Nur mit meinen Eltern - Corina Lendfers - E-Book

Nur mit meinen Eltern E-Book

Corina Lendfers

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Beschreibung

Anorexia Nervosa - Magersucht - ist eine genetisch veranlagte, psychobiologische Krankheit mit einer Sterberate von 10-15%. Je früher die Krankheit diagnostiziert wird, je rascher mit der Wiederernährung begonnen wird und je schneller ein individuelles gesundes Gewicht erreicht wird, desto größer ist die langfristige Heilungschance. Bei Kindern und Jugendlichen ist gemäß der modernen Anorexie-Forschung die Familie nicht das Problem, sondern in der Regel die größte Ressource für die Heilung. Bei der Familienintegrierten Therapie FiT steht die rasche Wiederherstellung des gesunden Gewichts im Vordergrund. Die Eltern übernehmen die Verantwortung für die Wiederernährung ihres kranken Kindes, bis sich dessen Verhalten normalisiert hat. Die FiT ist eine gewachsene Adaption des Family Based Treatments FBT an die Realität der Behandlungssituation in den deutschsprachigen Ländern. Die Therapie wird mangels FBT-Therapeut:innen und anderen familienbasiert arbeitenden Fachpersonen durch die Eltern durchgeführt Dieser Ratgeber liefert ein tiefes Verständnis für die Krankheit auf Basis moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse. Er unterstützt Eltern in der Begleitung ihrer Kinder zuhause anhand zahlreicher Tipps und erprobter Praxisbeispiele. Vom Umgang mit Angst, Aggression und Essensverweigerung bis hin zum Thema Selbstfürsorge ist er eine unentbehrliche Quelle für alle Eltern, die ihre Kinder in die Genesung begleiten möchten. Anorexie ist heilbar.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Jürg Liechti und Monique Liechti-Darbellay

Vorwort der Autorin

Einleitung

Was ist Anorexia nervosa?

Symptome der Anorexie

Psychische Symptome

Zusammenhang zwischen Nahrung und Gehirn

Das Minnesota-Starvation-Experiment

Hirnforschung heute

Körperliche Symptome

Diagnose

Heilungsaussichten und Therapieansätze

Therapieansätze bei Kindern und Jugendlichen

Ziele und Aufbau des Family Based Treatments FBT

Die Familienintegrierte Therapie FiT

Voraussetzungen

Der typische Verlauf der Recovery

Die Schuldfrage

Umgang mit Angst

Selbstfürsorge

Kommunikation

Phase 1: Refeeding - der Marathon beginnt

Ausgangslage

Verhaltensgrundsätze

Autonomie

Schulbesuch

Umgang mit dem Handy

Essen – die Medizin bei Anorexie

Refeeding-Syndrom – die Gefahr der ersten Meile

Der AN-Stoffwechsel: Vom Hungerstoffwechsel in den Hypermetabolismus

Zusammensetzung der Mahlzeiten

Umgang mit Fearfood

Umgang mit Essensverweigerung

Umgang mit Aggression und Gewalt

Zielgewicht

Extinction Burst – die Hürde der letzten Meile

Weitere Herausforderungen während der Recovery

Wiegen

Zwänge

Körperschemastörung

Sport

Depression

Selbstverletzendes Verhalten, Flucht- und Suiziddrang

Panik und Ticks

AN und Autismus-Spektrum

Begleitende Maßnahmen während des Refeedings

Blutuntersuchungen

Gedanken zu Psychopharmaka

Therapeutische Begleitung

Externe Unterstützung

Online-Unterstützung

Elternnetzwerk Magersucht

Eltern-Coaching

Unterstützung in Deutschland

Unterstützung in der Schweiz

Unterstützung in Österreich

Notbremse – Grenzen der Familienintegrierten Therapie

Phase 2: Leben lernen mit der AN-Veranlagung

Der Übergang

Herausforderungen in Phase 2

Phase 3: Aufräumen, was übrigbleibt

Dank

Literaturverzeichnis

Anhang

Rezeptideen fürs Refeeding

VORWORT VON JÜRG LIECHTI UND MONIQUE LIECHTI-DARBELLAY

Evidenzgeleitete (auf Fakten beruhende) Therapiemodelle der Anorexia nervosa basieren im Wesentlichen auf drei Säulen: 1) Verbesserung der Sekundärprävention, das heißt nach Krankheitsausbruch die möglichst rasche Überwindung der Compliance- und Motivationsprobleme, die dieser Krankheit störungsimmanent zugehören, 2) Normalisierung von Gewicht und Essverhalten bzw. Überwindung der Gewichtsphobie und der Körperwahrnehmungsstörung, und 3) Stärkung der emotionalen und sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Selbstsicherheits- und Autonomiestabilisierung.

Das vorliegende Buch der Autorin Corina Lendfers, zusammen mit Beiträgen von Anna Weg und Michael Berndonner, widmet sich den größten Herausforderungen auf dem Wegzur Genesung: denMotivationsproblemen sowie der Gewichts- und Essensnormalisierung. Im Einklang mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen geht es davon aus, dass zur Bewältigung dieser Herausforderungen der Einbezug der Eltern in die Veränderungsprozesse einen zentralen Stellenwert einnimmt.

Wenn sich bei einem jungen Menschen eine Anorexie entwickelt, äußert sich dies in der Familie oft schleichend durch ein verändertes Essverhalten, Rückzug aus der Peer-Gruppe, eine beunruhigende Wesensveränderung (verschlossenes, bockiges Verhalten bei einem vorher angepassten, offenen und verlässlichen jungen Menschen) sowie durch einen erkennbaren Gewichtsverlust. Mit fortschreitendem Verlauf etabliert sich bei dem Kind oder der jugendlichen Person eine nicht nachvollziehbare fixe Idee, sich selbst nur noch durch Hungern und ständiger Gewichtsabnahme kontrollieren zu können, obwohl der Körper bereits untergewichtig ist – im schlimmsten Fall nahe dem Hungertod. Jeder Versuch der Eltern, ihr krankes Kind mit Liebe, Verständnis, Zuwendung oder vernünftigen Argumenten zum Essen zu bringen, mündet in Kämpfe, Ohnmacht, Verzweiflung und tiefer Verunsicherung, so wie es der französische Neuropsychiater Dr. Charles Lasègue bereits 1873 beschrieben hat: „Man fleht, man bittet um die Gunst, um den allerhöchsten Liebesbeweis, dass die Kranke sich doch noch einmal dazu durchringe, ihre Mahlzeit, die sie als beendet betrachtet, noch um einen einzigen Bissen zu erweitern ... Indes: je stärker das Engagement auf der einen Seite, umso deutlicher der Widerstand auf der andern (L’excès d’insistance appelle un excès de résistance).“

Obwohl die Wissenschaft noch weit davon entfernt ist, die Ursachen dieser seltsamen Phänomene im Einzelnen restlos zu erklären und darauf aufbauend eine ursächliche Therapie anzubieten, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten durch klinische (Outcome-)Forschung – dabei betrachtet man rückblickend, wie sich bestimmte Maßnahmen auf das Ergebnis (Outcome) ausgewirkt haben – ein pragmatisches Vorgehen etabliert, das berechtigte Hoffnung aufkommen lässt.

Während hundert Jahren oder mehr existierte in der Fachwelt die ungeprüfte Annahme, dass es besser sei, die erkrankten Kinder aus der Familie herauszunehmen und in die Klinik aufzunehmen. Aber die Folgen dieser Praxis waren verheerend und gingen oft mit chronischen Verläufen und hohen Todeszahlen einher (für die man „Probleme in der Familie“ verantwortlich machte). Erst die neuere faktenbasierte Anorexie-Forschung hat den wahren Stellenwert der Eltern richtiggestellt: Je früher nach Krankheitsausbruch eine Wiederherstellung des gesunden Gewichts erreicht wird, und je eher die Eltern in diesen Prozess der „Auffütterung“ einbezogen werden, desto besser die Chancen einer Genesung beim Kind.Unsere klinischen Erfahrungen mit Anorexie-Therapien über fast vier Jahrzehnte haben uns gelehrt, dass die erkrankten Kinder und Jugendlichen den elterlichen Ausschluss aus der Behandlung und die damit einhergehenden impliziten Schuldzuweisungen als Loyalitätskonflikt mit erheblichem Stresspotenzial erleben. Zwar lehnen sie nicht selten selbst den Einbezug vorerst ab, aber nicht aus Autonomiegründen, wie das oft missverstanden wird, sondern weil sie ihre Eltern vor weiteren Belastungen schützen wollen. Finden sie hingegen das Vertrauen, dass die Eltern im Zuge der Therapie darin unterstützt werden, ihr Leid und die Störung besser zu verstehen, so wünschen sie deren Einbezug oft sehnlichst (Vertrauensvorschuss durch natürlich gewachsene familiäre Bindungen). Es setzt allerdings die Fähigkeit der Helfer voraus, die Familie bei dem fragilen Spagat – zwischen dem Respektieren der Autonomie des kranken Familienmitgliedes einerseits und dem feinfühligen Durchsetzen der Notwendigkeit, zu essen und an Gewicht zuzunehmen anderseits – kompetent zu begleiten.

Im vorliegenden Buch hat sich Corina Lendfers zum Ziel gesetzt, Familien auf diesem Weg zu begleiten. Es wendet sich an betroffene Eltern, die noch keinen geeigneten Therapieplatz gefunden haben, jedoch bereits handeln möchten und eine Anleitung benötigen, was sie tun können und worauf zu achten ist, um das Leid bei ihrem erkrankten Familienmitglied nicht zu verschlimmern. Das Buch dient außerdem als Anleitung für die Familienintegrierte Therapie FiT. Dabei handelt es sich um ein klassisches Mentoring-Programm, das aufgrund eines Mangels an professionellen Angeboten „ohne die professionelle Begleitung durch ausgebildete Therapeut:innen innerhalb der Familie“ stattfindet (S. 12). FiT ist „eine gewachsene Adaption des Family Based Treatments FBT an die Realität der Behandlungssituation in den deutschsprachigen Ländern“ (ebenda). Unerfahrene Eltern mit einem erkrankten Kind, die auf einen geeigneten Therapieplatz warten, erhalten dabei Unterstützung durch erfahrene Eltern.

Zwar stammt die Autorin Corina Lendfers beruflich – wie sie selbst betont – nicht aus dem klinischen Fachbereich. Umso eindrücklicher ist es aus unserer Sicht als erfahrene Klinikerin und Kliniker, dass es ihr zweifellos gelingt, betroffene Eltern einfühlsam an die Hand zu nehmen und sie zu ermutigen, sich mit dem Wissen und der Unterstützung durch bereits erfahrene Eltern den Fallstricken, Nöten, Unsicherheiten, Ängsten, Dramen und Konflikten zu stellen. Diese Herausforderungen kommen unweigerlich ins Spiel, wenn Eltern den Kampf gegen die Krankheit ihres Kindes aufnehmen.

Deutlich spiegeln sich in den Darlegungen auch die eigenen Erfahrungen von Corina Lendfers als Mutter einer ehemals an Anorexie erkrankten und heute gesunden Tochter wider.

Das Buch benennt die zahlreichen praktischen Probleme, die im Verlauf jeder Anorexie-Therapie auftreten können. Diese mögen einzeln betrachtet komplex erscheinen, gleichen sich jedoch erstaunlicherweise wie Perlen auf einer Kette. Dazu gehören Herausforderungen wie der Umgang mit Essensverweigerung, Aggression, Angst, Schuldgefühlen, Überforderung und Erschöpfung. Das Buch behandelt Fragen zu Sportaktivitäten, zu schulischen Belangen sowie zu psychopathologischen Themen wie Depression, Zwangssymptome oder Suizidalität. Auch die Rolle der Geschwister und der „stets gutmeinenden“ Verwandtschaft wird beleuchtet. Praktische Hinweise zur Ernährung, wie der Umgang mit triggernden Lebensmitteln, fettigen Speisen (neudeutsch: Fearfood) oder Ernährungsplänen, werden ebenso behandelt. Der Umgang mit konkreten „Problemobjekten“ wie Spiegeln oder der Waage wird besprochen. Kurz gesagt: Es handelt sich um eine Sammlung von Themen, Komplikationen und Fallen, die Eltern und ihre an Anorexie erkranktes Familienmitglied auf dem Weg zu einer gesunden Ernährung und Normalgewicht begegnen können.

Verantwortungsvoll betont Corina Lendfers aber auch, dass das Selbsthilfeprogramm unter dem Aspekt fehlender Fachhilfe zweite Wahl ist und unbedingt hausärztlich begleitet werden muss. Denn auch wenn die somatischen Probleme bei der Anorexie ausschließlich Folge des Hungerns beziehungsweise des Untergewichts sind, so dürfen sie keinesfalls unterschätzt werden. Denn pathologisches Untergewicht ist nicht einfach die „leichtere Version einer Person“, sondern setzt Biomechanismen der Gegenregulierung in Gang mit komplexen medizinischen Folgen bis zum Organversagen. Unseres Erachtens ist deshalb die medizinische Begleitung des Selbsthilfeprogramms tatsächlich unverzichtbar.

Der Grundton des Buches ist optimistisch und ermutigend. Tatsächlich hat sich in den letzten Jahrzehnten durch das pragmatische Vorgehen die Prognose bei der akuten Anorexia nervosa deutlich verbessert. Bei allem Optimismus darf aber nicht vergessen werden, dass es 1) sehr schwere Formen dieser Krankheit gibt, die eine stationäre Behandlung notwendig machen, 2) dass der Genesungsprozess nur in leichteren Formen gradlinig verläuft, während er öfters von Stagnation und Rückfällen geprägt ist (was die Durchstehfähigkeit der Helfer besonders herausfordert), und 3) dass es leider auch unvorhersehbare Verläufe gibt, die – trotz allseitig hohem Engagement – höchstens zu einer Verbesserung aber nicht zur vollständigen Genesung führen.

Schließlich hebt das Buch das bereits angetönte Problem hervor, das laut der Autorin den Anlass dazu gab, es überhaupt zu schreiben. Es besteht nämlich eine seltsame Kluft zwischen den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur zentralen Bedeutung des Elterneinbezugs einerseits und deren unzureichenden Anwendung in der Praxis anderseits. Über die Gründe kann man rätseln. Der Einbezug der Eltern bedeutet für die Fachperson, im so genannten „Mehr-Personen-Setting“ zu arbeiten. Jedoch finden die Mehrzahl der Therapieangebote nach wie vor im „Einzel-Setting“ Patientin-Fachperson statt. Das hat auch traditionelle Gründe. Die Ursprünge der Psychotherapie lassen sich vor fast zweihundert Jahren in der Befreiung des Einzelnen aus den Zwängen einer patriarchalischen Familienstruktur verorten. In dieser Tradition war der Einbezug von Eltern in die Therapie nicht nur nicht vorgesehen, sondern verpönt, wie ein Zitat von Sigmund Freud deutlich macht: Bei den psychoanalytischen Behandlungen ist das Dazwischenkommen der Angehörigen geradezu eine Gefahr, und zwar eine solche, der man nicht zu begegnen weiß (Sigmund Freud, in: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse). Das klassische „Ein-Person-Setting“ geht indes von einer Person aus, die in der Lage ist, sich durch Einsicht zu verändern. Bei der ausgeprägten Anorexie steuert aber die Krankheit die Person, und nicht umgekehrt (hierin zeigt sich die Verwandtschaft zu Zwangs-, Angst- und Suchtkrankheiten). Daher geht das Setting mit dem beträchtlichen Risiko einher, den Compliance- und Motivationsproblemen, die einer Gewichts- und Essensnormalisierung im Wege stehen, auszuweichen und auf diesem Weg die Therapie zu verschleppen (Alibi-Therapie).

Als langjährige Ausbildnerin und Ausbildner in systemischer Familientherapie hatten wir den Eindruck, dass es einfach nicht jedermanns Sache ist, sich den oft schmerzlichen Widersprüchen zu stellen, die mit einer Psychotherapie im „Mehr-Personen-Setting“ im Allgemeinen und mit der familienbasierten Anorexie-Therapie im Speziellen einhergehen. Tatsächlich bedeutet die Fallführung in jedem einzelnen Fall eine heikle Gratwanderung zwischen Ermöglichen und Verpflichten. Und nicht nur Eltern und ihre Kinder, sondern auch engagierte Fachleute geraten dabei regelmäßig an ihre Grenzen. Und in Kliniken fehlt es oft an der Zeit (und am familienbasierten Therapieansatz), die Eltern als wichtigste Mitglieder eines „Therapiesystems“ einzubeziehen.

Zumindest bis sich das nachhaltig ändert, kann das Buch „Nur mit meinen Eltern“ von Corina Lendfers den betroffenen Familien die oft dringend gesuchte Hilfe bieten. Es ist ein praxisorientiertes Buch und dient als direkte Anleitung für die Praxis. Es ermutigt Eltern und ihre sensiblen, an Anorexie leidenden Kinder auch dazu, auf dem langen Weg zur Genesung die berechtigte Hoffnung niemals aufzugeben.

Wir wünschen dem Buch die verdiente Anerkennung und allen Erfolg.

Dr. med. Jürg Liechti

Dr. med. Monique Liechti-Darbellay

FachärztIn für Psychiatrie und Psychotherapie.

Schwerpunkt: Systemisch-bindungsbasierte Fami-

lientherapie bei Menschen mit Anorexia nervosa.

Praxis am Zentrum für Systemische Therapie und

Beratung, ZSB Bern von 1985 bis 2022.

Lehr- und Supervisionsaufträge an Kliniken, Instituten und Universitäten von 1985 bis 2022.

Frauenkappelen, den 17. März 2024

VORWORT DER AUTORIN

„Ihre Tochter hat Anorexia nervosa – Magersucht.“

Bei diesen Worten der Ärztin zuckte ich zusammen und es lief mir kalt den Rücken hinunter. Gleichzeitig wurden meine Hände feucht und ich spürte Schweißperlen auf meiner Stirn.

Die Krankheit hatte sich in unseren Alltag geschlichen, hatte sich in unser Leben integriert. Still und leise, wie ein Tumor, der sich unbemerkt ausbreitet und erst nach und nach erkennbar wird. Die kleinen Verhaltensänderungen unserer Tochter hatten mich lange Zeit nicht misstrauisch gemacht, schließlich war sie Teenagerin, und Ausprobieren, Opponieren und Experimentieren gehören nun mal dazu. Erst, als sie deutlich zu wenig aß, ihre körperliche Leistungsfähigkeit immer mehr beeinträchtigt wurde, sie sich immer mehr zurückzog und in depressive Stimmungen geriet, begann ich zu ahnen, dass sie krank war. Die Diagnose konfrontierte mich mit brutaler Klarheit mit der Realität.

Inzwischen weiß ich, dass es vielen Eltern mit an Anorexie erkrankten Kindern so ergeht. Und dass sie ähnlich überfordert sind wie ich damals. Die ersten Wochen nach der Diagnose waren die schlimmsten. Mein Partner Michael und ich wollten und sollten als Eltern etwas tun, aber wir wussten nicht, was. Wir konnten unsere Tochter nicht zum Essen zwingen, aber ohne unsere Hilfe schaffte sie es nicht. Ohne unsere Hilfe würde sie sich zu Tode hungern.

Auf der Suche nach einer Behandlungsmöglichkeit stießen wir auf Family Based Treatment FBT, lasen Bücher darüber und begannen mangels externer passender Unterstützung alleine zuhause mit der Wiederernährung. Wir gingen gemeinsam durch die Hölle, konnten die Klinik verhindern, stießen an unsere Grenzen und überwanden sie, drohten zu verzweifeln und kämpften weiter.

Heute ist unsere Tochter eine lebensfrohe Teenagerin, den Kopf voller verrückter Ideen und bunter Zukunftsträume. Sie isst wieder alles, intuitiv, selbstständig, uneingeschränkt und genussvoll. Ihre Zwänge sowie die depressiven und suizidalen Gedanken als Symptome der Anorexie sind vollständig verschwunden.

Während der intensiven Therapiephase meiner Tochter halfen mir Gespräche mit anderen betroffenen Eltern, das Lesen von Büchern über familienbasierte Therapiemethoden sowie die Auseinandersetzung mit der modernen Anorexieforschung. Auf viele wichtige Zusammenhänge stieß ich erst nach und nach.

Dieses Buch soll keine therapeutische Betreuung oder ärztliche Begleitung ersetzen. Es soll Eltern als Kompass dienen auf dem Weg zur Genesung, sobald die ersten Anzeichen der Essstörung erkennbar sind. Im besten Fall hilft es, einen Klinikaufenthalt zu verhindern und Eltern im ambulanten Setting zu stärken. Aber auch, wenn ein stationärer Aufenthalt unumgänglich ist, bietet es eine Fülle wertvoller Informationen, denn Kliniken, die Erfahrung mit Essstörungen haben, sind im deutschsprachigen Raum rar und die Plätze begehrt, sodass Patient:innen in der Regel bereits mit einem minimalen Normalgewicht entlassen werden. Ein Gewicht, das in vielen Fällen zu tief ist, um die Krankheit ausheilen zu können. Meistens sind Eltern noch lange Zeit nach dem Klinikaufenthalt des Kindes gefordert, sich um die Fortführung der Therapie zu kümmern, bis die letzten krankhaften Verhaltensmuster verschwunden sind.

Der Titel „Nur mit meinen Eltern“ soll nicht suggerieren, dass Eltern die Therapie ihrer Kinder alleine durchführen müssen. Ich möchte damit klarstellen, dass in eine Anorexie-Therapie die Eltern immer miteinbezogen werden sollen, unabhängig davon, ob es sich um eine vollstationäre, teilstationäre oder ambulante Therapie handelt. Die moderne Forschung hat nachgewiesen, dass die Heilungschancen von Kindern und Jugendlichen erheblich steigen, wenn die Eltern als enge Bezugspersonen in den Genesungsprozess involviert werden.

Ich wünsche allen betroffenen Familien von Herzen viel Kraft, Geduld, Klarheit, Ausdauer und Zuversicht.

Corina Lendfers, März 2024

EINLEITUNG

Familienbasierte Therapieansätze gelten als State of the Art in der Behandlung der Anorexia nervosa bei Kindern und Jugendlichen. Entwickelt in den 80er Jahren in Großbritannien, gelten sie heute in viele Ländern als Richtlinienverfahren. In Deutschland haben sie es in die S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie von Essstörungen geschafft.

Trotzdem stoßen Eltern in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf große Schwierigkeiten bei der Suche nach Kliniken, Ärzt:innen und Therapeut:innen, die familienbasiert arbeiten. Hier dominiert nach wie vor der psychotherapeutische Behandlungsansatz, obwohl er sich in einer signifikanten Anzahl internationaler Studien im Vergleich zu familienbasierter Behandlung bei Kindern und Jugendlichen als weniger erfolgreich erwiesen hat.

Der Mangel an familienbasiert arbeitenden Fachpersonen versetzt Eltern, die sich an modernen Forschungsergebnissen orientieren, in ein Dilemma: Sie möchten die Erkenntnisse in der Behandlung ihrer Kinder nutzen, finden aber keine adäquate Unterstützung. Viel mehr werden sie oft mit rauem Gegenwind konfrontiert, wenn sie im stationären oder ambulanten Setting die Kooperation mit Fachpersonen suchen und in die Begleitung ihrer Kinder miteinbezogen werden möchten. Dabei wäre eine Zusammenarbeit von Mediziner:innen, Therapeut:innen und Eltern erwiesenermaßen wichtig für den Heilungserfolg der betroffenen Kinder und Jugendlichen, da sowohl in der ambulanten Betreuung wie auch nach Entlassung aus dem klinischen Setting die Weiterführung der Behandlung bis zur vollständigen Genesung auf den Schultern der Eltern lastet. Eine wohlwollende Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit gegenseitigem Respekt würde Eltern stärken, die Leidenswege der Kinder und Jugendlichen verkürzen und ihre Heilungsaussichten wesentlich erhöhen.

Aus dem Mangel an professioneller familienbasierter Unterstützung heraus hat sich eine angepasste Therapieform für Kinder und Jugendliche mit Anorexie entwickelt: Die Familienintegrierte Therapie FiT. Die Therapiemaßnahmen finden mangels Angebot ohne die professionelle Begleitung durch ausgebildete Therapeut:innen innerhalb der Familie statt.

Die FiT ist eine gewachsene Adaption des Family Based Treatments FBT an die Realität der Behandlungssituation in den deutschsprachigen Ländern. Dieses Buch soll Eltern, die keine professionelle Begleitung durch familienbasiert arbeitende Klinken, Ärzt:innen oder Therapeutinnen gefunden haben, in ihrer Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen zuhause unterstützen. Die Empfehlungen beruhen auf dem FBT-Manual nach LeGrange und Lock et al., der S3-Leitlinie, weiteren wissenschaftlichen Arbeiten sowie der praktischen Erfahrung zahlreicher Eltern, die ihre Kinder erfolgreich auf dem Weg in die Genesung begleiten. Sie weichen naturgemäß in einigen Punkten von den aus den klinischen und therapeutischen Settings heraus entwickelten familienbasierten Therapiemethoden ab. Dies ist in erster Linie dem Fehlen einer externen Fachperson geschuldet, welche die Therapie leiten, die Eltern stützen, stärken, und die Kinder und Jugendlichen gegebenenfalls führen kann.

Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass es mir sehr viel lieber gewesen wäre, wenn ich dieses Buch nie hätte schreiben müssen – wenn das vorherrschende Angebot an Behandlungsmöglichkeiten ausreichend wäre und alle betroffenen Familien die passende professionelle Unterstützung finden würden. Und es ist mir ebenso wichtig, Eltern klar zu machen, dass es niemals ihr persönliches Versagen ist, wenn sie nicht über die Ressourcen verfügen, ihr Kind ohne professionelle Unterstützung zuhause zu begleiten. Anorexie ist eine lebensgefährliche, äußerst komplexe Erkrankung, welche die Wissenschaft bis heute vor ungelöste Rätsel stellt und auch Fachpersonen regelmäßig an ihre Grenzen in der Behandlung bringt. Jeder Verlauf ist individuell. Es gibt weder ein Patentrezept noch eine Erfolgsgarantie. Die Ausführungen in diesem Buch sollen als Anregungen verstanden werden.

Ich wünsche mir von Herzen, dass Eltern und Fachpersonen in einen lebendigen, wertschätzenden Dialog treten, um gemeinsam an optimalen Behandlungsstrategien zu arbeiten. Zugunsten unserer Kinder und mit der gemeinsamen Überzeugung: Anorexie ist heilbar.

WAS IST ANOREXIA NERVOSA?

Anorexia nervosa (AN, umgangssprachlich Magersucht) ist eine schwere, genetisch veranlagte, psychobiologische Essstörung, die sowohl den Körper als auch die Psyche massiv schädigt. Je nach Quelle sterben 10-15% der Erkrankten an den Folgen der Krankheit, entweder durch Organversagen oder durch Suizid.1 Die Anorexie gilt als seltene Krankheit, etwa 1% der Weltbevölkerung ist davon betroffen. In Zahlen sind das weltweit 80´000´000 Menschen. In Deutschland wurden 2021 in deutschen Krankenhäusern insgesamt 9.622 Fälle von Anorexie diagnostiziert2, hinzu kommt eine unbekannte Zahl von Patient:innen, die ausschließlich ambulant behandelt werden.

Die Betroffenen sind nicht in der Lage, genügend Nahrung aufzunehmen, um die normalen Körperfunktionen aufrecht erhalten zu können. Das geschieht nach Ausbruch der Krankheit nicht willentlich, sondern durch eine falsche Verschaltung im Gehirn. Die Betroffenen berichten von einer inneren Stimme, die ihnen die Nahrungsaufnahme verbietet. Sie entwickeln eine alles beherrschende Angst vor Nahrung, die häufig einhergeht mit anderen Ängsten sowie dem Zwang, aufgenommene Kalorien durch übermäßigen Sport wieder loszuwerden.

Der genetische Anteil an der Erkrankung liegt modernen Studien zufolge bei mindestens 40-60%, wahrscheinlich deutlich höher.3 Das heißt nicht, dass alle Menschen, die über die genetische Veranlagung verfügen, mit einer Wahrscheinlichkeit von 40-60% an Anorexie erkranken, sondern besagt, dass die Krankheit biologisch bedingt ist. Einen weiteren Einfluss haben die individuelle Persönlichkeitsstruktur sowie unser Umfeld.4 Damit widerlegt die moderne Forschung die über Jahrzehnte getroffene Annahme, die Hauptursache für die Erkrankung sei in der Familie sowie im erweiterten sozialen Umfeld zu suchen. Die amerikanische Essstörungsexpertin Cynthia Bulik bringt es auf den Punkt: „Genes load the gun – environment pulls the trigger.“ (Die Gene laden die Waffe, das Umfeld drückt den Auslöser).5

Dagmar Pauli, Chefärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und ehemalige Präsidentin des Expertennetzwerks Essstörungen Schweiz, konkretisiert die Rolle des Umfeldes. Sie sagt, dass die Gesellschaft als Kollektiv durch die unüberschaubare Vielfalt an propagierten Diäten und krankhaften Schönheitsidealen an einer Essstörung leidet und damit den Nährboden für die Essstörung des Individuums bildet.6

Es gibt nicht ein spezielles Anorexie-Gen. Die Disposition entsteht durch Fehlprogrammierungen einzelner Proteine, aus denen unsere Chromosomen bestehen. Eine bestimmte Anzahl und Kombination solcher falsch programmierter Eiweiße scheint die Basis für die Krankheit zu legen.7 Eine Studie der Anorexia Nervosa Genetics Initiative (ANGI) unter der Leitung von Cynthia Bulik mit Genmaterial von über 13’000 irgendwann an Anorexie erkrankter Menschen hat ergeben, dass die genetische Grundlage der Anorexie Überschneidungen aufweist mit genetischen Merkmalen anderer psychischer Krankheiten wie Zwangsstörungen, Depression, Angstzuständen und Schizophrenie. Ebenfalls scheinen der Stoffwechsel sowie die körperliche Aktivität durch die genetische Veranlagung zur Anorexie beeinflusst zu werden.8

Zudem scheint es Persönlichkeitsmerkmale zu geben, die für die Anorexie förderlich sind. Dazu gehören ein „hoher Perfektionismus und eine starke Gewissenhaftigkeit. Gewissenhaftigkeit geht mit Durchhalte- und Organisationsvermögen, Genauigkeit, Gründlichkeit, Zielorientierung und Impulskontrolle [...] einher.“9 Viele Patient:innen mit Anorexie verfügen über ein niedriges Selbstwertgefühl, neigen zu Angst und Unsicherheit, sind hochsensibel oder hochbegabt. Diese Persönlichkeitsmerkmale sind nicht die Ursache der Anorexie, sondern sie wirken lediglich unterstützend für die Ausprägung der Krankheit.10

Die Forschung der letzten 30 Jahre hat erkannt, dass es drei Komponenten benötigt, die gemeinsam gegeben sein müssen, damit ein Mensch an Anorexie erkrankt: die genetische Veranlagung, ein Energiedefizit sowie den Auslöser des Energiedefizits.11 Ein Auslöser führt zu einem Energiedefizit, welches die genetische Veranlagung triggert und die Krankheit aktiviert. Auslöser können ein Wachstumsschub, eine Grippe, Diäten oder auch erhöhter Energiebedarf durch Ausdauersport sein. Auch psychische Herausforderungen wie Mobbing, Liebeskummer oder der Verlust eines geliebten Menschen können dazu führen, dass die Nahrungsaufnahme schwerfällt und dadurch ein Energiedefizit entsteht.

Bei den meisten Menschen löst ein Energiedefizit negative Gefühle aus wie Hunger, Unruhe, körperliche Schwäche. Cynthia Bulik erläutert, dass sich Menschen mit der Veranlagung zur Anorexie besser fühlen mit einer negativen Energiebilanz. „Eine Diät fühlt sich gut an; sie fühlen sich ruhiger. [...] Die positive biologische Reaktion auf eine negative Energiebilanz verleitet sie zu fortgesetzten und eskalierenden Diäten auf der Suche nach dem paradoxerweise verbesserten Wohlbefinden, das sie mit sich bringen. Es ist gleichzeitig verführerisch und destruktiv. Es ist verführerisch, weil es Ruhe und Kontrolle verspricht; es ist zerstörerisch, weil es die Macht hat zu töten.“12

Wenn der Auslöser des Energiedefizits psychisch bedingt ist, bekommt die Krankheit eine Funktion. Das bedeutet, dass die Anorexie für die Betroffenen einen Zweck erfüllt. Da sie mit einer Gewichtsabnahme verbunden ist, verändert sie die körperliche Erscheinung. Sie beeinflusst das Körperbild und die Selbstwahrnehmung. Patient:innen mit Anorexie berichten, dass die Gewichtsabnahme mit einer Erhöhung des Selbstwertes einhergeht. Besonders anfällig sind damit Kinder und Jugendliche mit schwachem oder phasenweise geschwächtem Selbstwertgefühl, wie es häufig während der Pubertät vorkommt. Die meisten Erkrankungen beginnen im Alter zwischen zehn und 20 Jahren.

Es ist wichtig, zu verstehen, dass alle drei Komponenten zusammenspielen müssen, damit ein Mensch an Anorexie erkranken kann: Jemand, der nicht über die entsprechende genetische Veranlagung verfügt, wird nicht krank, auch wenn er viel Gewicht verliert und ins Untergewicht rutscht. Sein Körper wird durch den Nahrungsmangel zwar ebenfalls geschädigt, er kann dieselben Symptome entwickeln wie Patient:innen mit Anorexie, aber es entsteht dadurch nicht zwangsläufig eine Angststörung gegenüber der Nahrungsaufnahme und der Heilungsprozess gestaltet sich wesentlich einfacher. Ebenso erkrankt man nicht, wenn man zwar über die genetische Veranlagung verfügt, der Körper aber nicht in ein Energiedefizit gerät.13

Eine Mutter schildert den Übergang von normalem Abnehmen in die Anorexie, also den Moment, in dem das Energiedefizit die genetische Veranlagung triggerte, sehr anschaulich mit dem Beginn der AN bei ihrer Tochter:

„Anfangs hatte meine Tochter erste ‚Erfolge‘ an Gewichtsabnahme und Aussehen, konnte aber noch essen gehen, überall zugreifen. Dann kippte es. Wir wissen noch, wie dieser Tag war, sie war wie in ein Loch gefallen. Da ist etwas in ihr passiert, worauf sie keinen Einfluss mehr hatte. Das passiert bei ‚Dünnsein-Spleen‘ oder Abnahme durch Trauer nicht so und bleibt dann eben auch nicht. Dieser krass mechanische Moment, indem ‚es‘ da war, macht für mich den Unterschied aus.“

Simone

Tabitha Farrar, Coach für Erwachsene mit Anorexie und selbst von AN genesen, schildert ihre Erfahrung mit dem Beginn der Krankheit wie folgt:

„Als ich in ein Energiedefizit rutschte, verlagerten sich meine Kernkonzepte und -überzeugungen und somit die Art, wie ich die Welt wahrnahm, radikal. Meine Wahrnehmung von Essen änderte sich dramatisch. Aber nicht nur diese, sondern meine Wahrnehmung von allem in meiner Welt änderte sich. Meine innerliche Wahrnehmung, meine Überzeugungen und meine mentale Konstruktion wandelten sich stark. Dieser Wandel beeinträchtigte jeden Aspekt meines Lebens – so vieles mehr als nur mein Gewicht.“14

Die meisten Eltern nehmen eine Veränderung in ihrem Kind wahr, ohne sie richtig interpretieren zu können. Sie ziehen die Pubertät als Ursache der Verhaltensänderungen heran. Wer rechnet schon damit, dass sein Kind die genetische Veranlagung für Anorexie in sich trägt? Hinzu kommt erschwerend, dass kaum jemand das Krankheitsbild und die Zusammenhänge kennt, der noch nicht damit konfrontiert war.

SYMPTOME DER ANOREXIE

Anorexie ist eine psychobiologische Krankheit mit einem äußerst komplexen Krankheitsbild. Sowohl der Körper als auch die Psyche sind von den krankhaften Veränderungen betroffen. Das auffälligste körperliche Merkmal bei vielen Betroffenen ist starkes Untergewicht. Dabei gibt es zahlreiche körperliche wie psychische Symptome, die mit der Erkrankung einhergehen.

PSYCHISCHE SYMPTOME

Die genetische Veranlagung der Anorexie weist Überschneidungen auf mit genetischen Merkmalen anderer psychischer Krankheiten wie Zwangsstörungen, Depression, Angstzuständen und Schizophrenie. Entsprechend vielschichtig können die psychischen Symptome sein. Nicht jede:r Patient:in entwickelt das ganze Spektrum möglicher Symptome, und auch die Ausprägung ist verschieden. Allen gemeinsam ist jedoch der Einfluss der Mangelernährung aufs Gehirn.

ZUSAMMENHANG ZWISCHEN NAHRUNG UND GEHIRN

Für seine tägliche Funktion benötigt unser Körper Energie, die er in Form von Nahrung zu sich nimmt. In biochemischen Prozessen, dem Stoffwechsel, zersetzt er die Nahrung und verteilt Kohlenhydrate, Eiweiße, Fette, Vitamine und Mineralstoffe über den Blutkreislauf im Körper.

Die wichtigste Energiequelle ist Glukose. Glukose ist ein Einfachzucker, der vor allem in Getreide, Obst, Gemüse und Milchprodukten vorkommt. Sie wird für lebenswichtige Funktionen wie Herzschlag, Atmung, Gehirnfunktion, Muskeltätigkeit und Stoffwechselprozesse benötigt und als Glykogen in der Leber sowie in den Muskeln gespeichert.

Am meisten Energie verbraucht das Gehirn, nämlich fast ein Viertel des Gesamtenergiebedarfs. Es benötigt die Energie in Form von Glukose. Die Glukosemenge, die täglich mit der Nahrung aufgenommen wird, wird bis zu zwei Dritteln vom Gehirn beansprucht.

Länger andauernder Nahrungsmangel führt dazu, dass unser Körper auf seine Reserven zurückgreift. Zuerst löst er seine Glykogenspeicher auf, um Glukose frei zu setzen, dann baut er Fettreserven ab. Sind alle Reserven aufgebraucht, wandelt er Muskelprotein in Glukose um, wodurch die Muskeln abgebaut werden.

Ebenfalls mit dem Ziel, Energie zu gewinnen oder auch zu sparen, verändert sich der Hormonhaushalt. Insulin, das den Blutzuckerspiegel reguliert, nimmt ab und das Stresshormon Cortisol zu. Dadurch wird Energie freigesetzt. Die Produktion der Schilddrüsenhormone wird reduziert, wodurch die Herstellung der Geschlechtshormone eingestellt wird. Bei Mädchen bleibt die Menstruation aus. Ebenfalls wird die Produktion der Wachstumshormone beeinträchtigt, wodurch es zu einem Stillstand im Längenwachstum mit gleichzeitiger Beeinträchtigung der Knochendichte kommen kann.

Wenn genügend Nahrung über längere Zeit ausbleibt, wie es bei der Anorexie der Fall ist, ist der Körper nicht mehr in der Lage, genügend Glukose umzuwandeln. Er beginnt Neuronen abzubauen, wodurch die graue Hirnmasse schrumpft. Das hat eine Beeinträchtigung der Gehirnleistung und damit eine direkte Beeinflussung der Psyche zur Folge. „Bildgebende Untersuchungen des Gehirns von magersüchtigen Patient:innen haben anatomische Merkmale der Schrumpfung des Gehirns, des Verlusts neuronaler Zellkörper und einer Verringerung der Dichte der synaptischen Verbindungen gezeigt.“15

DAS MINNESOTA-STARVATION-EXPERIMENT

Im Minnesota-Starvation-Experiment von 1945 wurde der Einfluss von Mangelernährung auf Körper und Psyche systematisch untersucht. Das Experiment fand im Auftrag der US-Regierung statt, um die Auswirkungen der großen Hungersnot im kriegsversehrten Europa abzuschätzen und gezielte Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Dabei wurde bei 36 freiwilligen, psychisch und physisch gesunden Männern über drei Monate die Kalorienzufuhr auf knapp 1600 kcal pro Tag reduziert. Ein gesunder Erwachsener benötigt bei moderater Bewegung täglich zwischen 3000 und 4000 Kalorien. Das Experiment hat bis heute Relevanz, weil eine vergleichbare Studie unter ethischen Gesichtspunkten heute nicht mehr durchgeführt werden kann.

Die Reaktion von Körper und Psyche war bei allen Probanden ähnlich. Neben massivem Gewichtsverlust sank ihre Körperkraft, ihre Reflexe wurden träge, das Herzvolumen nahm um 20% ab, die Körpertemperatur sank. Die Männer klagten über Schwindelanfälle, Sehstörungen, prickelnde und taube Hände und Füße, Bauchschmerzen, Gliederschmerzen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Haarausfall. Sie berichteten von Konzentrationsproblemen, ihr Urteilsvermögen und Verständnis waren beeinträchtigt. Sie verloren jegliches Interesse an sozialen Kontakten und isolierten sich zunehmend. Sie entwickelten eine verzerrte Wahrnehmung ihres Körpers und äußerten Unzufriedenheit mit ihrem Aussehen. Sie glaubten, übergewichtig zu sein, obwohl sie bereits im Untergewicht waren.16

Neben den oben genannten Symptomen schilderten die Männer, dass sich ihre Gedanken nur noch ums Essen drehten. Dieses Phä-nome lässt sich mit dem Zusammenspiel zwischen Körper und Psyche erklären. Unser Körper schickt Signale an das Gehirn, sobald er in einem Bereich aus dem Gleichgewicht zu kippen droht. Das kann ein Schmerz sein, der seine Funktionsfähigkeit einschränkt, eine volle Blase oder ein drohendes Energiedefizit. Wenn er spürt, dass ihm bald die Energie ausgeht, sendet er ein Signal ans Gehirn. Dort kommt das Gefühl von Hunger an, was den Gedanken auslöst: „Ich muss etwas essen.“ Im Normalfall folgt darauf die richtige Reaktion, der Mensch isst und der Körper schaltet sein Signal wieder aus, da der drohende Energiemangel abgewendet wurde.

Wird jedoch nicht adäquat auf sein Signal „Hunger“ reagiert, so sendet er es unablässig weiter. Er kann gar nicht anders. Manchmal gelingt es dem Betroffenen für kurze Zeit, seinen Körper zu überlisten. Nicht wenige Patient:innen mit Anorexie kauen ununterbrochen Kaugummi, weil der Körper durch die Kaubewegung das Gefühl bekommt, dass Nahrung im Anmarsch ist und das Hungersignal für kurze Zeit abstellt. Wenn keine adäquate Reaktion auf das Hungersignal erfolgt, beginnen sich die Gedanken unablässig ums Essen zu drehen. Dieses Phänomen bezeichnet man als mentalen Hunger. Mentaler Hunger erinnert den Körper in jeder Minute daran, dass er Nahrung benötigt. Er ist für den betroffenen Menschen eines der quälendsten Symptome der Krankheit, da sich die Gedanken pausenlos ums Essen drehen, er aber nicht in der Lage ist, all das zu essen, was er gerne essen würde und für die Wiederherstellung seiner Gesundheit auch essen müsste.17