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Helmer van Wonderen räumt auf. Er verfrachtet seinen bettlägerigen Vater ins Obergeschoß des alten Bauernhauses, entrümpelt das Erdgeschoss, streicht die Wände und schafft neue Möbel an. Das Gemälde mit den schwarzen Schafen, die Fotografien von Mutter und die alte Standuhr kommen nach oben, alle Pflanzen, die blühen können, auf den Misthaufen. Und da Vater ihm nicht den Gefallen tut, einfach zu verschwinden, sich von einem Windstoß hinwegfegen zu lassen oder wenigstens zu sterben, richtet der Sohn sein Leben unten neu ein. Doch die ländliche Ruhe währt nicht lang, denn Helmers Neffe Henk, der pubertierende Sohn seines verstorbenen Zwillingsbruders, soll bei seinem Onkel das Arbeiten lernen … Genau in der Beobachtung von Mensch und Natur, subtil in der Anspielung und von zärtlicher Skurrilität, entwickelt Bakkers trockener, lakonischer Erzählstil von der ersten Seite an einen unwiderstehlichen Sog.
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Seitenzahl: 368
Gerbrand Bakker
Oben ist es still
Roman
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Suhrkamp Verlag
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem TitelBoven is het stil bei Uitgeverij Cossee BV, Amsterdam. Die Übersetzung des Buches wurde gefördert vom Nederlands Literair Produktieen Vertalingenfonds.
ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010 © Gerbrand Bakker 2008 © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.www.suhrkamp.de eISBN 978-3-518-73120-8
Ich habe Vater nach oben geschafft. Nachdem ich ihn auf einen Stuhl gesetzt hatte, habe ich das Bett zerlegt. Wie er auf dem Stuhl saß, erinnerte er an ein wenige Minuten altes Kalb, noch bevor es saubergeleckt ist; mit unkontrolliert wackelndem Kopf und einem Blick, der nichts festhält. Ich habe die Wolldecken, Bettücher und die Moltondecke von der Matratze gezerrt, die Matratze und die Bodenbretter hochkant an die Wand gelehnt und Kopf- und Fußteil von den Seitenteilen abgeschraubt. Dabei versuchte ich möglichst durch den Mund zu atmen. Das Zimmer oben – mein Zimmer – hatte ich schon leergeräumt.
»Was machst du?« fragte er.
»Du ziehst um«, sagte ich.
»Ich will hierbleiben.«
»Nein.«
Er durfte sein Bett behalten. Die eine Hälfte ist schon seit über zehn Jahren kalt, aber immer noch krönt ein Kissen den unbeschlafenen Teil. Im Zimmer oben schraubte ich das Bett wieder zusammen, mit dem Fußende zum Fenster hin. Unter den Beinen brachte ich Klötze an. Ich bezog das Bett mit sauberen Laken und Decken und steckte beide Kissen in frische Bezüge. Dann trug ich Vater die Treppe hinauf. Als ich ihn vom Stuhl hob, sah er auf und schaute mich dann ununterbrochen an, bis ich ihn ins Bett legte, wobei unsere Gesichter sich fast berührten.
»Ich kann selbst gehen«, sagte er, erst dann.
»Nein, das kannst du nicht«, sagte ich.
Durchs Fenster sah er Dinge, die er nicht zu sehen erwartete. »Ich liege hoch«, stellte er fest.
»Ja. So siehst du draußen mehr als bloß den Himmel.«
Auch in dem neuen Raum roch es muffig, roch er muffig und schimmelig, trotz der frischen Bettwäsche. Ich stieß einen der beiden Fensterflügel auf und hakte ihn fest. Draußen war es eisig frisch und windstill, nur an den höchsten Zweigen der krummen Esche im Vorgarten hingen noch ein paar verschrumpelte Blätter. In großer Entfernung sah ich drei Radfahrer auf dem Deich. Wenn ich einen Schritt zur Seite gegangen wäre, hätte er die drei Radfahrer auch sehen können. Ich rührte mich nicht von der Stelle.
»Ruf den Arzt«, sagte Vater.
»Nein«, antwortete ich. Ich drehte mich um und ging aus dem Zimmer.
Kurz bevor die Tür zufiel, rief er: »Schafe!«
In seinem ehemaligen Schlafzimmer lag ein Rechteck Staub auf dem Boden, etwas kleiner als die Abmessungen des Betts. Ich räumte das Zimmer aus. Die beiden Stühle, die Nachttische und Mutters Frisiertisch stellte ich ins Wohnzimmer. In einer Ecke des Schlafzimmers würgte ich zwei Finger unter den Teppichboden. »Nicht festkleben«, hörte ich Mutter sagen, vor einer Ewigkeit, als Vater sich gerade hinknien wollte, einen Topf Leim in der linken und einen Leimpinsel in der rechten Hand, und wir fast schon etwas benommen waren von den scharfen Ausdünstungen. »Nicht festkleben, in zehn Jahren möchte ich neue Teppichböden.« Die Rückseite des Teppichs zerbröselte unter meinen Fingern. Ich rollte ihn auf und trug ihn durch die Milchkammer ins Freie. Mitten auf dem Hof wußte ich plötzlich nicht mehr, wohin damit. Ich ließ ihn fallen, wo ich gerade stand. Ein paar Dohlen erschraken bei dem unerwartet lauten Knall und flogen aus den Bäumen auf, die den Hof begrenzen. Auf dem Boden des Schlafzimmers liegen Hartfaserplatten, mit der rauhen Seite nach oben. Ich ging schnell mit dem Staubsauger durchs Zimmer, nahm einen breiten, eckigen Pinsel und strich die Platten, ohne sie vorher abgeschmirgelt zu haben, mit grauer Grundfarbe. Als ich bei der letzten Bahn war, vor der Tür, sah ich die Schafe.
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