, doch weder Herzog noch Karlsson konnten ein entsprechendes Symbol entdecken. „Hier hingegen“, meinte Dr. Meinert und deutete auf das Krönchen auf der Rückseite der Uhr, „werden wir bei einer Rolex niemals ein Krönchen finden. Aber am eindeutigsten ist das da.“ Dieses Mal zeigte der Mann auf das kleine Fach am Boden der Uhr.
„Das Batteriefach? Was ist damit?“, fragte Karlsson, an dessen Handgelenk Herzog noch niemals eine Armbanduhr gesehen hatte. „Es dürfte nicht dort sein“, meinte sie, „Eine Rolex wird von einem Perpetual-Rotor anstatt einer Batterie angetrieben. Wann immer sich der Träger der Uhr bewegt, wird der Rotor in Bewegung versetzt und die Uhr läuft.“ Der Rechtsmediziner deutete mit dem Finger auf die Ermittlerin und nickte anerkennend. „Jetzt aber absolute Ruhe. Ich muss arbeiten“, forderte der ältere Mann und wandte sich zurück zum Sektionstisch. „Eine Rolex mit Batteriefach. Also so etwas“, murmelte er leise lachend vor sich hin, während er sich zurück auf den Weg zu seiner Leiche machte.
„Sehen Sie die kleinen geplatzten Äderchen im Auge des Toten?“, der ergraute Rechtsmediziner Dr. Alfred Meinert hatte die äußere Leichenschau mit professioneller Neutralität durchgeführt. Er hatte den schlechten Allgemeinzustand des Verstorbenen beschrieben, die zerschlissene Kleidung Stück für Stück abgetragen und den nackten Körper des Toten von allen Seiten betrachtet. Im weißen Licht der Obduktionslampe wirkte der Tote gespenstisch, fast durchsichtig. Dr. Meinert fing die Rückstände, die sich beim Leben auf der Straße am Körper eines Menschen ansammelten, in durchsichtigen Beweisbeuteln auf und beschriftete jeden einzelnen in seiner akkuraten Handschrift. Dabei hatte er den Zustand und die Merkmale jedes Körperteils beschrieben und in sein Mikrofon eingesprochen. Wie immer wirkte der Rechtsmediziner bei jedem Handgriff strukturiert und aufgeräumt, ließ sich keinen Moment lang von der Anwesenheit des Ermittlerteams ablenken. Nun rückte er ein wenig vom Sektionstisch ab, um Herzog und Karlsson ins gerötete Augeninnere des Opfers schauen zu lassen: „Zusammen mit der Blaufärbung der Lippen deuten die geplatzten Äderchen auf einen Tod durch Sauerstoffmangel hin. Ein äußerliches Ersticken durch Erwürgen oder Strangulation ist jedoch vom Tisch.“ Dr. Meinert zählte die offensichtlichen Gründe für diese Theorie an zwei Fingern ab: „Beim Erwürgen hätte der Täter dem Opfer bis zum Tod die Luft mit den Händen abschnüren müssen und tote Menschen können bekannterweise keinen Zeugen mehr vor die Füße fallen. Beim Strangulieren hätten wir Striemen am Hals gefunden und hier gilt die gleiche Voraussetzung wie in meiner ersten Ausführung. Ich gehe davon aus, dass uns die innere Leichenschau mehr sagen wird. Entweder werden wir eine geschwollene Luftröhre vorfinden, Gase im Blut des Opfers feststellen, die zum Ersticken geführt haben, oder aber einen Fremdkörper, der dem Opfer im Hals steckt. Was meinen Sie? Eins, zwei oder drei?“ Dr. Meinert drehte sich den Ermittlern zu, sah sie mit übergroßen Augen durch die Lupenbrille hindurch fragend an. Herzog hatte sich längst an die unerschrockene Art gewöhnt, mit der ihr Kollege seine Arbeit verrichtete. Und sie verübelte es ihm nicht, würden sich wohl die meisten Menschen verändern, wenn sie rund um die Uhr mit Leichen zu tun hätten.
Dr. Meinert wartete nicht auf die Beantwortung seiner rhetorischen Frage. Mit einem beherzten Schnitt öffnete der Rechtsmediziner den Hals des Opfers im Kragenschnitt. Er achtete darauf, die Weichteile präzise und vorsichtig zu öffnen und nach und nach freizulegen, um jede Schicht für sich betrachten zu können. „Da haben wir es“, erneut wandte sich der Rechtsmediziner an die Ermittler, tastete währenddessen jedoch weiter an der nun freiliegenden Luftröhre auf und ab.
Valentine Herzog spürte, wie ihr Partner sich erneut versteifte, hörte die Luft, die er scharf einsog. „Hier steckt offensichtlich ein Fremdkörper“, erklärte der Rechtsmediziner in seinem wissenschaftlichen Tonfall weiter, ohne die Veränderung in Karlssons Haltung zu bemerken. Mit dem nächsten Schnitt eröffnete Dr. Meinert die dünne Luftröhre, griff hinein, holte das raus, was Erik Jansen getötet hatte, und betrachtete den kleinen Gegenstand genauer: „Also das ist tatsächlich etwas ganz Neues.“
„Was soll denn das sein?“ – Herzog hörte die fassungslose Stimme ihres Partners, noch bevor sie selbst einen Blick auf den Gegenstand werfen konnte.
„Ich würde meinen“, mutmaßte der Rechtsmediziner, „dass es sich hier um eine Tatwaffe handelt, mit der der Täter so sicher wie möglich den Tod des Opfers herbeiführen wollte.“ Dr. Meinert hielt den Ermittlern den metallischen, trichterförmigen Gegenstand hin. „Sehen Sie hier“, sagte er und deutete mit den Händen eine klassische Trichterform an, „Wenn wir einen Gegenstand verschlucken, bringen wir ihn im günstigsten Fall durch Husten wieder hervor. Suboptimal ist es schon, wenn der Gegenstand durch die Luftröhre hindurchrutscht und in die Lunge gelangt. Hier könnte sich eine Lungenentzündung entwickeln. Das Worst-Case-Szenario ist aber das Steckenbleiben des Gegenstandes in der Luftröhre, da dieser Zustand unweigerlich nach wenigen Minuten zum Tod führt.“ Herzog nickte, ahnte, warum der Täter genau diese Form gewählt hatte.
„Unser Täter wollte sichergehen, dass Erik Jansen den Gegenstand, der seine Luftröhre blockiert, weder aushusten noch vollständig einatmen würde, richtig?“, fragte sie und nahm wahr, wie Karlsson sich unbewusst an den Kehlkopf griff. Dr. Alfred Meinert nickte: „Das wäre in der Tat eine logische Erklärung für die Form. Hätte er einen Zylinder gewählt, wäre dieser – im für den Täter ungünstigsten Fall – direkt in die Lunge gerutscht. Der Trichter hingegen geht am oberen Ende so weit auf, dass er zwangsläufig steckenbleibt. Um diesen Trichter aus dem Hals des Opfers zu entfernen, wäre eine Menge Einsatz von außen nötig gewesen. Klopfen auf den Rücken – selbst, wenn es kräftig gewesen wäre – hätte da kaum etwas genützt. Ich denke, nur der Heimlich-Griff hätte diesen Mann retten können. Und der hätte schon sehr kräftig ausgeführt werden müssen, um das Metallstück aus der Luftröhre zu katapultieren.“ Meinert deutete auf die geöffnete Luftröhre: „Sehen Sie? Oberhalb der Stelle, an der der Trichter steckengeblieben ist, sind Verletzungen zu sehen. Der Täter hat den Trichter definitiv mit roher Gewalt in den Hals des Opfers eingeführt. Wie mit einem Keil hat er die Luftröhre vollständig mit dem Metallstück verschlossen.“
Herzog sah ihren Partner an, der inzwischen bleich geworden war. Trotz seiner Blässe nickte er seiner Kollegin zu, sodass sie den Gedankengang, den sie gerade gehabt hatte, ausführen konnte: „Vielleicht“, überlegte sie, „Vielleicht ist Erik Jansen dem Täter entkommen und so zu den Passanten gelangt. Der Gegenstand muss ihm in unmittelbarer Nähe zur Straße eingeführt worden sein, in der er schließlich auftauchte. Sonst wäre er in der Zwischenzeit längst erstickt. Das bedeutet, dass unser Täter ebenfalls in der Nähe gewesen sein muss.“ Noch bevor Herzog anmerken konnte, dass sie und Karlsson schnellstmöglich ins Dorf fahren mussten, um mögliche Spuren in den Nebenstraßen zu suchen, klingelte ihr Diensthandy. Sie sah aufs Display, wunderte sich über die unterdrückte Nummer, nahm den Anruf aber an.
„Sieben Minuten später!“ – eine Gänsehaut breitete sich in Herzogs Nacken aus. Die Stimme, die sie hörte, gehörte eindeutig zu einem Mann. Und dennoch klang sie anders als alles, was sie bisher gehört hatte. Es klang wie der melodiöse Singsang eines Kindes und ließ sie in allen Fasern ihres Körpers erschaudern. „Wie bitte?“, fragte sie, doch sie erhielt keine Antwort. „Sieben Minuten später?“, fragte Herzog erneut. Sie hatte Karlsson bereits herbeigewunken, der nun Wange an Wange verfolgte, was der Anrufer möglicherweise noch zu sagen hätte.