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Queller – Er serviert Seegras mit Niere. Und er hat den Tisch bereits gedeckt. Noch immer jagen Valentine Herzog und Jannis Karlsson einem Phantom hinterher. Denn der Puppenspieler ist weiterhin auf freiem Fuß. Er ist der unsichtbare Drahtzieher hinter der letzten Mordserie in Sankt Peter Ording. Doch dann erhält Jannis Karlsson einen Anruf. Am Tatort angekommen, erkennt er sofort, dass es sich bei dem Täter um einen alten Bekannten handelt. Zu oft hat er schon tote Ehepaare gesehen, bei denen die Männer erwürgt und den Frauen eine Niere herausgeschnitten wurde. Doch dieses Mal lädt Joachim Menzel das Team um Karlsson und Herzog zu einem persönlichen Spiel ein. Ein alter Feind ist wieder da. Und er läuft auf Hochtouren.
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Fragen und Anregungen:
Auflage 2025
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Der herbe, erdige Geruch von gebratenem Fleisch und würzigem Bärlauch stieg ihm in die Nase. Durchdringend und deutlich intensiver als die letzten Male. Er nickte der Polizistin zu, als er das Geräusch von spritzendem Fett zu ihrer Rechten hörte, und Maja formte ihr „Okay“ aus Daumen und Zeigefinger. Eine blonde, lose Haarsträhne war unter ihrem Stirnband hervorgerutscht und er sah, wie sie sie eilig zurückschob. Seine Finger schlossen sich fester um den Abzug der entsicherten Waffe, als er sich nahezu lautlos auf den Weg in die Küche machte. Er und Maja waren allein, sie wussten, dass es womöglich ihre einzige Chance wäre, Joachim Menzel zu stoppen. Ein scharfes Zischen ertönte aus der Küche und ging schon im nächsten Moment in ein stetiges Brutzeln über – fast, als wollte die Pfanne ihren Inhalt loswerden, bevor sie sich ihm widerstandslos ergeben musste.
Er warf einen raschen, vorsichtigen Blick durch die geöffnete Küchentür. Ein großer, offener Raum mit großzügiger Küchenzeile an der hinteren Wand direkt unter dem Fenster. Menzel drehte ihm den breiten Rücken zu, schob die Pfanne auf dem Herd hin und her. Seine Haare waren kürzer geschoren als auf dem Fahndungsfoto, das sie intern verwendet hatten, und wenn er sich nicht täuschte, hatte er es blondieren lassen. Die frischen Kräuter, die er in die Pfanne gab, erfüllten den Raum mit ihrer herben Note. Der Polizist wusste, dass Menzel selbst sie gesammelt hatte, ebenso wie die letzten Male. Er wich zurück, als Menzel seine Position veränderte, stieß gegen Maja, die noch immer mit gezogener Waffe hinter ihm stand. In diesem Moment sah er sie am Tisch sitzen. Dem Esstisch, der ihm deutlich näher war und den er dennoch aus seiner ursprünglichen Position nicht hatte sehen können, weil die Tür nur einen kleinen Winkel des großen Raumes freigegeben hatte. Beide saßen seitlich zu Menzel, als ob er wollte, dass sie ihm beim Kochen zusahen. Mit dem Rücken zum Polizisten saß die Frau, die an den Stuhl gefesselt und deren Kopf weit nach vorn gefallen war. Das Blut, das bereits vor Stunden an ihr hinuntergelaufen und auf den Boden getropft sein musste. Es bildete eine dunkelrote, an den Seiten bereits getrocknete Pfütze. Der Polizist kannte den leichten Widerstand gerinnenden Blutes, bevor eine derart dicke Lache nachgab und einen möglichen Finger- oder Schuhabdruck unwiederbringlich in sich einschloss, wenn man sie durchdrang. Der Frau gegenüber saß ihr Ehemann, dessen Augen jegliche Panik, die er mit Sicherheit zuvor empfunden hatte, verloren hatten. Resignation stand in ihnen, Mutlosigkeit und der letzte Wunsch, diese Welt bald verlassen zu dürfen. Selbst, als die Augen des Mannes die des Polizisten fanden, konnte er keine Hoffnung erkennen, kein Aufblitzen von Erleichterung, die die meisten empfanden, wenn ihnen die Befreiung bevorstand. Der Polizist spürte, wie Maja hinter ihm ihr Gewicht verlagerte, um ebenfalls in den Raum hineinspähen zu können. Er winkte sie neben sich, da Menzel sie aus seiner derzeitigen Perspektive hinten an der Küchenzeile ohnehin nicht würde sehen können. Sie sog scharf die Luft ein und war doch leiser als das Geräusch der Pfanne, in der das brutzelnde Fett der Niere die nötigen Röstaromen verlieh.
Der Polizist gab seiner Kollegin ein Zeichen und setzte sich schlagartig in Bewegung. Seine durchdringende Stimme erfüllte den Raum und in der nächsten Sekunde war Maja mit gezogener Waffe an seiner Seite. Sie traten an dem Esstisch vorbei, ließen das Ehepaar hinter sich zurück und schirmten mithilfe ihrer Körper Joachim Menzel vor seinen Opfern ab. Sie standen nun zwischen dem Jäger und den Gejagten und widmeten sich dem, der noch immer mit dem Rücken zu ihnen vor der Küchenzeile stand. Das Fensterlicht schien mit seinen aufgehellten Haaren zu spielen, als wollte es in dem vor ihnen stehenden Monster einen Hauch Schönheit herauskitzeln. Doch hier fand sich keine Schönheit, wie der Polizist wusste. Alles an dem Mann war das pure Böse.
Joachim Menzel, der noch immer Kräuter in die Pfanne gab, straffte die Schultern, als er die Stimme und Schritte der Beamten hörte. Dennoch war er nicht zusammengezuckt, als die Ermittler in den Raum gepoltert waren, hatte in aller Ruhe den Herd abgedreht und tief durchgeatmet. Langsam hob er die Hände und drehte sich um. Ein Lächeln lag auf seinen schmalen Lippen, seine fast schwarzen Augen hefteten sich an die des Polizisten. Die Schürze schützte sein weißes Hemd vor Fett- und Blutflecken. „Darf ich?“, er deutete eine Bewegung nach hinten an.
„Stopp!“ Majas Stimme war laut und kräftig und Joachim Menzel hielt in der Bewegung inne. „Ach kommen Sie“, sagte er und seine sonore Stimme schien im Raum zu vibrieren. „Ich möchte nur die Schürze abnehmen, um auf unserem gemeinsamen Weg nicht wie eine Küchenhilfe auszusehen.“ Feine Lachfältchen bildeten sich um seine Augenwinkel herum, so zart, als hätte er in seinem bisherigen Leben nur selten gelächelt.
Der Blick des Polizisten huschte durch den Raum. Menzel plante etwas, das wusste er. Doch er konnte nichts sehen, den Zusammenhang nicht erkennen. Resigniert hob Menzel die Hand wieder, der Polizist hatte jedoch gemerkt, wie Menzel seinem Blick gefolgt ist. „Ich denke, Sie können ihr nicht mehr helfen.“ Er deutete mit einem Finger auf die hinter dem Polizisten befindliche Frau, aus deren Wunde mit dem Stillstand ihres Herzens das Blut längst nicht mehr herauspulsierte. „Ich habe ihre Niere herausgeschnitten. Und die Nieren der anderen Frauen auch. Das Beweisstück befindet sich in der Pfanne hinter mir.“ Menzel zuckte mit den Schultern. „Aber wie ist es mit ihm?“ Noch immer gab der Mann im Rücken des Polizisten keinen Laut von sich. „Denken Sie, seine Seele lässt sich wieder reparieren? Oder ist er so tot wie die anderen Männer? Ich denke, dieses Mal brauche ich meine Hände nicht um seinen Hals legen.“ Der Polizist fühlte sich wie paralysiert und ahnte, dass es seiner Kollegin ebenso ging. Still stand sie neben ihm, hielt die Waffe auf Menzel gerichtet, schien sich nicht zu bewegen. Ob sie auf seine Anweisung wartete? Schließlich war er derjenige mit der größten Erfahrung. Er musste agieren, durfte Menzel nicht die Führung überlassen. Er musste das Schauspiel hier beenden und doch wollte es nicht gelingen. Joachim Menzel hatte etwas Hypnotisches an sich. Vielleicht waren es seine dunklen Augen, die ihn aufzusaugen schienen, vielleicht war es seine ruhige, tiefe Stimme. Doch er hatte einen Plan, verfolgte ihn bereits jetzt, das wusste der Polizist. Und er machte ihn und seine Kollegin zum Teil dieses Plans. Dennoch gelang es dem Polizisten noch immer nicht, ihn zu greifen. „Er ist schon gestorben, auch wenn ich ihn nicht erwürgt habe. Wissen Sie, was es für ein Gefühl ist, den Puls unter den Fingern zu spüren? Ein starker, kräftiger Puls, der gegen die Hände pocht, als würde er versuchen, sie wegzudrücken. Und dann nichts mehr.“ Seine Augen wurden beim Erzählen glasig und der Polizist nahm wahr, wie seine Kollegin neben ihm unruhig das Gewicht verlagerte. „Ein letztes Mal …“ Er verlieh seiner Stimme einen flehenden Unterton. „Ich habe bei vier Frauen die Nieren entfernt und drei ihrer Ehemänner erwürgt. Lassen Sie mich nur ein letztes Mal dieses Gefühl spüren. Wir wissen doch alle, dass der Mann schon tot ist.“
Der Polizist wurde vom erstickten Laut in seinem Rücken zurück in die Realität geholt. Im Augenwinkel sah der Polizist, wie Maja sich reflexartig zu dem hinter ihnen sitzenden Mann umsah. Ein Anfängerfehler, der ihnen nur deshalb nicht zum Verhängnis wurde, weil der Polizist selbst Joachim Menzel nicht aus den Augen ließ. „Sie sind verhaftet.“ Er begann, Joachim Menzel seine Rechte aufzuzählen. Das klickende Geräusch der sich verschließenden Handschellen gab dem Polizisten ein gutes Gefühl. Und doch war da noch etwas. Etwas, das unter der Oberfläche schlummerte und einen Schatten auf die Verhaftung warf. Doch egal, wie sehr er sich auch bemühte – noch immer konnte er nicht greifen, was diese böse Vorwarnung auslöste.
„Das darf nicht wahr sein!“ Nicht zum ersten Mal sehnte sich Valentine Herzog die dicken Akten zurück, die sie je nach Frust mit mehr oder weniger Nachdruck in die dazugehörigen Kartons pfeffern konnte. Das Dokument lediglich mit einem Fingerklick am Computer zu schließen, fühlte sich weit weniger befriedigend an. Energisch löste sie ihren Zopf, aus dem sich nach wie vor immer wieder einzelne Strähnen lösten. Sie strich die Haare nach hinten und befestigte sie mit zwei Klammern hinter den Ohren. Erst vor kurzem hatte sie sich die braunen Haare auf Kinnlänge abschneiden lassen – hatte die Veränderung gebraucht, nur um Sekunden später festzustellen, dass es ein Fehler gewesen war.
„Noch immer keine Anhaltspunkte?“, fragte Jannis Karlsson und sah sie über seinen eigenen Bildschirm hinweg an. Sie schüttelte resigniert den Kopf. Seit Wochen las sie sich die Unterlagen bereits immer und immer wieder durch. Inzwischen hatte sie das Gefühl, die meisten Sätze auswendig aufsagen zu können. Und doch wollte sich ihr keine Tür öffnen. Derjenige, der die Fäden hinter ihrem letzten Fall gezogen hatte, würde sie niemals bereitwillig hinter die Fassade sehen lassen. Dabei war Herzog es gewohnt, immer eine Lücke zu finden. Durch ihre Hochsensibilität, für die sie sich als Kind geschämt hatte, gelang es ihr als Ermittlerin, neue Perspektiven zu betrachten und sich in all die Monster hineinzuversetzen, mit denen sie es zu tun bekamen. Aus genau diesem Grund hatten sich die Morddezernate um sie gerissen, noch bevor sie ihr Studium beendet hatte.
„Hanno Hameln hat nicht gewusst, dass er manipuliert wurde“, sagte sie zum wiederholten Mal in den vergangenen Wochen. Sie hatte ihn in der psychiatrischen Anstalt gesehen, nachdem er verhaftet worden war, hatte die Veränderung in seinem Blick erkannt, als sie ihn fragte, wer sein Partner war. Er war davon ausgegangen, allein gehandelt zu haben. Er wollte den Tod seiner Frau rächen und hatte nicht gewusst, dass er während der Morde manipuliert und marionettengleich von einem Puppenspieler geführt worden war. „Ich weiß“, sagte Jannis und sie wusste, dass er ihre Einschätzung nicht infrage stellte. Niemand tat das, denn das Einschätzen von anderen Menschen war ihr Spezialgebiet und sie lag nahezu niemals falsch. Herzog ließ den Kopf an die Lehne ihres Schreibtischstuhls sinken, rieb sich die müden Augen – dankbar dafür, beim Wischen nicht auf Augen-Make-up achten zu müssen. Sie wollte nicht aufgeben, konnte nicht zulassen, dass der Mann, der den psychisch labilen Hanno Hameln ferngesteuert hatte, davonkam. Dabei wusste sie nicht einmal, inwiefern die zweite Person an den Morden beteiligt gewesen war. Es war Hameln selbst gewesen, der seine Opfer entführt hatte. Er war es, der sie verstümmelt und anschließend nahestehenden Personen einen Tauschhandel angeboten hatte. Er war es, der seine Opfer schließlich ermordet hatte. Und dennoch war er nicht allein gewesen. Doch selbst Özlem Güngör aus der IT war es in den letzten Wochen nicht gelungen, die Verbindung, die zwischen den Handys von Hameln und dem unbekannten Fremden geknüpft worden war, zu entwirren. So sehr sie sich auch bemühten, sie traten auf der Stelle.
„Dann kommt der andere ungestraft davon?“, fragte Herzog und spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Wieder konnte sie sich mit diesem Gedanken einfach nicht zufriedengeben. Denn auch, wenn Hameln die Taten ausgeführt hatte, war er benutzt worden – und das durfte einfach nicht geschehen. Jannis zuckte die Schultern. „Eine hohe Strafe hätte er ohnehin nicht zu erwarten“, sagte er. Herzog wollte etwas sagen, doch Jannis ließ sie nicht zu Wort kommen. „Er hat niemanden ermordet“, sagte er und fuhr sich durch die Haare. Er sah müde aus. Selbst das Licht, das seinen braunen Augen immer einen bernsteinfarbenen Glanz verlieh, konnte seine Wirkung längst nicht mehr voll entfalten. Doch anders als Herzog, die seit der Verhaftung jeden Tag bis spät in die Nacht im Dezernat verbrachte, wurden seine Nächte von Geschrei unterbrochen. Seine Tochter Lotta war jetzt ein Dreivierteljahr alt und Herzog wusste, dass ihr das Zahnen große Schmerzen bereitete.
Glücklicherweise war Maja jedoch nicht allzu oft zum Arbeiten im Dezernat – lediglich, um Jannis zusammen mit Lotta einen Besuch in der Mittagspause abzustatten. Denn auch, wenn sie aus dem Harz an die Nordsee gezogen war, um mit Jannis und Lotta zusammenleben zu können, hatte sie ihren Job als Ermittlerin noch nicht wieder aufgenommen. Valentine Herzog befürchtete jedoch, dass sie sich nach dem Mutterschaftsurlaub hier bewerben würde. Sie sah Jannis kurz an. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, als es noch denkbar gewesen war. Denn aus dem gemeinsamen Fall, den Maja und Jannis während eines Außeneinsatzes im Harz bearbeitet hatten, war eine kurze Affäre geworden und aus dieser Affäre war Lotta entstanden. Und niemals würde Herzog sich in eine Eltern-Kind-Beziehung drängen – selbst, wenn sie vermutete, dass keinerlei Vertrauen zwischen den Elternteilen herrschte. Niemals hätte er es offen zugegeben und dennoch sah sie es in seinen Bewegungen, die immer etwas steif und aufgesetzt wirkten, wenn Maja in der Nähe war.
„Hast du mich gehört?“, riss Jannis sie aus ihren Gedanken. „Derjenige, der Hanno Hameln geleitet hat, hat niemanden ermordet. Das wissen wir. Hameln hat alles, was er tat, selbst in die Hand genommen. Selbst, wenn wir ihn finden, wird seine Strafe mild ausfallen. Du musst loslassen.“
Herzog sprang von ihrem Schreibtisch auf und ging ans Fenster. Ihre Muskeln spielten unter ihrer Haut, doch anders als beim Training, fühlte es sich in dieser Situation vollkommen falsch an. Sie war wütend und wusste, dass der Falsche ihre Wut abbekam. Ihre Wut galt den Gesetzen. Menschen, die in den Selbstmord getrieben wurden und deren Täter – in ihren Augen Mörder – lediglich banale Strafen erhielten. Regeln, an die die Polizei sich halten musste, wenn sie nicht riskieren wollte, dass überführte Täter auf freien Fuß kamen. Strafen, die in vielen Fällen zuungunsten der Opfer und zugunsten der Täter ausfielen. Der Opferschutz, der ihrer Meinung nach dem Täterschutz deutlich überlegen sein sollte und es doch nicht war.
„In Ordnung“, sie zuckte mit den Schultern. Sie wusste, dass sie schnippisch war, und mochte sich in diesem Moment selbst nicht. Und dennoch war ihr Frust größer. Sollte Jannis es einfach auf ihre Hochsensibilität schieben. „Ich lasse jetzt los. Lass uns einfach abwarten, wann die nächste Marionette unschuldige Menschen abschlachtet. Vielleicht kriegen wir den Puppenspieler dann.“
Sie eilte zur Bürotür, brauchte frische Luft, bevor sie noch mehr Dinge sagen konnte, die sie nicht sagen wollte. „Hoppla!“ Majas Lachen drang ins Büro hinein, als Herzog sie fast mit der Tür traf. „Entschuldige“, sagte Herzog halbherzig und schob sich an Maja vorbei. An Maja und dem Kleinkind, das seine Arme in Valentines Richtung ausstreckte und sie mit roten Bäckchen anlächelte. Doch dafür war sie im Moment nicht stark genug. In diesem Moment konnte sie auf keinen Fall die Fassade, in der sie sich für die kleine Familie freute, aufrechterhalten. Sie entschuldigte sich ein zweites Mal und ließ die drei hinter sich zurück.
Valentine Herzog schloss die Augen und lehnte den Kopf nach vorn. Ihre Haare fielen ihr trotz der Klammern ins Gesicht und sie ärgerte sich ein weiteres Mal über den Kurzhaarschnitt. Jetzt konnte sie nicht mehr sagen, warum sie die Veränderung gebraucht hatte. Schließlich hatte sie sich noch nie viel aus ihrem Aussehen gemacht. Denn obwohl sie in der Schule jeden Tag aufs Neue das Mobbing ertragen musste, hatte sie sich nie als hässlich empfunden – im Gegenteil. Ihr gefielen ihre mandelförmigen Augen und sie hatte sich nie vollere Lippen oder rosigere Wangen gewünscht. Sie wusste, dass ihre Haut vielleicht eine Nuance zu hell für ihre dunklen Haare waren, aber auch das hatte sie nie gestört.
Herzog sah auf, als der Mann hinter dem Tresen zu kochen begann. Sie liebte das Geräusch, das kalte Lebensmittel machten, wenn sie in eine heiße Pfanne geworfen wurden. Einen kurzen Moment später erfüllte ein angenehmer, deftiger Geruch den Raum. „Möchten Sie bar zahlen?“, fragte der Mann mit gebrochenem Deutsch und sie schüttelte den Kopf. Seit einigen Jahren trug sie grundsätzlich nicht viel Bargeld bei sich. Sie hatte lediglich einige Euro Trinkgeld für Fälle wie diese parat und reichte sie dem Mann über den Tresen hinweg. „Dankeschön“, sagte er und deutete eine Verbeugung an. Sein Lächeln war breit und ansteckend und Herzog hätte sich wohlgefühlt, wenn ihr schlechtes Gewissen nicht an ihr nagen würde. Wieso hatte sie sich an Jannis abreagiert? Er war gestresst genug und dennoch gelang es ihm, so strukturiert und zielorientiert zu arbeiten wie immer. Wieso mussten ihre Gefühle ihr immer wieder dazwischenfunken? „Weil du eine sensible Heulsuse bist“, drang die offensichtlichste Erklärung in ihr Gehirn. Als Jugendliche war sie so oft Opfer ihrer eigenen Gefühle und der daraus resultierenden Anfeindungen geworden, dass sie ihr in Mark und Bein übergegangen waren. Sie schob den Gedanken von sich, hatte oft genug ihre Charaktereigenschaft als gute Fähigkeit kennengelernt, wenn sie ihr auch manchmal Steine in den Weg legte.
„Ich bringe Essen mit“, schrieb sie Jannis eine Textnachricht und drückte auf „Senden“. „Reicht für alle“, schickte sie schnell hinterher, um klarzumachen, dass die Einladung auch für Maja galt. Valentine Herzog grinste, als ihr ein neuer Gedanke kam. „Nur nicht für Lotta“, schrieb sie weiter, „Die mag keine Bratnudeln mit Ente.“ Herzog steckte ihr Handy weg, als sie das verheißungsvolle Knistern von weißen Plastiktüten hörte. Sie bedankte sich und eine Mischung aus würzig und süßsauer stieg ihr in die Nase.