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Schlickschlitten – und es war ihre letzte Fahrt. Ihre toten Körper sind tief im Schlick begraben. Doch der Mann, der sie getötet hat, möchte, dass sie entdeckt werden. Valentine Herzog dachte, sie hätte ihre Vergangenheit hinter sich gelassen. Doch ein verstörender Mordfall holt sie aus ihrem ruhigen Leben an der Ostsee zurück zur Nordsee – und in die Nähe von Jannis Karlsson, dem Mann, mit dem sie einst Seite an Seite ermittelte. Doch nicht nur die angespannte Beziehung zu Karlsson lastet schwer auf ihr. Der Mordfall selbst ist bizarr: Eine Frauenleiche, mit einer auffälligen Schwimmboje versehen, wird im Schlick der Nordsee gefunden – als wollte der Täter sie absichtlich entdeckt wissen. Herzog spürt, dass es nicht bei diesem einen Mord bleiben wird. Und sie behält recht: Ein perfides Spiel beginnt und während sich die Morde häufen, kommen Herzog und Karlsson einem erschütternden Plan auf die Spur. Kann das Ermittlerduo den Mörder rechtzeitig enttarnen, bevor er sein nächstes grausames Spiel beginnt?
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Seitenzahl: 157
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Fragen und Anregungen:
Auflage 2024
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Epilog
Die tiefe, vibrierende Stimme hallte in seinem Kopf wider. „Ist es der Verlust von Macht, der Sie quält? Wie fühlt sich Machtlosigkeit für Sie an?“
Macht.
Macht war so ein großes Wort. Macht konnte zart und unterschwellig sein, wie ein leiser Windhauch, der uns an heißen Sommertagen Abkühlung verschafft. Oder aber zerstörerisch, wie der Sturm, der in seiner wütenden Gewalt ganze Städte niederreißt.
Macht konnte etwas Schönes sein, wie die Liebe, die Herzen miteinander vereint. Oder bösartig, wie Hass, der Herzen voneinander trennt.
Macht konnte erhellend wirken, wie ein kleines Kerzenlicht in vollkommener Dunkelheit. Oder vernichtend, wie ein Feuer, das Wald und Tiere gleichermaßen in sich aufnimmt, um an ihrem Leid zu wachsen.
Macht war der Schlitten, den er hinter sich herzog. Der Schlitten, der tief unter dem Gewicht der Frau im Schlick versank. „La Paloma“ von Freddy Quinn, dessen Melodie mitsamt seiner rauen Stimme in die Dunkelheit der Nacht durch den Nebel fortgetragen wurde.
„Ein Wind weht von Süd und zieht mich hinaus auf See.
Mein Kind, sei nicht traurig, tut auch der Abschied weh.
Dein Herz geht an Bord und fort muss die Reise geh’n.
Dein Schmerz wird vergeh’n und schön wird das Wiederseh’n.“
Macht war die Gewissheit, dass es ein Wiedersehen geben würde. Eines Tages würde auch er seine Augen schließen. Er würde in Empfang genommen werden, in die Arme geschlossen und mit aller Macht würden Leid und Traurigkeit wie ein Schleier von ihm abfallen. Doch bis dahin musste er hier sein, musste die Macht zurückgewinnen, die ihm genommen worden war.
Der Mann blieb stehen, ließ Kopf und Schultern kreisen, drehte sich um. Doch niemand würde ihn im weißen Nebel sehen, niemand die Schlittenspuren im Watt verfolgen. Macht war, wenn die Flut seine Spuren fortwischen würde, als hätte es ihn nie gegeben. Er spannte die Muskeln an, zog den Schlitten weiter hinter sich her. Bald würde er auf Wasser treffen. Bald wäre er dort, wo er sein wollte. Bald würden sie sie finden. Und sie würden wissen, dass er gekommen war, um zu zeigen, was Macht war.
„La Paloma ohe,
einmal muss es vorbei sein.
Nur Erinnerung an Stunden der Liebe,
bleibt noch an Land zurück.“
Valentine Herzog drehte sich ein letztes Mal im Bett herum. Sie hatte Nachtschicht und es dennoch nicht fertiggebracht, zeitig ins Bett zu gehen, um sich ausgeschlafen zu fühlen. Ausgeschlafen genug für die Betrunkenen und Berauschten, die sie wieder einmal beschimpfen würden. Für die Obdachlosen, denen sie eine Notunterkunft anböte, welche diese entweder dankend oder pöbelnd ablehnen würden. Für die nächtlichen Nacktbader, die sie verhöhnen würden, wenn sie in Dienstuniform am Ufer stand und sie zu sich komplementierte.
Valentine hatte den Einheitsbrei so satt. Sie hatte erfahren, wie es war, als Ermittlerin zu arbeiten. Wie es war, ihr kreatives Denken einzusetzen und ihre hochsensiblen Fähigkeiten auszuleben, wenn sie dabei half, die Welt vor dem Bösen zu befreien – jedenfalls ein kleines Stückchen.
Doch ihre Zeit als Ermittlerin an der Nordsee war längst vorbei. War mit einem einzigen Anruf verpufft. Sie hatte ihrem Chef die Kündigung auf den Tisch gelegt und war grußlos zurück in ihre alte Heimat gereist. Sie hatte die Anrufe ihres ehemaligen Kollegen Jannis Karlsson ignoriert, ebenso die Mitteilungen des Morddezernatleiters der Nordsee. Der Schnitt war sauber und präzise ausgeführt worden. Und dennoch brannte er, als hätte jemand einen salzgetränkten Lappen in eine langsam und qualvoll zugeführte Schnittwunde gelegt. Und auch, wenn sie gedacht hatte, dass das Brennen mit der Zeit abnehmen würde, war es auch nach einem Jahr noch ebenso präsent wie am ersten Tag.
Sie stand aus dem Bett auf und ging ins Bad, wusch sich, putzte sich eilig die Zähne und band ihre dunklen Haare zu einem festen Zopf. Dann zog sie die Dienstuniform, die sie am Vortag über den Rand der Badewanne geworfen hatte, an. Sie blickte nicht in den Spiegel, bevor sie das Haus verließ.
Wenige Minuten später kam sie im Polizeipräsidium an. Sie öffnete die Tür und wollte die Kollegen grüßen, spürte jedoch sofort, dass etwas anders war als sonst. Sowohl Friedrich als auch Daniela sahen sie skeptisch an, plänkelten nicht wie üblich miteinander herum. Die Luft im Raum schien zu vibrieren und der Lautsprecher, aus dem normalerweise Musik lief, stand still. „Was ist los?“ Herzog zog die Augenbrauen zusammen, als niemand ihr antwortete. Und dann hörte sie ihn. Sie hörte seine Stimme durch die Bürotür ihres Polizeipräsidenten hindurch. Michael Hagedorn, der weit mehr als einmal versucht hatte, sie nach Sankt Peter Ording zurückzuholen. Der Leiter der Mordkommission, dessen Anrufe und Nachrichten sie ignoriert hatte, nachdem sie die Kündigungsfrist per Krankschreibung umgangen hatte. Herzog straffte die Schultern und atmete tief durch, bevor sie ohne Anklopfen ins Büro ihres heutigen Chefs trat.
„Jetzt nicht! Ich bin mitten …“ Die Stimme Hendryk Webers klang polternd und wütend, bevor sie unter Herzogs Anblick verebbte. „Valentine“, sagte Weber und deutete ihr, sich zu setzen. „Wir haben gerade über dich gesprochen.“
Herzog sah, wie sich Michael Hagedorn in Zeitlupe zu ihr umdrehte. Sein Gesicht wirkte rötlich und seine Körperhaltung verkrampft. „Frau Herzog“, meinte er und stand aus seinem Stuhl auf. Von dem rauen Ton, den sie durch die Tür hindurch gehört hatte, war nichts mehr übriggeblieben. Stattdessen war sein Tonfall ebenso melodiös, wie sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Michael Hagedorn kam auf sie zu und streckte die Hand nach ihr aus. Sein offenes, freundliches Lächeln hätte niemanden darauf schließen lassen, dass sie das Dezernat im vergangenen Jahr im Stich gelassen hatte. „Wie schön, Sie wiederzusehen. Und kommen wir gleich zum Punkt. Ihr Chef und ich versuchen gerade, herauszufinden, ob wir beide in Zukunft wieder mehr miteinander zu tun haben werden.“
Herzog spürte den Kloß in ihrer Kehle, als ihr Körper sich verkrampfte. Sie hatte Mühe, ihre Hand auszustrecken und in seine zu legen, war sich vollkommen sicher, dass ihr Händedruck schwächlich wirkte. „Dann kann ich Ihre Diskussion abkürzen.“ Sie wunderte sich über die Kraft in ihrer Stimme, die im Gegensatz zur Kraftlosigkeit ihrer Hand stand. „Ich werde nicht nach Sankt Peter Ording zurückkehren. Meine Kündigung war endgültig.“
Hagedorns Lippen pressten sich aufeinander, wurden weiß, als er zu seinem Stuhl zurückging und in seine Aktentasche griff. „Werfen Sie einen Blick hierauf“, sagte er und reichte Herzog eine geschlossene, braune Akte. Doch dieses Mal machte Herzog sich nicht die Mühe, die Hand auszustrecken.
„Ich sagte Ihnen bereits, dass Ihr Erscheinen vor Ort nicht nötig war“, hörte Herzog die Stimme Hendryk Webers. „Sie fühlt sich wohl unter den Kollegen und meiner Leitung und wird den Standort nicht wechseln, nur, weil Sie den Weg von der Nord- zur Ostsee auf sich genommen haben.“ Doch Michael Hagedorn schien, als hätte er die Worte des Polizeipräsidenten nicht gehört. Er öffnete die Akte und holte ein Foto hervor.
Valentine Herzog stieß die Luft aus. Ihr war, als würde sie die Maden unter der Haut spüren, die den Körper der Frau stellenweise zerfressen hatten. Fast war es, als würde sie sehen, wie die gelblich-weiße Masse auf der Haut der Frau herumwuselte und sich von dem ernährte, was ihr Fleisch gewesen war.
Ohne dass es ihr bewusst war, griff Herzog zur Akte, die noch immer zwischen ihr und Michael Hagedorn in der Luft schwebte. „Das ist zu früh.“ Sie hatte die Worte nicht laut aussprechen wollen, doch in Michael Hagedorns Gesicht bildete sich ein triumphierendes Lächeln.
„Sehen Sie?“, sagte er und seine Worte galten ganz offensichtlich Hendryk Weber. „Ich habe Ihnen gesagt, warum wir sie brauchen. Sie wirft einen kurzen Blick auf ein Foto und den Obduktionsbericht und erkennt, worum es im Kern geht.“
Valentine Herzog sah vom Blatt auf. Ihr Blick fand ihren Chef, in dessen Augen bereits das Gefühl von Niederlage geschrieben stand. „In Ordnung.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und stand nun seinerseits aus seinem Bürostuhl auf. „Klärt mich auf, Valentine. Was ist zu früh?“
Valentine Herzog ging zum Schreibtisch ihres Chefs und deutete auf das Foto der toten Frau. „Sie hat zahlreiche potentiell nicht tödliche Wunden am Körper“, sagte sie. „Laut Obduktionsbericht handelt es sich um Schnittverletzungen, was für uns jedoch nicht erkennbar ist, weil diese auf den Tatortfotos vor Maden wimmeln.“ Herzog blätterte weiter zum Teil des Obduktionsberichtes, der sie zu ihrer spontanen Aussage geführt hatte. „Der Tod der Frau ist innerhalb von 20 Stunden vor dem Auffinden der Leiche eingetreten“, sagte sie. „Die Totenflecke ließen sich noch eindrücken, was bedeutet, dass das Blut in ihrem Inneren zwar schon herabgesackt, aber noch nicht geronnen war.“ Hendryk Weber nickte. Bis hierhin musste auch für ihn alles schlüssig klingen. „Aber schauen Sie auf die Maden“, sagte Herzog und hob das Foto an. „Diese Maden sind im zweiten, vielleicht dritten Stadium. Also kurz vor ihrer Verpuppung.“ Sie kniff die Augen zusammen, konnte jedoch das Larvenstadium nicht endgültig abschätzen.
„Drittes Stadium“, bestätigte Michael Hagedorn und blätterte zum Bericht der Forensik, wo er auf den entsprechenden Teil deutete.
„Drittes Stadium“, sagte Herzog und hielt sich die Hand vor den Mund. Doch noch immer konnte Hendryk Weber ihr offensichtlich nicht folgen. „Um dieses Stadium zu erreichen, dauert es unter hervorragenden Voraussetzungen mehrere Tage“, sagte sie. „Das bedeutet, dass ihr Körper bereits von Maden zerfressen wurde, als sie noch am Leben war.“
Valentine Herzog war schlecht. Noch immer wollte das Foto, das sich in ihr zu einem Kopfkino verwandelt hatte, nicht aus ihrer Erinnerung weichen. „Danke, dass Sie mich mitnehmen“, meinte Michael Hagedorn, der neben ihr im Auto saß. In das Navigationssystem hatte sie die Adresse des Sankt Peter Ordinger Morddezernats eingegeben. Sie nickte stumm. Der Abschied aus ihrem Polizeipräsidium war ihr nicht schwergefallen. Im Kontrast hierzu stand das Gefühl, nach Sankt Peter Ording zurückzukehren. Es wog tonnenschwer und lastete wie ein Fels auf ihrer Schulter. Und dennoch saß sie hier. Neben ihr der Mann, der für diesen Fall erneut ihr Chef sein würde. Auf dem Weg zu dem Mann, der weit mehr als ein Kollege für sie gewesen war. Bis der Anruf einer anderen Frau kam. Einer schwangeren Frau. Die behauptet hatte, das Kind, das sie in sich trug, sei von ihm.
„Verstehen Sie mich nicht falsch“, sagte Hagedorn. „Der Hinweg im Zug war auch recht komfortabel. Und dennoch habe ich mir erhofft, dass wir auf meinem Rückweg bereits über den Fall sprechen könnten. Mir hat Ihre Herangehensweise gefehlt.“
Herzog machte eine wegwischende Handbewegung. „Jannis arbeitet auch allein hervorragend“, sagte sie. „Ich bin mir sicher, dass mein Fehlen kaum aufgefallen ist.“ Doch Hagedorn schüttelte den Kopf.
„Ihr Kollege Karlsson hat privat eine Menge um die Ohren gehabt“, sagte er – ohne zu wissen, dass genau das der Grund für Herzogs übereilte Kündigung gewesen war. Sie verkrampfte die Hände ums Lenkrad und unterbrach Hagedorn, bevor er weiter ausführen konnte, was er mit dieser Andeutung gemeint hatte.
„Der Fall“, sagte sie. „Fassen Sie die Randinformationen bitte noch einmal für mich zusammen? Im Präsidium bin ich nicht dazu gekommen, mir alle Dokumente sorgfältig durchzulesen.“ Michael Hagedorn nickte und Herzog nahm wahr, wie er sich im Sitz aufrichtete, bevor er zu sprechen begann. Er hatte die Akte offenbar häufig genug gelesen, um sie für seine Zusammenfassung nicht zur Hand nehmen zu müssen.
„Vor zwei Tagen haben Wattwanderer eine orangeleuchtende Boje entdeckt“, sagte er. „Das Wasser hatte sich gerade vollständig zurückgezogen, sodass sie auf dem matschigen Schlick lag.“
Herzog zuckte die Schultern. „Ich hätte mir als Wanderer keine großen Gedanken darüber gemacht. Schließlich gibt es mehrere Bojen in der Nordsee.“
Michael Hagedorn hob den Zeigefinger. „Die sind aber normalerweise weit genug draußen, dass sie auch bei Ebbe im Wasser schwimmen und nicht im Schlick herumliegen. Außerdem hat unser Mann dafür gesorgt, dass die Boje auffällt“, sagte er. „Er hat mit wasserfestem Lack eine schwarze Schatzkiste auf die Boje gemalt und dazu geschrieben: ‚Am Ende der Kette wartet ein Schatz‘. Die Wanderer hielten das für einen Witz und begannen, im Schlick zu graben. Sie sind nicht weit gekommen.“
Herzog schluckte. „Kurz, nachdem sie angefangen hatten, zu buddeln, sind sie auf einen Sack gestoßen“, fuhr Hagedorn mit seiner Zusammenfassung fort. „Es handelte sich hierbei um einen PVC-Sack, der in der Wasserbergung verwendet wird. Er umschließt den Körper von Leichen vollständig und schirmt ihn vollkommen vom Wasser ab, um zusätzliche Kontamination zu vermeiden.“ Herzog nickte. Sie kannte den Einsatz solcher Säcke aus vergangenen Fällen an der Ostsee. „Wir sind bereits dabei, zu prüfen, woher unser Mann den Sack hat. Solche Säcke sind nicht frei verkäuflich. Bisher haben wir hierzu allerdings noch keine weitere Info.“ Er räusperte sich. „Jedenfalls haben die Wanderer den Sack ausgegraben.“ Eine Pause entstand und es war Herzog, die weiter ausführte.
„Sie haben den Sack geöffnet und den mit Maden überzogenen Körper gefunden“, sagte sie und dachte daran, welcher Geruch den beiden entgegengeschlagen sein musste. Ein fauliger, ranziger Geruch der Verwesung, der gleichermaßen süß und streng in die Nase biss und sich dort einnistete, wie die Maden, die die Wunden der Frau durchsetzt hatten. Nicht umsonst trugen einige Ermittler und Rechtsmediziner eine stark riechende Mentholcreme unter der Nase auf, wenn sie Tatorte betraten oder Obduktionen durchführten. Die Konzentration auf die Arbeit konnte durch den ekelerregenden Geruch von verwesendem Fleisch ansonsten stark negativ beeinflusst werden.
„Beide haben sich ins Watt übergeben“, bestätigte Hagedorn das, was Herzog bereits vermutet hatte. „Von da an ging es ziemlich schnell.“ Herzog nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie auch seine Gestik hektischer wurde, als er weitersprach. „Die Kollegen haben die Leiche abtransportiert, bevor die Flut kam und Spuren an der Leiche fortspülen konnte. Spuren konnten am Fundort selbst natürlich nicht mehr gesichert werden. Schließlich ist die Flut nach Vergraben bis zum Auffinden der Leiche einmal über sie hinweggespült. Wie Sie zurecht erkannt haben, haben sich die Maden bereits vor dem Eintreten des Todes gebildet. Sie haben die Schnitte, die der Frau recht oberflächlich durch einen scharfen, einklingigen Gegenstand zugefügt worden waren, ausgefranst und stellenweise bis in die tiefen Muskelschichten hinweg ausgeweitet. Dennoch lässt sich an den weniger betroffenen Wunden sowie an nahezu nicht befallenen Wunden am Rücken feststellen, dass es sich bei dem Täter um einen Rechtshänder handelt. Die Schnitte wurden allesamt von links nach rechts durchgeführt.“ Herzog spürte, wie sich all ihre Muskeln anspannten. Sie versuchte, den aufkeimenden Ekel herunterzuschlucken, probierte, sich in das hineinzuversetzen, was die Frau empfunden haben mochte. Sekunden später, als ein Anflug von Panik in ihr aufkam, als sich ein kribbelndes Gefühl unter ihrer Haut ausbreitete, brach sie den Versuch ab. Die Autobahn war nicht der richtige Ort, um sich in die Gefühlswelt des Opfers während des Sterbeprozesses zu versetzen.
„Die Forensik hat das Larvenstadium ermittelt.“ Hagedorn zählte nacheinander die Fakten auf, damit sie sich ein Bild über den aktuellen Ermittlungsstand machen konnte. „Spuren des Täters konnten weder am Fundort der Leiche noch an der Frau selbst gefunden werden. Die Frau konnte noch nicht identifiziert werden. Im näheren Umkreis ist keine Frau als vermisst gemeldet worden, die zu unserem Opfer passt. Sie wurde an den Hand- und Fußgelenken sowie am Kopf und Rumpf mit Klebeband gefesselt. Die Rückstände auf der Haut stammen von handelsüblichem Klebeband. In den Hand- und Fußgelenken befinden sich seitliche Einschnitte, sodass wir davon ausgehen können, dass sie versucht hat, die Extremitäten zu befreien. Im Rumpf- und Kopfbereich sind sie weniger stark ausgeprägt. Hier dürfte keinerlei Bewegungsspielraum vorhanden gewesen sein, um genug Kraft aufzubringen, damit entsprechende Einschnitte entstehen können.“
Stille trat ein. Herzog sah die Frau vor sich liegen. Festgeklebt auf einer unnachgiebigen Unterlage, demjenigen, der ihr das angetan hatte, schutzlos ausgeliefert. „Wieso hat er ihre Haut verletzt, wenn die Wunden nicht dem Zweck dienten, sie zu töten? Und woran ist die Frau letztendlich gestorben?“ Ihre Hände verkrampften sich ums Lenkrad und sie trommelte mit den Fingern. Wie immer, wenn sie einen neuen Fall hatte und noch nicht wusste, warum der Täter auf eine bestimmte Art agierte, fühlte sie sich ruhelos. Sie spürte Hagedorns Seitenblick auf sich. „Wir haben einen Spezialisten hinzugezogen.“ Er räusperte sich. „Professor Marvin Stahlschmidt befasst sich seit Jahren mit der Forschung zu Mordmethoden und deren Bedeutung.“ Herzog nickte. Sie hatte bereits von dem Professor gehört, jedoch bisher noch nie mit ihm zusammengearbeitet.
„Er wird Ihnen mehr über die Art der Schnitte sagen können und über seine Vermutungen zu deren Bedeutung. Die Todesursache ist jedoch bereits eindeutig. Ein tiefer Stich ins Herz, ausgeführt mit dem gleichen Messer, mit dem die oberflächlichen Verletzungen beigefügt wurden.“
„Lassen Sie uns auf unser letztes Gespräch zurückkommen.“ Der Arzt sprach mit ruhiger Stimme und der Mann schloss die Augen. Er hatte sich in dem schweren, beigefarbenen Sessel zurückgelehnt. Von Anfang an hatte er es abgelehnt, sich auf das Sofa zu legen. Zu sehr hätte ihn diese Situation an den Kontrollverlust erinnert, aus dessen Grund er überhaupt erst hier war. Doch mit der Zeit hatte er sich darauf einlassen können, seinen Körper in dem großen Sessel zu entspannen.