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Der einstmalige Chorleiter, Komponist und Kommunalpolitiker der FDP, Martin Fellenz, ist als gewesener SS-Führer und Täter des Holocaust zu einer traurigen Berühmtheit gelangt. Ab 1962 stand er wegen der Mitwirkung beim fast 40.000-fachem Mord an der jüdischen Bevölkerung in Polen vor Gericht. Für seine Taten wurde er im Nachkriegsdeutschland jedoch lediglich zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt, welche mit seiner Untersuchungshaft ab Sommer 1960 und einer vorzeitigen Entlassung bereits als abgegolten angesehen wurden. Fellenz verließ das Gericht in Kiel 1966 als freier Mann. In fünfzehn Kapiteln nähert sich der Autor Jens Nielsen dem paradoxen Erscheinungsbild des Musikers, dessen Verbrechen kaum mit seinem extravaganten Auftreten, seiner Wortwahl und seinem Kleidungsstil in Einklang zu bringen waren. Unter Beleuchtung der verschiedenen Aspekte aus Fellenz Leben und unter Hinzunahme zahlreicher Quellen aus unterschiedlichen Archiven versucht Nielsen die unterschiedlichen Facetten Fellenz nachzuzeichnen, der als gewesener SS-Mann und Ratsmitglied der Stadt Schleswig in der Nachkriegszeit auch im Ausland die Stadt mit repräsentierte. Seine begangenen Verbrechen bei der SS im Kontext mit seiner Tätigkeit als Künstler und Politiker der Nachkriegszeit hat bis heute viele Fragezeichen hinterlassen. Einem Großteil dieser Fragen soll in diesem Buch nachgegangen werden.
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Seitenzahl: 173
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Foto Titel: Martin Fellenz nach seiner Verurteilung am 27. Januar 1966 Foto von Friedrich Magnussen, Stadtarchiv Kiel
Einer von vielen anderen…
„Zwischen den Stühlen“ – Ein Leben für die Musik
Die „Fellana“ und „die Timmerbeil“ – verschwundene Ehen
„Ein Volk, ein Reich, ein Führer…“ – Hinwendung zum Nationalsozialismus
Der Zweite Weltkrieg – Die Aktion Reinhard – Mitwirkung am Holocaust in Polen
Die „Aussiedlung“ von Rzeszów (Reichstadt)
Die „Aussiedlung“ von Przemysl
Ein neuer Anfang…
Ein angesehener Bürger – Schleswig in der Nachkriegszeit
Die „Entnazifizierung“
Ein „gewachsener Demokrat“ – Ratsherr der FDP in Schleswig
„Ich bin mir keiner Schuld bewußt“ – Die Prozesse
1. Aussage von Josef Müller – Ehemaliger Kommandant der SS-Lager in Krakau im Landgerichtsgefängnis Flensburg
2. Die Aktion im Ghetto von Krakau
3. Die erste Aktion in Tarnow
4. Die Aktion in Miechow
5. Die zweite Aktion in Tarnow
6. Die Aktion in Myslenice
Nicht erwiesen – Erschießung von Widerständlern in den Niederlanden
Spätes Leben
Ein erstes Umdenken
Lebensende
Fazit – Was bleibt
Literaturangaben:
Unveröffentlichte oder nur zum Teil veröffentlichte Quellen:
„…Die Einstellung des deutschen Volkes gegenüber seiner eigenen Vergangenheit, über die alle Experten der deutschen Frage 15 Jahre lang gerätselt hatten, hätte kaum deutlicher zum Ausdruck kommen können: Das deutsche Volk kümmerte sich so oder so wenig darum, und die Anwesenheit von Mördern im Land störte es nicht besonders, da keiner dieser Mörder heute aus eigenem Willen einen Mord begehen würde. Wenn jedoch die Weltöffentlichkeit – oder vielmehr das, was die Deutschen das Ausland nennen, wobei alle Länder außerhalb Deutschlands in einem Singular zusammengefasst sind – hartnäckig würde und die Bestrafung dieser Leute forderte, war man durchaus bereit, diesem Wunsch nachzukommen, zumindest bis zu einem gewissen Punkt...“1
1 Arendt, Hannah, Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil, 1963. Diese Zeilen beziehen sich auf das Urteil gegen Martin Fellenz vor dem Landgericht in Flensburg 1962. In der Originalausgabe heißt es: „…The attitude of the German people toward their own past, which all experts on the German question had puzzled over for fifteen years, could hardly have been more clearly demonstrated: they themselves did not much care one way or the other, and did not particularly mind the presence of murderers at large in the country, since none of them were likely to commit murder of their own free will; however, if world opinion - or rather, what the Germans called das Ausland, collecting all countries outside Germany into a singular noun - became and demanded that these people be punished, they were perfectly willing to oblige, at least up to a point.“
„…Es ist fast so, als erwarten die Angeklagten, Applaus für ihre Handlungen, wie beim Prozess Fellenz...“2
Am 20. Juni 1960 wurde die Stadt Schleswig durch die unvorhergesehene Verhaftung und den nachfolgenden Kriegsverbrecher-Prozess gegen den angesehenen FDP-Kommunalpolitiker Martin Fellenz aufgeschreckt. Innerhalb kürzester Zeit stand die Stadt und der zur traurigen Berühmtheit gelangte Ratsherr plötzlich im Fokus der Berichterstattung durch die Presse.3 Fellenz wurde angeklagt, als ehemaliger Stabsführer des SSund Polizeiführers von Krakau, Täter des Holocaust gewesen zu sein. Dabei wurde ihm vorgeworfen, im Sommer 1942 an der Ermordung von an die 40.000 westgalizischen Juden im Distrikt Krakau des damaligen Generalgouvernements seinen Anteil gehabt zu haben. Fellenz sollte die Tötungsaktionen mit vorbereitet und auch deren Ablauf organisiert haben.
Konkret wurden dem Schleswiger Ratsherrn Fellenz Verbrechen, begangen in den zum Gouvernement gehörenden Städten Krakau, Miechów, Michalowice, Przemysl, Rzeszów und Tarnów, in der Zeit von Juni 1942 bis September 1942 zur Last gelegt. Grundlage des Verfahrens gegen ihn war die Deportation der jüdischen Bevölkerung der angegebenen Orte in das Konzentrationslager Belzec in Bełżec und die Erschießung von Juden, die nicht transportfähig oder marschfähig gewesen waren. Auch die Erschießung von flüchtenden oder während ihrer Deportation ins Ghetto Slomniki als „hartnäckig“ eingestuften Juden aus der Stadt Michalowice, an deren Tod Fellenz beteiligt gewesen sein soll, wurde zur Anklage gebracht.4
Martin Fellenz war in jungen Jahren in seiner Heimatstadt Duisburg als Kapellmeister, Chorleiter und Komponist beschäftigt gewesen. Er soll einer der jüngsten deutschen Kapellmeister seinerzeit gewesen sein. Obwohl in seiner politischen Meinungsbildung schon früh nationalsozialistisch ausgerichtet, hatte er in seinem Leben als Musiker, Schauspieler, Kapellmeister und Komponist zunächst eher den unmilitärischen Weg eines Künstlers eingeschlagen. Ab 1936 war Fellenz jedoch hauptberuflich für die „Schutzstaffel“(SS) tätig geworden. Liest man die Abfolge seiner Tätigkeiten während der NS-Zeit, hätte man für sich als Außenstehender durchaus die Vorstellung eines strebsamen und leistungsbereiten, dafür aber eher gefühlsarmen und gewissenlosen Menschen gewinnen können, der von der Macht, die ihm im Laufe seiner Tätigkeit in der SS verliehen wurde, verführt worden war.
Nach dem Krieg, dem Ende der Wehrmacht und der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft ging Martin Fellenz nach Schleswig, wo seine Frau mit ihrer Familie lebte. 1955 ließ er sich hier für die FDP als Ratsherr in die Ratsversammlung wählen.5 Fellenz schien in seinem späteren Leben keinerlei Unrechtsbewusstsein für seine Rolle in der NS-Zeit gehabt zu haben, oder aber er legte es als Täter darauf an, gefunden zu werden. Zumindest unternahm er nach dem Krieg keinerlei Versuche, um seine Identität zu verbergen oder als gewesener Kriegsverbrecher unterzutauchen. Er nutzte keinen Decknamen, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, so wie es andere hochrangige und wie Fellenz ähnlich schwer belastete Nationalsozialisten nach dem Krieg getan hatten. Gerüchten zufolge gab es aber kurzzeitig sehr wohl die Überlegung innerhalb der Familie nach Südamerika auszuwandern, so wie es andere Nazigrößen getan hatten.
Das Schwurgericht am Landgericht Kiel verurteilte Martin Fellenz 1966 nach sechs Jahren Untersuchungshaft nicht, wie es zu erwarten gewesen wäre, wegen Beihilfe zum Massenmord in fast 40.000 Fällen. Er wurde lediglich wegen Beihilfe zum Mord in vier Fällen verurteilt. Wobei hier keine Einzelfälle, sondern vier komplexe Tötungsaktionen gemeint waren, die den Tod von an die Tausend jüdischen Menschen bedeutet hatten. Das Urteil gegen Fellenz lautete abschließend auf sieben Jahre Zuchthaus, unter Anrechnung der vorangegangenen sechs Jahre Untersuchungshaft. 6
Dieses milde Urteil spiegelte den Zeitgeist der 1960er/1970er Jahre als Musterbeispiel für die in dieser Zeit stattgefundenen Prozesse gegen damalige Kriegsverbrecher bilderbuchhaft wider. Man wollte endlich einen Schlussstricht unter die Zeit des Nationalsozialismus ziehen und sich fortan lieber der Zukunft und dem Aufbau des Landes als der Vergangenheit widmen. Für die Opfer der Ermordungsaktionen und für ihre überlebenden Angehörigen musste das geringe Strafmaß jedoch als eine erneute Verhöhnung ihres durch Täter wie Martin Fellenz erduldeten unsäglichen Leiden aufgefasst werden.
Wie der Urteilsbegründung damals zu entnehmen war, hatte es die Kammer damals für „wenig sinnvoll“ gehalten, den Verurteilten Fellenz seiner bürgerlichen Ehrenrechte zu berauben.7 Zugleich war man bei der Verkündung des Urteils der festen Überzeugung gewesen, dass eine Fortdauer der Haft nach so langer Zeit für Fellenz nicht verantwortet werden könne, weswegen die Gefängnisstrafe, mit der von dem ehemaligen SS-Mann bereits hinter sich gebrachten Untersuchungshaft und einer in Aussicht gestellten zur Bewährung ausgesetzten Reststrafe verrechnet, als abgegolten angesehen wurde. 8
Vielleicht hätte man dem späteren SS Sturmbannführer Martin Fellenz tatsächlich zugutehalten können, dass er sich damals womöglich nicht aus einer bewussten Entscheidung heraus zu Beginn seiner Karriere für die Mittäterschaft in der Mordmaschinerie der Nationalsozialisten entschieden hatte. Vielfach schuldig gemacht hatte er sich trotzdem. Fellenz hatte seinen Dienst bei der SS und die Beihilfe bei der Ermordung Tausender Menschen jüdischen Glaubens offenbar genauso sachlich und kühl hinter sich gebracht, wie er auch all die anderen Befehle blind befolgt hatte, die ihm von seinen Vorgesetzten aufgetragen worden waren.9
Nach seiner Entlassung 1966 wirkte Martin Fellenz noch über mehr als 30 Jahre als Musiker, Klavierlehrer, Chorleiter und Komponist in der Stadt Schleswig und in den angrenzenden Regionen. Besonders an der Organisation und Durchführung zahlreicher Kirchenkonzerte war er als Musiker und Chorleiter beteiligt. Doch erst als gegen Ende seines Lebens unterschiedliche Kirchengemeinderäte und andere mahnende Stimmen aus der Region, auf Grund seiner durchgesickerten nationalsozialistischen Vergangenheit, Widerspruch gegen sein weiteres Mitwirken bei solchen Veranstaltungen einlegten, führten die nachfolgenden Diskussionen zu einer Verhaltensänderung bei den Konzertveranstaltern.
Man hätte Martin Fellenz zuvor als Musiker und Chorleiter für arrogant und überheblich halten können, so wie er vereinzelt von seinen Mitmenschen tatsächlich auch wahrgenommen wurde10, als Störfaktor im Ablauf des kirchlichen Gemeindelebens hatte man ihn zuvor nicht gesehen – im Gegenteil. Seine Kompetenz als Musiker, Pianist und Chorleiter war für Konzerte im kirchlichen Kontext gern und verhältnismäßig oft genutzt worden. Einen wegen vielfachen Mordes verurteilten Kriegsverbrecher in den eigenen Reihen zu dulden, war jedoch ein denkbar schlechtes Aushängeschild für die Außendarstellung der evangelischen Kirche im Sprengel Schleswig.
Martin Fellenz blieb, trotz der kritischen Hinterfragung seiner Rolle in der NS-Zeit, in Schleswig bis zu seinem Tod im Jahr 2007 in einem Pflegeheim in Haddeby ein geachteter und angesehener Bürger. Und auch in die bestehende gute Nachbarschaft in seiner späteren Heimatgemeinde Lürschau war er, trotzdem seine Vergangenheit wohl zum Teil auch hier bekannt war, mit seiner Frau gut integriert gewesen. Doch kaum jemand wusste Genaues.
Fellenz Taten während der NS-Zeit im ehemaligen Generalgouvernement sind in der Stadt und Region Schleswig außergerichtlich moralisch nur sehr unzufriedenstellend aufgearbeitet worden. Seine Verbrechen gerieten, vor allem bei den nachfolgenden Generationen, zunehmend in Vergessenheit, oder waren nie bekannt. Eine umfassende Aufarbeitung der Taten des ehemaligen SS-Mannes Martin Fellenz soll mit diesem Buch nachgeliefert werden. Dabei ist beabsichtigt worden, nicht nur den Nationalsozialisten Fellenz, sondern auch den Menschen dahinter, der zu solchen Taten fähig war, nach Möglichkeit deutlicher herauszuarbeiten.
Jens Nielsen, im Herbst 2024
2 Schindler, Oskar, Brief: „Lieber Freund Sternberg und meine lieben Freunde…“, Frankfurt am Main, 8. April 1964, Arndtstraße 46 b b. Nölle, AR – A – 128 – 024, in: massua- ה אושמ,https://www.infocenters.co.il/massuah/multimedia/Docs/pdf/disk20081111/48250.pdf, abgerufen am 111. August 2024
3 Siehe zum Beispiel: „Schleswiger Ratsherr unter Verdacht der Judenvernichtung“, Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, 21. Juni 1960; „Schleswiger Ratsherr der Judenvernichtung verdächtigt“, Südschleswigische Heimatzeitung, 21. Juni 1960; „Schleswiger Ratsherr wurde verhaftet“, Flensburger Presse 23. Juni 1960; „Ehemaliger Schleswiger Ratsherr wegen Judenaussiedlung angeklagt“, Südschleswigsche Heimatzeitung, 20. Juli 1960
4 Siehe dazu auch: LG Flensburg, 11.01.1963 - 2 Ks 1/62
5 Klee, Ernst, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Frankfurt am Main 2007, S. 147 f. Zu seinem Lebenslauf siehe auch: Schleswiger Nachrichten, Ausgabe vom 19. April 1955
6 LG Kiel, 27.01.1966 - 2 Ks 6/63
7 LG Kiel, 27.01.1966 - 2 Ks 6/63
8 Rüter, Prof. Dr. C. F., de Mildt, Dr. D. W.: LG Kiel 27.01.1966 JuNSV Bd. XXIII, Seite 69, in: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XXIII, Verfahren Nr. 617–633 (1966)
9 H. W., Kiel, Angeklagt: Martin Fellenz, Das Porträt eines „guten Deutschen“, aus der ZEIT Nr. 38/1965, 17. September 1965, abgerufen am 27. Juli 2024
10 H. W. Flensburg, 'Martin Fellenz war ein angesehener Bürger', Die ZEIT, Nr. 47/1962, 23. November 1962, abgerufen am 22. August 2024
Martin Fellenz wurde am 20. Oktober 1909 in Duisburg Ruhrort11 nahe der Grenze zu den Niederlanden geboren. Gerade erst vier Jahre zuvor war sein Geburtsort als fortan rechtsrheinischer Stadtteil von Duisburg in die Stadt eingemeindet worden. Ruhrort selbst wurde zwar bereits seit 1551 als eigenständige Stadt bezeichnet, ist aber erst ab 1905, zusammen mit Meiderich und Duisburg, zur Großstadt Duisburg zusammengeschlossen worden. Auch die Häfen der drei Städte waren erst seit dieser Zeit durch eine einheitliche Verwaltung miteinander verbunden.
Martin Fellenz war der zweite Sohn des Drehers12 Wilhelm Fellenz13 und der Pianistin und Sängerin Margarete geborene Langen im Haus Gartenstraße 23 in Duisburg. Er soll, beeinflusst durch seine Mutter, aus sehr musikalischem Hause gekommen sein, glaubt man den späteren Artikeln aus der Presse über ihn, in denen vor allem seine musikalischen Qualitäten hervorgehoben wurden. Die Familie Fellenz war evangelischen Glaubens.14 Nach seiner Grundschulzeit in der Volksschule in Duisburg von 1915 bis 1918 besuchte Fellenz anschließend die dortige Knaben-Mittelschule, die er 1924 erfolgreich mit der Mittleren Reife abschloss.15
Fellenz Kinder- und Jugendjahre waren vom Ersten Weltkrieg und den bewegten Jahren danach stark überschattet. Im März 1920 war es im sogenannten „Ruhrkampf“, einem Aufstand von Arbeitern des Ruhrgebiets, der zunächst zur Abwehr gegen den völkisch-nationalistischen Kapp-Putsch ausgerufen worden war, auch in Duisburg zu blutigen Gefechten zwischen Einheiten der Reichswehr und republikfeindlichen Freikorps mit der sogenannten „Roten Ruhrarmee“ gekommen. Diese bestand insgesamt aus mehr als 50.000 Bewaffneten, wovon ein Teil fronterfahrene Arbeiter waren. Auch nach dem Krieg war es wie vielerorts weiter unruhig in der Stadt geblieben. Am 8. März 1921 rückte zu allem Übel noch ein französisches Infanterie-Regiment wegen ausstehender Reparationszahlungen in Duisburg ein. Mit dieser Besetzung sicherte sich Frankreich eine strategisch bedeutsame Schlüsselstellung, um nachfolgend auch das übrige Ruhrgebiet besetzen zu können. Jegliche Versammlungsfreiheit wurde in der Stadt in dieser Zeit aufgehoben und auch die Presse unterlag fortan einer strengeren Zensur. Erst im September 1925 rückten die letzten französischen Truppen aus dem Duisburger Stadtgebiet wieder ab. Inwieweit Martin Fellenz politische Einstellung und die seiner Eltern von der französischen Besatzungszeit und von den Reparationszahlungen an Frankreich früh nationalistisch geprägt worden waren, ist nicht mehr festzustellen.
1925 war zunächst das Jahr, in dem Fellenz, zur Vorbereitung auf eine angestrebte Berufsausbildung, in die Höhere Handelsschule seiner Heimatstadt Duisburg eintrat. Diese verließ er jedoch bereits am 17. März 1926, nach einem Jahr Schule, mit der Abgangsprüfung16, um kurz darauf eine Lehre als Bankkaufmann in einer Filiale der A. Schaaffhausen’schen Bankvereins AG aus Köln in Duisburg-Ruhrort zu beginnen. Im Jahr 1929 konnte Fellenz die Lehre erfolgreich abschließen und wurde vom Bankverein im Anschluss als Bürokraft übernommen.
Auch trat er dem gewerkschafts-ähnlichen Handlungsgehilfenverband in dieser Zeit bei.
Martin Fellenz verblieb etwa ein Jahr bis 1930 als Angestellter der Bank in seinem gelernten Beruf. Als der Bankverein, der bereits 1929 mit der Deutschen Bank fusionierte, am Vorabend der Weltwirtschaftskrise immer mehr Arbeitsplätze abbaute, fiel auch Martin Fellenz Stelle darunter. Selbst die Stahlhütte in Duisburg-Ruhrort-Meiderich musste 1932 im Zuge der Krise mit mehr als 6.000 Arbeitern und modernster Technik schließen. Die Steinkohleproduktion in Hamborn erreichte 1932 nur noch 59 % von dem, was sie noch 1929 produziert hatte.
Infolge der Wirtschaftskrise, die insgesamt Millionen von Arbeitslosen und speziell in Duisburg den reichsweit höchsten Prozentsatz von 34,1 Prozent Arbeitslosigkeit hervorbrachte, war auch Fellenz spätestens ab 1930 ohne kontinuierliche Beschäftigung.17 Andere Autoren wollen glaubhaft machen, dass er seine Ausbildung in der Bank gar nicht erst abschließen konnte, sondern schon vor der Abschlussprüfung arbeitslos wurde.18 Diese Behauptung deckt sich jedoch nicht mit den von Martin Fellenz selbst gemachten Angaben.19
Noch während seiner Lehrzeit hatte Fellenz zusätzlich das Konservatorium und die Städtische Musikschule seiner Heimatstadt besucht. Dass er Musik studiert habe, stand auch Jahrzehnte später in seinem Lebenslauf in den Schleswiger Nachrichten zu lesen, welcher anlässlich der Kommunalwahl 1959 in der Zeitung veröffentlicht worden war. 20 Martin Fellenz soll ein Schüler des Dirigenten und Musikpädagogen Hermann Abendroth (1883–1956) gewesen sein, so heißt es.21 Die britische Historikerin Caroline Sharpeles gibt in ihrem Buch „West Germans and the Nazi Legacy“22 an, dass Fellenz Anfang 1931 nach Berlin reiste, um erst hier Musik zu studieren. Diese
Angabe ist jedoch durch nichts zu belegen. Fellenz machte in seinen Unterlagen zur Entnazifizierung deutlich, dass er bereits 1931 als Kapellmeister sowohl in die Reichstheaterkammer als auch in die Reichskulturkammer eingetreten war.23 Auch in seinem Lebenslauf erwähnt er, in dieser Zeit Kapellmeister und auch Leiter von Gesangsvereinen gewesen zu sein.24
Diese Angabe belegend, finden sich im Duisburger General-Anzeiger an verschiedenen Tagen Veranstaltungen, die von Martin Fellenz organisiert und geleitet worden waren und bei denen er als Chorleiter und Pianist auftrat. So wird sowohl am 13. und am 18. Mai 1932 im Saal des von der Witwe Joh. Dislich geführten Vereinsheims in der Bahnhofstraße in Duisburg von „Bunten Abenden“ berichtet, an denen er mit seinem „Duisburger-Meidericher Doppelquartett Rheingold“ auftrat und sowohl Klassiker der Chormusik als auch Volkslieder mit heiterem Inhalt zum Besten gab.25 Doch auch von Konzerten im „Vereinslokal Restaurant zum Schlachthof“ des Inhabers Paul Beer und von Konzerten im St. Elisabeth Hospital wird berichtet.26 Dabei gehörten Lieder wie „Grüß mir die Reben, Vater Rhein“ des Komponisten und Chorleiters Hermann Sonnet (1881–1936) dabei ebenso zum Programm, wie das Lied „Sonnenuntergang“ des norwegischen Komponisten Johan Gottfried Conradi (1820–1896) oder auch das Lied „Ich hatte einst ein schönes Vaterland des Komponisten Ernst Hansen (18761951).
Der Text dieses Liedes, welches den Ausgang des Ersten Weltkriegs zum Thema hatte und wohl während der alliierten Rheinlandbesetzung nach dem Krieg heimlich in den Gruben gesungen wurde, stammte von der Schriftstellerin und Dichterin Johanna Wolff (1858– 1943). Ob Martin Fellenz zu diesem Zeitpunkt wusste, dass auf den Namen der gefeierten Schriftstellerin ein Schatten gefallen war? Zwar hatte man Johanna Wolff, die in der Schweiz lebte und die den Nationalsozialismus anfangs auch begrüßt hatte, 1930 die Ehrenbürgerwürde ihrer Heimatstadt Tilsit verliehen und ihr für sich und ihren Mann Georg Wolff auch hier ein Ehrengrab zugesprochen, die NSDAP erkannte ihr das Grab aber wieder ab, weil ihr Mann einen jüdischen Großvater hatte.
Schon neben der Ausbildung und wohl auch noch während seiner Tätigkeit als Bankangestellter musizierte Fellenz als Pianist bei der „Duisburger Jägerkapelle“. Ab dem Wintersemester 1931/32 war er vorübergehend, zur Beendigung seiner damaligen Arbeitslosigkeit, bei der Westdeutschen Schauspielund Operettenbühne in Duisburg-Hamborn (Wanderbühne) unter ihrem Theaterdirektor Adolf Henschke (1887–?) als Pianist, als Repetitor und auch als Zweiter Kapellmeister beschäftigt gewesen - für ein Entgelt von etwa 250 Mark monatlich. Direktor Henschke war nachweislich Parteimitglied. Er war im September 1932 in die NSDAP eingetreten.27 Anfang November 1933 findet sich in der Zeitung die Ankündigung über eine Konzertreihe vom 9. November 1933, einem Donnerstag, bis einschließlich Montag, den 13. November 1933 im Operetten-Theater Duisburg an der Beekstraße. Diese Art Wanderbühne war vier Jahre zuvor gegründet worden, um auch den theaterlosen Städten Westfalens und des Niederrheins Operetten bei sehr niedrigen Eintrittspreisen darbieten zu können. Jeweils ab 8:15 Uhr [sic] sollten, unter Beteiligung von den Hauptdarstellern Ina Jansen (Oberhausen), Elli von Gahlen (vormals Stadttheater Hamborn), Elsa Fuchs (Kölner Rundfunk), Franz Esser (Stadttheater Döbeln), Franz Görtz (Stadttheater Aachen) und Lutz Bossemeyer-Sanden (Stadttheater Bielefeld) unter der musikalischen Leitung des Kapellmeisters Martin Fellenz volkstümliche Operettenschlager geboten werden.28
11 Geburtsregister Nr. 1159/Standesamt Duisburg-Hamborn-Nord
12 Klee, Ernst, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Frankfurt am Main 2007, S. 147 f.
13 Die Familie Fellenz wohnte 1909 in dem Haus Gartenstraße 23 in Duisburg-Hamborn. Siehe dazu: Duisburger Adressbuch, Duisburger Adressbuch-Verlag, 1909, S. 243
14 Handgeschriebener Lebenslauf Martin Fellenz in: NARA SSO - A3343 SS Personal files, USA. Martin Fellenz bezeichnete sich hier als gottgläubig, trat aber in der NS-Zeit aus der Kirche aus
15 Die Daten sind Fellenz selbst formulierten Lebenslauf entnommen, in: Fellenz, Martin in LASH Abt. 460.12 Nr. 137, Entnazifizierungshauptausschuss des Kreises Schleswig
16 Duisburger General-Anzeiger vom 21.3.1926
17 Fellenz, Martin in LASH Abt. 460.12 Nr. 137, Entnazifizierungshauptausschuss des Kreises Schleswig
18 Siehe dazu: H. W., Kiel, Angeklagt: Martin Fellenz, Das Porträt eines „guten Deutschen“, aus der ZEIT Nr. 38/1965, 17. September 1965, abgerufen am 27. Juli 2024
19 Fellenz, Martin in LASH Abt. 460.12 Nr. 137, Entnazifizierungshauptausschuss des Kreises Schleswig und Handgeschriebener Lebenslauf Martin Fellenz in: NARA SSO - A3343 SS Personal files, USA
20 Fellenz Lebenslauf in den Schleswiger Nachrichten zur Kommunalwahl 1959. Quelle: Gemeinschaftsarchiv der Stadt Schleswig und des Kreises Schleswig-Flensburg.
21 Prieberg, Fred K., Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945. CD-ROM-Lexikon, Kiel 2009, 2. Auflage, S. 1638
22 Sharples, Caroline, West Germans and the Nazi Legacy, 2011, S. 161
23 Fellenz, Martin in LASH Abt. 460.12 Nr. 137, Entnazifizierungshauptausschuss des Kreises Schleswig
24 Handgeschriebener Lebenslauf Martin Fellenz in: NARA SSO - A3343 SS Personal files, USA
25 Duisburger General-Anzeiger vom 13. und vom 18.5.1932
26 Rhein- und Ruhrzeitung vom 17.9.1932, S.4
27 Abt. Rheinland, NW 1004-G35.2 (SBE Hauptausschuss Stadtkreis Duisburg), Nr. 19, Entnazifizierungsakte Adolf Henschke
Immer öfter trat Fellenz bei Veranstaltungen mit der von der Presse abgefeierten Konzertsängerin und Solistin Gerda Käthe Thea geb. Schmidt (*8. Dezember 1911 in Hagendingen, †?) auf, die zunächst den Künstlernamen „Gerda Fellana“ trug und ab 1932 plötzlich auch als Gerda Fellenz-Fellana in Erscheinung trat. Gerda Fellanas Qualitäten als bekannte Sängerin wurden als „…weit über dem Durchschnitt“ beschrieben. Das Paar siedelte 1933 für knapp drei Monate von Duisburg-Hamborn nach Den Haag in den Niederlanden über.29 Im „Bevolkingsregister“ der Stadt Den Haag sind sie vom 26. Juli 1933 bis zum 20. Oktober 1933, in der Celebessstraat 19 zusammen aufgeführt. Da Gerda Käthe Thea Schmidt (Fellana) bis 1935 den Nachnamen Fellenz trug, ist von einer Heirat mit Martin Fellenz zwingend auszugehen. 30 Die entsprechenden Urkunden dazu liegen jedoch nicht vor. Auch eine mögliche Scheidungsurkunde des Paares konnte bisher für die Forschung nicht beigebracht werden. Ob es sich bei dem kurzzeitigen Aufenthalt um ein gemeinsames Engagement der beiden in Den Haag am nahegelegenen Königlichen Schauspielhaus gehandelt hat, scheint gleichfalls nicht mehr in Erfahrung zu bringen zu sein.