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1944 wird das Mädchen Sabine als uneheliches Kind der Fabrikarbeiterin Maria Haberl in Schleswig geboren. Ihre Geburt steht unter keinem guten Stern, denn nachdem Marias Mann, der Kommunist Willi Haberl, wegen Alkoholismus entmündigt, verhaftet und von den Nationalsozialisten als Arbeitsscheuer mit einem schwarzen Winkel stigmatisiert in das KZ Wewelsburg bei Büren eingeliefert wird, versucht Maria mit ihren bis dahin sechs ehelichen Kindern das Leben zunächst allein zu meistern. Doch man lässt sie nicht in Ruhe. Die staatliche Fürsorge, die auf die Vorgänge aufmerksam geworden ist, entnimmt zusätzlich noch drei Kinder zwangsweise aus der Familie und bringt sie in einem Heim unter. Maria Haberl wird erneut schwanger. Zuerst mit einem Jungen und dann schließlich mit Sabine, ihrer jüngsten Tochter. Der Vater der beiden letztgeborenen Kinder ist der unverheiratete Soldat und Heizer Walter Müller aus Kiel. Die Ehe der beiden Eheleute Maria und Willi Haberl wird gerichtlich getrennt, während Willi sich noch im KZ befindet. Der weitere Kriegsverlauf und die zahlreichen verheerenden Bombenangriffe zwingen Maria schließlich, ihre Heimatstadt Kiel zu verlassen. Sie wird nach Schleswig evakuiert, wo Sabine unter dem Mädchennamen ihrer Mutter Koschinski geboren wird. 44 Tage nach der Geburt wird das Mädchen einer Familie in Schleswig übergeben, die fest auf dem Boden des Nationalsozialismus steht. Die genauen Umstände dieser Kindsübergabe sind bis heute nicht umfassend geklärt. Sabine Koschinskis Name wird auf Wunsch der neuen Wahleltern in Inge Köster umgeändert und ihre alte Identität unwiederbringlich ausgelöscht. Nach Kriegsende versucht Maria Haberl verzweifelt, ihr Kind zurückzubekommen, doch vergeblich. Sowohl die Behörden als auch die Pflegeeltern selbst sind nicht bereit, das Mädchen wieder herauszugeben. Die Adoption scheint unumkehrbar. Die Schrecken des Krieges und das Trauma der Adoption lösen eine emotionale Kettenreaktion aus, deren Folgewirkungen auch noch die nachfolgenden Generationen betrifft. Das Buch Du bist nichts beschreibt in allen Einzelheiten die grausam erscheinenden Facetten dieser Adoption in der NS-Zeit in der Schleistadt Schleswig. Es werden die Namen der Beteiligten in der Stadt genauso benannt, wie die Hintergründe im Kontext der Zeit beleuchtet werden. Ein sachlich und ohne Hass geschriebenes, aber auch ein aufrührendes Buch zum Nachdenken. Sabine Koschinski war meine Mutter.
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Seitenzahl: 203
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Abbildung 1
Eine Adoption im nationalsozialistischen Schleswig des Jahres 1944
von Jens Nielsen
1 „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ (Heinrich Deist, 1924 im „Politischen Rundbrief des Hofgeismarkreises“). Später programmatischer Leitspruch der NS-Volksgemeinschaft Abbildung 1: Inge Köster geb. Sabine Koschinski (1944–2021)
„…Zu den schlimmsten Verbrechen, die Menschen Menschen antun, gehört es, wenn man ihnen Kinder raubt. Es bleiben seelische Wunden bei Eltern und Kindern zurück, die nie wieder verheilen…“2
„…Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld (…) bis in die dritte und vierte Generation…“3
2 Schwarz, Christoph, zitiert aus „Geraubte Kinder – vergessene Opfer. Bilder und Medienberichte zur Wanderausstellung.“, 2016
3 Die Bibel, 2. Mose – Kapitel 20
Ein kurzes Vorwort – „…bis in die dritte Generation“
Ein Pflegekind in Schleswig – „Du bist nichts. Dein Volk ist alles“
„Land der dunklen Wälder“ – Wurzeln in Ostpreußen
Flucht aus Kiel nach Schleswig
Eine Adoption unter Zwang?
Schleswig in der Stunde null…
Ohne Rechte – Der leibliche Vater Walter Müller
Der Ehemann Willi Haberl – rote Front und schwarzer Winkel
8.1. Exkurs „…Auf und nieder geh ‘n die Posten. Keiner, keiner kann hindurch“! - Häftling im KZ Klein Niederhagen- Wewelsburg
8.2. „Asozial“ – Ein Stigma und seine Folgen
8.3. „Bis das der Tod Euch scheidet…“ – Eine Trennung mit Fragezeichen
8.4. Die Arbeiterfamilie Haberl aus Kiel – „…Brüder, seht, die rote Fahne weht uns kühn voran“
8.5. Von der geschiedenen Ehefrau zur Kriegswitwe – die „Leichenehe“
9. Das Pflegekind Sabine – Blond und blauäugig - eine neue Identität
Die Reichsadoptionsstelle – das staatliche Monopol der Adoptionsvermittlung im Kontext der nationalsozialistischen Weltanschauung
Exkurs: Der Verein Lebensborn e.V. – Heinrich Himmler und die kruden Vorstellungen der Nationalsozialisten eines „arischen“ Menschen
Die Adoption – „Für immer entwurzelt“
Unbelastet durch die NS-Zeit – Der Notar und Rechtsanwalt Johannes Weiland
Die Rolle der kommunalen Verwaltung im Nationalsozialismus auf Stadt- und Kreisebene
Der Landrat Hans Georg Victor Hugo Kolbe (1882 – 1957) als Vorgesetzter des Kreisjugendamtes in Schleswig – ein Schreibtischtäter
Der Amtsvormund Peter Koll (1898 -1972) – „Der Staat ist Mittel zum Zweck. Dieser Zweck aber ist: Erhaltung der Rasse“
Der Wahlvater Hans Franz Fritz Köster (*1911 in Müssen/Herzogt. Lauenburg, † 1991 in Schleswig) – ein treuer, zuverlässiger Volksgenosse
Die Deutsche Arbeitsfront – „Kraft durch Freude“
Die „Führer Flak Abteilung“ – „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“
Getreu bis in den Tod
Die Entnazifizierung – „…und ist überhaupt politisch nicht hervorgetreten…“
Die Familie Wegner aus Dammholm
Regierungsamtmann Friedrich (Fritz) Kern – ein bekannter Antifaschist?
Bestandsaufnahme – Was bleibt
Das große Schweigen – ein Kind ohne Wurzeln
Resümee
Literaturangabe:
Zum Teil unveröffentlichte Quellen:
Mit diesem Buch „Du bist nichts…“ meldet sich der Autor als Pädagoge und als Angehöriger der viel zitierten dritten Generation, als Kind von Kriegskindern und als Sohn einer von der „Zwangsadoption“ der Nationalsozialisten betroffenen leiblichen Mutter zu Wort, die er nie richtig kennengelernt hat. Mutter und Sohn lebten wegen der Scheidung der Eltern nur vier Jahre zusammen, bevor sie getrennt wurden.
Dieses Buch soll mit der umfassenden Darstellung der ersten Kindheitsjahre der Mutter in der Stadt Schleswig und mit der Skizzierung des Lebensumfeldes der ursprünglichen Herkunftsfamilie dazu beitragen, Klarheit in die Vorkommnisse in der NS-Zeit im Zusammenhang mit der Adoption der Mutter zu bringen.
Doch soll dieses Buch nicht nur das Schicksal der eigenen Familie thematisieren, es sollen auch die in diesem Zusammenhang ergangenen Verwaltungsvorgänge in der Stadt und im Kreis Schleswig während der NS-Zeit offengelegt und dokumentiert werden, insoweit dieses für einen Außenstehenden überhaupt möglich ist, um so einen erweiterten Umgang mit der Zeitgeschichte der Region zu ermöglichen.
Dabei handelt es sich zum Teil um Verwaltungsvorgänge, deren Aufarbeitung in der Forschung bisher noch gar nicht oder nur fragmenthaft stattgefunden hat.
Auf Grund ihres Aufgabenbereiches waren viele Behörden reichsweit auf Stadt- und Kreisebene in dieser Zeit häufig direkt und vielfältig in die Repressions- und Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten mit eingebunden, ohne dass ihre Mittäterschaft bisher in wissenschaftlichen Untersuchungen in größerem Ausmaß erforscht und dokumentiert worden ist.
Auch in der Stadt und im Kreis Schleswig sind beispielsweise die reichsweiten Anordnungen im Zusammenhang mit der „Erb- und Rassenpflege“ von den Behörden umgesetzt worden. Auch hier wurden beispielsweise jüdische Mitbürger durch Verwaltungshandeln aus ihren Wohnungen vertrieben. Die unrechtmäßige Beschäftigung von zahlreichen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen zählte auch in Schleswig mit zu dem Aufgabengebiet einer Kreisverwaltung. Und auch die unrechtmäßige Aneignung von Kindern war Teil des behördlichen Handelns in der Stadt an der Schlei.
Die Recherche um diesen Themenkomplex ermöglichte dem Autor nicht nur einen erschreckenden Einblick in die Verhältnisse jener Zeit, sie ließen dabei auch andere, familiäre Aspekte zum Vorschein kommen, die vorher unbekannt waren.
Bei der Erarbeitung der Zusammenhänge in der Stadt Schleswig drängte sich unweigerlich die Frage auf, ob und wie die prägenden und leidvollen Erfahrungen der Mutter und der Großeltern in den Zeiten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sich auch auf die eigene Emotionalität und auf die persönliche Lebensplanung als Kriegsenkel ausgewirkt haben könnte.
War es möglich, dass die recherchierten Lebensschicksale der eigenen Mutter und der Großeltern eine tiefsitzende Prägung vorweggenommen hatten, die unbewusst auch mit auf den eigenen persönlichen Lebensweg des Autors eingewirkt haben könnten? Von einer Mutter weitergegeben, die ihre Kriegserlebnisse mit ihren eigenen Eltern selbst niemals ausgesprochen, geschweige denn verarbeitet hatte und es wohl auch nie konnte?
Ist die Weitergabe von traumatischen Erlebnissen der eigenen Eltern, die durch ihre Kindheit im Krieg geprägt worden sind, generell ein möglicher Erklärungsansatz für eigenes Erleben? Kann der von den Großeltern und Eltern erlebte Vertrauensverlust, der Hunger, die Angst und andere Schrecken des Krieges, die sie wahrnehmen mussten, tatsächlich Auswirkungen darauf haben, wie man selbst im Leben aufgestellt ist?
Das Ausmaß des in der Kriegszeit angerichteten Schadens ist über die Vielzahl an Toten und über die materielle Zerstörung hinaus sehr groß, so weiß man heute: Verdeckte Schuldgefühle, das Gefühl von fehlender Geborgenheit oder zahlreiche Gefühlsstörungen, unerklärliche körperliche Schmerzen und jede Facette einer psychischen Erkrankung sind in der Kriegskinder- und Kriegsenkelgeneration schon seit Jahren dokumentiert.
So dient dieses Buch nicht nur in allererster Linie dazu, das geschehene Unrecht in der Familie zunächst klar zu benennen, um die Chance zu haben, das lang verschwiegene und aus dem Unbewussten wirkende „Familien- oder Generationserbe“ offen zu legen, auszusprechen und eventuell wieder fühlbar zu machen4 . Es kann auch eine Anregung sein, sich selbst als Kriegskind und/oder Kriegsenkel Zugang zur eigenen, bisher unausgesprochen Familiengeschichte in der NS-Zeit zu verschaffen und sich und seine Entwicklung gleichzeitig selbst in diesem Kontext besser verstehen zu lernen.
Es scheint, dass es in der Generation der Kriegsenkel zahlreiche Betroffene gibt, die mindestens ein spezielles Gefühl miteinander teilen und sich nicht so recht erklären können, woher es kommt: Es ist das manchmal lebensprägende Gefühl, nicht genau zu wissen, wer man ist und wohin einen die Zukunft führen will. Ob das stimmig ist, können wohl nur die Betroffenen selbst wirklich beantworten. Zahlreiche Fälle weisen darauf hin und zeugen von der Schlüssigkeit dieses Erklärungsansatzes. So ist dieses Buch nicht nur eine Dokumentation eines Verbrechens von vielen in der Zeit des Nationalsozialismus, es ist auch zwangsläufig eine Reise zu sich selbst.
4 Siehe auch: Baring, Gabriele, Das Drama der Kriegsenkel: Symptome, Muster und Traumen der dritten Generation. In: Vertreibung, Verständigung, Versöhnung. Hess, Bad Schussenried 2011
Vgl.: Battke, Kathleen, Trümmerkindheit. Erinnerungsarbeit und biographisches Schreiben für Kriegskinder und Kriegsenkel. Kösel, München 2013
Knoch, Heike, Kurth, Winfried, Reiß, Heinrich J., Egloff, Götz (Hrsg.): Die Kinder der Kriegskinder und die späten Folgen des NS-Terrors (= Jahrbuch für psychohistorische Forschung. Band 13). Mattes, Heidelberg 2012
Lohre, Matthias, Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh/München 2016
Das Leben des neugeborenen Babys Sabine Koschinski stand von vornherein unter keinem guten Stern. Als sie im Sommer des Jahres 1944 in der damaligen Landeshauptstadt Schleswig als achtes Kind einer geschiedenen und nunmehr alleinstehenden 35-jährigen Mutter auf die Welt kam, war ihr ein schwieriger Lebensweg in der NS-Zeit fast vorgezeichnet. Zu dieser Zeit standen außerehelich geborene Kinder – und dazu zählte Sabine genauso wie ihr nur wenig älterer leiblicher Bruder Erich – von Geburt an unter amtlicher Vormundschaft und waren damit dem direkten Einfluss und Zugriff der Behörden im NS-Staat in vollem Umfang ausgesetzt.
Doch haftete Sabine und auch ihrem Bruder nicht nur der Makel der unehelichen Geburt an, sie war zudem durch die Abwesenheit eines Vaters in der Familie und mit sechs weiteren Halbgeschwistern grundsätzlich in schwierige Lebensverhältnisse hinein geboren worden und standen so doppelt unter wachsamer Beobachtung der öffentlichen Fürsorge, die die Familie schon länger im Blick hatte. Kinderreichtum war in der NS-Zeit kein Makel – im Gegenteil, betonte doch das Frauenideal im Nationalsozialismus die mehrfache Mutterschaft in hohem Maße.5 Doch galt ein besonderes Augenmerk des NS-Regimes vor allem der Gewährleistung der Erziehung im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung und des „arischen“ Menschenbildes, sollte doch mit ihr der Grundstein für die Volksgemeinschaft der Zukunft gelegt werden6 . Die Behörden gingen deshalb insbesondere gegen Eltern vor, die in ihren Augen „...Kinder (nicht) zu brauchbaren Volksgenossen zu erziehen vermögen“7 .
Im Fall der hier zu beschreibenden Familie Haberl aus Kiel sah die Behörde, auf Grund des bekannten politischen Umfeldes und des vaterlosen Haushaltes, eine erhebliche Schwachstelle in der Umsetzung der nationalsozialistischen Erziehungsvorstellungen.
Sabines Mutter, die Haushaltsgehilfin Maria Haberl, geb. Koschinski (*1909, † 1972), gab, so wie es den zunächst für Außenstehende den Eindruck machen könnte, das Mädchen offenbar alsbald nach der Geburt in eine Pflegefamilie, behielt aber ihre restlichen sieben Kinder bei sich, so schien es zunächst. Über die Gründe der Abgabe des neugeborenen Mädchens hätten uninformierte Nichteingeweihte nur spekulieren können. Doch das, was sich auf den ersten Blick als zwar drastischer, aber doch notwendig erscheinender Verwaltungsakt zwischen einer Mutter und der staatlichen Fürsorge in der NS-Zeit darstellt, kann in der Realität und in seiner Gesamtheit Bestandteil eines unmenschlichen Verbrechens gewesen sein – dies gilt es hier zu erforschen.
Auch wenn es zunächst den Anschein haben könnte, dass hier einer vermeintlich überforderten mehrfachen Mutter in Kriegs- und Krisenzeiten unter sozialen Gesichtspunkten ein Kind abgenommen worden ist, um es zu seinem Wohle in einer anderen Familie mit besseren Voraussetzungen gut unterzubringen, bietet sich hier bei genauerem Hinsehen ein Einblick in ein trauriges Familienschicksal in der NS-Zeit in der Schleistadt Schleswig, welches an Dramatik seinesgleichen sucht. Die Umstände, insoweit sie bekannt sind, sollen hier auch deshalb genauestens benannt werden, da der Ablauf dieses vermuteten Kinderaubes naturgemäß fühlbare Spuren und Folgewirkungen bis in die nachfolgenden Generationen dieser Familie hinterlassen hat.
5 Siehe dazu: Hinterberger, Georg, Das Frauenideal im Nationalsozialismus, München, GRIN Verlag, 2017
6 Vgl.: Baeumler, Alfred, Rasse als Grundbegriff der Erziehungswissenschaft. In: H. Kannz (Hrsg.): Der Nationalsozialismus als pädagogisches Problem. Deutsche Erziehungsgeschichte 1933–1945. Frankfurt 1984, S. 276–279
Vgl.: Haarer, Johanna, Die Mutter und ihr erstes Kind. Völlig neu bearb. u. erw. Aufl., 1222. – 1231. Tsd. d. Gesamtaufl. Gerber, München 1987, (Originaltitel: Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Erstausgabe: Lehmanns, München 1934)
7 „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Ausarbeitung. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, 2016, Signatur: WD 1 - 3000 - 026/16
Die Koschinskis als Herkunftsfamilie der Mutter stammten ursprünglich aus Ostpreußen im heutigen Polen. Maria Haberl als leibliche Mutter von Sabine, wurde aber schon in Kiel geboren, wo auch ihr Vater Arbeit gefunden hatte und mit ihr und ihren Geschwistern wohnte. Maria war mütterlicherseits aus katholischem Hause und erblickte als das vierte von insgesamt acht Kindern des Erdarbeiters August Koschinski (*1883, † 1939) und seiner Frau Apollonia Koschinski geb. Hak (* 1883, †?) das Licht der Welt. Maria Koschinski heiratete im November 1931 den Kieler Arbeiter Willi Haberl. Ihm ist ein eigenes Kapitel gewidmet, da sein Leben und sein Sterben für das weitere Schicksal der Familie größte Bedeutung hatten.
Mit der Mutter Apollonia beginnt eine Reihe von bisher nicht voll umfänglich aufgeklärten Ungereimtheiten in der Geschichte der Familie.: Die Eltern Koschinski hatten im Jahr 1905 standesamtlich in Klütz in Mecklenburg und unmittelbar darauf kirchlich nach katholischem Ritus im nahe gelegenen Wismar geheiratet. Maria hatte noch drei ältere und vier jüngere Geschwister. Einer der gemeinsamen Söhne Nikolaus wurde im nahe an Bialobloty gelegenen Nova-Ciswiza in Polen geboren. Der Vater August Koschinski selbst stammte aus Rosoggen im Kreis Sensburg in der Woiwodschaft Ermland-Masuren, während die Mutter Apollonia geb. Hak aus dem Raum von Bialobloty in Polen kam,9 und auch auf eine Reihe von polnisch stämmigen Familien in ihren Vorfahren-Reihen zurückblicken konnte.
Apollonia Koschinski war laut Auskunft des Einwohnermeldeamtes der Stadt Kiel auch nach dem Weggang aus Polen später nicht in Kiel gemeldet. Sie soll unbekannten Ortes in Russland verstorben sein, so lautet ein handschriftlicher Eintrag in dem Register der Stadt. Dazu passend wird ihr Ehemann August Koschinski bei seinem Ableben 1939 mit 56 Jahren in Kiel dementsprechend als Witwer bezeichnet. Ein Sterbeeintrag der Mutter Apollonia konnte bisher nicht gefunden werden. Die bemühten Suchakten des Deutschen Roten Kreuzes in Ost-Berlin zeugen allerdings von einer Apollonia Koschinski ohne bekanntes Geburtsdatum, die aus „Vorwalde“ gebürtig war.
Der von den Deutschen als „Vorwalde“ bezeichnete Ort war ab dem 26.10.1939 mit dem gesamten „Militärbezirk Posen“ annektiert und ab dem 7.11.1939 von den Besatzern als Bestandteil des neuen „Reichsgaus Posen“ mit diesem Namen versehen worden. Ursprünglich hatten der Ort und der Amtsbezirk in der polnischen Landessprache Zbiersk geheißen. Zbiersk bzw. Vorwalde, Bialobloty und auch Nova-Ciswiza liegen in der Woiwodschaft Großpolen sehr nahe beieinander. Zeitweise hatte dieses Gebiet vorübergehend zu Russland gehört. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass es sich hier um die gesuchte Apollonia Koschinski handelt.
Die in den Akten des DRK bezeichnete Apollonia Koschinski aus Vorwalde wurde offenbar verschleppt und musste in Großthiemig in Brandenburg Zwangsarbeit verrichten10 . Sollte es sich bei diesen Personen taatsächlich um die gleiche Apollonia Koschinski gehandelt haben, so wäre sie mit knapp über 60 Jahren noch als Zwangsarbeiterin beschäftigt worden und hätte nach dem Tod ihres Mannes noch gelebt. Wie üblich ist ihr die Kontaktaufnahme zu ihrer Familie wohl verwehrt gewesen. Sie war des Schreibens und Lesens nicht mächtig. Hatte sie nach dem Krieg versucht, ihre Angehörigen zu finden?
Osteuropäische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen standen in der von den Nationalsozialisten nach angeblichen „Rassemerkmalen“ aufgestellten Werteordnung kurz über der jüdischen Bevölkerung fast ganz unten. Bisher ist Apollonia Koschinskis weiterer Lebensweg noch nicht rekonstruierbar. Ergänzende intensive Forschungen stehen hier noch aus. Auch der frühe Tod des in Polen geborenen Sohnes Nikolaus, der knapp 20-jährig und ohne Beruf und ohne Angabe der Todesursache in der Landesheilanstalt in Schleswig 1934 starb, muss weiter erforscht und aufgeklärt werden. Seine Krankenakten waren bisher nicht auffindbar.
Das Leben der Familie Koschinski war nach dem Wegzug aus Ostpreußen in einem hohen Maße von zahlreichen Reisen, Orts- und Arbeitsplatzwechseln geprägt.
8 Nielsen, Jens, Die Nachfahren des Michael Koschinski (*1828 Moythienen, Kr. Sensburg), unveröffentlichtes Manuskript.
9 Beide Eltern weisen über Generationen ausschließlich Vorfahren nach, die an unterschiedlichen Orten im Osten landwirtschaftlichen Tätigkeiten nachgingen.
10 Ihr Arbeitseinsatz im Haus Nr. 8 bei Hermann Stange ist für den Zeitraum März 1943 bis April 1945 dokumentiert worden.
Um das Leben der Maria Haberl geborene Koschinski und die damit verbundenen weiteren Auswirkungen auf die Familie im richtigen Kontext darstellen zu können, sollen die Ereignisse ab 1944 hier rückblendend dargestellt werden:
Im benannten Jahr 44 geben die Unterlagen Idstedt bei Schleswig als Wohnort der alleinerziehenden Mutter Maria Haberl mit ihren Kindern an. Hier finden sich auch zwei der Kinder später in den Aufzeichnungen der ortseigenen Schule wieder. Einige Zeit darauf verzog Maria Haberl nach Böklund und danach direkt nach Schleswig in die Flensburger Straße. Die Flucht aus dem zerbombten Kiel hatte sie in den letzten Kriegsjahren schließlich bis hierher gebracht.
Die Gefahrenlage in der großen Stadt Kiel, im Gegensatz zum eher friedlichen Schleswig, war einfach zu groß geworden, aber auch die Wohnsituation und die Versorgungslage in Kiel wurde immer dramtischer. Die Luftangriffe auf die Stadt Kiel, bei denen wohl ab 1940 bis Kriegsende um die 50.000 Sprengbomben, 900 Luftminen und ca. 500.000 Brandbomben über dem Stadtgebiet abgeworfen wurden, hatten so schwere und großflächige Schäden verursacht, dass an ein Leben mit Kindern in der Stadt nicht mehr zu denken war. Noch bis in unsere Zeit müssen immer wieder Bombenfunde im Stadtgebiet aus dieser Zeit unschädlich gemacht werden.
Als Stützpunkt der Kriegsmarine und als Standort dreier großer Werften (Howaldtswerke, DWK und Germaniawerft) war die Stadt Kiel immer wieder als Ziel von Bombardements der alliierten Bomber angeflogen worden. Allein im Jahr 1943 erfolgten sechs Großangriffe auf die Stadt. Bei den insgesamt über die Jahre verzeichneten 90 Luftangriffen der Royal Air Force und der United States Army Air Forces waren fast 3.000 Kieler und Kielerinnen ums Leben gekommen. Die Zahl der Verletzten in diesem Zeitraum lag bei um die 5.000 Menschen. Wenn nicht insgesamt zusätzlich ungefähr 150.000 aller Kieler und Kielerinnen und mit ihnen Maria Haberl mit ihren Kindern im Laufe der Zeit aus der Stadt entfernt und in Sicherheit gebracht worden wären, hätte die Zahl der Opfer bei den Angriffen schnell noch viel höher ausfallen können.
Auch der Bau von zusätzlichen Bunkern in der Stadt und die „Kinderlandverschickung“, bei der zahlreiche Kinder in weniger gefährdete Gebiete gebracht worden waren, hatte noch Schlimmeres verhindern können. Die Stadt Kiel wies am 1. Januar 1945, zusammen mit der Anzahl der Flüchtlinge und der Vertriebenen, eine Gesamteinwohnerzahl von lediglich 143.000 Einwohnern und Einwohnerinnen auf, wovon viele Frauen und alte Menschen waren. Vor dem Krieg waren es noch 261.000 Menschen gewesen, die in der Stadt lebten. Zahlreiche in der Stadt verbliebene Menschen wurden obdachlos oder mussten sich mit äußerst behelfsmäßigem Wohnraum zufrieden geben.11
Nach dem Ende des II. Weltkrieges waren 35 % aller Gebäude in der Stadt Kiel gänzlich zerstört und weitere 40 % beschädigt worden. Von den Wohnungen im Stadtgebiet waren nur ca. 20 % ohne Schäden geblieben. 40 % des Wohnraumes galt als völlig unbrauchbar und weitere 40 % als mehr oder weniger stark beschädigt. Das bedeutete in der Zusammenfassung, dass von vorher 83 000 Wohnungen in der Stadt jetzt 43 000 unbewohnbar geworden waren.12 In den letzten Kriegswochen konnte in Kiel nicht einmal mehr Fliegeralarm gegeben werden, weil viele Sirenen zerstört oder in ihrer Funktion ausgefallen waren. Die Einwohner und Einwohnerinnen, die die Stadt nicht verlassen hatten, waren ihrem Schicksal, außer durch die teilweise vorhandene Möglichkeit einen Bunker aufzusuchen, fast schutzlos ausgeliefert. Liest man Berichte aus dieser Zeit, in der es vorkam, dass die aus der Stadt flüchtenden Menschen die gelben und auf Kindergröße zusammengeschrumpften Phosphor-Leichen ihrer Angehörigen im Koffer mit sich nahmen, um sie anderenorts begraben zu können, so ist sich kaum in das Ausmaß des Entsetzens hineinzudenken.13
„…Schleswig beherbergt jetzt schon rd. 5000 Ausgebombte und Flüchtlinge…14 “
Im Sommer 1944 wurde es für die meisten Deutschen schon immer klarer und immer eindringlicher absehbar, dass der Krieg nicht zu gewinnen sein würde und die gebetsmühlenartig sich wiederholenden Parolen um den „Endsieg“ nur noch leere Durchhaltephrasen der nationalsozialistischen Regierung ohne jeden Hintergrund waren. Die große Anzahl an aus den Großstädten evakuierten Menschen in Schleswig und der nicht versiegende Strom der Flüchtlinge aus dem Osten, die über die Bugenhagen- und Wilhelminenschule auf den immer knapper werdenden Wohnraum in der Stadt und in den umliegenden Dörfern weitervermittelt wurden, machte das Ausmaß der zu erwartenden Katastrophe nur zu deutlich.
Die auf den Lebensmittelkarten eingetragenen Rationen konnten oft nicht mehr in vollem Maß ausgegeben werden, Strom und Gas wurden begrenzt und so am Tag nur noch für wenige Stunden zur Verfügung gestellt und auch das Heizmaterial wurde immer knapper.15 Bis Ende 1944 waren ca. 600 Personen aus der Stadt Schleswig durch Kriegseinwirkungen umgekommen.16
In dieser beschrieben Situation erreichte Maria Haberl mit vier ihrer sieben Kinder, hochschwanger und mittellos mit einem der zur Evakuierung der ausgebombten Familien aus Kiel bestimmten Transporte die Stadt Schleswig. Im Schleswiger Rathaus war eine Betreuungsstelle für Evakuierte eingerichtet worden. Drei ihrer jüngsten Kinder, Erich, Eva und August Leo, waren schon lange vor der Geburt Sabines von der Fürsorge aus der Familie genommen und vorerst in einem Heim in Weddingstedt in der Nähe von Heide in Dithmarschen zur Umerziehung untergebracht worden. Sie kamen erst Jahre später zurück zu ihrer Mutter, die inzwischen in die besagte Notunterkunft nach Idstedt und später nach Schleswig vermittelt worden war.
Es ist fraglich, ob die drei Kinder ihre Mutter je wiedergesehen hätten, wenn das Ende des Krieges das Regime der Nationalsozialisten nicht beendet hätte.
Das unvorstellbar große Ausmaß der Verzweiflung und des Elends für die Eintreffenden lässt sich kaum der Situation angemessen beschreiben, bedenkt man die Enge der oft vollgestopften Auffangstationen in der Stadt und die einfachen gestopften Strohbetten, dazu die ungenügende Versorgung mit Lebensmitteln und die zum Teil improvisierten sanitären Einrichtungen. Eine Errettung aus dieser leidvollen Situation war lange nicht in Sicht, nicht für die Evakuierten, nicht für die Flüchtlinge, die zunehmend in die Stadt strömten, und auch nicht für die einheimische Bevölkerung der Stadt Schleswig. Die Zeit der knapp ein Jahr später beginnenden Besatzung hielt noch über einen sehr langen Zeitraum massive Einschränkungen und Entbehrungen für sie bereit.
11 Boelck, Detlef Kiel im Luftkrieg 1939–1945. Sonderveröffentlichung der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 13, Kiel 1980
12 Siehe auch: Danker, Uwe, „…Ein Abgrund tut sich vor uns auf“ – Der zweite Weltkrieg und sein Ende in Schleswig-Holstein, In: Die Jahrhundert-Story, Band 3, Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag, 1999
Vgl.: Boelck, Detlef Kiel im Luftkrieg 1939–1945. Sonderveröffentlichung der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 13, Kiel 1980
Jensen, Jürgen: Kriegsschauplatz Kiel. Luftbilder der Stadtzerstörung 1944/45, 2. Auflage. Wachholtz Verlag, 1997
Tillmann, Doris, Rosenplänter, Johannes: Luftkrieg und "Heimatfront". Kriegserleben in der NS-Gesellschaft in Kiel 1929–1945. Solivagus-Verlag, Kiel 2020
13 Christiansen Theo, Schleswig 1836 -1945. Eine Stadt und ihre Bürger in 110 Jahren des Wandels aller Lebensbedingungen, Verlag Schleswiger Nachrichten, 1973, Seite. 86
14 Kriegschronik. Eintrag zum 27.2.1945, In: St. A. ZD 35/14 (Stadtarchiv Schleswig)
15 Vgl.: Christiansen, Theo, Schleswig und die Schleswiger 1945 -1962, (Hrsg. Gesellschaft für Schleswiger Stadtgeschichte), Husum Druck- und Verlagsgesellschaft GmbH, 1987
16 Vgl.: derselbe
Ob Maria Haberl in Anbetracht ihrer Lebenssituation, ausgebombt, gänzlich mittellos und allein mit ihren Kindern, in ein mögliches Angebot eingewilligt hätte, ihr Neugeborenes nur vorübergehend (!) in einer Pflegefamilie betreuen zu lassen, wenn es ihr gemacht worden wäre? Nur um die größte Not, in die sie geraten waren, vorerst zu lindern und wieder auf die Füße zu kommen? Wir wissen es nicht. Diese Möglichkeit wurde ihr auch niemals geboten und entspricht wohl auch eher unseren heutigen von psychologischen und pädagogischen Gesichtspunkten geprägten Vorstellungen der Kinderfremdbetreuung zum Wohle eines Kindes.
Ob ihr aber das jüngste Kind unter behördlichem Druck sofort nach der Geburt genommen wurde, oder ob sie es in ihrer grenzenlosen Überforderung und Erschöpfung, in einer psychischen Ausnahmesituation auf Grund ihrer desaströsen Lebenssituation fast schon „bereitwillig“ hergab, scheint durch das kaum noch vorhandene Quellenmaterial nicht mehr eindeutig belegbar zu sein. Viele Unterlagen scheinen vernichtet. Die familiären Überlieferungen der leiblichen Geschwister benennen allerdings den gleichen Zwang durch die Fürsorge, der auch schon die drei nächstälteren Kinder für einige Jahre ins Heim gebracht hatte. Durch den Status der unehelichen Geburt war das Kind Sabine ohnehin von vornherein der amtlichen Vormundschaft unterstellt, deren Rechtsinhaber über das Schicksal der Neugeborenen fast frei entscheiden konnte.
Welchen zusätzlichen Druck aber konnten die Behörden auf Maria Haberl ausgeübt haben, sollten sie das Kind nicht einfach ohne Erklärung an sich genommen haben, da sie der Mutter wohl auch hier nicht mehr zutrauten, das Kind zu einer „brauchbaren Volksgenossin“ erziehen zu können? War es eventuell die Drohung, ihre zwangsweise im Heim untergebrachten Kinder nicht mehr wiederzusehen, sollte sie das jüngste Kind nicht zur Adoption freigeben? Brauchte es noch ein weiteres Druckmittel, um sie zur Unterschrift zu drängen?
Drohungen dieser Art waren auch in der Stadt Schleswig in der NS-Zeit nicht unüblich. Dieses belegen mehrere in den Quellen dokumentierte Fälle. So wurde beispielsweise der Ehefrau des jüdischen Schneidermeisters Simon Schyja Milewski in Schleswig,