Nounoka - Sina Katzlach - E-Book

Nounoka E-Book

Sina Katzlach

0,0
3,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Wenn dich beim ersten Sonnenstrahl ein magisches Lächeln trifft, erfüllt sich dein Schicksal." So hatte es ihm die alte Zigeunerin einst prophezeit. "An jenem Tag musst du dich bewähren, denn du hast eine Mission. Bei Sonnenuntergang ist die Zeit abgelaufen." Mit dieser Prophezeiung einer Wahrsagerin beginnt für Dirk Mainau nicht nur eine Reise in die Vergangenheit, sondern auch in eine Zukunft, die gleich mehrere Prüfungen für ihn bereit halten wird. Soeben frisch geschieden, gerät er in den Bann von Ramira, der Enkelin von Nounoka, wie er die Gauklerin vor vielen Jahren liebevoll nannte.

Bevor das Glück ihm irgendwann winkt, muss er jedoch noch einiges lernen. So auch, dass man vor seiner Vergangenheit nicht weglaufen kann!

Status: Abgeschlossen am 17.12.2022 ***
 
 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sina Katzlach

Nounoka

Die Prophezeiung

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Copyright

Neuauflage von: "Die Weisheit der alten Zigeunerin"

Dessen Autorin: Dieselbe. C'est moi.

 

Cover: Sina Katzlach 

Bildquelle: Pixabay 

Text: Sina Katzlach             

        

Herausgeber: Siehe Impressum

             

Hinweis: Sämtliche Inhalte dieses Werks sind urheberrechtlich geschützt.

Bei widerrechtlicher Verwendung ohne schriftliche Genehmigung vonseiten der Urheberin (siehe oben, it's me) gibt's Haue, und Haue macht ganz feste Aua!

Intro

 

~ Nounoka ~

 

Die Prophezeiung

             

Romantik-Thriller

 

 

Retro-Roman von Sina Katzlach 

 

Spielraum: 80er bis 90er Jahre 

             

vorwärts und rückwärts und wieder voran ...

 

♦ ♣ ♦

 

Gewidmet dem Fahrenden Volk 

  

Es gab eine Zeit und Völker, die stolz darauf waren,

Nomaden zu sein. Es war die Zeit der Zigeuner. 

 

♦ ♣ ♦

Kapitelverzeichnis

Vorwort

 

Nounoka

 

Das verlorene Lächeln

 

Die Stimme aus dem Off

 

SOKO Himmelfahrt

 

Die Akte Mainau

 

Verlorene Töchter

 

Herz aus Glas

 

Die Magie der Gedanken

 

Der Patriarch

 

Bilder der Wahrheit

 

Tod im Hexenwagen

 

Auf eigene Faust

 

Das Vermächtnis 

 

Kapitelverzeichnis

Wer Anderen eine Grube gräbt ...

 

Die Rache ist mein!

 

Die Magie der Portale

 

Spuk oder Wahrheit?

 

Geist der Vergangenheit

 

Geist der Gegenwart

 

Geist der Zukunft

 

Morgenrot

 

Anhang:

 

Zwischentöne

 

Die stumme Prinzessin

 

Abgang

 

Info BZ

  

Die Autorin

 

Vorwort

"Wenn dich beim ersten Sonnenstrahl ein magisches Lächeln trifft, erfüllt sich dein Schicksal. An jenem Tag musst du dich bewähren, denn du hast eine Mission. Bei Sonnenuntergang ist die Zeit abgelaufen." So würde er es erfahren, und von da an stünde sein Leben Kopf.

Dirk Mainau ist ein Erfolgsmensch, doch war er das nicht immer. Er wurde gedrillt in einem Wirtschaftssektor, in dem Skrupellosigkeit eher Tugend denn Laster ist.

Dass auch Grausamkeit scheinbar vonnöten sei, ging auch an ihm nicht spurlos vorbei. Im Immobiliengeschäft gab es Heuschrecken en más.

Er hatte damit zu tun. Sein Privatleben war wegen seines Jobs auf der Strecke geblieben, und sein erzwungener Ehrgeiz hatte sich schließlich gerächt. Seit Kurzem war er geschieden.

Wie groß sein Anteil am Scheitern seiner Ehe war? Diesen Gedanken schob er weit von sich weg, ebenso wie einen Traum, den er mit der Liebe seines Lebens ehemals lebte.

  

Dass man jedoch vor seiner Vergangenheit nicht weglaufen kann: Das sollte er in naher Zukunft bitter erleben!

 

Nounoka

Wer glaubt schon an Prophezeiungen, Hellseherei und Wahrsager-Sprüche? Romantischer Schnickschnack für Liebespaare oder Lebenshilfe für Verzweifelte: So hatte er das immer gesehen. Krampfhaft versuchte der attraktive Mann - Anfang Dreißig - die verführerische Musik zu überhören, die ihn zu rufen schien.

Dirk Mainau stand frierend und in einer kleinen Menge geborgen auf dem verschneiten Marktplatz von Saulgau. Von irgendwoher vernahm er das Tuckern eines alten Rasentraktors, begleitet von dem zarten Klingeln kleiner Glöckchen und feurigen Handschlägen auf die Haut eines Tamburins. Orientalisch anmutende Flötentöne zogen ihn zusätzlich in Bann und führten ihn geradewegs in eine längst vergangene Zeit, die er in der Regel lieber vergaß. Dennoch ertappte er sich dabei, wie er vergeblich versuchte, einen Blick zu erhaschen.

Unwirsch schob er zwei anonyme Leiber zur Seite und drängelte sich rücksichtslos zwei Reihen weiter nach vorn. Geflissentlich überhörte Dirk die Schimpfwörter, die ihm daraufhin folgten. Hauptsache, die Sicht war nun frei!

                         

♦ ♣ ♦

 

Einen Tag vor Silvester ... 

             

Der Planwagen der Wahrsagerin hatte etwas Einzigartiges in all seiner beabsichtigten Schlichtheit. Mittlerweile war er völlig zerschlissen, die ehemals weiße Plane der runden Umhüllung war ergraut und hatte Löcher. Verblichene Goldborten säumten den verschlossenen Eingang. Ein schwerer Duft von Räucherkerzen lag über dem noch immer weihnachtlich beleuchteten Platz. Die Abenddämmerung brach bereits in den späten Nachmittagsstunden über die Kleinstadt herein.

 Es war ein Markttag. Ringsum bauten die Händler bereits ihre Stände ab, packten leere Kisten in ihre Transporter oder versuchten noch den einen oder anderen Ladenhüter lautstark an den Mann zu bringen. Niemand scherte sich drum, Saulgau hatte an diesem Tag eine andere, höchst seltene Attraktion. Dass eine Gauklertruppe in einer schwäbischen Kleinstadt unangekündigt ihre Zelte aufschlug, zog nicht nur ihn an wie ein Magnet.                      

 Es war ein seltsames Szenario, das sich dem Publikum bot. Wo früher ein kohlrabenschwarzer Ackergaul vor den Planwagen der Gaukler gespannt worden war, tuckerte heute ein kleiner Traktor unentschlossen vor sich hin. Es saß niemand drauf.

Stattdessen kauerte eine alte Frau auf dem vereisten Stein und brabbelte mit geheimnisvollen Gesten in Dirk Mainaus Richtung. Neben ihr stand eine schwarzhaarige junge Frau und versuchte schimpfend, sie hochzuhieven, indem sie die Widerspenstige unter den Achseln gepackt hatte und kräftig zog.

Mit jedem Ruck, bei dem sich der in eine bunte Schürze gehüllte Körper einige Millimeter vom Boden erhob, erscholl zum Amüsement der Passanten kauderwelsches Gezeter aus dem Mund der Greisin. Mit zwingendem Blick sah sie ihn an und bog gebieterisch winkend einen gichtigen Zeigefinger. Ihre Geste durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag. Sie gehörte zu seiner Vergangenheit, ebenso wie Manuela Mainau, geborene Claasen. Seine Ex, die es bevorzugt hatte, seinen Namen anzunehmen und auch zu behalten.

Es sei für sie das kleinere Übel, schleuderte sie ihm am Tag der Scheidung entgegen und schüttelte verzweifelt ihr langes Haar. "Eine Claasen zu sein ist der Fluch meines Lebens!" Manuela schrie, als sie ihm das gestand. "Du wolltest das ja nie verstehen."

Als Dirk sie tröstend in den Arm nehmen wollte, riss sie sich los und rannte tränenüberströmt vor ihm davon. Die Erinnerungen an eine stürmische Zeit voller Höhen und Tiefen nahm sie mit sich. Hinterlassen hatte Manuela ihm Reichtum und Macht, ein versiegeltes Herz und die Sorge um ihre gemeinsame Tochter Simone. 

 Ein Stoß gegen die Hüfte machte Dirk bewusst, dass er nicht in der Vergangenheit lebte, sondern im Heute und Jetzt. Er nützte die Gelegenheit und kämpfte sich in der Menge noch ein Stück weiter vor, bis er in unmittelbarer Nähe des Planwagens war.

Genau in diesem Moment, als ein zwingender Blick aus dunklen Augen ihn traf, befiel ihn ein unwiderstehlicher Fluchtinstinkt. Mechanisch wandte Dirk sich zum Gehen um, steif und starr wie ein Roboter. Ein kehliger Ausruf von irgendwoher bannte ihn an Ort und Stelle.

Verhaltenes Gelächter brandete um ihn herum auf. Wie eine von unsichtbaren Fäden gezogene Marionette drehte er sich wieder den Gauklern zu und beobachtete, wie die Alte sich trotz aller Bemühungen ihrer jungen Helferin weigerte, sich zu erheben.

Schließlich gab diese es auf, murmelte ihr ein paar Worte ins Ohr und mischte sich unter die Menge. Die schlanken Beine der Zigeunerin waren in enge Hasenfellleggings gehüllt, darüber trug sie einen tiefroten Poncho. Ihr Tamburin klingelte bei jedem Schritt, Zorn stand in ihrem Gesicht.

Zielstrebig kam sie auf ihn zu, legte Dirk eine Hand auf den Arm und sprach ihn in leicht schleppendem Deutsch an: "Meine Großmutter wünscht Sie zu sprechen."

Mit beinahe tänzelnden Schritten ging sie vor ihm her und führte ihn zum hinteren Eingang des Planwagens, wo eine kleine Holzstiege ins Innere führte. "Treten Sie ein. Ich hoffe, dass sie nun zufrieden ist und gleich kommt." Die Mimik der dunklen Schönheit drückte aus, dass ihr seine Anwesenheit nicht sehr gefiel.

Dirk trat an die Brüstung der Treppe und sah hinab. Ein Flötenspieler war mit geschlossenen Augen in sein Spiel vertieft und schien nicht zu bemerken, was um ihn herum alles geschah. Die alte Frau rappelte sich behände wie ein junges Mädchen vom Boden auf und ging unter dem Gejohle der Menge auf den Planwagen zu.

Seine Führerin tippte ihm leicht gegen die Schulter. "Nun gehen Sie schon!" Mit leichtem Druck schob sie ihn weiter, doch er leistete Widerstand. Er drehte sich ihr zu und scannte sie mit einem seltsam vertraulichen Blick. "Weshalb so förmlich?", fragte Dirk spöttisch. Er konnte es kaum fassen, wie sehr sie sich verändert hatte.

Ungeduldig seufzte sie auf. "Mir wäre es lieber gewesen, Sie nie wieder in meinem Leben sehen zu müssen." Stur siezte Ramira ihn weiterhin. "Meine Großmutter hat euren Weggang nicht sehr gut verkraftet." Sie senkte ihre Stimme zu einem boshaft klingenden Raunen: "Womit auch immer Ihre Frau und Sie das verdienten: Sie liebt euch noch immer."

Betroffen wandte der Gerügte sich ab. Aus einem Augenwinkel beobachtete er, wie die alte Wahrsagerin um die Ecke verschwand. "Gehen Sie schon hinein", hörte er Ramiras Stimme und spürte erneut ihre Hand auf seiner Schulter. "Das sind Sie ihr schuldig."

Diesmal gehorchte er und betrat den kleinen, höhlenartigen Raum. Von innen war die Außenplane mit Seide gefüttert. Die weichen Falten des Stoffs changierten abwechselnd in den Farben des Regenbogens, die Decke simulierte einen Nachthimmel mit Sternen und bestand aus tiefblauem Samt. Brennende Teelichter waren ringsum auf im Boden verankerten Kommoden verteilt und durchbrachen mit sanftem Licht die Dämmerung im Inneren des Wagens.

Neugierig ließ Dirk seinen Blick schweifen und lehnte sich am Türpfosten an. Der Rahmen schwankte etwas, die Holzdielen  zitterten leicht. "Es hat sich nicht viel verändert", sagte er zu Ramira, löste sich aus seiner Position und trat an ein Rundum-Regal.

Dirk strich mit einem Finger über das Holz. Die vorwurfsvolle Stille, die von ihr ausging, zehrte an seinen Nerven. Gedankenverloren rieb er Zeigefinger und Daumen gegeneinander. "Es ist alles ein bisschen schäbiger als früher." Provokativ baute er sich vor ihr auf. "Habt Ihr das Putzen verlernt?" Dirk grinste hämisch.

Ramira setzte sich auf eine Pritsche, schlug die Beine übereinander und musterte ihn. "Es ist lange her", antwortete sie. "Alles hat sich verändert." Wütend schlug sie ihr Tamburin und pfefferte es mit voller Wucht quer durch den Raum. Die Glöckchen klingelten Sturm. 

Mit langen Schritten durchmaß Dirk den Wagen der Gaukler und lehnte sich gegen einen großen Tisch in der Mitte. "Warum bin ich hier?", fragte er. "Ich bin euch nichts schuldig geblieben." Er kehrte Ramira brüsk den Rücken zu. Eine Antwort auf seine Frage bekam er jedoch nicht. Am liebsten wäre er gegangen, doch sein Schuldgefühl hielt ihn davon ab.

Dirks Blick hing nachdenklich an dem Tamburin, das auf der schwarzen Ebenholzplatte gelandet war. Er griff danach und spielte an den kleinen Glöckchen. Zwei davon waren verbeult von dem Aufprall. "So viel Zorn, aber so warst du schon als Kind."

In dem Moment betrat jemand den Raum. "Nounoka!" Ramira sprang hastig auf und ging ihrer Großmutter entgegen. Sie hängte sich bei ihr ein, führte sie an ihren Platz und stellte sich hinter sie.

Dankbar tätschelte Nounoka ihrer Enkelin die Hand. "Und nun geh, mein Kind." Von ihrer Verwirrtheit war nichts mehr zu spüren. Majestätisch richtete sich die Wahrsagerin in ihrem Sessel auf. "Dirk Mainau! Nimm Platz!"

Er wagte es nicht, ihr zu widersprechen und setzte sich mit einem seltsamen Gefühl von Leere und Bitterkeit in seinem Herzen. Ramira verließ den Schauplatz und hinterließ bleiernes Schweigen.

Beschämt senkte Dirk seinen Blick. Die Kristallkugel in der Tischmitte leuchtete in allen Farben, silberne Nebel wallten darin. Er wehrte sich gegen ihren Sog und spürte doch, wie die filigranen Schwaden seine Seele umhüllten. Nounokas schwarze Augen waren unverwandt auf ihn gerichtet.  Zart rührte sich die alte Liebe in ihm. Brüsk flüchtete er sich in Spott: "Netter Hokuspokus!"

 Die alte Frau schien in die Höhe zu wachsen. "Du hast dich verändert. Sehr zu meinem Missfallen im Übrigen." Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. "Großmutter", stammelte Dirk und wollte sich erheben, doch mit einer gebieterischen Geste wehrte Nounoka ihn ab. "Bleib, wo du bist. Wage es nicht, aufzustehen." Für einen Moment starrte sie ihn hypnotisch an. Beeindruckt ließ er sich fallen ...

                         

♦ ♣ ♦ 

 

Déjà-vu  

                         

Wieder stand eine Mauer des Schweigens im Raum, nur durchbrochen von dem Rascheln zartestem Stoffs. Nounoka trug ihr altes Kostüm. Ein spitzengeklöppeltes Kopftuch fiel wie ein goldener Schleier an den Seiten herab, kupferne Münzen klimperten auf ihrer Stirn.

Heimlich sah Dirk auf und hätte ihr gern eine weiße Strähne von der Wange gestrichen, doch er wagte nicht, seine Hand zu erheben. Ihm schien, als befände er sich bereits in der Ewigkeit.

Schließlich begann sie zu sprechen. "Du weißt, ich habe immer an deine Unschuld geglaubt."

Nounokas faltigen Hände tasteten unentwegt über die schwarze Ebenholzplatte, als suche sie Antwort in den Runen, die in den Tisch eingeschnitzt waren.

Dirk nickte stumm. In der Tat wusste er, dass sie die Einzige war, die für ihn gesprochen hatte, als niemand mehr an ihn glaubte. Alle hatten bezahlt für sein Versagen, einige der Artisten sogar mit ihrem Leben.

Doch auch wenn Nounoka ihm und Manuela eines Tages verziehe: Er selbst könnte es nie! 'Meine Karriere ist auf Leichen gebaut', dachte er und krampfte seine Hände ineinander. Für einen Moment verzerrte sich sein gebräuntes Antlitz zu einer gequälten Fratze. Ein Hauch wehte durch das Innere des Planwagens und streifte sanft seine Wange. Irritiert sah Dirk in Nounokas Gesicht, doch sie war in ihre Studien vertieft und schien weit von ihm entfernt.

Aus verborgenen Lautsprechern erschollen plötzlich wispernde Stimmen, die sich mit ihrer vermählten. "Was ist mit eurem Kind?", fragte sie leise, so leise, dass er sie kaum verstand. " Warum ist es nicht mehr bei dir?"

Überrascht fuhr Dirk auf. "Woher weißt du das?" Er hätte nicht gedacht, dass es überhaupt schon jemand wusste, geschweige denn Nounoka und ihre Familie, die er aus seinem Leben verbannt hatte, um sie zu schützen.

Nounoka seufzte. "Schau hin und sieh selbst." Die große Kristallkugel in der Mitte des Tischs wechselte ihre Farben in Nacht. Blitze zuckten ekstatisch in ihr.

Als die Effekte sich allmählich beruhigten, verjüngte sich ihr gefurchtes Antlitz vor Dirks innerem Auge. Ihr weißes, dünnes Haar wurde voller, und plötzlich ähnelte Nounoka ihrer Enkelin sehr. Silberne Strähnen schimmerten in langem Schwarzhaar, und sie trug ein bordeauxrotes Seidenkostüm.

 

♦ ♣ ♦ 

 

In sanften Wellen kehrte der erste Tag ihres Kennenlernens zu ihm zurück. Mit Dirks altem VW Bus hatte alles begonnen. Manuela war sechzehn gewesen, er neunzehn und auf der Durchreise nach irgendwohin, wie stets. Ihn hielt es nie lange an einem Ort.

Geduldig beobachtete Nounoka Dirks Mienenspiel. "Wagst du es, bis zum Ursprung zu gehen?", fragte sie. Er nickte und senkte den Kopf. "Schließ deine Augen", hörte Dirk ihre murmelnde Stimme. Widerwillig gehorchte er ihr und ließ sich von Nounoka entführen. Plötzlich befand er sich in ihrer Kugel und in seiner verdrängten Vergangenheit!

                         

♦ ♣ ♦ 

 

Dreizehn Jahre zuvor

 

Die Welt ist rund ...

Autogeräusche ...

Der Asphalt biegt sich auf unter den Füßen: Dirk hat Angst, dass er fällt. Im Hintergrund hört er das stotternde Tuckern seines Bullis, er steht auf der Straße.

Der Verkehr wogt um ihn herum, keiner ist bereit, ihm zu helfen. Verzweifelt wirft er einen Blick durch das hintere Fenster, sieht seine Matratze da liegen, seine paar Habseligkeiten, und er hofft, dass sein alter Bus es noch einmal schafft. Doch dann erstirbt der Motor, und er weiß: Er hat nun auch kein Obdach mehr.

Der Junge dreht sich im Kreis, sein Blick wirkt gehetzt. Überall Straßen, Dirk fühlt sich wie ein gefangenes Insekt in einem Spinnennetz. Lautes Hupen betäubt seine Ohren, schräge Blicke aus Fenstern, Schnee fällt auf ihn ...

 Seltsamerweise ist ihm nicht kalt. Er sieht Eis auf dem Gehweg, Menschen, die ihm entgegen schlittern, doch sind ihre Gesichter verzerrt. Ein diffuser Schleier liegt auf der Welt um ihn herum, etwas wie silberner Nebel. 

 Nein, es wird wieder Nacht. Nun erinnert Dirk sich ganz genau: Es war bereits dunkel. Spätdämmerung einen Tag vor Silvester vor dreizehn Jahren. Nounokas murmelnde Stimme begleitet ihn in seinem Kopf, weist ihm den Weg in eine Gasse hinein. Etwas zieht Dirk an wie ein Magnet. Es ist fröhliches Stimmengewirr, genau wie heute, als er erneut auf sie stieß. Ebenfalls wie damals spürt er den magischen Sog ihrer Kugel. 

Dieses Drehen ...

Dirk wünscht sich, dass dieses Drehen aufhört ...

Er sieht schwankende Hauswände in engen Gassen, zarte Wiesenränder mit silbern glänzenden Hügelchen Matsch bedeckt ...

Ein trauriger Schneemann am Straßenrand, er hat einen Besen in seiner Hand. Eistränen laufen ihm übers Gesicht, ihm ist zu warm. Der Winter war milder als all die Jahre zuvor, doch Dirks Bus hat ihn nicht überlebt. 

Der Besen des Schneemann scheint in eine Richtung zu weisen. Da der junge Dirk sowieso nicht weiß, wohin er gehen soll, folgt er dem Wink und läuft dem Schicksal direkt in die Arme. Seine Welt wandelt sich von Silber in Gold.

                         

♦ ♣ ♦

 

"Erinnerst du dich?", insistierte Nounoka. "Deine Bella Akazia lief dir direkt in die Arme."

Dirk wehrte ab. "Ich möchte nicht mehr daran denken. Sie gehört nicht mehr zu meinem Leben."

Die Zigeunerin seufzte. "Wie ich sehe, hast du noch nicht begriffen. Wenn du deinen Ursprung verleugnest, wirst du auch nie bereit für die Zukunft sein."

"Ich hab keine Zukunft", murmelte Dirk dumpf in sich hinein. "Ich lebe für meine Tochter im Heute und Jetzt."

 

Seine eigenen Worte hallten wie ein Echo laut in ihm nach. Für einen kurzen Moment war er wieder bei sich, doch mit einem eleganten Fingerzeig schickte ihn Nounoka zurück. "Schlaf weiter, mein Prinz!"                         

Dirk spürt einen warmen Körper in seinen Armen, lange Haare umhüllen wie Weißgoldlametta ein zartes Mädchengesicht. Ihre Wangen sind fröhlich gerötet.

"Irgendwie siehst du verloren aus", hört er eine Stimme, so hell wie ein Silberglöckchen.

'Welch lieblicher Engel', denkt er und wünscht sich, sie möge niemals entweichen. Nun ist Dirk wieder der Junge, arm und obdachlos auf seinem Schicksalsweg. Die Atmosphäre der kleinen Stadt hält ihn umfangen und scheint ihn verzaubern zu wollen.

Es ist einen Tag vor Silvester, und noch immer sind die Häuser geschmückt. Tannengirlanden und Lichter, Kerzen in Fenstern, in naher Ferne eine menschliche Krippe ...

Manuela führt ihn dorthin. "Was ist passiert?", fragt sie. "Erzähl es mir, und vielleicht kann meine Familie dir helfen." Fest hält sie ihn an der Hand.

Dirk folgt ihr gebannt wie in einem Traum. Er vernimmt seine eigene, noch junge Stimme, verunsichert, schüchtern und stammelnd: "Mein Wagen ... Ist stehengeblieben."

Tränen schießen ihm in die Augen.

Verdattert bleibt sie stehen und dreht sich zu ihm um. Erstaunt schaut Manuela ihn an. "Und deshalb weinst du?", fragt sie. Ein Mann läuft in die beiden hinein, entschuldigt sich und hastet dann weiter.

Verzweifelt schluchzt der junge Dirk auf: "Nein, aber mein Haus ist kaputt. Ich weiß nicht, wo ich hin soll." Sein Weißgoldengel legt eine Hand auf seine Wange. "Dein Wagen bleibt stehen, dein Haus ist kaputt", zählt Manuela mit liebevollem Spott in der Stimme auf. "Das ist in der Tat ein Grund für deine Tränen." Leicht zieht sie an seiner Hand und führt ihn weiter durch die enge Gasse. Zielstrebig hält Manuela auf eine golden leuchtende Laterne an deren Ende zu. Vor ihren Augen öffnet sich ein weiter Platz, und Dirk sieht die menschliche Krippe noch einmal.

"Aber ... aber du verstehst nicht", braust Dirk auf und wird für einen kurzen Moment zu dem späteren Mann. "Mein Auto, das ist mein Haus."

Wütend wischt er sich übers Gesicht. Dirks Hand hinterlässt einen schwarzen Streifen auf seiner Wange.

                         

♦ ♣ ♦

 

Nounokas Stimme verschwand aus seinem Kopf und drang laut an seine Ohren. "Dein alter VW Bus", erklärte sie ihm, als ob er es nicht wüsste. "Das einzige Vermächtnis deines Vaters, den du eigentlich hasstest. Doch du nahmst ihn an." Als sie sah, wie Dirk zusammenzuckte, legte Nounoka beschwichtigend eine Hand auf die seine. Leicht zitternd lag sie auf dem Tisch. "Das sollte kein Vorwurf sein."

"Was blieb mir auch anderes übrig", antwortete er. Sein Gesicht versteinerte. "Hast du noch mehr Lebensweisheit für mich? Wenn nein, dann schenk mir meine Erinnerung."

"Bist du bereit?"

Dirk nickte stumm. Ein kleiner Tornado wirbelte um ihn herum und nahm ihn mit sich in seine Vergangenheit. Der alte Planwagen rückte erneut in sein Blickfeld.

Die Außenplane ist noch mit Schnee bedeckt, an manchen Stellen schimmert ein anderes Weiß durch die Lücken.

Manuela führt ihn über den Marktplatz direkt zu den Gauklern. Dirk hört wieder die Flöte, das Tamburin, geschlagen von seiner Nounoka.

Seine Hand greift ehrfürchtig in die Mähne des Ackergauls, kohlrabenschwarz und voll Kraft. Er ist vor den Planwagen gespannt. Auf dessen Tür prangt ein großes Plakat: "Wir wollen nicht viel, nur Futter für unsere Tiere."

Daneben steht ein großer Trog. Er ist gut gefüllt mit Karotten, Weißkraut und Münzen in allen Größen. Ein kleines Mädchen sitzt auf dem Rand und sieht den jungen Dirk mit großen Augen an. Sie fragt irgend etwas in einer Sprache, die er nicht versteht.

Manuela antwortet ihr ...

Ein Kinderlachen ...

Eine brummende Männerstimme spricht ihn an: "Du siehst hungrig aus." Er reicht ihm einen großen Becher mit Suppe. Gerührt kämpft Dirk gegen die Tränen an.

Zwei gütige braune Augen in einem dunklen Männergesicht sind auf ihn gerichtet und beobachten zufrieden, wie er seinen Hunger stillt. Eine Frauenhand streicht ihm über den Kopf. "Es wird alles gut."

Plötzlich verschwamm das Männergesicht vor seinen Augen. Mit grausamer Brutalität holte ihn die Gegenwart ein. Entsetzt schlug der ältere Dirk die Hände vor sein Gesicht. "Tibor! Ramiras Vater."

"Ja!", antwortete Nounoka. "Er hat mit Calimero deinen Bulli von der Straße geholt. Eine der Leichen in deinem Keller."

"Aber ... ich wollte das nicht ..."

"Ah!", machte sie nur und schickte Dirk wieder zurück. Eindringlich redet Manuela auf die umstehenden Männer ein und weist Richtung Straße. Fragende Stimmen, dann setzt sie sich keck auf den Rücken von Calimero. Ein weißgoldener Engel auf schwarzem Pferd ...

Starke Hände lösen das italienische Kaltblut aus seinem Geschirr. Kirchenglocken läuten im  Hintergrund zur sechsten Stunde am Abend, als sich ein kleiner Zug Männer mit Pferd in Bewegung setzt.

Die Hufe knirschen vorsichtig über das Eis. Ein kleines Mädchen mit schwarzem Wuschelkopf schlittert lachend neben dem jungen Dirk Mainau her und umfasst seine Hand.

                         

♦ ♣ ♦

 

Gegenwart

 

Bitter lachte der Erwachsene auf. "Heute kennt sie mich nicht einmal mehr und wünscht mich zum Teufel."

Ramira trat in den Raum, als hätte er sie gerufen. Auf leisen Sohlen überwand sie die kurze Distanz von der Tür bis zu dem Tisch von Nounoka.

Schützend legte sie die Hand auf ihre Schulter und musterte Dirk unverwandt. Seine dunklen Augen schienen ihr kalt, nahezu seelenlos, doch als der flackernde Schein von Kerzen sein Antlitz aus dem bläulichen Schatten der Kristallkugel hervorhob, bemerkte sie seine Trauer. Ramira fragte die Großmutter in ihrer Sprache:  "Was willst du noch von diesem Mann?"

"Ruhig", antwortete diese und wischte mit der Hand nach hinten. "Das geht dich nichts an." Nounoka heftete ihre Augen wieder auf Dirk und deckte eine Tarotkarte auf. Ihr Blick wurde leer und richtete sich in die Ferne. Mit klarer Stimme prophezeite sie ihm Jenes, was ihn nie wieder loslassen sollte: "Wenn dich beim ersten Sonnenstrahl ein magisches Lächeln trifft, erfüllt sich dein Schicksal."

Erstaunt fragte er: "Was hat das zu bedeuten?" Sein Blick suchte Rat bei der Enkelin.

Hinter dem Rücken ihrer Großmutter zuckte Ramira ahnungslos mit den Achseln, umarmte ihre Großmutter kurz und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Mit störrischer Miene schüttelte die alte Frau ihren Kopf. Unruhig tasteten ihre faltigen Hände über den Tisch und bekamen eine weitere Karte zu fassen. Wie eine heiße Kartoffel ließ Nounoka sie fallen. Wirbelnd sank sie herab und kam mit dem Bildnis nach oben auf der Platte zu liegen.

Gebieterisch legte Nounoka einen mageren Finger auf ihren Mund. "Du wirst es wissen, wenn es soweit ist!", beantwortete sie streng seine hilflose Frage. "Die zweite Karte sagt, was du zu tun hast." Die Hellseherin griff über den Tisch und umschloss mit beiden Händen sein Handgelenk. "An jenem Tag musst du dich bewähren, denn du hast eine Mission, sagt die Prophezeiung. Enttäusche mich nicht!"

                         

♦ ♣ ♦

 

Zehntausend Bilder huschten an ihm vorbei. Manuela des Morgens, die sich lächelnd in seine Arme schmiegt. Ihre gemeinsame Tochter bei ihrer Geburt, sein Blick durch die Scheibe, glücklich lehnt seine Frau sich an ihn.

Noch einmal hält er die Kleine in seinen Armen, streicht ihr in Gedanken über den Kopf, fühlt die Angst in sich, dass er etwas falsch machen könnte. Ermutigend schaut Manuela ihn an, tastet sich an seiner Wange entlang, flüstert zärtlich: "Halt sie gut fest." Sein Herz pochte schmerzvoll gegen die Brust, Tränen schossen ihm in die Augen. Eine alte Hand legte sich auf die seine. "Bis vor Kurzem ist es dir gelungen", sprach Nounoka, als läse sie seine Gedanken. Traurig sah er sie an. "Von Manuela konnte man das nicht behaupten. Sie ist so unhaltbar wie der Wind."

Wieder sah er vor sich, wie sie am letzten Verhandlungstag in der Menge verschwand. Seitdem hatte er sie endgültig aus seinem Leben verbannt und den letzten Eisblock in seine Mauer gesetzt.

"Vielleicht habt Ihr zu lange bei uns gelebt", warf Ramira halb spöttisch, halb vorwurfsvoll ein. Ihre Großmutter tätschelte zärtlich die Hand, die warm auf ihrer Schulter lag. "Ein liebendes Herz braucht ein Heim", sprach sie mit brüchiger Stimme. "Unsere Bella Akazia hatte eines gehabt, und doch kam sie zu uns wie ein halbflügger Vogel."

Sie warf einen Blick auf den jungen Mann ihr gegenüber. "Genauso wie Zorro." Dirk spürte einen zarten Riss in seiner Seele, als er seinen altvertrauten Artistennamen aus ihrem Munde vernahm. Plötzlich war es ihm kalt. Es war nicht die Kälte des Winters, die ihn umhüllte, es war die Kälte in ihm.

                         

♦ ♣ ♦

 

Feuertraum

 

Ein sanfter Wind zog durch den Wagen und hüllte ihn wärmend ein. Nounokas Stimme begleitete ihn wieder zum Platz seines Schreckens, zu jenem Tag, als sein Familienglück zerstört worden war. Ihr brach das Herz, den einstigen Jungen, der ihre Liebe hatte, als gebrochenen Mann vor sich zu sehen, doch wissen durfte er's nicht. Sie alle - Nounoka und ihre Familie - hatten ihn genauso geformt wie die Menschen, die ihn verfluchten.

Nun war sie es, die sich von den Erinnerungen hinreißen ließ, doch sie nahm ihn mit sich. Die Hellseherin geleitete ihn zu dem brennenden Platz, zeigte ihm die zerstörten Wagen, das Zirkuszelt, alles, was nicht mehr war.

Die Flammen in seinen Augen leckten an ihrer Seele, die gequält aufschreien wollte. Nounoka hielt jedoch stand, nahm ihn wie ein Kind an ihre Hand und wandelte mit ihm über den Platz. Ringsum kreischten verängstigte Tiere in ihren Käfigen und in den Ställen.

Wildes Männergeschrei, Wassermassen allüberall, brennende Zirkuswagen. Beißender Geruch liegt in der Luft, die Flammen verschlingen den Mond.

Entsetzt schaute Dirk - der Ältere - sich um und stürzte sich schreiend mitten hinein. Nounoka zog ihn zurück. "Es ist zu spät. All das ist schon lange vorbei."

Krampfhaft umklammerte sie seinen Arm. "Lass mich los!", fuhr Dirk sie an. "Manuela und meine Tochter sind noch im Wagen. Ich hol sie da raus!"

"Wir sind in deinem Traum", gemahnte sie ihn. "Stell dich deinen Gespenstern."

Verwirrt strich er sich durch sein Haar. Die Welt in der Kristallkugel nahm wieder Konturen an. Nounoka nahm ihren Schützling wieder fest bei der Hand und zeigte ihm, was damals geschah. Sie führte ihn zu seinem einstigen Wagen, deutete auf den Benzinkanister, der auf dem Boden lag, stellte ihm all die involvierten Personen noch einmal vor, inklusive sich selbst. "Ich habe immer an deine Unschuld geglaubt", wiederholte sie noch einmal leise. "Tu du es auch."

 Ihre Finger tasteten zärtlich über das rund um die Kristallkugel herum aufgefächerte Kartendeck. Als sie eine dritte Karte umdrehte, begannen die warm leuchtenden Flämmchen auf den Kerzen zu flackern.

"Nun erfährst du den Rest der Prophezeiung", kündigte sie ihm an. "Ich hoffe, dass es gut für dich ausgehen wird."

                         

♦ ♣ ♦

 

Der Dieb und die Tänzerin

 

Ramira zuckte erschrocken zusammen und krallte sich schmerzhaft in Nounokas Schulter. Eine schwarze Gestalt lehnte an einem Gitter. Der Vermummte hatte eine Taschenlampe in seiner Hand.

Sie kannte die Bedeutung der Karte: Es war der Dieb, und sie brachte Unheil. Sie gelegt zu bekommen, war eine deutliche Warnung. Die Worte ihrer Großmutter bekamen für sie allmählich Sinn.

Ramira hoffte, er möge das Richtige tun und schalt sich zugleich für ihre Anteilnahme. Dirk hatte ihrer Familie nur Unheil gebracht. Bei dem Brand verlor sie ihre Eltern und Nounoka ihr Lebenswerk.

Nounoka spürte ihre Erregung und legte beschwichtigend eine Hand auf die ihre. "Geh ein bisschen tanzen, mein Kind, und erfreue die Leute. Ich höre sie schon nach dir rufen."

"Ich lass dich nicht mit ... ihm ... allein", wehrte Ramira entrüstet ab und spuckte die Worte abfällig aus. "Ich verstehe nicht, wie du ihm verzeihen kannst, dass er uns verließ, um seinem Schwiegervater zu Willen zu sein." Sie warf einen zornigen Blick zu ihm hinüber. "DEIN Zorro und DEINE Bella Akazia haben sich nicht um dich geschert, weil ihm seine Karriere wichtiger war."

"Er hatte keine andere Wahl, Enkelin. Ansonsten wären wir alle tot!"

Frustriert zischend stieß Ramira ihren Atem aus. "Also gut. Du wirst schon selbst wissen, was du tust." Gereizt nahm sie ihr Tamburin vom Tisch und schlug einen kurzen Takt damit an, um den Klang zu überprüfen.

Sie ärgerte sich, dass er leicht scheppern klang, weil ihr Temperament mit ihr durchgegangen war und sie sich hinreißen ließ. Mit dem größten Vergnügen hätte sie es Dirk noch einmal an den Kopf geworfen ...

Ramira warf Dirk einen wütenden Blick zu und sah seine dunklen Augen fragend auf sich gerichtet. Entsetzt bemerkte sie, wie ihr Herz zu rasen begann. Er sah noch immer aus wie einer von ihnen - oder wie ein Pirat! 

Nounoka hob ihren Kopf und bemerkte kummervoll ihre Verwirrung. "Ramira! Geh!", forderte sie die junge Frau noch einmal eindringlich auf. "Hüte dein Herz. Er hat noch zu viele Probleme und ist nichts für dich!"

Nounokas alten Hände begannen zu zittern. Sie wusste um die kindliche Schwärmerei Ramiras zu Dirk und wieviel es sie gekostet hatte, ihn zu vergessen. Als er Manuela zum Traualtar geführt hatte, wäre sie fast zerbrochen.

Ihre Sorge schien jedoch unbegründet zu sein. Hochmütig warf Ramira ihren Kopf in den Nacken, stampfte auf und drehte sich heftig um.

Ihre langen schwarzen Haare streiften Dirks Wange. Er zuckte zusammen, als hätte ein Peitschenhieb ihn plötzlich getroffen. Ramira bemerkte es mit Befriedigung, trat an ein Regal und tauschte in aller Seelenruhe die verbeulten Glöckchen an ihrem Tamburin aus. "Ich weiß nicht, von was du da redest, Großmutter", erwiderte sie beiläufig in ihrer Sprache. "Der Mann interessiert mich nicht."

 Abgelenkt drehte Dirk sich mitsamt seinem Sessel um, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und betrachtete das Mädchen mit gänzlich neuem Interesse. Provokativ blitzten seine Augen sie an. "Ihr zwei Damen seid ganz schön raffiniert. Tauscht euch über mich aus, als wäre ich gar nicht da. Seid euch nicht zu sicher, dass ich nichts verstehe." Seine tiefe Stimme klang sinnlich.

Das gab ihr den Rest. Zornentbrannt rauschte Ramira hinaus, schlug die bruchfällige Holztür hinter sich zu und trappelte die drei Stufen der Plattform hinab.

Einen kurzen Moment blieb sie unten stehen und warf einen Blick zurück. Ein entschlossener Ruck durchlief ihren Körper. Ramira wandte sich ab und stürzte sich mit einem Jubelschrei hinaus ins Gewühl.

Mit lasziven Hüftschwüngen schuf sie sich Platz, schwang träge ihr Tamburin und begleitete den Flötenspieler mit leisem Glöckchenklang bei seiner Ode an ihre Heimat. Ihre ersten Tanzschritte ließen das Stimmengewirr um sie herum abebben.

Triumphierend reckte Ramira ihre Arme gen Himmel. Als die melancholische Weise mit leisen Tönen verklang, ließ sie ihren Kopf hingebungsvoll nach hinten fallen und schloss ihre Augen. Eine sanfte Windböe umschmeichelte ihren schlanken Körper und spielte mit ihren schwarzen Haaren, die sie wie ein Schleier umwehten.

Die Menschen in ihrer Umgebung hielten den Atem an. Mit einem verzückten Lächeln steppte Ramira viermal kurz auf und schlug mit der flachen Hand gegen die Lederfläche ihres Musikinstruments. Dann öffnete sie ihre dunklen Augen und drehte sich mit weit ausgebreiteten Armen langsam im Kreis. Die Menge wich noch weiter nach hinten aus und begann, rhythmisch zu klatschen.

Ramiras Seele weitete sich voller Liebe. Hingerissen erklomm sie einen großen Tisch und gab dem Flötenspieler ein heimliches Zeichen. Begleitet von den klingelnden Glöckchen des Tamburins schritt er zu ihr, setzte sich im Schneidersitz zu ihren Füßen und hob seine Panflöte an seine Lippen. Schnelle, verschnörkelte Töne peitschten hinaus in die Nacht, und Ramira suchte Vergessen in wirbelndem Tanz.        

Das verlorene Lächeln

"Wenn dich beim ersten Sonnenstrahl ein magisches Lächeln trifft, erfüllt sich dein Schicksal."

Es war noch früh, als Dirk am anderen Morgen erwachte. Eine fahle Wintersonne schien schüchtern durch ein kleines, mit Eisblumen verziertes Fenster und warf silberne Schatten an die gegenüberliegende Wand.

Ramiras junges Antlitz beugte sich über ihn und strahlte ihn zärtlich an. Er räkelte sich wohlig und griff nach ihr, die erste Strophe der Prophezeiung im Ohr. Plötzlich bekamen Nounokas kryptischen Worte einen besonderen Klang.

Sein Glücksgefühl verpuffte jedoch ebenso schnell wie ein Atemhauch in der Kälte des Winters. Als er benommen die Augen aufschlug, war er allein. Statt in einem Zirkuswagen befand Dirk sich in einem tristen Zimmer in einem ebenso schlichten Kleinstadthotel. Keine Eisblumen am Fenster, kein magisches Lächeln, nur die Sonne kämpfte sich schwerfällig durch grauen Nebel.

Sie bot keine Wärme, sie schien nicht für ihn. Stattdessen war ihm, als wolle sie ihn verhöhnen, weil er es wagte, zu träumen. Sein bisheriges Leben hatte es ihm schon allzu lange verwehrt. Es bestand nur aus Arbeit und Pflicht.

 

"Zimmer-Service!" Ein Klopfen und eine Frauenstimme beendete sein kurzfristiges Bad in Selbstmitleid. Dirk warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach acht morgens, Silvestertag. Widerwillig verabschiedete er sich endgültig von seinem sinnlichen Traum, in dem ihm eine schwarzhaarige Tänzerin mit Tamburin eine erstklassige Morgenlatte bescherte. Wie sich herausgestellt hatte, war Ramira wie Schlangengift.

Dirk schwang seine Beine aus dem Bett und griff nach einem flauschigen Bademantel, der schlampig über dem Bettrand hing. Nackt wie er war, warf er ihn über und öffnete konventionslos die Tür.

"Dein Frühstück." Ein Zimmermädchen drängte ihn mit einem Servierwagen zur Seite und schob diesen an ihm vorbei in die Mitte des Zimmers. Dirk stutzte, weil sie ihn duzte und musterte ihr Profil von der Seite. Die dunklen Haare waren zu einem strengen Dutt frisiert, der sich unfreiwillig neckisch hinter einer weißen Haube verbarg. Sie trug eine schwarze Hoteluniform mit Bluse und knielangem Rock.

"Ist was?", fragte sie.

'Diese Stimme ...'

"Ramira!", fuhr er überrascht hoch.

Sie richtete sich auf und blitzte ihn an. "Ja, das bin ich wohl. Auch andere Menschen müssen ihr Geld verdienen, und für unsereins ist es nicht leicht." Der Vorwurf in ihrer Stimme war unüberhörbar.

"Arbeit soll keine Schande sein", floskelte er aus dem Bauch heraus. Dirk griff an ihr vorbei, nahm seine Kleidung und verschwand im Bad.

"Du hast dafür deine Seele an den Teufel verkauft", gellte ihr höhnisches Lachen hinter ihm her.

Mit leichtem Bedauern dachte er an den gestrigen Abend, als er sie tanzen sah. Ramira war schon als Kind ein wirbelnder Derwisch gewesen, doch in jenem Moment hatte sie auf ihn gewirkt wie ein Tornado. Ihre Füße hatten sich im Stakkato bewegt, ihr weiter Poncho umflog sie so schnell, dass die Konturen verwischten und alles von ihrem biegsamen Körper zeigte, was er vorher verbarg. 'Die Kleine hat sich sauber rausgemacht', dachte er widerwillig bewundernd hinter seiner verschlossenen Badtür und drehte den Wasserhahn auf.

Dirk hatte noch ein ganz anderes Bild von ihr vor seinen Augen. Früher war sie wie seine Schwester gewesen. Nachdem er zu den Gauklern gekommen war und dort seine erste große Liebe fand, waren Ramira und er unzertrennlich. Er hatte sie behütet, was absolut notwendig war. Ständig brachte sie sich selbst in Gefahr, war die Waghalsigste in der Manege und stets auf dem Sprung. Mit den Tigern ging die wilde Hummel oft um, als wären es kleine Miezen.

 

♦ ♣ ♦

 

Durch das Rauschen des Wassers hindurch vernahm Dirk wütendes Scheppern und grinste vor sich hin. 'Wahrscheinlich deckt sie gerade den Tisch', mutmaßte er und stieg in die Wanne. Er stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, wenn sie dabei wäre.

Prompt regte sich sein bestes Stück. "Das hat mir gerade noch gefehlt", murmelte er leise vor sich hin und versank in den Wolken. Mit dem Zeh drehte er den Wasserhahn ab und lauschte hinaus.

Die Tür war nicht verschlossen. "Mainau!", hörte er ihre Stimme. "Ich muss auch ins Bad. Und Zeit ist mein Geld."

Ganz leicht bewegte sich die Klinke nach unten, doch kurz darauf entfernten sich ihre Schritte. Erleichtert atmete Dirk auf, ließ den Kopf gegen den Wannenrand sinken und schloss die Augen. Es fiel ihm schwer, sich zu entspannen, zumal er sich um Simone sorgte. Sein Schwiegervater hatte wieder einmal für alles gesorgt, damit er ihn auch weiterhin unter Druck setzen konnte.

Dass Horst Claasen jedoch so weit gehen würde und Dirk seine Tochter wegnahm, hätte er sich nicht einmal in seinem schlimmsten Alptraum vorzustellen gewagt. Wieder einmal war es an ihm, nach seiner Exfrau zu suchen und Manuela nach Hause zu bringen, damit er Simone zurück bekam.

Eine Handhabe gegen Claasen hatte er kaum, denn die Großeltern hatten das Sorgerecht. Nur eine stillschweigende Vereinbarung hatte ihm gestattet, dass seine Kleine bei ihm leben konnte, solange er im Betrieb verblieb.

Mit dem letzten Scheidungstermin hatte sich die Gesinnung seines Schwiegervaters hingegen verändert. So ungern Dirk sich die Fakten eingestand: Ihm waren die Hände gebunden, Manuelas Eltern saßen am längeren Hebel.

                         

♦ ♣ ♦

 

Eine halbe Stunde später verließ er das Bad. Ramira war wieder verschwunden, und das Frühstück stand auf dem Tisch. Das obligatorische Weichei, wie es Dirk in der Regel bevorzugte, durfte nicht fehlen. Er köpfte eines davon und kleckerte sich Dotter über die Brust.

Nachlässig wischte er den gelben Glibber mit einer Serviette, die auf dem Tablett lag, ab. Darunter stieß er auf einen bordeauxroten Umschlag. "Von Nounoka an Zorro" stand in Goldschrift darauf.

Zögernd drehte Dirk ihn zwischen den Händen, nahm ein spitzes Messer und schlitzte ihn auf. Nounokas drei Tarotkarten vom Vortag fielen auf seinen Schoß, dazu eine dunkelblaue Karte mit silberner Schrift: Die Prophezeiung mit allen drei Strophen. Als Dirk sie berührte, durchfuhren ihn schmerzliche Erinnerungen wie ein elektrischer Schlag.

                         

♦ ♣ ♦

 

Bella Akazia

 

Manuelas hochgestecktes Haar funkelt in der Sonne wie eine Haube aus Perlen und Gold. Der Tag der Hochzeit, und es ist ein Bild, gegen das Dirk sich wehrt. ... Vergeblich!

Nounokas Planwagen ist festlich geschmückt, Calimeros Fell glänzt schwarz wie die Nacht. Um seinen Hals trägt er eine Blumengirlande.

Seine weiche Schnauze schnaubt ihm in den Nacken, als gäbe er ihm einen Kuss.

Ein Blitzlicht-Gewitter, ein Surren, und kurz darauf hält ihm Aleja - Ramiras Mutter - lachend ein Bild vors Gesicht. Es sind die Achtziger Jahre, und das Foto stammt aus einer Sofortbildkamera von Polaroid.

Manuela schmiegt sich in Dirks Arm und schaut zu ihm auf. Ihre Lippen umspielt ein zärtliches Lächeln. Ihr Brautkleid aus Chintz schimmert wie silberner Nebel am Morgen. Es ist mit lauter kleinen Röschen bestickt, um ihre Schultern trägt sie ein samtenes Tuch.

Ein schwarzer Pferdekopf schiebt sich zwischen das Paar und drängt die strahlende Braut auf die Seite. Ein Klick, ein weiteres Leuchten, ein weiteres Bild. Gelächter brandet ringsum auf. Nounoka tritt zu ihnen, doch entgegen seiner Erwartung ist ihr Antlitz von dunklen Wolken verhüllt. Mit einer herrischen Geste stoppt sie die Fröhlichkeit der Hochzeitsgesellschaft, gibt Calimero einen leichten Hieb auf die Nase und wehrt ihn ab. Das Pferd antwortet mit einem beleidigten Wiehern.

Verletzt und verständnislos schaut Manuela sie an. Ihre Lippen formen ein lautloses "Warum?"

Nounoka umfasst ihr Gesicht. Tränen schimmern in ihren Augen. Ernst antwortet sie: "Ein schlechtes Omen, Bella Akazia. Ich bitte dich: Mach ihn glücklich. Er hat es verdient!"

                         

♦ ♣ ♦

 

Gegenwart

 

Dirk schob die Frühstücksreste zusammen und legte die vier Karten fächerartig vor sich auf den Tisch. An jenem Tag war das Lächeln noch in seinem Leben gewesen, und doch war das bereits der Anfang vom Ende.

Sowohl er als auch Manuela hatten die Warnung Nounokas bald aus ihrem Gedächtnis verbannt. Eines Tages kehrte sie hingegen erbarmungslos zu ihnen zurück. Die Folgen waren verheerend. Und tödlich!

Das zweite Klopfen an diesem Morgen ersparte ihm einen weiteren Tauchgang in die Abgründe seiner Vergangenheit. Zwischen Erleichterung und Verärgerung schwankend warf er die gebrauchte Stoffserviette auf das Tablett und öffnete die Tür. Zerstreut strich Dirk sich eine schwarze Locke aus seiner Stirn. "Ramira! Was willst du denn noch?"

"Meine Arbeit machen", antwortete sie gleichmütig, rauschte mit dem Servierwagen an ihm vorbei und räumte den Tisch ab. Die Tür ließ sie offen. Emsige Betriebsamkeit drang aus den anderen Zimmern auf seinem Stock an seine Ohren, Gelächter und Murmeln und Schritte im Flur. Es zehrte an seinen Nerven. Gereizt warf Dirk die Tür mit einem lauten Knall zu und warf sich aufs Bett.

"Mach es dir nicht zu gemütlich", spöttelte Ramira. "Ich hab hier drin noch ein bisschen zu tun."

"Kannst du nicht einfach verschwinden?"

"Nein, mein Lieber. Ich brauch meinen Job." Ramira legte Nounokas Karten und die Prophezeiung zu ihm auf den Nachttisch. "Was sollte das eigentlich?", fragte Dirk prompt und warf einen abfälligen Blick neben sich.

"Nounoka meinte, du brauchst wieder ein bisschen Magie in deinem Leben." Während sie sprach, öffnete Ramira die Tür, schob den Wagen hinaus auf den Flur und kam mit einem Eimer Wasser zurück. "Runter vom Bett!", fuhr sie ihn feindselig an.

"Ah, die Kratzbürste kommt wieder zum Vorschein", rief Dirk ihr spöttisch hinterher. Ramira ignorierte es und verschwand ins Bad. "Du hältst mich von der Arbeit ab", schalt sie zwischen Wassergeplätscher.

Leise erhob er sich, stellte sich mit verschränkten Armen an die Seite und beobachtete sie. Kopfüber hing Ramira in der Wanne und schrubbte energisch. Keck wedelte ihr Po vor seiner Nase.

Dirks Alarmglocken schrillten. Unruhig wechselte er seine Beinposition und versuchte, den Blick abzuwenden. 'Sie ist deine kleine Schwester', sagte er sich. 'Abgesehen davon scheint sie nichts für dich übrig zu haben.'

Er räusperte sich. Ramira kam hoch und sah ihn an. "Macht es dir eigentlich Spaß, Leute bei der Arbeit zuzusehen?" Sie nahm den kleinen Eimer, den sie bei sich hatte, an sich und war im Begriff, das Bad zu verlassen. Dirk legte einen Arm in die Tür und versperrte Ramira den Fluchtweg.

"Lass das!", fuhr sie ihn an. "Ich habe keine Zeit für kindische Spielchen." Zwei widerspenstige Locken fielen in ihre Stirn. Mit ihren fast schwarzen Augen sah Ramira ihn herausfordernd an. "Warum bist du nicht einfach da geblieben, wo der Pfeffer wächst?"

Ihr voller Busen presste sich gegen seinen ausgestreckten Arm, der zu kribbeln begann. Dirk spürte Ramiras Atem heiß auf seinem Gesicht.

Ohne dass er es wollte, starrte er auf ihren Mund. Ihre Zungenspitze schnellte blitzschnell wie eine Schlange zwischen ihren Lippen hervor. Ramira presste eine Hand auf seinen Brustkorb und duckte sich unter ihm weg.

  Das war ihm zuviel! Dirk packte die verführerische Hexe am Arm und wirbelte sie zu sich herum. Wasser schwappte aus ihrem Putzeimer auf seine Hose.

Er riss ihn ihr aus der Hand und warf ihn ins Bad. Mit einem lauten Knall landete der Kübel in seiner Wanne. "Du kleines Biest!", keuchte er. Hungrig presste Dirk ihren schlanken Körper gegen die Wand und hielt sie umschlungen.

 Ramira wand sich in seinen Armen, doch statt ihm zu entkommen, rückte sie verdächtig nahe an ihn heran. Ihr Unterleib kam ihm entgegen und rieb sich an ihm.

Dirk fackelte nicht lang, packte ihre beiden Pobacken und zog sie noch näher an sich heran. "Sieh an!", grinste er. "Ein kleines Spiel? Deine Spielregeln beherrsche ich auch!" 

Hundert Herztakte lang blieb die Zeit stehen. Zwei dunkle Augenpaare waren ohne zu blinzeln aufeinander gerichtet. Jeder einzelne Herzschlag stand für eine Ewigkeit. 'Nounoka reißt mir den Kopf ab', sinnierte Ramira schuldbewusst. Sie dachte an all die schmerzvollen verlorenen Jahre zurück, die sie damit verbracht hatte, Dirk zu vergessen.

Für sie hatte es keinen anderen Mann in ihrem Leben gegeben. Ramira hatte immer nur ihn gewollt. Dirk hatte in ihr jedoch immer nur die kleine Rabaukin gesehen, die Schwester, die er nie hatte.

Zur Frau genommen hatte er sich Manuela Claasen, Tochter von reichen Eltern, die in ihrem Zuhause vor Kälte erfror. So hatte es ihr einmal Nounoka erklärt, als Ramira sie fragte, was eine, die so ganz anders war, bei ihnen wollte.

Nach dem Zirkusbrand, der von Horst Claasen initiiert worden war, um seine Tochter wieder nach Hause zu holen, hatte sie Dirk und Manuela gehasst. Ihr Hass war wie Galle!

                         

♦ ♣ ♦

 

Etwas in ihm brach. Das Mädchen in Dirks Armen wirkte plötzlich verletzlich. Groß sah Ramira ihn an. Ihm schien, als stünden tausend Sterne in ihren Augen. Wie in Trance lockerte er seinen Griff.

Zart strich er Ramira eine Strähne aus ihrem Gesicht. "Schenk mir ein Lächeln", flüsterte er.

Stumm schüttelte sie ihren Kopf und senkte den Blick. Es wäre ihr nun ein Leichtes gewesen, sich ihm zu entwinden, doch Ramira vermochte es nicht.

Ihr Herz schien in ihr zu zerbersten. "Du warst so lange fort", hauchte sie. "Nounoka starb fast vor Kummer."

"Nur Nounoka?", fragte er leise und strich ihr mit dem Daumen über die Lippen. Ramira antwortete nicht und wandte sich ab. Eine Träne glitzerte auf ihrer Wange. 

Das war ihm Antwort genug! Dirk umarmte sie tröstend und wiegte sie wie ein Kind. "Nicht weinen, Kleines." Er fing ihre Träne mit seiner Zunge auf und glitt sehr sacht über ihr Antlitz. "Hätte ich gewusst, was für eine tolle Frau aus einer kleinen Wildkatze werden kann ...", murmelte er geistesabwesend an ihrer Wange.

Ramira sah ihn an. "Du hättest dich trotzdem nicht anders entschieden. Manuela und du ... Ihr wart füreinander bestimmt! Das sagte zumindest Nounoka."

"Es ist vorbei. Die Vergangenheit hat keine Macht mehr über mich. Alles, was noch für mich zählt, ist die Gegenwart und meine Tochter." Dirk nestelte in ihren Haaren und öffnete sie. Wie eine schwarzsamtene Flut Tausendundeine Nacht fielen sie hinab bis auf ihre Hüfte.

Dirk versenkte sein Gesicht darin und sog gierig ihren Duft ein. Ramiras Haube warf er ins Eck. Wie von selbst glitten seine Hände an ihrem Körper herab und kamen auf ihrer Taille zu liegen. Ramira antwortete mit einer lasziven Drehung und drängte sich an ihn.

Mit einer seltsamen Empfindung zwischen Triumph und Rührung bemerkte sie seine Erregung. "Ich habe mich für dich aufbewahrt", flüsterte Ramira an seinem Mund. 

Ihr Geständnis wirkte auf Dirk wie eine kalte Dusche. Sanft schob er sie weg. Aufgewühlt trat er ans Fenster und starrte hinaus.

'Mit einem solch kostbaren Juwel werde ich nichts anfangen können', sinnierte Dirk bang. 'Noch mehr Verantwortung auf meinen Schultern, und noch mehr Schuld ...'

Er merkte, wie sehr es ihn zu ihr hinzog, wie die ehemals familiäre Verbundenheit eine andere Richtung nahm. "Ich bin noch nicht bereit", sprach er,  "und bin es nicht wert."

Verletzt suchte Ramira nach ihrer Haube und richtete ihre Haare vor dem Spiegel im Bad zu einer notdürftigen Hochsteckfrisur. 'Ich bin ihm nicht gut genug', gellte es in ihrem Kopf. Die Zärtlichkeit in ihren Augen war erloschen. Krampfhaft versuchte Ramira, ihren Stolz zu bewahren, doch am liebsten hätte sie auf der Stelle geweint.

'Bella Akazia, sie wurde von allen geliebt', dachte sie an die Zeit mit Manuela zurück. 'Sie hat noch immer sein Herz. Dabei hat sie ihn und uns alle ins Unglück gestürzt.'

Als sie ihren Kopf hob, sah Ramira Dirks flackernden Blick im Spiegel auf sich gerichtet. Lautlos war er wieder zurückgekehrt und stand nun hinter ihr.