Was kostet ein Traum? - Corina Lendfers - E-Book

Was kostet ein Traum? E-Book

Corina Lendfers

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Beschreibung

Paula und Frank leben unterschiedliche Werte: Sie, die empathische Theaterregisseurin, die auf Teamarbeit schwört und mit ihrer Arbeit Menschen berühren möchte. Er, der eiskalt kalkulierende, erfolgsverwöhnte Filmproduzent, der auf der Jagd nach einem oscarreifen Projekt ist. Um ihre Träume zu verwirklichen, sind sie aufeinander angewiesen. Sie gehen Kompromisse ein, die sie einander näher bringen - bis Paulas Tochter während der Dreharbeiten lebensbedrohlich erkrankt. Paula kämpft nicht nur um das Leben ihrer Tochter, sondern auch um ihren Ruf und ihre Arbeit. Denn Schweigen bedeutet, Schuld anzuerkennen, wo es keine Schuld gibt. Wie weit wird sie für ihren Traum gehen?

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Seitenzahl: 390

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Nachtrag

Über die Autorin

Kapitel 1

„Was ist das?“

„Was?“

„Dort treibt was auf den Wellen.“

„Schaumkrönchen?“

„Nein.“ Paula runzelt die Stirn.

Marlene setzt sich auf und wischt sich schwarzen Sand von den Händen. Geblendet von der Nachmittagssonne kneift sie die Augen zusammen. Ihr Blick folgt Paulas ausgestrecktem Arm. Die bewegte Wasseroberfläche glitzert.

„Dort, auf der Höhe der Felsnase!“ Paulas Stimme klingt rau. Reglos starrt sie aufs Meer.

Marlenes Augen suchen die Wellen ab.

Paula springt auf. „Das ist ein Mensch! Er ist viel zu weit draußen. Wahrscheinlich braucht er Hilfe.“ Sie stürmt ins Wasser, taucht unter einem Wellenkamm hindurch und ist im nächsten Augenblick verschwunden.

„Paula!“ Marlene rennt ihr hinterher, dann bleibt sie stehen. Der heiße Sand brennt unter ihren Fußsohlen. Sie springt zurück auf die Stranddecke und beobachtet die Freundin, die sich mit gleichmäßigen Crawlbewegungen vom Strand entfernt. Erst jetzt entdeckt sie den dunklen Punkt in der Nähe der Felsnase. Er scheint auf den Wellen zu tanzen.

Mal verschwindet er, dann taucht er wieder auf. Marlene wischt sich Schweiß von der Stirn und ihre Zunge fährt über die Lippen. Sie schmecken salzig. Ihre Kehle ist trocken.

In Paulas Ohren rauscht das Wasser. Mechanisch pflügen ihre Arme durch die Wellen. In monotonem Rhythmus dreht sich ihr Kopf, wie verselbstständigt, abwechselnd nach links und rechts. Aus den Augenwinkeln nimmt sie die Felsnase wahr, die näher kommt. Hin und wieder eilt ihr Blick voraus und sucht den dunklen Punkt. Sie erkennt einen Kopf, schwarzes Haar. Er scheint sich nicht von der Stelle zu bewegen, wird von den Wellen geschaukelt. Ihr Herz klopft rascher, das Blut pocht in ihrem Hals. Sie widersteht dem Impuls, schneller zu schwimmen, um Kraft zu sparen.

„Hallo! Hörst du mich? Hallo!“ Sie ruft, so laut sie kann, aber das Rauschen der Wellen verschluckt ihre Worte. Salzwasser dringt in ihre Nase und brennt sich durch die Luftröhre, sie hustet.

Vor ihr treibt ein Mann. Er ist noch wenige Armlängen von ihr entfernt. Sie atmet rasch, und plötzlich jagt eine Hitzewelle durch ihren Körper. Was soll sie tun, wenn er tot ist?

„Hallo! Hallo!“, ruft sie erneut, um ihn nicht zu erschrecken. Sie streckt ihre Hand aus und bekommt seinen linken Arm zu fassen. Er reagiert nicht. Seine Haut ist kalt. Sie zieht ihn zu sich und dreht ihn auf den Rücken. Seine Augen sind geschlossen und liegen in dunklen Höhlen. Eine Welle schwappt über markante Wangenknochen, über die sich blassgraue Haut spannt.

Paula erschaudert. Sie umfasst den Nacken des Mannes mit der linken Hand, legt ihre rechte Hand auf seine Stirn und dreht sich auf den Rücken. Seine Schultern berühren ihren Bauch, während sie rückwärts in Richtung Ufer schwimmt. Schwarzes Kraushaar streicht bei jeder Bewegung über ihren Brustkorb.

Marlene dreht sich um. Ihr Blick hastet über den Strand. Der schwarze Sand ist mit mannshohen Steinbrocken durchsetzt, zwischen denen die Handtücher vereinzelter Badegäste wie bunte Farbkleckse leuchten. Hinter ihnen ragt eine imposante Felswand in den stahlblauen Aprilhimmel. Es riecht nach Sonnencrème und feuchten Algen.

Rettungswagen. Ich muss einen Rettungswagen rufen. Sie wühlt in ihrer Strandtasche und erinnert sich, dass sie ihr Handy in der Finca gelassen hat.

„Können Sie mir helfen?“ In Flipflops rennt sie auf eine Familie zu, die in einiger Entfernung unter einem Sonnenschirm picknickt. Ein kleiner Junge klopft unablässig mit einer Plastikschaufel auf den Boden. „Dort draußen ist jemand in Not, wir brauchen einen Rettungswagen!“

Die junge Frau und der Mann blicken Marlene verständnislos an. Sie scheinen sie nicht zu verstehen. Aufgeregt zeigt Marlene aufs Meer. „Dort, sehen Sie, dort!“

Der Mann springt auf, ruft seiner Frau etwas auf Spanisch zu, greift nach einem Wellenbrett neben dem Sonnenschirm und rennt zum Wasser. Die Frau erblasst. Zwei Schrecksekunden später kippt sie den Inhalt ihrer Handtasche auf die Decke, ergreift ihr Handy, das zwischen Handcrème, Lippenstift, Feuchttüchern und Babywindeln liegt, und tippt mit zitternden Fingern.

Das Rauschen der Brandung wird lauter. Paula wendet den Kopf und versucht, einen Blick auf die Wellen hinter sich zu erhaschen. In der Nähe des Ufers ragen drei große Felsen aus dem Wasser, gegen die sie nicht geschleudert werden möchte. Eine Welle schwappt über ihr Gesicht, sie schluckt Salzwasser, hustet und ringt nach Luft. Der Kopf in ihren Händen wird immer schwerer, ebenso wie ihre Beine. Ich muss es schaffen! Sie holt tief Atem und konzentriert sich auf die Beinbewegungen.

„Hola! Hola!“ Zwischen dem Rauschen der Brandung meint sie, eine Stimme zu hören. Erneut neigt sie den Kopf zur Seite. Sie nimmt etwas Gelbes auf dem Wasser wahr, etwa zehn Meter von sich entfernt. Ein Bodyboard! Unmittelbar kehrt die Kraft in ihren Körper zurück.

„Hola!“, schreit sie.

Kurz darauf hört sie die Stimme eines Mannes. „Venga!“

Sie dreht sich um, spürt einen festen Griff um ihren Oberarm und einen Zug nach oben. „Espera“, keucht sie und hält dem Mann den Kopf des Ertrinkenden entgegen.

„Antonio! Antonio! No te mueras, no te mueras!“ In den Augen des Helfers liegt blanke Panik, seine Stimme splittert. Er ergreift den Kopf, und gemeinsam schieben und ziehen sie den Ertrinkenden aufs Wellenbrett. Paula schwimmt links, der Mann rechts, die anrollenden Wellen hinter sich im Visier, um nicht überrascht zu werden.

Am Strand hat sich eine kleine Gruppe von Menschen versammelt. Jetzt stürmen sie ins Wasser. Hände ziehen an Paula und versuchen, sie zu stützen. Sie tastet mit den Füßen den Boden, stößt gegen einen Stein. Sie nimmt einen brennenden Schmerz wahr und zieht den Fuß rasch wieder hoch. Sie lässt das Wellenbrett los und taumelt auf den Strand.

„Alles okay?“ Marlene fängt sie auf, bevor sie mit den Knien auf dem Sand aufschlägt.

„Bei mir schon.“ Sie beobachtet, wie drei Männer das Bodyboard auf den Strand ziehen. Einer der Männer beginnt sofort mit der Herzmassage. Eine Frau hält einen kleinen Jungen auf dem Arm. Tränen laufen über ihre Wangen.

Ein plötzlicher Schüttelfrost erfasst Paula.

„Komm.“ Marlene stützt sie.

Auf der Stranddecke zieht Paula die Knie zum Kinn. Die Freundin legt ihr ein Handtuch um die Schultern.

„Du blutest am Fuß.“

Paula löst ihren Blick vom Rücken des Mannes, der die Herzmassage durchführt. Auf ihrem linken Fußrücken ist ein etwa 2cm langer Schnitt, aus dem das Blut auf den ausgebleichten Stoff der Stranddecke tropft. Erst jetzt nimmt sie den brennenden Schmerz wahr.

Marlene greift nach ihrem weißen Trägershirt, das auf einem Felsbrocken liegt, und hebt vorsichtig Paulas Fuß an.

„Was tust du?“

„Einbinden, damit kein Sand reinkommt.“

„Aber dein Shirt...“

Marlene winkt ab und wickelt den Stoff energisch um die Schnittwunde. „Desinfiziert ist er ja schon.“

„Danke.“ Paula lächelt. Dann holt sie tief Atem und steht langsam auf. „Kommst du mit?“

Marlene nickt, und gemeinsam nähern sie sich der kleinen, schweigenden Gruppe. Da ertönt ein Röcheln. Ein Ruck geht durch die Menschen.

„Antonio!“

Zwischen zwei Frauen hindurch erkennt Paula, dass sich der Mann, den sie aus dem Wasser geborgen hat, bewegt. Seine mageren Schultern zucken. Er scheint zu erbrechen. Rasch wird er auf die Seite gedreht und mit Handtüchern zugedeckt. Die Anspannung, die wie eine bleierne Decke über den Menschen gelegen und das Atmen erschwert hat, löst sich, alle reden durcheinander.

Der Mann, der die Herzmassage durchgeführt hat, steht auf und streckt Paula die Hand hin. „Soy Jorge, el hermano. Gracias.“ Seine Stimme klingt dunkel, und in seinen Augen spiegeln sich Erleichterung und Dankbarkeit. Er lächelt und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Paula.“ Sie ergreift seine kräftige Hand und lächelt ihn an. Mit einem Mal werden ihre Augenlider schwer und ihr Rücken schmerzt. Sie schluckt, ihr Mund ist trocken.

Aus der Ferne erklingt das Martinshorn des Krankenwagens.

„Endlich!“ Marlene dreht sich um und läuft ans Südende des Strandes in Richtung Straße.

„Dame tu número movil“, fordert Jorge Paula auf. Die junge Frau hält ihr einen Zettel und einen Kugelschreiber hin. Paula schreibt Handynummer und Namen auf.

„Mira, ya vienen los sanitarios!“ Die junge Frau zeigt auf zwei Sanitäter in gelben Westen, die gemeinsam mit Marlene auf sie zulaufen. Sie tragen eine Bahre und einen Koffer.

Marlene tritt hinter Paula und umarmt sie. Paula lehnt sich an die Freundin. Sie schließt die Augen. Die Hitze des Sandes dringt durch die dünnen Sohlen der Flipflops, die Sonne brennt auf ihren Kopf. Die Kälte weicht allmählich aus ihrem Körper und das Zittern lässt nach. Der Geruch von Desinfektionsmittel kitzelt ihre Nasenhärchen, sie muss niesen.

Die beiden Sanitäter arbeiten schnell und wortlos, während Jorge ihnen erzählt, was passiert ist. Nach wenigen Minuten bücken sie sich und packen die Griffe der Bahre. Der Mann liegt unter einer goldglänzenden, knisternden Rettungsdecke. Mund und Nase werden von einer Sauerstoffmaske bedeckt, seine Augen sind geöffnet. Als er an Paula vorbeigetragen wird, treffen sich ihre Blicke. Sie zuckt zusammen. In seinen Augen spiegelt sich abgrundtiefe Leere.

„Muchisimas gracias.“ Jorge bleibt kurz vor Paula stehen, dann läuft er mit seiner Frau hinter den Sanitätern her.

„Seine Freunde?“ Marlene schaut ihnen nach.

„Sein Bruder mit Familie.“ Paula beginnt, die Strandsachen zusammenzupacken. „Jetzt brauch‘ ich einen Schnaps. Und was zu essen.“

Sie stapfen über den Strand und setzen sich in eines der kleinen Straßenlokale, die aus einer Ansammlung von Tischen und Stühlen am Straßenrand bestehen.

„Wo sind eigentlich Becky und Lisa? Sie wollten doch auch an den Strand kommen.“ Paula taucht ein Stück papa arrugada, der kanarischen Schrumpelkartoffel mit Salzkruste, ins mojo rojo, eine pikante einheimische Soße, und schiebt sie sich in den Mund. Zwischen ihr und Marlene stehen eine große Salatplatte und eine Schüssel der kleinen Kartöffelchen, dazu zwei Porzellanschälchen mit roter und grüner Soße.

„Dachte ich auch.“ Marlene zuckt die Schultern und spießt eine Tomatenscheibe auf die Gabel.

Am Nebentisch streitet sich ein älteres deutsches Paar darüber, ob Tenerife oder Gran Canaria die Hauptinsel der Kanaren ist, und auf dem Boden pickt eine Taube heruntergefallene Brotkrümel. Es riecht nach frittiertem Fisch.

Paulas steife Finger werden beweglicher. Sie schließt die Augen und spürt die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Der barraquito, eine einheimische Kaffeespezialität mit Kondensmilch, Likör, Espresso und Milchschaum, wärmt von innen.

Plötzlich zuckt sie zusammen. „Wie spät ist es?“

„Keine Ahnung. Mein Handy ist in der Finca.“

„Meins auch. Mist. Um 16.00 Uhr beginnt die Generalprobe.“ Unruhig schaut sie sich um und versucht, einen Blick aufs Zifferblatt der Armbanduhr ihres Tischnachbarn zu erhaschen.

„Stress dich nicht. Du isst jetzt erst und erholst dich. Die anderen können die GP auch ohne dich beginnen.“ Marlenes Stimme klingt bestimmt.

„Birgit beißt mir den Kopf ab, wenn ich zu spät komme.“ Hastig schaufelt Paula den Salat in sich hinein.

„Ach was, die beruhigt sich schon wieder.“ Marlene lehnt sich zurück und trinkt einen großen Schluck Bier.

„Du hast keine Ahnung, was die für Stimmung machen kann! Wenn die schlecht drauf ist, dann können wir die Probe vergessen.“

„Hier seid ihr! Wir haben euch am Strand gesucht!“ Zwei Mädchen mit kurzen Shirts und Hosen, Badetaschen über den Schultern und Flipflops an den Füßen wirbeln um die Ecke und bleiben vor Paula und Marlene stehen.

„Hallo Becky, hi Lisa! Wo wart ihr denn so lange?“

„Wir haben uns mit Tina und Jürgen verquatscht. Kommt ihr noch an den Strand?“ Becky, die Kräftigere der beiden mit einem blonden Dutt auf dem Kopf und dunkler Sonnenbrille, stibitzt eine Kartoffel.

„Nein, wir waren den ganzen Mittag am Strand und ich hab‘ gleich Generalprobe.“

„Alles klar, dann bis später!“ Becky drückt Paula einen Kuss auf die Wange, hängt sich bei Lisa ein, und die beiden schlendern an den Souvenirständen vorbei in Richtung Strand.

„Bitte seid spätestens um 20.00 Uhr wieder in der Finca!“, ruft ihnen Marlene nach.

„Mann, endlich! Eine ganze Stunde zu spät. Was soll das?“ Birgit springt auf und funkelt Paula aus grünen Augen wütend an.

„Beruhige dich mal! Ihr hättet ja ohne mich anfangen können.“ Paula stapft an ihr vorbei und stößt die Tür zu ihrem Bungalow auf. Modriger Geruch schlägt ihr entgegen. Sie stellt die Badetasche auf den Stuhl und öffnet das Fenster.

„Was war los?“ Matteo lehnt am Türrahmen, eine Hand in die Hüfte gestemmt. Wie immer stecken seine Beine in einer dunkelblauen Jeans und die Füße in schwarzen Sneakers. Die oberen Knöpfe seines weißen Leinenhemdes stehen offen.

Sie schweigt, bindet die kinnlangen, blonden Haare mit einem Haarband zusammen und tauscht die kurze Jeans gegen eine rote, luftige Baumwollhose.

„Würdest du mir bitte sagen, warum du eine ganze Stunde zu spät kommst?“ Er tritt ein und schiebt die Tür mit dem Fuß zu.

Sie schält sich aus dem Bikini. „Ich möchte jetzt nicht darüber sprechen.“ Sie streift ein schwarzes Träger-T-Shirt über und wirft ihm einen flüchtigen Blick zu. Seine Augen halten sie fest. Sie knetet ihren rechten Ringfinger.

Seine Hand schiebt eine braune Haarsträhne zurück und er macht einen Schritt auf sie zu. „Warst du alleine unterwegs?“ Ein besorgter Unterton liegt in seiner Stimme.

Paula schüttelt den Kopf. „Mit Marlene.“ Sie schlüpft in einen hellbraunen Strickmantel und beobachtet, wie sich Matteos Stirnfalten glätten. Ihre Lippen berühren kurz seine Wange, seine Arme legen sich um ihre Taille. Er riecht nach herbem Aftershave.

„Lass uns rausgehen.“ Sie lächelt ihn an.

Er lässt sie los und öffnet widerwillig die Tür.

„Was ist mit deinem Fuß?“ Tom, der an einer der Säulen des Vordachs lehnt, deutet mit dem Kinn auf Marlenes Shirt, das noch immer um Paulas Fuß gewickelt ist.

„Nichts Wichtiges. Fangen wir an?“ Fragend blickt sie in die Runde. Tom kneift die Augen zusammen und drückt seine Zigarette aus. Seine blonden Locken stehen in alle Richtungen vom Kopf ab und seine runden Wangen sind leicht gerötet.

„Yep.“ Andreas erhebt sich aus dem Korbstuhl und stellt ihn zum kleinen Tischchen auf dem großen, von Palmen gesäumten Platz, der als Bühne genutzt wird.

„Wie jetzt? Keine Entschuldigung? Keine Erklärung, warum du so spät kommst?“ Auf Birgits Stirn steht eine steile Falte und ihre dunklen Augenbrauen berühren sich fast. Sie zieht hektisch an einer Zigarette. Ihr kurzes Haar schimmert rötlich.

„Lass doch jetzt, wir sind sowieso schon spät dran. Paula wird ihre Gründe haben.“ Matteo legt ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter. Birgit schlägt sie weg und schreit ihn an: „Ich bin den ganzen verdammten Nachmittag hier rumgesessen und hab auf einen Ausflug nach San Sebastián verzichtet, um pünktlich hier zu sein, und das nur, damit ich sinnlos warten kann, bis Madame Regisseurin die Gnade hat, endlich mal aufzutauchen? Und sich dann nicht mal entschuldigt?“ Ihre Stimme schrillt über den Platz und wird von den Wänden der sechs kleinen Bungalows, die den Platz säumen, zurückgeworfen. Sie bläst den Rauch ihrer Zigarette in Paulas Richtung.

„Bitte, lass das.“ Paula weicht zur Seite. Sie lässt sich auf den Fußboden sinken und lehnt sich mit dem Rücken an eine Säule. Sie füllt ihre Lungen mit Luft, ihre Augen suchen Halt an einer großen Kübelpalme. „Ich war mit Marlene am Strand und hab‘ einen Mann aus dem Wasser geholt, der am Ertrinken war.“ Sie schließt die Augen. In ihren Ohren rauschen die Wellen und sie fühlt das kalte Wasser an ihrem Körper vorbeiziehen.

„Dann kommt die Verletzung an deinem Fuß von dort! Pass auf, dass sie nicht entzündet.“ Tom zieht die Augenbrauen in die Höhe.

„Welche Verletzung?“ Eine kleine Frau mit kurzem, grauem Haar tritt zwischen zwei Palmen hervor. Rosie ist das älteste Mitglied der Truppe, trägt immer wallende Kleidung und ist nie schlecht gelaunt. Sie ist Paulas großes Vorbild. So vital und energievoll möchte sie mit 65 Jahren auch sein.

Tom zeigt mit dem Kinn auf Paulas Fuß. „Da. Ihr Fuß.“

„Zeig her.“

„Nach der Probe, ok? Wurde lang im Salzwasser desinfiziert.“ Paula dreht den Kopf und blickt Rosie bittend an.

Die ältere Frau nickt. Vor ihrer Karriere als Schauspielerin hat sie als Krankenschwester gearbeitet und fühlt sich verantwortlich für die Gesundheit der Truppe.

„Was genau ist passiert?“ Matteo setzt sich neben Paula und legt seinen Arm um ihre Schultern.

Ihre Stimme zittert, als sie zu sprechen beginnt. „Er trieb reglos auf dem Wasser. Er sah tot aus. Seine Haut war grau und kalt. Er war so dünn, so, als ob er schon lange ohne Nahrung auf dem Wasser getrieben wäre. Ich schwamm mit ihm an Land, glaubte, eine – eine Leiche mitzuziehen.“ Sie stockt und hält den Atem an. „Und dann röchelte er plötzlich und spuckte Wasser. Er lebte. Es war gruselig. Und gleichzeitig wie ein Wunder.“ Matteos Hand streicht über ihren Rücken. Die innere Kälte, die schleichend von ihr Besitz ergriffen hat, löst sich auf. Sie schüttelt sich und steht auf. „Lasst uns bitte anfangen.“

„Es tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe.“ Birgit blickt betreten zu Boden. In ihrer Stimme klingt ehrliches Bedauern.

„Ist schon okay.“ Paula lächelt erschöpft. Matteos Fingerspitzen berühren sanft ihre Stirn und sein Dreitagebart kitzelt ihre Wange, als er sie küsst.

Tom dreht sich um und stapft zum Mischpult. Rosie stellt sich neben eine der mannshohen Kübelpalmen, stemmt die Hände in die Hüfen und überlegt laut: „Diese Palme würde sich besser machen in der Nähe des Tisches, was meint ihr?“

„Finde ich auch!“ Andreas zerrt den Pflanzkübel mit Rosies Hilfe hinter den Tisch. Die Bühne, auf der die ersten drei Vorstellungen der Tournee stattfinden werden, besteht aus dem gepflasterten Platz, um den sich die Bungalows gruppieren, in denen die Mitglieder der Truppe wohnen.

Paula wendet sich an Tom: „Licht und Ton bereit?“

Er nickt und schiebt die Regler für die Beleuchtung. Noch ist es zu hell, und das weiße Licht, das aus zwei großen Scheinwerfern links und rechts auf den Platz fällt, lässt sich mehr erahnen als sehen. Aus den Lautsprechern erklingen ferne Trommelschläge, darüber legt sich die klare Melodie einer Querflöte.

Kapitel 2

„Ja, Ulrich, was gibt’s?“

„Ich habe sie.“

„Wen?“

„Die Regisseurin für Ihren nächsten Film.“

„Ich dachte, Sie sind im Urlaub?“

„Das bin ich auch, und hier habe ich sie entdeckt!“

Frank von Roth lehnt sich in seinem schwarzen Bürosessel zurück, drückt die Lautsprechertaste, legt den Hörer auf den Schreibtisch und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Schießen Sie los.“

„Paula Maria Menotti, 45 Jahre, inszeniert seit fünf Jahren mit ihrem eigenen Ensemble zeitlos anders und tourt jährlich durch Deutschland, alle großen Städte dabei, München, Frankfurt, Berlin.“

Frank von Roth wartet. Regentropfen prasseln an die Fensterfront seines Büros im 12. Stock und bilden lange Rinnsale. Über der Spree wabern Nebelschwaden. „Und? Weiter?“

„Was, weiter?“

„Auszeichnungen, Preise, Kritiken?“

„Das weiß ich noch nicht, aber wie sie inszeniert, ist absolut genial! Ich habe noch nie so lebendiges Theater gesehen!“

„Theater. Eine Theaterregisseurin soll eine oscarreife Filminszenierung hinlegen mit einem Film mit über 500 Beteiligten.“ Der Spott in Frank von Roths Stimme ist nicht zu überhören.

„Warum nicht?“

„Warum sollte sie das schaffen? Etwas, das ein Dutzend Filmregisseure mit jahrelanger Erfahrung nicht geschafft haben?“

„Frank, ich kann es Ihnen nicht erklären. Sie müssen ihre Inszenierung erleben.“

„Muss ich das?“ Gelangweilt klopft Frank von Roth mit einem Kugelschreiber auf die Glasplatte des Schreibtisches.

„Ja – oder nein. Versuchen Sie es einfach mit ihr. Bestellen Sie sie nach Berlin, zeigen Sie ihr das Drehbuch und hören Sie sich an, was sie daraus machen würde.“

Frank von Roth zieht die Oberlippe zur Nasenspitze. „Warum nicht? Auf eine mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an. Aber Reisekosten bezahlen wir keine. Schicken Sie mir ihre Handynummer.“ Er ergreift den Hörer und legt auf. Er drückt einen roten Knopf am Telefonapparat. „Bringen Sie mir einen Kaffee.“

Frank von Roths Blick schweift über die Stadt, die sich in eintöniges Grau hüllt. So grau fühlt sich sein Leben an. Eintönig. Immer dasselbe. Neues Drehbuch, neue Regie, neue Affäre, neue oder auch alte Schauspieler, neue Drehorte, und doch ist es immer dasselbe Spiel. Die Kritiken sind gut, mal mehr, mal weniger. Aber nie reicht es für den ganz großen Durchbruch. Mittelmaß. Ich hasse Mittelmaß.

Es klopft.

„Kommen Sie rein.“

Eine junge Frau in dunkelblauem Blazer und einer Wolke von Kaffeeduft nähert sich rasch dem Schreibtisch, stellt ein silbernes Tablett mit einer Kaffeetasse, einem Schälchen Würfelzucker, einem Löffel und einer weißen Papierserviette darauf ab, lächelt flüchtig und verlässt den Raum.

Frank von Roth starrt wortlos auf die Skyline Berlins, die mit der zunehmenden Dämmerung verschmilzt.

***

„Cheers!“

Gläser klirren, aus den Lautsprechern dudelt kanarische Volksmusik, bunte Glühbirnen verströmen ein weiches, schummriges Licht und der Geruch nach gegrilltem Fleisch lockt streunende Hunde an. Die Theatertruppe zeitlos anders sitzt an zwei zusammengeschobenen Tischen an der Strandpromenade von La Playa und ist in Feststimmung.

„Ihr wart großartig, richtig, richtig gut!“ Paulas Wangen glühen, und glücklich prostet sie ihrem Team zu.

„Das ist dein Verdienst, du weltbeste Regisseurin!“ Matteo legt den Arm um ihre Schulter und zieht sie an sich. Seine Lippen berühren ihre Wange, er schiebt eine blonde Strähne hinter ihr linkes Ohr.

„Andreas, dein Hänger in der Kneipenszene war der Hammer!“ Rosie prustet los und die anderen stimmen mit ein.

„Oh weh, das war heftig! Du hast mich so in die Enge gespielt, dass ich nicht mehr wusste, was ich sagen oder tun sollte.“ Andreas Gesicht läuft feuerrot an.

„Genau das war so stark! Deine Hilflosigkeit ging dem Publikum unter die Haut. Ein Mann neben mir flüsterte seiner Frau zu: ‚Der Arme, wir müssen ihm helfen!‘ Genau das macht euer Theaterspiel aus. Es ist echt. Auf euch!“ Marlene hebt ihr Glas, und alle prosten sich erneut zu.

„Meint ihr, das Stück kommt in Deutschland auch so gut an wie hier?“ Birgit schiebt sich ein mit Olivenöl getränktes Stück Brot in den Mund.

„Klar. Warum nicht? Bisher sind alle Produktionen hier wie in Deutschland gleichermaßen gut angekommen. Unser Publikum hier besteht ja größtenteils aus deutschen Touristen. Reichst du mir bitte den Fisch?“ Tom streckt die Hand aus.

„Hier.“ Andreas hält ihm eine Platte mit drei verschiedenen gegrillten Fischfilets auf Salat hin.

„Mama, dürfen wir uns ein Eis zur Nachspeise holen?“ Becky umschlingt ihre Mutter von hinten mit den Armen.

„Seid ihr satt? Kein Fisch mehr? Oder Salat?“

„Nein, die Pommes und die Calamares sind alle.“

„Also gut.“ Paula zieht einen 5-Euro-Schein aus der Handtasche und reicht ihn Becky.

„Danke!“ Becky drückt ihr einen Kuss auf die Wange und hüpft mit Lisa davon.

„Warum proben wir eigentlich immer hier auf La Gomera? Ich meine, ich weiß, dass es Tradition hat, aber woher kommt das?“

Marlene dreht den Kopf zu Rosie. „Das hängt mit Paulas Segelboot zusammen, das ja hier auf der Insel liegt. Nach unserem Abitur haben wir zwei Monate lang darauf gewohnt und sind von Insel zu Insel gesegelt.“

„Während des Studiums war ich dann immer in den Semesterferien hier.“ Paula trinkt einen Schluck Wein. „Als ich danach verschiedene Jobs als Regieassistentin angenommen habe, hatte ich keine Zeit mehr dazu. Nach der Gründung von zeitlos anders war es dann purer Egoismus, dass ich die Probezeit hierher verlegt habe.“ Sie grinst.

„Ich finde das super. Für mich ist der Probemonat hier jeweils das Highlight des Jahres!“ Rosie nickt Paula zu. Ihr graues Haar schimmert silbern im Licht der Laternen.

„Ich finde das auch schön. Für Lisa und mich ist das ein fester Bestandteil unserer Jahresplanung, dass wir in ihren Frühlingsferien hierher fliegen und mit euch Zeit verbringen können. Lisa liebt es, bei euren Proben zuschauen zu können.“

Der Klingelton von Paulas Handy unterbricht sie. Paula zieht es aus der Handtasche und wirft einen Blick auf die Nummer. Deutschland. Sie steht auf, berührt den grünen Punkt und presst das Handy ans Ohr, während sie in eine ruhigere Seitengasse läuft. „Hallo?“

„Wie, hallo?“ Eine tenorale Männerstimme klingt verärgert.

„Hier spricht Paula Menotti.“

„Von Roth. Frank von Roth von den Von-Roth-Productions.“

In Paulas Kopf wirbeln die Gedanken durcheinander. Von Roth? Der große Produzent? Was will der von mir?

„Können Sie mich hören?“

„Ja, ich höre Sie.“ Ihre Stimme klingt belegt.

„Wissen Sie, wer ich bin?“

„Ja, natürlich. Ich kenne Sie.“

„Schön. Kommen Sie am Sonntagnachmittag um 17.00 Uhr in mein Büro.“

„Wie bitte? Warum?“

„Ich möchte Ihnen ein Angebot machen.“

„Worum geht es?“

„Kommen Sie nach Berlin und ich werde es Ihnen zeigen.“

Aufgelegt. Was war das? Kopfschüttelnd begibt sie sich zurück zu den anderen.

„Alles okay?“ Matteo betrachtet ihre zusammengezogenen Augenbrauen.

„Ich weiß nicht.“ Sie setzt sich, trinkt ihr Weinglas aus und greift nach der Flasche. Er nimmt sie ihr aus der Hand und füllt ihr Glas.

„Wer war das?“

„Frank von Roth.“

„Der Frank von Roth? Der Produzent?“ Verblüfft schaut er sie an. Paula nickt langsam.

„Und was wollte er von dir?“ Birgit lehnt sich über den Tisch, um die Antwort besser zu verstehen.

„Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Ich soll am Sonntag um 17.00 Uhr in sein Büro nach Berlin kommen.“

„Der spinnt doch!“ Empört schlägt Matteo die Faust auf den Tisch. Die Gläser klirren. „Du wirst dich doch von ihm nicht einfach so rumkommandieren lassen, oder?“ Mit zusammengekniffenen Augen blickt er sie an.

Paula schweigt. Sie weiß, wie schnell Matteo wütend wird, vor allem, wenn er getrunken hat. Auf der linken Wange spürt sie einen durchdringenden Blick und schaut sich flüchtig um. Ihre Augen begegnen Rosie.

„Wie spannend! Und er hat gar nichts gesagt, warum du kommen sollst?“ Tom kaut auf einem Stück Kalbfleisch herum.

„Nein. Vor allem hab ich keine Ahnung, wie er ausgerechnet auf mich kommt.“

„Das wüsste ich auch gern. Einen Rum bitte“, wendet sich Matteo an den Kellner.

„Für mich auch.“ Paula lächelt dem Kellner zu.

„Naja, so unbekannt ist zeitlos anders nicht“, wirft Andreas ein. „Immerhin schreibt FAZ Kultur jedes Jahr über uns.“

„Das stimmt schon. Aber im Juli, und jetzt ist April, das ist neun Monate später.“ Paulas Zeigefinger fährt über den Rand des Weinglases.

„Hattest du irgendeinen Skandal, von dem wir nichts wissen?“, ulkt Birgit.

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Und, fliegst du?“ Paula spürt Toms erwartungsvollen Blick auf ihrer Stirn.

„Am Sonntagabend ist die Dernière, da musst du hier sein.“ Matteo leert seinen Rum in einem Zug.

„Warum? Wir schaffen das auch ohne sie.“ Tom schneidet sich ein weiteres Stück Fleisch ab.

„Sie ist die Regisseurin und ist bei der Dernière dabei.“ Der scharfe Klang von Matteos Stimme lässt Paula schlucken.

„Sie ist die Regisseurin und entscheidet selbst.“ Die Blicke der Männer verkeilen sich ineinander.

„Möchte jemand Kaffee?“ Aufmerksam betrachtet der Kellner seine Gäste, während er das leere Geschirr abräumt.

„Ich nehme gerne einen Capuccino.“ „Zwei, bitte.“ „Für mich einen Espresso.“ „Nein, danke.“

„Interessant, dass er dich am Freitagabend um 22.00 Uhr angerufen hat. In Deutschland ist es ja noch eine Stunde später“, überlegt Marlene.

„Und welcher Idiot arbeitet am Sonntagnachmittag! Paula, ich bin mir sicher, da verarscht dich jemand.“

„Meinst du?“ Zweifelnd blickt sie Matteo an.

„Ja, ganz sicher.“

„Seltsam ist das Ganze schon.“ Sie dreht den Stiel des Weinglases zwischen den Fingern.

Kapitel 3

Mit den ersten Sonnenstrahlen steigt Paula über den steilen Pfad von der Finca hinab in Richtung Strand. Sie trägt die rote Baumwollhose und einen weiten, hellgrauen Pullover. Vorsichtig tasten sich ihre nackten Füße über den steinigen Weg. In der rechten Hand balanciert sie einen hohen Kaffeebecher. Beifußsträucher säumen den Wegrand, durchsetzt von mannshohen Kakteen. Die ovalen Kaktusfeigen mit den unzähligen feinen Stacheln leuchten purpurrot in der Aprilsonne.

Auf halber Höhe bleibt sie stehen und verlässt den Pfad, um sich auf einen flachen Felsbrocken zu setzen. Ihr Kopf brummt. Die Nacht war nicht erholsam. Entweder hat sie sich im Traum im Wasser wiedergefunden und gegen eine treibende Leiche gekämpft, oder ihr Handy hat ununterbrochen geklingelt, und immer, wenn sie es abnehmen wollte, ist es verstummt. Jedes Mal ist sie schweißgebadet aufgewacht.

Paula bläst in den Dampf des Kaffees. Er formiert sich zu kleinen Wirbeln und löst sich in der kühlen Morgenluft auf. Sie spürt dem bitteren Geschmack auf der Zunge nach und atmet tief ein.

„Schon wach?“

Sie zuckt zusammen. Sie hat Tom nicht kommen gehört. Er setzt sich neben sie und betrachtet sie von der Seite.

„Wie geht es dir?“

Ihre Augen suchen die Felsnase vor der Küste, und ihre Hände umklammern den Becher. Ihre Stimme klingt brüchig. „Der Mann von gestern liegt noch immer auf der Intensivstation.“

Tom senkt den Blick. „Das tut mir leid.“

„Ich würde gerne verstehen, was passiert ist. Er ist einheimisch hier, ich nehme an, er kennt das Meer. Gefährliche Strömungen gibt es um diese Jahreszeit in der Bucht an der Playa del Ingles keine. Was ist passiert, dass er nicht mehr zurückschwimmen konnte? Bekam er einen Muskelkrampf? Ist er in der Nähe des Ufers an einen Unterwasserfelsen gestoßen und hat das Bewusstsein verloren? Überraschte ihn eine besonders große Welle und er schluckte zu viel Wasser? Diese Fragen treiben mich um.“

Ihr gemeinsames Schweigen wird durch die Schreie einer Möwe unterbrochen, die über der Bucht Kreise zieht.

„Was wirst du tun?“

„Was meinst du?“

„Fliegst du morgen nach Berlin?“

Paula zupft einige Blätter des Beifußstrauches ab und zerdrückt sie zwischen den Fingern. „Ich weiß es nicht.“

„Warum zögerst du?“

Sie schweigt, nimmt den eigenwilligen, herben Duft der zerriebenen Blätter wahr und fühlt sich klein.

„Ich an deiner Stelle würde die Chance nutzen. Wer weiß, wann sie sich dir das nächste Mal bietet? Das Leben ist zu kurz, um Chancen vorbeiziehen zu lassen und auf einen besseren Moment zu warten. Ich würde fliegen, wenn ich die Chance hätte, ins Filmbusiness einsteigen zu können.“ Sehnsucht schwingt in Toms Stimme.

Paula dreht den Kopf und betrachtet ihn. Sein zerzaustes Haar steht ungekämmt in alle Richtungen ab. Zwei tiefe Falten ziehen sich über seine rechte Wange, und ein heller Stoppelbart bedeckt sein rundes Kinn. „Du?“

Er nickt. „Als Kameramann. Filmen ist meine Leidenschaft.“

„Warum machst du dann Licht und Ton und bist nicht beim Film?“

„War keine Nachfrage da nach Kameraleuten, als ich anfing. Einen Job als Licht- und Tonmeister zu finden war einfacher, darum bin ich beim Theater gelandet.“

„Und? Suchst du weiter? Bewirbst du dich?“ Tom schüttelt den Kopf. „Warum nicht?“

Eine leichte Röte überzieht seine Wangen. „Ich fühl mich wohl in unserer Truppe. Ich bin glücklich hier.“ Er schaut sie an, und seine Augen lächeln.

„Meinst du nicht, du wärst glücklicher, wenn du den Job machen könntest, von dem du träumst?“

Seine lächelnden Augen halten ihren Blick fest. „Und du?“

„Ach, Tom!“ Sie zwirbelt die Fransen ihres Pullovers und ihr wird klar, wie wenig sie von ihm weiß, obwohl sie seit zwei Jahren zusammenarbeiten. Sie fühlt sich auf beruhigende Art mit ihm vertraut, ohne je viel mit ihm über persönliche Dinge gesprochen zu haben.

„Du traust dich nicht, weil Matteo es nicht will.“ Seine Worte sind kaum mehr als ein Flüstern, aber sie treffen Paula wie ein Pfeil.

Sie räuspert sich. „Ich möchte zurückgehen, ich hab‘ Hunger.“

Er nickt, und sie ist unsicher, ob er nickt, weil er ihr zustimmt, oder weil er weiß, dass er ins Schwarze getroffen hat.

„Guten Morgen! Kaffee?“ Marlene steht in der offenen Wohnküche, eine rotweißkarierte Schürze umgebunden, und hält eine Kaffeekanne in der Hand.

„Gerne, danke.“ Paula reicht ihr den leeren Kaffeebecher. „Gut geschlafen?“

„Und wie! Ich schlafe hier viel besser als zuhause. Das muss die Seeluft sein. Ich mach‘ den Mädchen ein Spiegelei, magst du auch eins?“

Paula schüttelt den Kopf. „Nein. Hat’s noch Joghurt?“ Sie öffnet den Kühlschrank und holt den Topf mit griechischem Joghurt heraus. „Marlene, ich würde gerne nach Berlin fliegen. Kannst du ein Auge auf Becky haben?“

„Klar, mach‘ ich gerne! Wenn du einverstanden bist, könnten Lisa und Becky in deinem Bungalow übernachten und Party machen.“

Paula lacht. „Von mir aus gerne! Was habt ihr heute vor?“

„Die Mädchen wollen an den Strand. Ich hab‘ mehr Lust auf eine Wanderung. Ich hab‘ mir den Garajonay vorgenommen. Magst du mitkommen?“

„Würde ich gern, aber mit der Vorstellung heute Abend geht das nicht, sonst bin ich platt!“

„Verstehe ich. Trotzdem schade.“

„Moin!“ Lisa streckt den Kopf durch die Terrassentür.

„Guten Morgen! Setzt euch, Frühstück ist gleich fertig.“ Marlene stellt die Pfanne mit den Eiern, drei Teller und das Besteck auf den langen Eichenholzesstisch, an dem Becky und Lisa verschlafen Platz nehmen.

„Einen wunderschönen guten Morgen!“ Andreas‘ Bassstimme dröhnt durch den Raum, begleitet von südamerikanischem Salsa. Er ist nie ohne seine Lautsprecherbox unterwegs, aus der das ganze Kaleidoskop der Weltmusik schallt, je nach Stimmung, Jahreszeit oder gesellschaftspolitischer Lage. Andreas erinnert in vielen Aspekten an einen Bären; seine Länge von 1.92m, seine auffällige Ganzkörperbehaarung inkl. Vollbart, kräftige Statur und ein Gemüt, das kaum etwas aus der Ruhe zu bringen vermag. Je nach Situation kann es als geerdet, ruhig, phlegmatisch oder träge empfunden werden. Sein mintgrünes T-Shirt ist durchs häufige Waschen etwas aus der Form geraten, und den Bermudashorts fehlt ein Gürtel, der sie in Position halten würde.

„Was haltet ihr davon, wenn wir morgen nach der Vorstellung ein Lagerfeuer machen? Als Abschluss unserer Zeit hier auf La Gomera? Ich habe im hinteren Bereich des Grundstücks auf einer kleinen Anhöhe einen Steinkreis entdeckt, der sich prima dazu eignet. Holz ist auch genug vorhanden, muss nur noch gespalten werden.“ Erwartungsvoll blickt er die Frauen an.

„Oh ja, Lagerfeuer! Ich möchte Marshmallows braten!“ Becky ist begeistert.

„Prima Idee! Ich mach‘ einen Kartoffelsalat, der passt immer. Wir könnten noch Würstchen organisieren. Bier ist noch da und Wein auch.“ Marlenes Wangen schimmern rosig und ihre Augen leuchten.

Paula richtet sich auf und holt tief Luft. „Könnten wir es nicht heute schon machen? Ich werde morgen nach Berlin fliegen.“

Andreas klopft ihr auf die Schulter. „Klar, kein Problem. Find‘ ich gut, dass du fliegst. Wir rocken hier die Bude, darauf kannst du dich verlassen. Nicht wahr, Rosie?“

Rosie, die soeben den Raum betritt, fängt seinen erwartungsvollen Blick auf. „Worum geht’s? Um Berlin?“ Paula nickt. „Klar schaffen wir das ohne dich.“ Sie schenkt sich Kaffee ein und macht es sich auf dem Sofa gemütlich. „Weiß Matteo Bescheid?“

Paula nimmt ihren prüfenden Blick auf ihrem Gesicht wahr. Sie stellt das Joghurt zurück in den Kühlschrank und antwortet zögernd: „Noch nicht. Ich dachte, ich warte vielleicht besser bis nach der Vorstellung damit.“

„Tu das.“ Rosie zwinkert ihr zu.

„Ich geh‘ Holz hacken.“ Andreas dreht sich zur Tür.

„Ich helfe dir.“ Paula spült ihren Kaffeebecher ab.

„Magst du nicht mit uns an den Strand kommen? Du wolltest Lisa doch noch Crawlen beibringen.“ Dem unbefangenen Charme in Beckys Stimme kann sie nicht widerstehen. Obwohl der Gedanke an die Bucht ein Kribbeln im Bauch auslöst, nickt sie. „Du hast Recht. In einer Viertelstunde?“

„Ja! Bis gleich!“ Beckys Augen leuchten auf und sie verschwindet mit Lisa durch die Tür.

Paula wendet sich an Marlene. „Dann bis um 18.00 Uhr. Soll ich fürs Lagerfeuer was mitbringen?“

„Würstchen, falls du welche findest.“ Marlene trocknet ihre Hände an der Schürze.

„Aye, aye, Ma’am!“ Paula salutiert, macht auf dem Absatz kehrt und schlüpft durch die Terrassentür.

„Paula! Kann ich dich kurz sprechen?“ Rosie eilt ihr nach.

„Klar.“

„Komm.“ Sie fasst sie am Arm und führt sie auf einen Sitzplatz hinter ihrem Bungalow. Eingerahmt von drei großen Blumenkübeln mit dunkelrosa Bougainvilleen stehen versteckt ein Tischchen und zwei Korbsessel mit weißen Sitzpolstern. Rosie streift im Vorbeigehen einen Lavendelstrauch, und als hätte er auf diese Berührung gewartet, flutet er die Sitzecke mit dem süßlichen Duft seiner Blüten.

Die beiden Frauen lassen sich in den Sesseln nieder und lauschen dem Gezwitscher einiger Vögel, die in unterschiedlichen Tonlagen und -längen den Frühling besingen.

Rosie räuspert sich. „Lass dich von Frank nicht verunsichern.“

„Frank?“

„Frank von Roth.“

„Du kennst ihn?“

Rosie lacht auf. „Wer kennt ihn nicht? Er ist einer der größten Filmproduzenten Deutschlands. Keine ambitionierte Filmschauspielerin kommt an ihm vorbei.“

„Stimmt ja. Ich vergesse immer wieder, dass du früher in Filmen gespielt hast.“ Sie betrachtet das zerfurchte Gesicht vor sich.

„Frank hat Geld und ein Netzwerk, das sich weit über die Grenzen Deutschlands erstreckt. Seine Filme sind immer erstklassig besetzt. Er ist ein exzellenter Stratege und versteht etwas von Zahlen. Das verschafft ihm Macht.“

Rosie schweigt, und Paula legt den Kopf in den Nacken. Sie beginnt zu ahnen, worauf die ältere Schauspielerin hinaus möchte.

„Er bittet nie um etwas. Er nimmt sich, was er will. Und er sagt, was er denkt.“

Paula zwirbelt eine Haarsträhne zwischen Daumen und Mittelfinger. Einerseits zweifelt sie daran, dass sie mit einem Menschen wie Frank von Roth zusammenarbeiten will. Andererseits könnte er ihr Sprungbrett in die Filmszene sein. So sehr sie das Theater liebt, Regie zu führen in einem Film wäre eine neue Herausforderung, von der sie in den letzten zwei Jahren immer öfter geträumt hat.

Rosie lehnt sich nach vorne und stützt die Ellbogen auf den Oberschenkeln ab. Sie spricht langsam und eindringlich. „Höre auf deinen Bauch und lass dich nie zu etwas drängen, wohinter du nicht stehen kannst. Auch nicht von Frank von Roth. Er ist ein Schauspieler, vielleicht der größte von uns allen, und er hat nur ein Ziel: Erfolg.“

Die Worte klingen in Paulas Kopf nach. Sie versteht, was Rosie gesagt hat, aber sie hat keine konkrete Vorstellung davon, was sie damit meint.

Der Klingelton ihres Handys holt sie aus ihren Gedanken. „Hallo, Paula. Bist du schon am Strand?“

„Hi, Becky. Nein. Wartet bitte auf der Bühne auf mich, ich bin gleich da.“ Sie steckt das Handy weg und steht auf. „Ich muss los. Bis später! Und danke für deine Informationen!“

Sie dreht sich um und spürt Rosies Blick auf ihrem Rücken, als sie mit schnellen Schritten zwischen den Blumenkübeln hindurch auf ihren Bungalow zueilt.

„Danke für den schönen Abschluss des Abends.“ Paulas Fingerspitzen ziehen langsam über Matteos Augenbrauen. Sein Kopf liegt in ihrem Arm und sein warmer Atem streichelt ihren Hals.

„Er ist noch nicht vorbei. Wir haben die ganze Nacht vor uns,“ raunt er in ihr Ohr.

Ihre Lippen berühren seinen geraden, langen Nasenrücken. „Ich schlafe in meinem Bungalow.“

Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. „Warum? Becky schafft doch auch mal eine Nacht alleine.“

Vor dem angelehnten Fenster schreit ein Käuzchen. Der Wind spielt mit dem Vorhang, und der gelbe Schein der Laterne zeichnet tanzende Schatten an die Zimmerdecke.

„Meine Fähre legt um 8.30 Uhr ab.“ Paula hält den Atem an. Die Zeit dehnt sich wie ein Gummiband.

Matteo rückt von ihr ab und stützt sich auf den Ellbogen. In seinem Blick wechseln sich Unverständnis und Entsetzen. „Du fliegst nach Berlin?“

„Ja.“

Er stößt heftig die Luft aus. Dann schiebt er die Bettdecke weg, steht abrupt auf und steigt in seine Pyjamahose. Auf seinen Wangen bilden sich rote Flecken.

„Und das sagst du mir erst jetzt? Nach diesem Abend?“ Er hält inne und stößt einen leisen Pfiff aus. „Ach so, du hattest Angst, dass ich dir die Aufführung hätte versauen können, wenn ich es früher gewusst hätte!“ Er stampft mit dem Fuß auf. „Kannst du dir vorstellen, wie verarscht ich mir gerade vorkomme?“ Wütend schleudert er ihr die Worte entgegen.

Paula setzt sich auf. „Es tut mir leid, Matteo. Ich wollte dich nicht verletzen.“ Eine Hitzewelle jagt über ihren Rücken.

„Ich versteh‘ dich nicht! Ich versteh‘ dich wirklich nicht! Wir stehen am Anfang unserer Tournee, haben das Stück gerade zweimal gespielt, und du machst dich einfach so aus dem Staub, weil irgendein arroganter Produzent gepfiffen hat.“ Er kickt mit dem Fuß eine Unterhose weg, die auf dem Boden liegt.

„Wir haben unser Stück drei Wochen lang geprobt und zwei Vorstellungen gemacht. Ich sehe kein Problem darin, wenn ich morgen Abend nicht dabei bin.“

„Und wie stellst du dir das vor, wenn du den Auftrag bekommst? Dann sollen wir deine Tournee alleine durchziehen, oder was?“ Spitze Blicke attackieren sie.

„Es ist nicht meine Tournee, sondern unsere. So hab‘ ich das zumindest bisher verstanden. Außerdem wissen wir doch überhaupt noch nicht, worum es in Berlin geht. Ich fliege hin und hör‘ mir an, was mir von Roth sagen will.“ Ihre Stimme klingt zunehmend gereizt.

„Und warum könnt ihr das nicht telefonisch klären?“

„Ich weiß es nicht.“

„Du weißt ja gar nicht, wer dahinter steckt. Es kann sich irgendjemand einen Scherz mit dir erlauben. Wer ruft schon nachts um 23.00 Uhr an, um einen Termin für Sonntagnachmittag abzumachen!“

„Ich hab‘ die Nummer überprüft, es ist eine Festnetznummer der Von Roth Produktionsfirma.“

„Trotzdem. Du kannst dir ja vorstellen, wie dein Job dort wäre, wenn schon der Anfang außerhalb der üblichen Arbeitszeit stattfindet.“

„Übliche Arbeitszeit gibt’s beim Film genauso wenig wie beim Theater, das weißt du so gut wie ich. Ich versteh‘ nicht, warum dich das jetzt so sehr stresst.“

Er erinnert sie an einen Tiger, der im Käfig auf sein Futter wartet, wie er von der Tür zum Fenster und wieder zur Tür läuft. Sein dunkles Haar, das sonst mit reichlich Gel nach hinten frisiert ist, hängt ihm in Strähnen ins Gesicht und wippt bei jeder Bewegung. Seine Brustmuskeln zeichnen sich unscharf im Licht der Laterne ab. Abrupt bleibt er stehen und dreht sich zu ihr.

„Ich würde dich gerne begleiten.“

Seine Worte fegen ihren Unwillen weg. Verwirrt steht sie auf.

„Warum das denn? Du hast dein Leben und ich meins, und zwischendurch machen wir was gemeinsam.“

„Du meinst, zwischendurch schlafen wir zusammen?“

Sie glaubt, Spott in seiner Stimme zu hören, und zuckt mit den Schultern. „So leben wir das jetzt seit bald vier Jahren und ich hatte bisher den Eindruck, dass das für dich so auch passt.“

„Vielleicht passt das jetzt nicht mehr. Vielleicht möchte ich mehr.“

Sie stehen sich gegenüber und ihre Blicke verkeilen sich ineinander.

Eine bleierne Müdigkeit drückt auf Paulas Augenlider. „Wenn da so ist, dann lass uns bitte ein andermal darüber sprechen. Es ist fast drei Uhr.“

„Ach so, du musst ja früh raus, hab‘ ich ja fast vergessen.“ Er stampft mit dem Fuß auf und schlägt mit der Faust gegen die Wand. „Dann geh‘ jetzt bitte, ich komm‘ damit gerade nicht klar.“

Paula sucht ihre Kleider zusammen und zieht sich an. Ihr Blut pulsiert in den Adern, als hätte sie einen Marathonlauf hinter sich.

Er öffnet die Tür, fixiert mit den Augen die Dunkelheit. Sie tritt an ihm vorbei ins Freie und zuckt zusammen, als die Tür hinter ihr krachend ins Schloss fällt.

Eine Fledermaus kreuzt ihren Weg, während sie barfuß über den großen Platz zu ihrem Bungalow läuft. Süßlicher Jasminduft drängt sich auf. Es knackt im Gebüsch. Sie zieht den Strickmantel fester um die Schultern.

Kapitel 4

Tom lehnt am Auto, als Paula leise das Tor der Finca hinter sich zuzieht. Sie erkennt seine Silhouette im fahlen Mondlicht. Die Uhr am Armaturenbrett zeigt 06.02 Uhr, als er den Motor startet.

Aus dem Radio klingt spanischer Pop, der immer wieder unterbrochen wird durch die unerträglich muntere Stimme des Moderators. Paula drückt die Suchtaste so lange, bis sie den Klassiksender gefunden hat. „Sorry, aber was anderes ertrag’ ich so früh nicht.“ Entschuldigend zuckt sie mit der linken Schulter.

Die drei Stunden Schlaf, die ihr nach dem Streit mit Matteo geblieben sind, sind genauso wenig erholsam gewesen wie die Nacht davor. Immer wieder ist sie aufgeschreckt und hat aufs Handy geschaut aus Angst, den Wecker überhört zu haben. Über ihren Augen liegt ein stechender Schmerz.

„Freust du dich auf die Reise?“ Tom wirft ihr einen flüchtigen Blick zu.

„Ich weiß nicht. Es ging alles so schnell. Ich weiß gar nicht, was da auf mich zukommt. Matteo ist stinksauer.“ Ihre Stimme klingt dunkel.

Er schweigt, den Blick konzentriert auf die kurvenreiche Straße gerichtet. Beide Hände liegen am Steuerrad, sein Oberkörper ist leicht nach vorne gebeugt.

Paula schließt die Augen, lauscht den Geigen, die sich gegenseitig in die Höhe schaukeln, und versucht zu schlafen.

Plötzlich tritt Tom kräftig auf die Bremse. Paula wird nach vorne geschleudert und der Sicherheitsgurt drückt schmerzhaft auf ihre Rippen. Erschrocken reißt sie die Augen auf.

„Ein Hase. Tut mir leid, ist nichts passiert. Diese Viecher sind hier überall auf der Insel.“ Er zieht heftig die Luft ein, stößt sie langsam wieder aus und drückt aufs Gas. Sie bemerkt, dass seine Hände zittern.

„Magst du eine Pause machen?“

Er schüttelt den Kopf. „In fünf Minuten sind wir da.“

Aus der Dämmerung schälen sich die Umrisse der Häuser von San Sebastián, der kleinen Hauptstadt La Gomeras. Hin und wieder verirrt sich ein anderes Auto auf die Straße, eine alte Frau mit Hund überquert in Zeitlupe einen Fußgängerstreifen.

Tom parkt den Wagen auf dem Besucherparkplatz des Fährenanlegers. Die Autofähre liegt am Kai, und die brummenden Motoren durchbrechen den frühmorgendlichen Frieden.

„Danke, dass du mich gefahren hast.“ Paula lächelt ihn an und drückt seine Hand. „Machst du mir einen Gefallen?“ Auf seinen fragenden Blick hin fährt sie fort. „Kannst du die Vorstellung heute Abend über Zoom mitfilmen? Dann könnte ich doch ein wenig dabei sein.“ Sie knetet ihren Ringfinger.

Seine Mundwinkel heben sich ein wenig. „Mach ich. Ich schick dir den Zugangslink. Wann kommst du zurück?“

„Meine Fähre legt morgen Abend um 21.30 an.“

„Ich hol‘ dich ab. Viel Erfolg in Berlin.“

„Danke. Alles Gute für die Dernière.“ Sie steigt aus, fröstelt, schultert ihre Reisetasche und geht auf den Ticketkontrolleur zu.

***

Berlin zeigt sich von der sonnigen Seite, als Paula aus dem Flughafengebäude tritt. Sie geht auf die lange Schlange der wartenden Taxis zu und gibt dem Fahrer des ersten Taxis die Adresse der Von-Roth-Productions. Es ist 16.30 Uhr.

Gerne würde sie sich zuerst ins Hotel bringen lassen, um sich zu waschen und auszuruhen. Zwar ist sie im Flugzeug immer wieder eingenickt, aber das Umsteigen auf Teneriffa und in Madrid, die vielen Menschen und der hohe Geräuschpegel haben ihr zugesetzt. Im zweiten Flieger ist die Klimaanlage ausgefallen. Ihr T-Shirt klebt am Körper und die Haut ihres Gesichts glänzt fettig. Ihr Mund ist trocken.

Das Taxi hält vor einem hohen Turm mit Glasfronten. Dahinter erkennt Paula drei weitere langgezogene Gebäude, die wesentlich tiefer sind als der Koloss vor ihr. Die Silhouette des Gebäudekomplexes spiegelt sich verzerrt in der bewegten Wasseroberfläche der Spree.

Sie geht auf den Turm zu und bemerkt, dass sie auf der Unterlippe kaut. Diese Macke hat sie in den letzten Jahren in den Griff bekommen und ärgert sich darüber, dass es ihr jetzt nicht gelingt, sich zu beherrschen. Das Kribbeln in der Magengegend nimmt zu. Sie ballt die linke Hand zur Faust und presst die Fingernägel in den Handballen. 16.55 Uhr.

Die Dame am Empfang hinter den automatischen Schiebetüren hebt den Blick. „Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ Ihre Worte werden vom blankgescheuerten Marmorfußboden und den Glasfassaden zurückgeworfen.

Intuitiv senkt Paula die Stimme. „Wo finde ich die Von-Roth-Productions?“

„12. Stock. Der Fahrstuhl ist dort rechts.“

10 – 11 – 12. Die Fahrstuhltür öffnet sich, und sie steht in einem mit weißen Neonröhren ausgeleuchteten Raum. Vor ihr erstreckt sich ein halbrunder Empfangstresen, links und rechts befinden sich verschlossene Türen. Paula tritt auf den Tresen zu, hinter dem eine junge Frau sitzt.

„Guten Tag. Mein Name ist Paula Menotti. Ich habe einen Termin bei Herrn von Roth um 17.00 Uhr.“ Sie bemüht sich, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen.