Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Anfang der 60er Jahre wurde das Bundesland Schleswig-Holstein von einem Skandal erschüttert, der weltweite Beachtung fand. Der in der NS Zeit durch seine Funktion als Obergutachter bei den als Aktion T4 bezeichneten Morden an kranken und behinderten Menschen bekannt gewordene Professor Dr. Werner Heyde war nach Kriegsende aus seiner Inhaftierung geflohen und über mehrere Jahre in Flensburg untergetaucht. Unter dem Decknamen Dr. Fritz Sawade konnte er sich erneut als Arzt und Gutachter eine neue Existenz aufbauen und blieb über viele Jahre unbehelligt. Seine Enttarnung 1959 deckte ein erschreckend großes Unterstützungsnetz an namhaften Mitwissern aus Politik, Justiz und Ärzteschaft auf, die Heydes wahre Identität aus Eigennutz, aus Solidarität mit einem alten Parteikameraden und aus Angst vor Aufdeckung der eigenen NS-Vergangenheit verschwiegen hatten. Keiner der Mitwissenden ist für seine Taten später verurteilt worden. Noch Jahrzehnte nach diesem Skandal, der das Ausmaß der Assimilierung ehemaliger Nazigrößen in die Strukturen der noch jungen Bundesrepublik zum Teil offen legte, gibt es noch immer neue Blickwinkel und unveröffentlichte Forschungsergebnisse, die den Vorgang Heyde bzw. Sawade in ein anderes Licht tauchen. Der Historiker und Publizist Jens Nielsen legt mit diesem Buch ein Werk vor, dass das Thema Euthanasie und den Umgang mit der einstigen Nazi-Elite in der Nachkriegszeit neu in die Köpfe holt - denn nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten. Zitat: August Bebel
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 174
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
„Ich vermute, es gibt viele Ärzte, die daran interessiert sind, daß ihre Namen und ihre Arbeit während des Dritten Reiches nicht bekannt werden.“1
1 Zitat Generalstaatsanwalt Fritz Bauer nach dem für 1964 anberaumten Prozess gegen Heyde. Der Titel des Buchs „Professor Tod“ ist nach dem Spitznamen gewählt, den die Mitgefangenen Werner Heyde im Zuchthaus von Butzbach in Hessen gaben.
Vorwort
Lebenslauf
Erste Bekanntschaft mit Theodor Eicke – Heydes Eintritt in die NSDAP
„Der Männerverderber“ - Vorwurf der Homosexualität
Kragenspiegel mit dem Totenkopf - Eintritt in die SS-Totenkopfverbände
Weitere Karriere als Mediziner in Würzburg
Heyde als führender Gutachter und Organisator bei den als „Aktion T4“ bezeichneten Krankenmorden
Dr. Heinrich Bunke (1914–2001)
Dr. Klaus Endruweit (1913–1994)
„Ich werde niemandem, auch auf eine Bitte nicht, ein tödlich wirkendes Gift geben“ - Ärztekommissionen und Probevergasungen
„Leben ohne Wert“ – Widerstand gegen das Morden
„Krank, alt und nicht mehr arbeitsfähig“ – Die „Sonderbehandlung 14f13“
„Lebensunwertes Leben“ – Das Morden geht weiter
Gefangenname, Haftbefehl und erste Flucht – Werner Heyde als Kriegsgefangener
Unter dem Namen Dr. Fritz Sawade – Tätigkeit als Sportarzt und Gutachter in Flensburg – eine neue Existenz
„Die Bombe platzt“ – Vom Aufdecken der zweiten Identität des Werner Heyde
Die Schlinge zieht sich zu – Der Kreis der Mitwisser
Der Sozialrichter Dr. Max Meinicke-Pusch (1905–1994) als Mitwisser
Dr. jur. Walter Meisterernst als Mitwisser
Der Richter Richard Michaelis (*1898, †?) als Mitwisser
Weitere mutmaßliche Mitwisser
„Diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die die Unrechtstäter decken“- Der parlamentarische Untersuchungsausschuss
„Rechtsfreier Raum“ – Die Aussagen der Mitwisser
Ein ganz besonderer Zeuge
– Dr. Hans Bürger-Prinz (1897–1976) vor dem Kieler Untersuchungsausschuss
„Der Schleier des Vergessens“ – Keine Strafen für die Mitwisser
„Ein freundlicher älterer Teddybär“ – Persönliche Erinnerungen an Dr. Fritz Sawade
Nur „Zwei Dutzend Einzelfälle“ – Ministerpräsident Kai Uwe von Hassel wehrt sich gegen die Verunglimpfung seines Bundeslandes
Würzburg – Der Arzt Günter Munkwitz (1912–1970) und Heydes Stellvertreter und Vertrauter in der Nervenklinik, der spätere Oberarzt Dr. Karl Stoeßel
„Auf die lange Bank geschoben“ – Die Anklage
„Der Justiz keinen Schauprozess liefern“ – Ein angeblicher Befreiungsversuch?
„Widerwärtige Heuchelei…“ – In Untersuchungshaft
„…Ich habe nichts Böses gewollt…“ – Tod durch Selbstmord
„Was vom Tage übrig blieb“ – Vor den Trümmern des großen Prozesses
Zum Teil unveröffentlichte Quellen:
Benutzte Literatur:
Nachdem das Regime der Nationalsozialisten 1945 zu Ende ging, gelang es nicht nur vielen involvierten Politikern, sondern auch Journalisten, Juristen und Medizinern die Spuren ihrer Vergangenheit nachhaltig zu verwischen und ihre Taten zu verharmlosen oder ganz zu verschweigen. Zu ihnen gehörte auch Prof. Dr. med. Werner Heyde, der als Psychiater und Neurologe in der Funktion eines Direktors in der NS-Zeit die Klinik für Psychiatrie und Neurologie an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg geleitet hatte. Zusätzlich war Heyde als Politiker in der NSDAP als hochrangiges Mitglied der SS und als Gutachter für die Gestapo in dieser Zeit sehr einflussreich in Erscheinung getreten. Heyde ist vor allem als Leiter der medizinischen Abteilung der als „Zentraldienststelle T4“ bezeichneten Tarnorganisation und als ihr Obergutachter im Zusammenhang mit dem T4 Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten für die Ermordung von mindestens 100.000 kranken und behinderten Menschen und für die Ermordung von Häftlingen in den Konzentrationslagern verantwortlich zu machen.
Nachdem er nach dem Krieg aus der Internierung entkommen war und untertauchte, hatte Heyde sich, wie andere hochrangige Nationalsozialisten auch, alsbald nach Flensburg abgesetzt. Hier gelang es dem mit Haftbefehl wegen Massenmordes auf der ganzen Welt gesuchten „Euthanasiearzt“ sich eine neue bürgerliche und berufliche Existenz aufzubauen. Unter dem Decknamen Dr. Fritz Sawade und mit dementsprechend gefälschten Papieren vom Schwarzmarkt war es Werner Heyde in dem Flensburger Stadtviertel „Westliche Höhe“, in dem sich nach 1945 zahlreiche ehemalige Nazi-Größen neu eingerichtet hatten, ohne weiteres gelungen, im Walter-Flex-Weg ein Reihenhaus mit gutbürgerlicher Fassade zu erwerben und seiner Tätigkeit als Mediziner und Gutachter unter anderen Voraussetzungen erneut nachzugehen.
So konnte der NS-Mediziner Heyde, der schon als Euthanasie-Obergutachter über den Tod oder das Leben Tausender Menschen entschieden hatte, bis zu seiner Enttarnung 1959 in der Bundesrepublik erneut psychiatrische Gutachten für Ämter und Gerichte erstellen. Mitwisser von der wahren Identität des Werner Heyde alias Dr. Fritz Sawade bildeten über viele Jahre ein Bündnis des Schweigens auf Gegenseitigkeit, um die brisanten Vorgänge, die innerhalb eines kurzen Zeitraumes eine ungeahnte Dimension annehmen sollten, auch aus Eigennutz zu verschleiern. Dieses Buch hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Vorkommnisse der Nachkriegszeit in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen. Auch wenn über diesen Fall in der Vergangenheit viel berichtet und geschrieben worden ist, ermöglichen die hier aktuell vorgestellten neuesten Forschungsergebnisse möglicherweise neue Blickwinkel auf diesen Vorgang, der einer der größten Skandale der Nachkriegszeit zu werden drohte.
Jens Nielsen im Herbst 2021
Werner Heyde wurde am 25.4.1902 im brandenburgischen Forst in der Lausitz geboren. Heyde war ein Sohn des angesehenen Tuchfabrikanten Carl August Heyde und seiner Frau Elise geb. N.N. 1908 ist Werner Heyde hier in der späteren Kreisstadt des Landkreises Spree-Neiße, wie vorgesehen mit sechs Jahren, eingeschult worden. Als weitere Kinder des Tuchfabrikanten Heyde und seiner Frau sind der Bruder Ulrich und die Schwester Käthe Heyde erwähnt, welche später nach Saarbrücken zog. Das in Forst verbreitete und seit 1418 privilegierte Tuchmacherhandwerk prägte zu sehr großen Teilen in dieser Zeit die Wirtschaft der Stadt, weswegen die Stadt Forst auch als das „deutsche Manchester“ bezeichnet wurde.
Die Tuchwarenfabrik der Heydes befand sich in der Mühlenstraße 42 in Forst, wobei ein größerer Anteil neuerer Fabriken hier am Mühlengraben angesiedelt war. Die Geschäftsleitung des Betriebes war im nahe gelegenen Haus Rüdigerstr. 4 untergebracht. Werner Heyde besuchte die Schule in Forst bis zum Juli 1914. Danach siedelte die Familie im Herbst des gleichen Jahres in das nur ca. 20 km entfernte Cottbus über und blieb hier bis 1939. Ab 1923 und danach ist die Familie in Cottbus in der Berliner Straße Nr. 102 nachzuweisen. Der Vater Carl August Heyde hatte schon im Jahre 1908 in Forst einen schweren Unfall in seinem Betrieb erleiden müssen. Er musste in der Folge seinen Beruf aufgeben und schließlich die Tuchwarenfabrik verkaufen. Die Familie lebte zunächst vom Erlös aus dem Verkauf, was wiederum langfristig mit einem starken sozialen Abstieg verbunden war. Vater Heyde nutze offenbar die freie Zeit und engagierte sich als Frührentner – für die damalige Zeit erstaunlich - stark in der Erziehung seiner Kinder. Um die Finanzlage der Familie dauerhaft zu sichern oder gar zu optimieren, kaufte er sich in Kriegsanleihen ein. Diese wurden unmittelbar nach dem Krieg 1918 allerdings wertlos. Das übrig gebliebene Vermögen der Familie verlor in der folgenden Inflation von 1923 nahezu vollständig seinen Wert.
Während der Vater Carl August, dessen Rufname nur August war, 1919 auf Grund seiner Invalidität in den alten Unterlagen als „Rentier“ bezeichnet wird 2, ist er 1925 im Adressbuch der Stadt3 doch noch einmal als Betriebsleiter bezeichnet worden. Er starb 1936 in Cottbus im Krankenhaus. Seine Witwe Elise zog nach seinem Tod in die Vetschauer Straße 4, innerhalb der Stadt. Ob die 19374 und danach im Adressbuch der Stadt Cottbus unter dieser Adresse mit angegebene Lehrerin Doris Heyde eine weitere
Schwester des Werner Heyde oder aber eine unverheiratete Schwester des Vaters war, konnte bisher nicht umfassend geklärt werden.
Noch während der Schulzeit meldete sich Werner Heyde bei Kriegsbeginn des I. Weltkrieges als Kriegsfreiwilliger und wurde unter dem Militärgouverneur von Estland, Franz Adolf Freiherr von Seckendorff, bei der Gruppen-Fernsprechabteilung 656 (Gruferna 656) in Reval stationiert. Spätestens ab Sommer 1918 ist er hier nachzuweisen.5 Nach Beendigung der Kampfhandlungen und nach dem Waffenstillstandsabkommen vom Compiègne ab dem 11. November 1918 hielt sich Heyde als Angehöriger eines Freikorps bis Anfang 1919 weiterhin in Estland auf. Zurückgekehrt nach Cottbus legte Heyde zu Ostern 1919, mit gerade 17 Jahren, sein Abitur an der Oberrealschule in Cottbus ab – als Klassenbester. Andere Informationen geben an, dass Heyde sein Abitur erst im März 1920 absolvierte, aber mit dem gleichen Ergebnis. Der Ehrgeiz, Höchstleistungen zu vollbringen, findet sich in Werner Heydes Lebenslauf an vielerlei Stellen wieder und prägte offenbar sein gesamtes Leben.
Ebenfalls im März 1920 beteiligte sich Heyde, zusammen mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder Ulrich (*4.7.1903, †?), der ebenfalls von der Oberrealschule in Cottbus abgegangen war, auf Seiten der Putschisten unter Major Bruno Ernst Buchrucker am Kapp-Putsch im Raum Cottbus. Die Brüder waren in der Cottbusser Kaserne in der Kaiser-Friedrich Straße einquartiert.6 Dieser Umstand hielt Heyde aber nicht davon ab, bereits ab Mai 1920 sein Studium der Medizin in Berlin zu beginnen - dicht gefolgt von Semestern in den Universitätsstädten Freiburg und Marburg. In Berlin blieb er vier, in Freiburg allerdings nur ein Semester. Heyde besuchte in diesem Semester in Freiburg offenbar auch Vorlesungen des Psychiaters Alfred Hoche (1865–1943), der als Mitverfasser der Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ als einer der Wegbereiter der organisierten Massenvernichtung in der Zeit des Nationalsozialismus gilt.7 An der Universität in Marburg, an der Heyde ebenfalls nur ein Semester blieb, legte er im Juli 1922 das Physikum ab. Darauf folgten weitere Studienaufenthalte an den Universitäten in Rostock und zuletzt in Würzburg. In Rostock ist der Eintrag seiner Immatrikulation für den 24.4.1923 in die Matrikelbücher der Universität unter der Nr. 45 für das Sommersemester 1923 unter dem Rektorat von Professor Dr. Walsmann zu finden. Gleichzeitig findet sich auch hier unter der Nr. 42 am gleichen Tag ein Eintrag von Werner Heydes Bruder Ulrich der sich für die Studienfächer Philosophie und Chemie8 eintrug. Während Werner sich aber bereits am 25.7.1923 wieder exmatrikulierte, um nach Würzburg zu gehen, ist die Exmatrikulation vom Bruder Ulrich Heyde nicht eingetragen. Dieser wurde alsbald Chemiker in München.9 Als Dr. rer. nat. Ulrich Heyde heiratete er 1931 die approbierte Apothekerin Eva Gerlach aus der Wilhelminenstraße 12 in Danzig bei einer Haustrauung im Danziger Stadtteil Neufahrwasser, im Haus Nr. 30. Die Ehe ist für den 6.4. in der Himmelfahrtskirche Danzig-Neufahrwasser verzeichnet worden.10 Ab 1932/33 ist Ulrich Heyde im Chemischen Laboratorium des Staates an der Ludwig-Maximilian-Universität als Assistent zu finden. 1937 war die Familie in Großhadern in der Taxusstraße 7 wohnhaft. Später verzog sie in die Goethestraße 37/3 in München.
Bruder Werner promovierte zunächst im Mai 1925 in Würzburg und bestand das medizinische Staatsexamen wiederum mit der Bestnote „Sehr gut“. Das Thema seiner Dissertation lautete: „Hernia encystica incacerata“, über eingeklemmte Eingeweidebruchsäcke.11 Werner Heyde legte in Würzburg insgesamt eine seltene Karriere hin: Er wurde an der Klinik derselben Fakultät vom Stationsarzt bis hinauf zum Ordinarius und schließlich zum Klinikchef befördert.
Seine eigentliche ärztliche Laufbahn begann Heyde aber zunächst als Medizinalpraktikant an den städtischen Krankenanstalten in Cottbus, an den Wittenauer Heilstätten in Berlin und erst dann an der Würzburger Universitätsnervenklinik. In Cottbus blieb er ein Jahr. Heydes Approbation erfolgte am 8.6.1926. Danach wurde er Hilfsassistent bei dem Psychiater, Lehrstuhlinhaber und gleichzeitigen Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Würzburg, Professor Martin Reichhardt (1874–1966), der ihn stark förderte. Jahre später übernahm Heyde Reichhardts Würzburger Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie, als dieser in den Ruhestand ging.12 Obwohl emeritiert, arbeitete Reichardt aber bis in sein 90. Lebensjahr weiter.
Vorübergehend ist Heydes Name auch im Rahmen eines Forschungsstipendiums an der Psychiatrischen Klinik in Würzburg zu finden. Ab November 1928 war er zusätzlich für zwei Jahre am chemischen Institut der Bayrischen Akademie der Wissenschaften in München tätig. Zurück in Würzburg habilitiert er sich in den Fächern Neurologie und Psychiatrie. Nachzuweisen ist hier seine 44 Seiten umfassende Habilitationsschrift „Untersuchungen über Gehirnfermente“.13
Werner Heyde wird in Würzburg ab Juli 1931 als planmäßiger Assistent an der Nervenklinik und ab dem 10. August 1932 als Privatdozent für Psychiatrie und Neurologie genannt. Im Februar 1931 heiratete Heyde Erika geb. Precht. In dieser Ehe wurden zwei Söhne geboren.
2 Einwohnerbuch der Stadt Cottbus und der Orte Sachsendorf, Schmellwitz und Ströbitz, Verlag Albert Heine, 1919
3 Einwohnerbuch der Stadt Cottbus und der Orte Sachsendorf, Schmellwitz und Ströbitz, Verlag Albert Heine, 1925
4 Adressbuch der Stadt und des Landkreises Cottbus, Verlag Albert Heine, 1937
5 Werner Heydes Lebenslauf aus der Tageszeitung „Würzburger Generalanzeiger“, 1. Februar 1940
6 Der Spiegel, Artikel vom 24.03.1964, Nr. 13/1964 Briefe „Euthanasie“, Käthe Heyde
7 Binding, Karl, Hoche, Alfred, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig, 1920
8 Heyde Ulrich, Über die Photochlorierung des Chloroforms, Diss., 17. Seiten, Akad. Ver.-Ges., 1930. Diese Abhandlung erschien auch 1930 in Band 8 der „Zeitschrift für physikalische Chemie“ Interessant scheint, dass der Mitautor dieses Artikels über die „Photochlorierung des Chloroforms“, der Konservator an der Ludwig-Maximilian- Universität in München und spätere Physikochemiker Georg - Maria Schwab (1899–1984) war, der aus einer jüdischen Familie stammte und ab 1925 als Assistent bei dem Chemiker Otto Dimroth an der Universität in Würzburg gearbeitet hatte. Schwab emigrierte aus „rassischen Gründen“ 1939 nach Griechenland, wo ihm 1942 von der Deutschen Wehrmacht sein Pass abgenommen wurde.
9 Matrikelbücher der Universität Rostock, [9]: [1919 - 1923], [Handschrift], 1919-1923, http.//purl.uni-rostock.de/rosdok/ppn638666562, abgerufen am 30.8.2021
10 Trauverzeichnis der Himmelfahrtskirche Danzig-Neufahrwasser, 6.4.1931, Nr. 11, Haustrauung
11 Heyde, Werner, Hernia encystica incacerata, masch. med. Diss., Würzburg 1927 (12 Seiten)
12 Böning, Jobst, Von Reichardt bis Beckmann: Würzburger Psychiatrie im 20. Jahrhundert. In: Tempora mutantur et nos? Festschrift für Walter M. Brod zum 95. Geburtstag. Mit Beiträgen von Freunden, Weggefährten und Zeitgenossen. Hrsg. von Mettenleiter, Andreas, Akamedon, Pfaffenhofen 2007, S. 413–419; speziell S. 413
13 Heyde, Werner, Untersuchungen über Gehirnfermente, masch. med. Habil., Würzburg, 1932
„Weiß das Adolf Hitler, und geschieht dies mit seinem Willen?“14
Im März 1933 traf Werner Heyde in der Würzburger Klinik erstmalig auf einen prominenten Patienten, der seinen weiteren Lebensweg nicht unwesentlich mitbestimmen sollte. Es war der SS-Standartenführer Theodor Eicke (1892–1943) aus Ludwigshafen, der spätere Kommandant des Konzentrationslagers Dachau. Dieser war wohl auf Veranlassung des rheinpfälzischen Gauleiters, Josef Bürckel (1895–1944), zunächst verhaftet und dann auf Grund eines zweitägigen Hungerstreiks Eickes schließlich in die Würzburger Klinik eingeliefert worden. Bürckel hatte Eicke in diesem Zusammenhang als „gefährlichen Irren“ bezeichnete.15 Vermutlich sollte Eicke, aus einem SS-internen Machtkampf heraus, langfristig beseitigt werden. Eicke selbst beschrieb die Situation seiner Festnahme in einem Brief an Hermann Göring folgendermaßen:
„…Der erste deutsche Reichstag tritt zusammen. Die Fahnen flattern über allen Straßen. Ich bin freudig bewegt über den Sieg unseres Führers und kleide mich stolz in seinen Ehrenrock, der [sic!] Uniform der SS, um mir den Festzug in der Stadt anzusehen. Da ertönt die Hausglocke. Meine Frau öffnet. 4 Kriminalbeamten [sic!] treten herein, ich kenne sie. Instinktiv greife ich nach meiner Waffe. „Halt, stehen bleiben! Was wollen Sie?“ „Wir sind leider gezwungen, Sie zu verhaften!“ „Mich, warum? Wissen Sie nicht, daß ich als SS-Führer unter dem Schutze meines Führers stehe, der Ihr Reichskanzler ist?“ „Wir haben Befehl von der Polizeidirektion!“ „Unerhört! Ich sage Ihnen, daß Sie hier keinen lebenden, sondern nur einen toten Eicke hinausbringen! Wagen Sie es?“ Damit richte ich die Pistole auf mich selbst. Meine Frau schrie laut auf; der Kommissar Klein trat mit seinen Leuten einige Schritte zurück; er wusste keinen Rat. „Gehen Sie und sagen Sie Ihren Auftraggebern, daß ich um 12 Uhr mittags allein in`s Gefängnis komme, Sie haben mein Wort darauf.“ „Ja, wenn Sie aber nicht kommen, dann verlieren wir unser Brot?“ Arme Kreatur. „Gehen Sie ruhig, ein SS-Führer Adolf Hitlers bricht sein Wort nicht!“ Das zog, sie gingen.“16
Zur Untersuchung von Eickes Geisteszustands wurde Heyde als behandelnder Arzt in Würzburg mit einem amtsärztlichen Gutachten beauftragt. Werner Heyde sah allerdings nicht nur keine Anzeichen einer Geistes- oder Gehirnkrankheit, er stellte Eicke sogar noch ein Gutachten aus, durch das dieser in all seine Parteiämter und -funktionen wiedereingesetzt werden konnte. Es ist davon auszugehen, dass es sich hierbei eher um ein „Gefälligkeitsgutachten“ handelte, von dem sich der karrierebewusste Werner Heyde etwas für seine Zukunft versprach. In einem Schreiben an den Reichsführer SS Heinrich Himmler (1900–1945), formulierte Heyde, dass Eike sich während seines Klinikaufenthaltes „musterhaft geführt“ habe und durch sein „ruhiges, beherrschtes Wesen“ sehr angenehm auffiel. Auf Heyde machte Theodor Eicke „keinesfalls den Eindruck einer intrigierenden Persönlichkeit.“
Weiterhin ist dem Schreiben zu entnehmen, dass „die mehrwöchigen Beobachtungen und vielfachen Untersuchungen […] keinerlei Anzeichen einer Geistes- oder Gehirnkrankheit bei E. erkennen lassen, es sind auch nicht die Anzeigen [sic!] einer abnormalen Persönlichkeitsveranlagung im Sinne der Psychopathie erkennbar gewesen.“17
Theodor Eicke schrieb selbst über seinen Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik in Würzburg und damit über seine erste Begegnung mit Werner Heyde:
„Abends 7 Uhr kamen wir in der Psych. Klinik an. Ich musste gleich zu Bett. Am nächsten Tage zur Untersuchung. 2 Stunden später erschien der Arzt wieder: „Versprechen Sie mir, daß Sie nicht fortgehen, Sie können sich in der ganzen Klinik frei bewegen; Schwester, haben Sie gehört, Herr Eicke kann sich frei bewegen?“ Ich hätte den Arzt umarmen können. Gott sei Dank, einen gerechten [sic!] Menschen. Nach ca. 10 Tagen ging das Gutachten ab: völlig gesund, keine Sour einer Geistesstörung, eine Unterbringung in der Irrenanstalt […] kommt gar nicht in Frage. Gez. Dr. Heyde, Privatdozent der Psychatrie [sic!], Universität Würzburg.“18
Das von Werner Heyde aufgesetzte Gutachten räumte den von Bürckel geäußerten Verdacht einer möglichen Geisteskrankheit Eickes gänzlich aus und dürfte aus diesem Grund mitverantwortlich dafür sein, dass Eicke durch seine vollständige Rehabilitation kurz darauf in die Lage versetzt wurde, als erster Kommandant des KZ Dachau die Herrschaft der SS über alle Lagerinsassen der Konzentrationslager durchzusetzen. Später wurde Eicke nicht nur Inspekteur der Lager, sondern auch Führer über die SS-Totenkopfverbände.19 Es wäre interessant gewesen, wie sich die Karrieren der beiden Männer, Eicke und Heyde, entwickelt hätten, wenn kein Arzt Theodor Eicke einen unauffälligen Geisteszustand bescheinigt hätte.
Am 1.5. 1933 trat Werner Heyde, nach eigenen Angaben auf Empfehlung Eickes(!), mit der Mitgliedsnummer 3.068.165 in die NSDAP ein und wurde alsbald darauf als Fachmann in Sachen Zwangssterilisation vielfach zu Rate gezogen. Zusätzlich wurde Heyde von Oktober 1934 bis Mai 1936 auch Mitarbeiter im „Rassepolitischen Amt“. Zuletzt war er hier in der Position eines Kreisamtsleiters eingesetzt. In die gleiche Zeit fällt auch Heydes Ernennung als Beisitzer beim „Erbgesundheitsgericht“. Seine Aufgabe war es hier, über die zahlreichen Anträge auf Zwangssterilisationen zu befinden.
14 UWü, Patientenakten,1933, PA 1933/108, Eicke, Theodor an Himmler, Heinrich, 16.5.1933, Privatakte, Universitätsklinik Würzburg
15 Wistrich, Robert, Wer war wer im Dritten Reich, Frankfurt, 1983
16 UWü, Patientenakten, 1933, PA 1933/108, Eicke, Theodor an Göring, Hermann, 18.5.1933, Patientenakte, Universitätsklinik Würzburg. Er erwähnt darin allerdings nicht, dass der Grund seiner Verhaftung eine angeordnete Schutzhaft wegen angeblich „gemeingefährlicher Geisteskrankheit“ war
17 Schreiben Heydes an Himmler vom 22. April 1933, Unterlagen des Berlin Document Center, auch in: UWü, Patientenakten, Theodor Eicke 1933, PA 1933/108 als Durchschlag, zitiert bei Tuchel, Konzentrationslager, S. 136
18 Universitätsklinik Würzburg (UKW), Patientenakte Theodor Eicke, S. 43 f.: Briefentwurf Eicke an Göring vom 18.5.1933
Ende 1935 schien die Karriere des Werner Heyde indessen sehr stark gefährdet zu sein. Dies war darauf zurückzuführen, dass Heyde sich dem Vorwurf der Homosexualität ausgesetzt sah, der das „Aus“ für sein weiteres Fortkommen hätte bedeuten und im Regelfall in dieser Zeit eine Verfolgung hätte nach sich ziehen können. Sowohl in der NS-Zeit als auch in der Nachkriegszeit wurde Homosexualität als Verbrechen geahndet - die vielen KZ-Häftlinge in den Lagern, die mit einem rosa Winkel an der Kleidung stigmatisiert wurden, zeugen davon.
Der SS-Untersturmführer Süttinger, welcher in Zusammenhang mit den Anschuldigungen gegen den als Juden und Homosexuellen verfolgten Würzburger Weinhändler und promovierten Juristen Leopold Obermayer vernommen worden war, hatte Heyde schwer belastet. Süttinger hatte angegeben, dass er um 1927 oder 1928 von Heyde mit „brachialer Gewalt“ zu homosexuellen Handlungen gezwungen worden war.20 Es wurde auf Parteiebene viel dafür getan, dass die Untersuchungen gegen Heyde zunächst mehr und mehr verschleppt und schließlich ganz niedergeschlagen wurden. Die Ermittlungen der Gestapo und der Justiz wurden im Januar 1936 zunächst ganz eingestellt, da Heyde als Sachverständiger in einem Mordprozess zwingend benötigt wurde. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, dass er durch seinen früheren Patienten Eicke in dieser Sache geschützt wurde.
1939 jedoch wurden die Untersuchungen gegen Heyde erneut aufgenommen und tatsächlich gestand er zu diesem Zeitpunkt gewisse „Erlebnisse auf homosexuellem Gebiet“ ein. Heyde erklärte sich aber selbst als mittlerweile vollständig „geläutert“.21 Himmler schrieb an den SS-Obergruppenführer und General der Polizei Reinhard Heydrich (1909–1942) in dieser Angelegenheit, die mittlerweile zur Geheimen Reichssache erklärt worden war, dass er glaube, dass Heyde „...sehr verständig und wirklich völlig gerettet“ sei und dass er „…eigentlich den Professor nicht entlassen“ möchte. Er empfahl Heydrich, Heyde nicht aus der SS zu verstoßen.22 Am 24.10.1939, kurz nach dem Überfall auf Polen und dem damit einhergehenden Ausbruch des Krieges, wurde das SS-interne Untersuchungsverfahren gegen Werner Heyde gänzlich eingestellt. Angeblich hatten sich die Anschuldigungen, Heyde habe homosexuelle Handlungen begangen, als „unrichtig“ herausgestellt. Der SS-Untersturmführer Süttinger, welcher den Vorwurf gegen Heyde erhoben hatte, wurde am 3.11.1939 degradiert, aus der SS entlassen und an die Front überstellt, während Heyde zeitgleich außerordentlicher Professor in Würzburg wurde.